Die Gartenlaube (1870)/Heft 50

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1870
Erscheinungsdatum: 1870
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[833]


Deutsche Kunst in Bild und Lied.[1]
Von Albert Traeger.


Was in Liedern und in Bildern,
Tönen oder Farben lebt,
Was zu schaffen und zu schildern
Sich des Künstlers Geist bestrebt,
Alles Schöne wird gefallen,
Das die Sinne leicht besticht;
Doch im Herzen widerhallen
Kann nur, was zum Herzen spricht.

Eh’ die Sonne voll erglühte,
Duften auch die Blumen nicht;
Schönheit ist des Lebens Blüthe,
Wachgeküßt vom Himmelslicht;
Aber kalt sind ihre Triebe,
Und der süße Zauber fehlt,
Bis der warme Hauch der Liebe
Sie mit süßem Duft beseelt.

Rastlos nach der Schönheit ringen
Soll, wer sich der Kunst ergiebt,
Den nur lohnet das Gelingen,
Der aus ganzer Seele liebt’;
Flücht’gen Beifall zu erraffen,
Mühe sich der nied’re Geist,
Mit dem Herzen muß er schaffen,
Wer ein wahrer Künstler heißt.

Preis und Ehre dir vor Allen,
Die von Lieb’ und Schönheit glüht,
Ueberall mußt du gefallen
Jedem innigen Gemüth’,
Die das Herrlichste vollendet,
Stets die falschen Wege mied
Und zum Herzen sich gewendet:
Deutsche Kunst in Bild und Lied!

Schlicht, wie deiner Fluren Zierde,
Treu, wie deines Volkes Sinn,
Giebst du, sonder Ruhmbegierde,
Rein und wahr dein Bestes hin,
Und es spricht aus deinem Streben
Um der warmen Herzen Gunst:
Kunst ist Lieb’ um Schönes weben,
Lieb’ des Herzens schönste Kunst.“


  1. Wir entnehmen dieses reizende Gedicht dem soeben erschienenen dreizehnten Jahrgang des Bach’schen Prachtwerkes: „Die deutsche Kunst in Bild und Lied“. Die Einrichtung und Ausstattung ist die bekannte; der stattliche Band enthält die Beiträge von vierundzwanzig bildenden Künstlern, einundsechszig Dichtern und vier Componisten. Wenn die Gaben der bildenden Kunst nicht durchweg jedem Geschmacke entsprechen, so hat das kritische Auge des Herausgebers, Albert Traeger’s, für den poetischen Theil eine um so strengere Wahl getroffen; namentlich freut man sich, vielen jungen Dichtern zu begegnen, deren Leistungen auch der deutschen Lyrik eine reiche Zukunft verheißen. Das Schwächste findet sich wieder unter den die Bilder begleitenden Versen, und es ist dies die natürliche Folge der Anordnung, daß nicht der Maler ein Gedicht illustrirt, sondern der Dichter ein Bild besingen soll, – und doch giebt’s in der Welt gar viele Dinge, auf die sich mit dem besten Willen kein Vers machen läßt. Das Gelungenste liefert A. Traeger selbst in seiner poetischen Einleitung der Sammlung, einem so gesunden, warmen und kernigen Gedichte, daß man sich frisch und froh an ihm liest. – Bei dieser Gelegenheit wollen wir noch erwähnen, daß von Albert Traeger’s Gedichten abermals eine neue und vermehrte, die achte Auflage erschienen ist.
    Die Redaction. 




Hermann.
Novelle von C. Werner.
(Fortsetzung.)


Antonie ward dunkelroth bei dieser Malice Hermann’s, die leider das Richtige traf und nicht einmal zurückzugeben war. Sie kannte ihren Vetter zu gut, um nicht zu wissen, daß sie in einem Wortkampfe mit ihm doch den Kürzeren ziehen werde, und daß, wenn er so aussah, wie in diesem Augenblick, die äußerste Rücksichtslosigkeit von ihm zu erwarten stand. Sie begnügte sich daher, ihm einen Zornesblick zuzuschleudern, und wendete sich, die Bosheit völlig ignorirend, zu der Baronin, die jetzt argwöhnisch ausrief:

[834] „Aber ich bitte Dich, was hast Du eigentlich von der Walter erfahren?“

Antonie zog eine Rose aus der vor ihr stehenden Vase und begann sie zu zerpflücken. „Nun, meine Nachrichten betreffen nicht gerade sie, hauptsächlich ihre Familie. Es dürfte Dir doch wohl neu sein, daß Mademoiselle Walter gar nicht einmal das Recht hat, sich so zu nennen. Es ist der Familienname ihrer Mutter, den diese wieder annahm, oder vielmehr annehmen mußte, weil der ihres Mannes sehr unliebsame Erinnerungen erweckte.“

Die sarkastische Ruhe, mit der er bis dahin zugehört, verschwand aus den Zügen Hermann’s und machte einer fahlen Blässe Platz. Aufhorchend beugte er sich weiter vor, und folgte mit sichtlicher Spannung dem weitern Verlauf des Gespräches.

„Ein falscher Name!“ rief Baron Sternfeld, der jetzt auch näher trat, „das ist ja offenbarer Betrug! Woher weißt Du das, Antonie? Und warum sprichst Du uns jetzt erst davon?“

„Weil ich selbst es erst vorgestern erfuhr. Meine Kammerfrau hat vor Jahren einmal W. besucht, und bereits bei dieser Gelegenheit Mademoiselle Gertrud kennen gelernt, deren Mutter damals noch lebte. Therese war nicht wenig erstaunt, in der angeblichen Madame Walter die Frau des ehemaligen Rentamtmanns Brand wiederzufinden.“

Hier legte sich die Hand der Präsidentin plötzlich schwer auf den Arm ihres Enkels und die Mahnung war nothwendig. Er war zusammengezuckt bei dem Namen, wie von einer Kugel getroffen, jetzt wendete er langsam das Antlitz der Großmutter zu, ihr Blick tauchte warnend tief in den seinigen, mit convulsivischem Griffe faßte er ihre Hand, aber die Warnung hatte gefruchtet, er behauptete die Herrschaft über seine Züge.

Die Anderen waren allzusehr mit den Enthüllungen Antoniens beschäftigt, um auf den Grafen zu achten. „Brand – Brand!“ sagte der Baron nachsinnend, „ich glaube den Namen schon gehört zu haben. Was war mit dem Manne?“

„Nicht viel Ehrenvolles. Er bestahl die ihm anvertraute Casse, unterschlug fürstliche Gelder und beging schließlich, als er sein Verbrechen entdeckt sah, die Abscheulichkeit, sich im Cabinet des Onkel Arnau, vor dessen Augen zu erschießen. Ich war damals noch ein Kind, aber ich weiß, daß die Sache ungeheures Aufsehen machte. Hermann muß sich ihrer noch ganz deutlich entsinnen, der Schreck kostete seiner armen Mutter beinahe das Leben.“

Graf Arnau schien die indirecte Frage nicht gehört zu haben, wenigstens gab er keine Antwort darauf. Seine Hand lag noch immer eiskalt und feucht in der der Präsidentin, sie mochte an dieser Hand fühlen, wie es um ihn stand, denn sie sah mit dem Ausdruck der Besorgniß plötzlich zu ihm auf, sein Gesicht erschien auch jetzt noch unbeweglich.

Die Baronin war in vollster Entrüstung. „Empörend! Die Tochter eines Diebes, eines Fälschers in meinem Hause! Und sie hat es gewagt, mir das zu verschweigen, sich unter falschem Namen bei mir einzuführen!“

Antonie lächelte hämisch. „Mein Gott, Bertha, kannst Du ihr das verdenken? Es wäre ihr wohl unmöglich gewesen, irgend eine anständige Stellung zu erhalten, hätte sie diese Antecedentien offen dargelegt.“

„Gleichviel, aber ich kann diesen Betrug nicht dulden, kann die Erziehung meiner Kinder nicht den Händen einer Person anvertrauen, die aus solcher Familie stammt. Ich werde mit ihr sprechen, noch heut’ werde ich das, und mir eine Erklärung darüber ausbitten –“

„Das wirst Du unterlassen, Bertha,“ unterbrach die Präsidentin sie im allerschärfsten Tone. „Weißt Du denn, ob das Mädchen überhaupt die Geschichte ihres Vaters kennt? Ich bezweifle das, und selbst wenn es wäre – die Kinder sind nicht verantwortlich für die Sünden der Eltern, an denen sie keinen Theil haben. Willst Du das Mädchen entlassen, so thue es wenigstens nicht in beleidigender Weise; überhaupt wünsche ich, daß Du keinen Schritt in dieser Angelegenheit thust, ohne vorher erst noch einmal mit mir Rücksprache genommen zu haben.“

Die alte Frau hatte sich erhoben und stand so gebieterisch vor ihrer Schwiegertochter, daß weder diese noch ihr Gatte eine Einwendung wagten; sie waren ohnehin gewohnt, sich der Autorität der Mutter unbedingt zu fügen, wenn deren plötzliche Parteinahme für die Gouvernante sie auch einigermaßen befremdete.

Die Präsidentin wendete sich zu ihrem Enkel. „Habe die Güte, mich nach meinem Zimmer zu führen, Hermann, ich fühle mich etwas ermüdet; und Dir, Antonie, rathe ich doch, Dich jetzt in den Wagen zu setzen und zu Deinem Manne hinauszufahren. Wenn Dir seine Verletzung auch gleichgültig ist, so erfordert es der Anstand, daß Du Dich, wenigstens in den Augen der Leute, etwas darum kümmerst. Der Wagen fährt eben vor, wie ich sehe.“

Der im Tone eines entschiedenen Befehls ertheilte Rath kam Frau von Reinert augenscheinlich ebenso ungelegen, als der Baronin das vorhergehende Verbot, aber auch sie versuchte keinen Widerspruch. In der übelsten Laune klingelte sie ihrer Kammerfrau und befahl Hut und Shawl zu bringen, während die Präsidentin auf Hermann’s Arm gestützt den Salon verließ.




„Daß Toni auch diesen unglückseligen Namen aussprechen mußte! Er bringt Dich völlig außer Dir! Hermann, ich bitte Dich, wo bleibt Deine Selbstbeherrschung, Deine Willenskraft?“

Großmutter und Enkel waren allein miteinander, die Portieren des Zimmers waren herabgelassen, die Thür verschlossen; man hatte sich vor Lauschern gesichert. Noch hatte der Graf kein Wort gesprochen, mit verschränkten Armen ging er unaufhörlich auf und nieder ohne zu antworten, ohne auch nur zu hören, die Präsidentin schüttelte rathlos den Kopf.

„Ich begreife nicht, was an dieser Entdeckung eigentlich so Furchtbares ist. Du hast lange genug nach der Frau und dem Kinde des – des Todten gesucht; Du behauptetest, es würde Dir die Ruhe wiedergeben, wenn Du im Stande wärest, etwas für sie zu thun. Jetzt solltest Du doch den Zufall segnen, der uns endlich Gelegenheit giebt –“

Der Graf blieb plötzlich stehen. „Segnen! Laß mich, Großmutter, Du weißt nicht, kannst nicht wissen, was dieser Name Alles in mir vernichtet hat!“

Sie trat zu ihm und legte die Hand auf seine Schulter. „Hermann, Du bist außer Stande, diese Angelegenheit ruhig und vernünftig zu beurtheilen, lege sie in meine Hände. Es versteht sich von selbst, daß nach dem, was wir jetzt wissen, das Mädchen nicht länger in unserer Familie bleiben kann. Bertha will sie ja ohnedies entlassen, ich werde sorgen, daß es in schonendster Weise geschieht, und später werden wir wohl irgend einen Vorwand finden, ihre Zukunft zu sichern. Thue das so glänzend, als Du nur vermagst, ersetze ihr das ganze Vermögen, was ihre Mutter damals verlor. Vielleicht gelingt es uns, irgend eine angemessene Partie für sie zu finden, einen Pfarrer oder dergleichen, und dann auf unverdächtige Weise diesem Manne –“

Der Graf machte sich plötzlich mit einer heftigen Bewegung los. „Laß Deine Pläne, Großmutter,“ sagte er schneidend. „Wenn es sich hier um Sühne handelte – ich wüßte wohl eine andere, aber ich weiß auch, daß sie sie nie, niemals von meiner Hand nehmen wird.“

„Von Deiner Hand? Um Gotteswillen nicht! Wir müssen mit größter Vorsicht zu Werke gehen. Was Du auch thun magst, sie darf nicht ahnen, von wem es kommt, sie könnte sich sonst fragen, weshalb es geschieht.“

„Und wenn sie das bereits wüßte?“

„Hermann!“

„Sie weiß es, muß es wissen! Jetzt begreife ich diesen glühenden, unversöhnlichen Haß, den sie mir vom ersten Moment an entgegentrug, diesen Abscheu vor meiner Nähe, dies ganze räthselhafte Wesen. Daß mir auch nie eine Ahnung der Wahrheit kam; der Name war es, der mich irre führte. O, sie weiß Alles, sage ich Dir, sie verrieth es in jedem Wort, in jeder Miene. Nur Eines vermag ich ihr nicht zu entreißen, ein Geheimniß, das sie fest zu bewahren versteht, und doch muß ich darüber Gewißheit haben – Gewißheit um jeden Preis!“

Er nahm in furchtbarster Erregung seinen Gang durch das Zimmer wieder auf, die Präsidentin stand noch immer sprachlos; ob sie sich mehr entsetzte über den Gedanken, er könne Recht haben, oder über diesen Ausbruch der Leidenschaft bei dem sonst [835] so ruhigen besonnenen Manne, blieb unentschieden, denn in diesem Augenblicke wurde leise an die Klinke der Thür gefaßt.

„Was giebt’s? Wer stört uns?“ fuhr Hermann auf. Er schob den Riegel zurück, draußen stand ein Diener mit sehr verlegenem Gesicht.

„Der Herr Graf verzeihen die Störung, ich wußte nicht, daß die Herrschaften sich eingeschlossen, ich wollte melden –“

„Nun, was – was?“

„Mademoiselle Walter ist im Vorzimmer und wünscht den Herrn Grafen zu sprechen.“

„Mademoiselle Walter?“

„Mich?“

Die Präsidentin faßte sich zuerst, sie war augenscheinlich im Begriff, eine Abweisung auszusprechen, doch ihr Enkel kam ihr zuvor.

„Ich – lasse bitten!“

Der Diener verschwand.

„Hermann, Du darfst sie jetzt nicht sprechen! Du verräthst Dich in dieser furchtbaren Aufregung! Und was kann sie wollen?“

Der Graf hatte auf einmal seine Fassung wieder, aber ein Ausdruck unendlicher Bitterkeit erschien in seinem Gesicht. „Beruhige Dich, Großmutter! Ich weiß, weshalb sie kommt, es steht in keiner Beziehung zu dem, was wir eben verhandelten. Es muß schon eine Todesangst sein, die sie zwingt, meine Schwelle zu überschreiten.“

Die Präsidentin fand keine Zeit, Aufklärung über diese letzten, völlig räthselhaften Worte zu verlangen, denn der Diener hatte inzwischen die Thür geöffnet und ließ Gertrud eintreten. Der Graf hatte Recht, es kostete ihr eine furchtbare Ueberwindung, seine Schwelle zu überschreiten, und als es endlich geschehen war, blieb sie regungslos stehen, das Auge zu Boden geheftet, wie eine Schuldbewußte. Die Züge schienen ruhig, aber das Antlitz hatte etwas Furchtbares in seiner starren leichenhaften Blässe, alles Leben schien daraus entflohen.

Hermann trat ihr entgegen. „Sie wünschten mich zu sprechen mein Fräulein?“

„Ja.“ Das Ja fiel leise, fast unhörbar von ihren Lippen.

„Allein zu sprechen?“

„Ja.“

„So verzeih’, Großmutter – darf ich Sie bitten?“

Er schlug die Portiere des anstoßenden Cabinets zurück und folgte ihr dort hinein. Die Präsidentin blieb allein zurück, sie ging zur Thür und schob den Riegel wieder vor, dann trat sie leise zu der wieder geschlossenen Portiere und schob unhörbar die Falten derselben etwas bei Seite – Hermann war in dieser Stimmung zu Allem fähig, er durfte nicht unbewacht bleiben.

Noch war zwischen den Beiden kein Wort gefallen. Der Graf stand scheinbar ruhig, die Hand auf den Tisch gestützt, und wartete schweigend, aber noch mit demselben bitteren Ausdruck in den Zügen, daß Gertrud reden solle. Sie versuchte es auch, aber, war es wirklich die Todesangst, von der er vorhin gesprochen, die Stimme versagte ihr; sie war keines Lautes fähig.

Hermann’s Lippen zuckten, er sah wohl, daß er zuerst das Wort nehmen müsse. „Ich errathe, was Sie zu mir führt. Sie sahen mich unverletzt zurückkommen und zittern nun für das Leben meines Gegners. Beruhigen Sie sich! Unser Rencontre ist, wenn auch nicht unblutig, doch ungefährlich verlaufen, Herr von Reinert hat eine leichte Wunde am Arme, die auch die Ursache war, daß seine so sichere Waffe mich fehlte. Er ist vorläufig im Forsthause zurückgeblieben, der Arzt ist bei ihm und nicht die mindeste Gefahr zu befürchten.“

Gertrud hatte bei seinen ersten Worten fast entsetzt das Auge gehoben; aber sie senkte es sofort wieder.

„Ich danke Ihnen, Herr Graf, für die Nachricht, aber Sie sind im Irrthum – es ist nicht das, was mich herführt.“

Nicht das! Also war es auch nicht diese Angst, die ihre Wangen so furchtbar gebleicht, ihr diese leichenhafte Starrheit und Leblosigkeit gegeben hatte – die Augen des Grafen leuchteten plötzlich auf wie am gestrigen Abend; der bittere Ausdruck verschwand; hastig trat er ihr einen Schritt näher.

„Nicht? Und was war es denn, Gertrud?“

Sie wich mit einer zuckenden Bewegung von ihm zurück; langsam ließ er die ausgestreckte Hand wieder sinken. Das Mädchen rang nach Athem.

„Ich komme – Ihnen etwas mitzutheilen. Es betrifft Sie – uns Beide. – Ich bin gezwungen, dies Haus heute noch zu verlassen; mein Brief an die Baronin enthält einen Vorwand – Ihnen bin ich Wahrheit schuldig.“

Sie hatte die Worte mühsam mit halberstickter Stimme herausgestoßen und vermied es dabei mit sichtbarer Angst, seinem Blicke zu begegnen. Graf Arnau richtete sich entschlossen auf; er wußte, was jetzt kam.

„Ich gehe als Ihre Feindin; aber ich will es nicht heimlich, nicht hinterrücks sein. Sie fragten mich gestern, ob ein Geheimniß zwischen uns liege – Sie sollen es jetzt erfahren.“

„Ich weiß es bereits.“

„Wie?“

„Seit einer Stunde kenne ich Ihren wahren Namen und damit auch den Grund Ihres Hasses gegen mich.“

Sie hob wie vorhin den Blick zu ihm, aber jetzt sprach das vollste Entsetzen daraus.

„Das ist unmöglich, das können Sie nicht! Sie können nichts wissen, nichts, als daß es der Name eines Betrügers war, der sich das Leben nahm; als er sein Vergehen entdeckt sah. So hat man es Ihnen erzählt, nicht wahr? Oder – wüßten Sie mehr?“

Hermann gab keine Antwort; sein Blick haftete düster am Boden.

„Antworten Sie mir; Graf Arnau! Wenn Jemand auf Erden ein Recht hat zu fragen, so bin ich es. Was wissen Sie?“

„Alles!“

In seinem dumpfen gebrochenen Tone lag die ganze niederschmetternde Gewalt dieses einen Wortes; das Mädchen stand einen Moment lang wie vom Blitze getroffen.

„Sie wußten es und schwiegen?“

„Es war mein Vater, Gertrud!“

Sie richtete sich plötzlich mit einer fast wilden Energie empor. „Sie haben Recht, Graf Arnau, es war Ihr Vater – und es war der meinige! Das werde ich nicht vergessen.“

Es folgte eine schwere, drückende Pause; endlich hob Hermann wieder das Haupt. „Wir sind jetzt auf einen Punkt gekommen, wo nichts mehr verschwiegen und geschont werden kann. Wollen Sie mir sagen, wer Ihnen das Geheimniß entdeckte?“

Mit dem Mädchen war seit dem Geständniß des Grafen eine seltsame Verwandlung vorgegangen. Die Angst, der Kampf, die sich bisher in ihrem Wesen verriethen, waren einer unnatürlichen Ruhe gewichen; der Blick, der so scheu den seinigen gemieden, traf ihn jetzt voll und drohend, und ihre Stimme klang fest und kalt bei der Erwiderung:

„Meine Mutter weihte mich ein, als ich alt genug war; es zu begreifen. Sie hatte keine Beweise, ihr Recht geltend zu machen, nichts als die unumstößliche Ueberzeugung ihres Innern. Mein Vater durfte es nicht wagen, den Verdacht, der sich schon zuvor gegen den mächtigen einflußreichen Vorgesetzten in ihm erhoben, laut werden zu lassen; nur seinem Weibe sprach er ihn aus noch am Morgen des verhängnißvollen Tages, und deshalb war nur sie im Stande, die Wahrheit zu ahnen. Sie wußte, daß ihr Gatte kein Betrüger war, daß er nur das Opfer eines Verbrechens, eines überlegten hinterlistigen Meuchelmordes –“

„Nein, Gertrud, nein, das war es nicht!“ fiel ihr Hermann ungestüm in’s Wort. „Ein Verbrechen des Augenblicks, eine That der Verzweiflung, aber kein Plan. Ich weiß es – ich war Zeuge davon!“

„Ah – Sie waren Zeuge!“

Der Blick des Grafen schweifte forschend durch das Cabinet; es hatte nur einen Ausgang, und der, das wußte er, stand unter sicherer Hut; dennoch sank seine Stimme zu einem Flüstern herab, [836] als wage er es nicht einmal, den todten Wänden das Geheimniß anzuvertrauen:

„Ich war an jenem Morgen im Arbeitszimmer meines Vaters; ich betrat es sonst nur selten, diesmal trieb mich ein kindischer Ungehorsam. Der Vater hatte mir am Tage zuvor ein Buch aus seiner Bibliothek, als ungeeignet für mich, fortgenommen; aber meine Knabenphantasie war von der abenteuerlichen Geschichte allzusehr erregt, als daß ich so leicht auf den Schluß verzichtet hätte. Das Buch lag im Arbeitszimmer, ich wußte es und benutzte die erste Gelegenheit, mich wieder in Besitz desselben zu setzen. Kaum war dies geschehen, als Stimmen auf dem Corridor ertönten; im Bewußtsein meines Unrechtes flüchtete ich mit meinem Buche in die tiefe Nische des Eckfensters, auf wenige Minuten, wie ich meinte, denn der Vater pflegte um diese Zeit stets auszufahren. Diesmal aber trat er mit dem Rentmeister Brand ein. Die der Sonne wegen herabgelassenen Vorhänge verbargen mich völlig, und so ward ich Zeuge einer Unterredung, die ich damals freilich nur zum kleinsten Theile verstand, die sich aber ihres entsetzlichen Ausganges wegen mir mit furchtbarer Deutlichkeit einprägte. Was ich anfangs vernahm, war nicht von Bedeutung; das Gespräch bewegte sich in den geschäftlichen Grenzen. Mein Vater mußte bereits früher eine Anforderung an den Rentmeister gestellt haben, die er jetzt wiederholte, die aber auf’s Entschiedenste abgelehnt ward. Brand bezog sich darauf, daß er die fälligen Gelder bereits an den Grafen abgeführt habe und ohne besondere fürstliche Autorisation keine der Summen ausliefern könne, die sich noch in der seiner Verwaltung anvertrauten Casse befanden und für die er auch die Verantwortung trug. Mein Vater muß sich bereits verloren gegeben, muß kein anderes Mittel zur Rettung mehr gewußt haben, denn er wagte das gefährlichste von allen und machte seinen Untergebenen zum Vertrauten. Er gestand ihm, daß er die bereits empfangenen Gelder zur Bezahlung persönlicher Schulden verwandt habe, daß aber die Ausgaben des fürstlichen Hauses jetzt Deckung verlangten, und das sofort, sollte nicht Alles verrathen werden. Er versuchte den Rentmeister zu bewegen, daß er das Nöthige aus dem augenblicklichen Bestande der Casse hergebe, in wenig Wochen solle Alles ausgeglichen werden. Der Graf verhieß Alles auf sich zu nehmen, er bat, er beschwor, er drohte zuletzt, aber Versprechungen wie Einschüchterungen glitten an der unerschütterlichen Pflichttreue des Mannes ab, der bei seinem festen bestimmten ‚Nein‘ blieb. Gertrud, ich sage es Ihnen noch einmal, eines so teuflisch angelegten Planes war mein Vater trotz alledem nicht fähig; die Pistole, welche geladen auf dem Schreibtische lag, war, das ist meine innerste Ueberzeugung, für das eigene Haupt des Schuldigen bestimmt, er hätte, wie so mancher Ruinirte, durch Selbstmord geendigt, wenn der Rentmeister es verstanden hätte, sich zu mäßigen, aber das starre Pflichtgefühl, die rauhe Aufrichtigkeit des Mannes ward diesem zum Verderben. Er erklärte schonungslos, daß er den Mitwisser einer Unterschlagung als den Mitschuldigen betrachte und sich verpflichtet halte, von dem eben Gehörten sofort Anzeige zu machen, um weiteren Schaden zu verhüten, und reizte dadurch den schon Verzweifelten bis zum Wahnsinn. Er wußte, daß, wenn Jener die Schwelle überschritt, seine Ehre rettungslos verloren war – ich sah die Hand meines Vaters nach der Waffe zucken, sah den Schuß aufblitzen – und Brand stürzte entseelt nieder.“

(Fortsetzung folgt.)




Ein Liebling Schiller’s.
Von J. Leyser.


Unter den Frauengestalten, deren Namen durch Schiller’s Jugend sich schlingen, mag neben Margarethe Schwan[1] die reizende geniale Schauspielerin Karoline Ziegler unvergessen sein – sie, die vertraute Freundin Margarethens, die bei der ersten Aufführung von „Fiesco“ und „Kabale und Liebe“ zu Mannheim als „Leonore“ und als „Louise“ einst mächtig alle Zuhörer ergriffen hat.

Ihre Jugend ist in jene Zeit gefallen, als der Pfälzer Kurfürst Karl Theodor, damals noch nicht umwuchert von den späteren bigotten Einflüssen, im Jahre 1779 die deutsche Nationalschaubühne zu Mannheim errichtete. Nicht blos die großartige Freigebigkeit, mit welcher der Kurfürst der jungen Schöpfung jene reichen Mittel zuwandte, die bisher im Dienste des französischen Schauspiels und der italienischen Oper gestanden, es war mehr noch das glückliche Zusammentreffen gefeierter Dichter und Schauspieler, was damals die Mannheimer Bühne zu einer classischen Pflanzschule deutscher Schauspielkunst erhob. Unter denen, welche im Herbst des genannten Jahres nach der Auflösung des Gothaer Hoftheaters an den Rhein herüberwanderten, befand sich neben dem feinen Komiker Beil und dem im tragischen Fache ausgezeichneten Böck besonders Iffland, gegenüber dem lärmenden, manierirten Pathos der französischen Schule für Natur kämpfend und für Wahrheit, den Zeitgenossen als dramatischer Schriftsteller wie als Schauspieler gleich beliebt, das thätigste Mitglied in dem durch den Intendanten v. Dalberg begründeten „Theaterausschuß“. Da erschien Schiller’s Genius zu Mannheim. Zum ersten Male gingen „Fiesco“ (Januar 1784) und „Kabale und Liebe“ (März desselben Jahres) über die Bretter. Iffland’s Memoiren lassen uns in den Wellenschlag der Begeisterung hineinblicken, welche damals zu Mannheim und in der Kurpfalz die Gemüther über den Jammer der politischen Verhältnisse emportrug.

Unter solchen Eindrücken ist Karoline Ziegler aufgewachsen (geboren zu Mannheim am 31. Januar 1766). Sorgfältig gebildet, doch einem schlichten bürgerlichen Kreise angehörend, schien es zweifelhaft, daß sie einst die nicht immer dornenlose Bahn der Künstlerin betreten werde. Mit fünfzehn Jahren an den Darstellungen eines Liebhabertheaters in engerem Cirkel theilnehmend, bezauberte ihr Liebreiz und ihr künstlerischer Genius unwiderstehlich alle Herzen. Dalberg sah die talentvolle Dilettantin als „Emilia Galotti“ in Lessing’s berühmter Tragödie – und es gelang ihm, das aufsteigende Meteor für die Mannheimer Bühne zu gewinnen. Widerstrebend nur willigten Karolinens Eltern ein, welche die Tochter lieber in der still umfriedeten Thätigkeit einer glücklichen Hausfrau erblickt hätten. Auch das öffentliche Auftreten Karolinens war ein Siegeszug, alle Herzen flogen ihr zu, Niemand zweifelte, daß sie bald, ein Stern erster Größe, unter Deutschlands Schauspielerinnen erglänzen werde. „Nie habe ich diese Accente wiedergehört“ – schrieb damals Iffland – „noch die Melodie der Liebe, wie sie in Fiesco’s Gattin von diesen Lippen tönte.“ Auch mit Schiller stand sie in lebendigem Verkehr. „Die Frauenzimmer“ – schreibt dieser um die nämliche Zeit an Frau v. Wolzogen – „bedeuten hier sehr wenig und die Schwanin ist beinahe die einzige, eine Schauspielerin ausgenommen, die eine vortreffliche Person ist. Diese machen mir zuweilen eine angenehme Stunde.“

Im Jahre 1784 vermählte sich Karoline Ziegler mit dem Schauspieler Beck, und wie sie bisher als eine strebsame geistvolle Künstlernatur sich gezeigt hatte, so errang sie auch als liebevolle Gattin, als sorgende Hausfrau die allgemeinste Anerkennung.

„Der Morgen gehört der Kunst“ – erzählt von ihr Sophie von La Roche, die wunderbare Frau, mit der Goethe keine andere zu vergleichen wußte – „der Nachmittag den Sorgen für ihre kleine wohleingerichtete Haushaltung, der Abend dem Circel ihrer vortrefflichen Familie und einigen Freunden. Man fand sie einmal beschäftigt, die Rolle von Bianca im ‚Julius von Tarent‘ zu lernen – und das Weißzeug ihres Mannes zu verbessern.“

Nur sieben Monate dauerte diese glückliche Ehe. Karoline Ziegler starb am 2. Juli 1784, erst achtzehn Jahre alt. Wahrscheinlich hat ein unglücklicher Fall bei der Aufführung der „Emilia Galotti“, wo aus Odoardo’s Armen ihr Kopf schmetternd auf den Boden fiel, eine Hirnentzündung veranlaßt, welche mit einem Nervenschlag endete. Sie schied mit der untergehenden Sonne.

„Ertrug die Hülle das innere Streben nach so mancher Vollkommenheit nicht?“ – frug damals tief bewegt die La Roche – „ward sie so früh vollendet, weil die Welt viel Rauhes für ein so reines Geschöpf haben mußte ...?“

Und Gotter, Goethe’s Genosse an der Tafelrunde des Ritterordens, schrieb an den trauernden Gatten: Karoline Beck sei der

[837]

Karoline Ziegler.
Nach einem im Besitz der Familie Götz zu Mannheim befindlichen Originalportrait.

Segen, der jede tugendhafte Braut zur Gattin weihe! Karoline Beck stehe in unvergänglichen Buchstaben über dem Eingange unserer Bühnen und jeder Patriot traure um sie, um das Schicksal deutscher Kunst! Vor mir steht sie ewig jung und herrlich wie jetzt vor Gott.“

Und so möge sie vor dem Auge des Lesers stehen bleiben, eine Priesterin des Schönen, treu die Flamme des Gottes hütend; nicht so streng und vornehm wie Margaretha Schwan, ihre vertraute Freundin, aber voll lächelnder Anmuth und doch ernst und andächtig; hinabtauchend in die Tiefen des weiblichen Herzens, dessen Leid und dessen Liebe sie in wunderbaren Tönen verkündet hat wie Wenige nach ihr. Das Auge des Jahrhunderts hat sich geschlossen, ohne daß ein gleicher Stern für die Mannheimer Bühne wieder aufgegangen wäre. Kein Kreuz, kein Stein bezeichnet die Stätte, da Karoline Ziegler ruht; aber auch sie gehört unter die Unsterblichen, deren Bild dem Forscher von einem strahlenden Kranz umleuchtet ewig jung entgegentritt.




Ein Hauptquartier auf dem Marsch.

Von Ludwig Pietsch.
(Schluß.)

In den Straßen der kleinen Quartierstadt haben sich beim Nahen des kronprinzlichen Zuges auch wohl die grollend geschlossenen Jalousien manches Häuschens wenigstens halb geöffnet, Manches weiße Frauenmützchen, mancher neugierig blickende Kopf wird sichtbar; vor manchen Thüren, an mancher Gartenmauer und Hecke stehen in blauen Blousen die Bewohner, im Morgenrock die Weiber, die Kleinen auf dem Arm. Und gewiß: der kommende Reiterzug ist werth, gesehen zu werden. Immer an der Spitze der Erste der Kronprinz selbst, meist auf seiner Fuchsstute „Wörth“ reitend. Er trägt stets die Militärmütze, abwechselnd Ueberrock oder Waffenrock, den Stern des schwarzen Adlerordens auf der Brust. Schärpe, Korbsäbel und sehr hochgehende, gewöhnlich aber bis unter das Knie hinuntergeschobene weite blanke Reiterstiefeln über den dunkeln Beinkleidern mit breiten rothen Streifen. An keinem der vielen Morgen vom 6. August bis zum letzten Marsch vor Versailles am 19. September haben wir den Kronprinzen so an der Spitze seines Hauptquartiers hervorreiten gesehen, ohne daß derselbe Ausdruck der männlichen Freudigkeit und des freien herzlichen Wohlwollens bei aller echt fürstlichen natürlichen Hoheit sein prächtiges bärtiges wettergebräuntes Antlitz geschmückt hätte. Wenn er so an der Linken der Wagencolonne einherreitet, hat er für jeden der ihm bekannteren Insassen einen muntern Morgengruß, ein kleines Wort, den zu erfreuen, an den es gerichtet wird. Neben dem Führer der Südarmee reitet deren genialer und kluger General, v. Blumenthal, zur andern Seite gewöhnlich der Hofmarschall Graf Eulenburg, der persönlich dem Prinzen von seiner Jugendzeit her noch befreundete Adjutant Major Mischke, der Oberquartiermeister [838] Oberst v. Gottberg und in nächster Nähe, im Kürassierüberrock und Mütze, Herzog Ernst’s von Coburg hohe Gestalt. Dann farbig und waffenblitzend eine Wolke von Reitern – Prinzen, Generalstabs-, Ordonnanzofficiere, fremde Militärs ohne bestimmte Reihenfolge; der unschuldige Anlaß dieses furchtbaren Kriegs, Prinz Leopold von Hohenzollern; Herzog Eugen von Württemberg, ein graubärtiger ritterlicher Herr mit einem Paar kühner dunkler Augen hinter den Brillengläsern; der blonde jugendliche Thronfolger desselben Königreichs, Prinz Wilhelm; der Erb-Großherzog von Sachsen-Weimar in Husarentracht; der von Strelitz in preußischer Infanterie-Uniform, neben ihm sein hochgewachsener Begleiter Oberst v. Gagern; Fürst Putbus mit der rothen Kreuzesbinde der Johanniter am Arm, Graf von Frankenberg, und Major v. Knesebeck desgleichen, letzterer in gewisser Entfernung von dem schlank und straff im Sattel sitzenden General v. Herkt, dessen Erscheinung eine durch die gleiche Landwehrkürassieruniform noch unterstützte Aehnlichkeit mit der des Grafen Bismarck zeigt; die jüngeren persönlichen Begleiter des Kronprinzen, Rittmeister v. Schleinitz, der ihm im letzten Winter in den Orient folgte, und der Kammerherr Graf Seckendorf, ein nicht blos hochgebildeter, sondern auch künstlerisch auf’s Glücklichste begabter Officier, der während des abyssinischen Feldzugs dem britischen Hauptquartier attachirt war.

Hier wird England seinerseits vertreten durch den Militärbevollmächtigten Oberst Walker, einen hochgewachsenen frischen rüstigen Herrn mit grauen Bartcoteletten, goldgeränderter blauer Mütze und rother englischer Husarentracht, geborener Cavallerist und erfahrener Zeuge von bereits fünf großen Kriegen unserer Zeit. Württemberg wird durch den Militärbevollmächtigten Oberst v. Fabre-Dufour, die herrlichste Mannesgestalt in jener über Alles kleidsamen württembergischen Officiertracht; Baiern durch den schlanken Major v. Freyberg als Militärbevollmächtigten, außerdem durch General v. Bothmer, Graf Xylander, Freiherrn v. Godin vertreten.

Es würde zuviel, sie alle aufzuzählen, die Ordonnanz-, die Generalstabs-, Ingenieur-, Artillerie-, Husarenofficiere, alle jene verwegenen, unermüdlichen schneidigen Cavaliere, die Hoffnung der preußischen Armee: Lieutenant v. Blumenthal, der kluge feine Sohn des Generals (von den Frankfurter Dragonern), Major v. Hahnke, der Recognoscirer par excellence, mit den merkwürdigen tiefen dunkelblauen Augen unter den dichten schwarzen Brauen, ein Charakterkopf, den man nie wieder vergißt, Rittmeister v. d. Lancken, Hauptmann Lenke, Hauptmann v. Carnatz, Lieutenant v. Delbrück, v. Bronsart, Lieutenant v. Gustadt, v. Mutius, v. Sommerfeld, Hauptmann Bosse, Graf Harrach, der berühmte Maler, der in solcher Zeit und solcher Pflichtübung, wie die eines Ordonnanzofficiers (erstes Garde-Landwehrkürassierregiment) ist, doch noch Augenblicke findet, sein außerordentliches Talent in mancher Meisterzeichnung und Aquarelle aus der gewaltigen und mannigfachen Wirklichkeit um ihn her zu bethätigen. Eine der für ein Malerauge erquicklichsten unter diesen Reitergestalten aber giebt, wenn er sich dieser glänzenden Gesellschaft einmal zu Pferde anschließt, der Generalarzt Dr. Wilms. Das unvergleichlich edel, groß und fein geschnittene Antlitz dieses um Menschenwohl so hoch verdienten Meisters ist durch die Photographie allbekannt. Die Aehnlichkeit mit dem ersten Napoleon in seiner Consulperiode ist überraschend. Wenn Wilms aber so auf seinem Schimmel neben uns dahinreitet, wird sie, abgesehen von der Uniform, bis zur Illusion vollständig.

Viel von seinem Glanze verliert natürlich dieser brillante Reitertrupp, welchem sich nach den Armeegensd’armen und Ordonnanzen unmittelbar die lange Reihe der bepackten Handpferde mit ihren berittenen Geleitern (sämmtlich mit Schleppsäbeln bewaffnete Lakaien, Stallknechte oder Soldaten) anschließen, wenn statt des sommerlichen lachenden Morgensonnenscheins, wie er so häufig auf der reichen wechselvollen Landschaft um uns her lag, der auch nicht eben seltene Regen dicht eindringend ohne Aufhören niederströmt. Dann birgt sich all’ das lustige und farbige Schimmern und Blitzen unter der schwarzen wie polirtes Gußeisen glänzenden Hülle der langen, bis fast zu den Füßen niederreichenden Gummiregenmäntel und Kapuzenröcke. Ja der Kreis wird, wenn das Unwetter gar zu stark und unerträglich anwährt, auch wohl gelichtet, indem mancher hohe Herr es dann doch vorzieht, statt ihm im Sattel auf kothiger Landstraße zu trotzen, Zuflucht davor unter dem Verdeck und hinter dem Spritzleder seines für ihn immer bereiten Wagens zu suchen.

Wie lang auch der vorgeschriebene Marsch des Lagers sein möge, ob man ihn zu Pferde, ob als Angehöriger oder gastlich eingeladener Beisitzer eines der Wagen mitmache – es ist immer dafür gesorgt, daß die Zeit schnell und angenehm verstreicht. Die umgebende Landschaft, all’ diese hübschen in Parks und Gärten halb verborgenen koketten Villen, die gothischen Kirchen, alterthümliche Schlösser, an denen diese Departements so reich sind, die herrlichen Weinberge, die schattigen sonnendurchblitzten Wälder, die wohlgehaltenen Canäle, die weiten Fernsichten von der Höhe der wiederholt schroff aufsteigenden Landstraße und all’ das bedeutsame und großartige kriegerische Leben, das die ländliche Arbeit in den Feldern, den friedlichen Verkehr in Städtchen, Dörfern und auf den Chausseen abgelöst hat, all’ jene endlosen Wagen- und Truppenzüge, die sich auf allen Straßen neben uns, und so weit das Auge reicht, langsam, aber unaufhaltsam vorwärts wälzen (nur die Schienenstraßen stehen verödet und die Bahnhöfe verlassen), die Bivouacs auf den Feldern am Wege, wo die Soldaten vom Lager unter den Laubhütten oder von den Feuern aufspringen und zur Chaussee heraneilen, um den Prinzen mit ihren Hurrahs zu begrüßen – all’ diese tausend wechselnden Bilder geben unerschöpflichen, immer interessanten Stoff der Betrachtung, stets neu, stets eigenthümlich von allem sonst Gewohnten abweichend, in welcher Beleuchtung, in welchem Wetter sie sich auch zeigen mögen.

Die Ereignisse der jüngsten Vergangenheit, deren Zeuge man gewesen, wie diejenigen, dere Erfüllung man von der nächsten Zukunft erwartet, die Erinnerungen aus der fernen Heimath, die man verlassen, die Persönlichkeiten, zwischen denen man lebt, die kleine oft ziemlich pikante Chronik des Quartiers bilden ebenso viele Gegenstände des unterhaltendsten Geplauders mit den Mitreitern oder Wagennachbarn, Intendanten, Officieren, Aerzten etc. Und diese stete Bewegung in frlscher freier Luft reizt so wohlthuend „die Begier nach dem Mahl“; Jeder scheint jeder Zeit mit dem besten Appetit gesegnet zu sein. Kaum ist die erste Stunde der Fahrt oder des Ritts vorüber, so fängt Einer oder der Andere an, in den Sattel. oder Wagentaschen zu suchen. Keiner ist ganz, ohne weise Vorsorge zu treffen, aus dem Quartier der letzten Nacht geschieden; denn Jeder wußte, daß er unterwegs auf keine gastliche Stätte rechnen durfte, die den durstigen oder hungrigen Wanderer labe. Hier erscheint eine Flasche trefflichen Cognacs, dort eine guten Rothweins, hier ein paar harte Eier, dort Brod und Speck. Quantitäten feuriger Flüssigkeit, die sonst ihren Mann sofort umwerfen würden, lernen auch zarte Naturen in sich aufnehmen ohne irgend andere als nur munter erhöhende, wärmende, erfrischende Wirkungen. Die gegenseitige Gastlichkeit ist unbegrenzt, und die vielgeplagten vorbeijagenden Armeegensd’armen dürfen sich ebensowenig über einen Mangel an derselben von Seiten der Wageninsassen beklagen. Oft geht der ganze Zug stundenlang nur im Schritt: zum Beispiel, wenn der Prinz in solcher Gangart der voraufmarschirenden Infanterie-Escorte folgte. Aber das wird den Reitern bald langweilig und ermüdend. Plötzlich sieht man über das Verdeck der Vorwagen weit vorn die schwarzweißen Fähnlein an den Lanzenspitzen der Ulanen sich schneller flatternd bewegen, und die ganze Cavalcade setzt sich in Trab, rasselnd gefolgt von der Mannschaft der Handpferde, die Wagen im scharfen Jagen hinterher, daß die weißen Staubwolken Alles verhüllend aufwirbeln, oder der nasse Koth des vom Regen erweichten Weges bis in die Gesichter der Wageninsassen sprüht und spritzt.

Ungefähr um die Mitte des Tagemarsches ertönt der von Wagen zu Wagen fortgepflanzte Ruf: „Rendezvous!“ und Alles hält wie angewurzelt. An irgend einem wohlausgewählten geschützten Platze, auf einer Wiese am hohen Chausseedamme, in einem lustigen Wäldchen am Wege hat der Hofmarschall oder der Kronprinz persönlich den Frühstücksplatz ausgewählt. Die Herren der Hauptquartiers sind von den Pferden abgestiegen, lagern oder stehen im Schatten der sonnendurchschimmerten grünen Wipfel, oder auch unbekümmert und ungeschützt im niederströmenden Regen, die Feldflaschen kreisen, man bietet und nimmt Brod, Chocolade, kalte Hühner. Hier erschallt lautes Lachen über irgend ein gutes Bonmot, zu dem ein aufgefundenes Pariser Journal Veranlassung gegeben hat; dort stehen andere Gruppen ernst prüfend über [839] die Generalstabskarte der nächsten Departementssection gebeugt. Auch aus den Wagen ist man ausgestiegen, besieht sich gegenseitig, „vertritt sich“ und „füttert“ im ausgedehntesten Maßstabe. Das Ganze sieht viel ähnlicher einer kolossalen munteren Gesellschaftsreise zu Pferd und Wagen mit überwiegend militärischen Theilnehmern als einem Kriegszuge durch Feindes Land. Freilich, je weiter man in demselben vorrückt, desto mehr hat sich dieser Charakter gewandelt, desto häufiger, finsterer und trauriger sind die Spuren des bitteren blutigen Ernstes geworden, auch auf den Wegen, welche das Hauptquartier marschirte!

Die Stunde des Rendezvous ist vorüber, und vorwärts geht es in alter Weise, in alter Ordnung, nur daß zuweilen der Kronprinz mit seinem Reitergefolge schneller vorausgesprengt ist und die Colonne ohne diese Spitze zu folgen hat. Sechs Stunden, auch wohl acht oder zwölf mag der ganze Marsch gedauert haben; da stockt der Zug. Man blickt nach vorn aus dem Wagenfenster nach der Ursache. Es zeigt sich der Eingang eines Dörfchens oder Städtchens, und an diesem Eingange steht der gestern Abend schon vorausgerittene Quartiermacher Hauptmann von Bosse oder der junge hübsche braunäugige, elegante und unermüdliche schlesische Dragonerlieutenant Herr von Bissing oder der Feldjägerlieutenant Herr von Hauschild und überreichen jedem der Heranreitenden oder Fahrenden seinen Quartierzettel mit der Anweisung, wo er den gastlich für ihn bereiteten Ort zu suchen hat, an dem er sein Haupt hinlegen könne für diese Nacht. Es ist wie eine Art gütiger Vorsehung, die über uns waltet.

Das ist eines Hauptquartiers Marsch in den Zeiten verhältnißmäßiger Waffenruhe. Angesichts naher großer Entscheidungskämpfe freilich gestaltet es sich wesentlich anders. Vielleicht darf ich den Lesern der Gartenlaube gelegentlich von dem Marschiren und Verhalten des Hauptquartiers und Obercommandos in der Schlacht erzählen.




Eine Zillerthaler Sängerfamilie.
Von Ludwig Steub.
(Schluß.)


5.

Es war im Jahre 1838, als sich im ganzen Lande Tirol große Unruhe und Geschäftigkeit zeigte. Alles Volk bereitete sich nämlich auf die Huldigung vor, welche der gute Kaiser Ferdinand im August zu Innsbruck einnehmen sollte.

Auch die Fügener Schützen boten alle Kräfte auf, um dem Kaiser die gebührende Ehre zu erweisen. Die Compagnie wurde unter Hauptmann Anton Ritzl, Hutmachermeister zu Fügen, bestmöglich zusammengestellt. Die Musikcapelle, in welcher Ludwig Rainer als Hornbläser wirkte, war ununterbrochen bemüht, neue Märsche und Gesänge einzustudiren, um sich in Innsbruck bestens hervorthun zu können. Täglich wurden Uebungen in der Gemeindeau gehalten, und die Gäste, die solchen Proben beigewohnt, waren alles Lobes voll, so daß der Compagnie im ganzen Innthal bis nach der Landeshauptstadt hinauf ein großer Ruf vorausging und die Bevölkerung in gespannter Erwartung war, die Fügener zu sehen und zu hören.

So marschirten sie denn eines Tages mit klingendem Spiel und unter allgemeinem Jubel aus und kamen am ersten Tage bis Schwaz. Dort wurden sie freundlichst begrüßt und hörten von allen Seiten, ihre Compagnie sei die schönste im Unterinnthale, was sie nicht wenig stolz machte.

Am nächsten Tage, als es schon dämmerte, rückten sie in die Stadt Hall ein, wo unzähliges Volk auf sie gewartet hatte, und beschlossen, dort zu bleiben. In der nahen Landeshauptstadt war freilich an diesem Abende eine wundervolle Beleuchtung, welche die Schützen mächtig anzog; allein die Hauptleute verboten strengstens hinaufzugehen, damit dort kein Fügener gesehen werde, ehedenn die ganze Compagnie ihren Einzug halte. Auf diesen Befehl begaben sich Alle in die Nachtquartiere; die Spielleute, unter ihnen Ludwig Rainer, meistentheils in das Wirthshaus ‚zu den drei Gilgen‘ (Lilien). Dort setzten sie sich zusammen und besprachen, wie man den Abend ausfüllen sollte. Nun waren aber Viele darunter, welche trotz des strengen Verbots die Beleuchtung gar gern gesehen hätten, und so ließ ihnen denn der Wirth zwei Stellwagen einspannen, in denen etwa dreißig Cameraden nach Innsbruck fuhren. Für ihre Zurückkunft sollte ihnen als Nachtlager frisches Stroh im neugebauten Pferdestall bereit gehalten werden.

Ludwig Rainer wäre ebenfalls gern mitgegangen, allein er und Onkel Franz und noch zwei andere Fügener hatten eine Einladung angenommen, beim Zeindt vor den Herren Bergbeamten zu singen, und so mußte er denn auf die vielversprechende Partie verzichten. Er sah jene seine Gefährten bei ihrer Abfahrt zum letzten Male lebendig.

Als der Gesang, der den vollen Beifall der Herren Beamten gefunden, zu Ende war, ließ Herr Bergrath Zöttl Forellen und Wein auftragen. Ludwig Rainer that sich dabei gütlich, bis um zwölf Uhr die Nachricht kam, die Schützen, welche nach Innsbruck gefahren, seien soeben wieder in den Drei Gilgen angekommen und gesonnen, sich noch mit Gesang und Tanz zu unterhalten. Unser Sänger wollte eben auch zu den Cameraden gehen, als ihm die hübsche Kellnerin zusprach, er solle doch bleiben, es könnte da ja auch noch lustig werden. Ueberdies kam noch ein guter Freund, Joseph Huber, der Fähndrich, dazu, bot ihm statt des Strohlagers in den Drei Gilgen sein Federbett an und bat ihn ebenfalls zu bleiben. So setzten sie sich denn zusammen und plauderten und scherzten bis noch ein Stündlein vergangen war.

Die Kellnerin wies ihnen hierauf die Schlafkammer an, die sie mit noch einigen anderen Schützen zu theilen hatten. Sie wollten sich eben zur Ruhe begeben, hatten auch schon das Licht ausgelöscht, als plötzlich auf der Gasse Lärm entstand. Zugleich hörte man die Trommler mit dumpfen Schlägen Alarm schlagen, einige Nothschüsse krachten und von allen Kirchthürmen erscholl ein schauerliches Sturmgeläute. Ludwig Rainer und der Fähndrich fuhren zusammen vor Angst und Schrecken, und weckten die Cameraden, die noch nicht selbst erwacht. Nun war aber auch schon im Hause Lärm entstanden.

Die Kellnerin kam schreiend und jammernd über die Stiege herauf, mit ihr der Hauptmann, der Landrichter, die Gerichtsschreiber und noch andere Leute, auch der Oberlieutenant, Franz Nißl, welcher eine große Laterne in der Hand führte. Als er Ludwig Rainer sah, stürzte er auf ihn zu, küßte ihn und sagte: „Gott sei Dank, daß Ihr da seid; wir glaubten auch Euch unter dem Schutthaufen!“

Jetzt erfuhren sie die traurige Geschichte ihrer Cameraden im Gilgenwirthshause und machten sich schnell fertig, um nach ihren Brüdern und Freunden zu sehen. Aber leider haben sie die meisten nicht mehr lebend gefunden! Auch der erwähnte Fähndrich hatte seine zwei Brüder verloren.

Was da nun vorgefallen, das erzählte dem Ludwig Rainer damals ein guter Freund, der sich gerettet hatte, Ludwig Werfer, des Schloßverwalters Sohn, und sagte:

„Es war ungefähr des Morgens um ein Uhr, als wir uns, gegen dreißig an der Zahl, Alle sehr heiter und etwas angetrunken, in den neuen Stall zur Ruhe begaben. Der Hausknecht begleitete uns mit einer Laterne und hängte diese mitten im Stalle an einen großen Pfeiler. Er bot uns noch Allen gute Nacht und schloß dann die Thür hinter sich zu. ‚Jetzt sind wir ja eingesperrt!‘ rief ich bedenklich aus.

‚Macht Nichts,‘ entgegnete ein Anderer, ‚so kann uns Niemand stehlen!‘

Der große Pfeiler theilte den Stall in zwei gleiche Theile. In der vordern Hälfte standen zwei starke Rosse, in der andern lagen die Schützen, darunter ich, als der nächste an dem Pfeiler. Als nun Alle bis auf den Lieutenant, welcher eben sein Seitengewehr abschnallte, sich niedergelegt hatten, hörte ich im obern Stock des Neubaus einen furchtbaren Kracher, so daß ich schnell auffuhr und ausrief: ‚Buben, das Haus bricht z’samm!‘ Was nun munter lag, lief schnell gegen die gesperrte Thür zu, aber während des Laufens brach auch schon das hintere Gewölbe herunter auf die armen Schläfer. Ich konnte noch deutlich sehen, [840] wie es den Lieutenant hinten im Stall, der Alles für Scherz hielt, niederwarf und zusammenschlug.

Bis zum Pfeiler war das ganze Gewölbe heruntergebrochen. Nur Einzelne, die meinem Rufe noch folgen konnten, entwischten und fanden sich diesseits bei den Pferden ein, welche nun aber im Schrecken auch losrissen und furchtbar zu toben anfingen. Unsere Lage bin ich wohl nicht im Stande zu schildern! Da der Sturz auch die Laterne zerschlagen so war Alles stockfinster – dazu die gesperrte Thür – die tobenden Rosse – das Jammern und Hülfegeschrei der noch lebenden Cameraden, die zum Theil nur halb verschüttet waren – der dicke Staub, der uns jeden Augenblick zu ersticken drohte, und die Angst, der noch stehende Theil des Neubaus könne auch jeden Augenblick herunterbrechen und uns lebendig begraben.

Endlich kam man helfend zur Thür, die aber auch erst gesprengt werden mußte, und setzte uns in Freiheit. Dann begann Alles mit Pickeln und Schaufeln den Halbverschüttften zu Hülfe zu kommen, ein gefährliches Unternehmen, weil man nicht wußte, ob nicht der ganze Neubau noch nachstürzen würde.“

Von denen, die ganz verschüttet waren, wurden nur zwei noch lebendig ausgegraben. Der Eine wurde bald geheilt, der Andere blieb leidend und starb ein paar Jahre später. Es war der Zimmerer Lux, der auf seinem Schmerzenslager eine Tafel malen ließ mit dem Leichenzuge aller sechszehn Cameraden, welche jetzt noch an der obern Kirchthür zu Fügen hängt. Auch von den Geretteten waren ihrer acht theils durch das Schlagen der Pferde verwundet.[2]

Um acht Uhr Morgens wurde die trauernde Compagnie von den Hauptleuten so gut als möglich zusammengerichtet. Wenn aus den verschiedenen Gassen noch ein verspäteter Schütze herbeieilte, war Alles froh, weil man ihn auch schon zu den Todten gerechnet hatte. Von den Fahnen, welche gestern noch mit bunten Blumen geziert waren, hingen heute lange schwarze Schleier herunter, die Trommeln waren mit schwarzem Tuch überzogen und tönten düster und melancholisch. Auf Verlangen des Kaisers marschirte die Compagnie vor die Residenz, wo ihr die ganze kaiserliche Familie das innigste Bedauern über die erschütternde Begebenheit aussprach. Von dort zog sie zum Adamsbräu nach Wilten, wo sie einquartiert wurde und das ganze Haus zur Verfügung hatte.

„Jetzt,“ erzählt Ludwig Rainer weiter, „eilten auch alle die Mütter, Frauen und Geschwister der Ausgezogenen nach Hall, um nach ihren Lieben umzusehen. Meine Mutter befand sich eben auf dem Wege nach Innsbruck, wo sie mit ihren Brüdern vor dem Kaiser singen sollte. Ihre Angst ist wohl zu denken, doch erfuhr sie schon in Volders, daß ich nicht beim Gilgenwirth gewesen.

Des Nachmittags ging ich, um etwas Zerstreuung zu suchen, auf den Rennplatz (vor der Residenz), wo jetzt tausend Neugierige auf- und abwogten. Darunter waren Viele, welche mich an meiner Tracht als einen Mann der unglücklichen Fügener Compagnie erkannten, auf mich zugingen und den ganzen Hergang zu hören begehrten. Dicht umringt, erzählte ich ihn, so gut ich konnte, und erzählte immer wieder, bis sich ein Hofbedienter durch den Haufen drängte und mir eröffnete, daß der Kaiser und der Erzherzog Johann, welche mich vom Fenster aus gesehen, mit mir zu sprechen verlangten. Ich folgte also dem Bedienten, welcher mich in einen großen Saal führte, wo mir der gute Herzog Johann schon entgegenkam. Nachdem er mich gefragt, ob ich von der Fügener Compagnie sei, und ich dies bejaht hatte, fragte er weiter, ob nicht Stanislaus Eigner, ein Wirthssohn von Fügen, den er aus der Taufe gehoben, auch unter den Verunglückten sei. Darauf konnte ich ihm zu seiner Freude sagen, daß dieser noch lebe und sich bei uns in Innsbruck befinde. Unterdessen war auch der Kaiser aus einem Nebenzimmer gekommen und ich mußte die Geschichte noch einmal erzählen, wodurch Beide tief ergriffen wurden. Der Erzherzog drückte mir zum Schlusse zwei Kronenthaler in die Hand und trug mir auf, meinen Hauptleuten sogleich zu melden, daß sie der Kaiser in der Residenz erwarte, um zu berathen, was für die Hinterlassenen geschehen könne. Ich richtete meinen Auftrag unverzüglich aus, die Geladenen begaben sich sogleich in die Burg, und der Kaiser setzte noch am nämlichen Abende fur die Betroffenen großmüthige Pensionen aus.“

Die vorige Schreckensnacht hatte aber noch ein seltsames Nachspiel. Die Schützen lagen nämlich beim Adamsbräu zum Theile im Hause, zum Theile – ihrer achtzig – auf der Malztenne. Unter diesen war auch Ludwig Rainer, der noch immer – es war gegen ein Uhr – an die gestrige Begebenheit und seine Cameraden dachte. Beim trüben Scheine der Laterne glaubte er nun einen Mann hereintreten zu sehen und meinte den Ruf zu hören: „Auf, es bricht Alles zusammen!“ Mit einem Male wer das ganze Haus in Aufruhr. Die Schützen auf der Malztenne drängten sich, stießen sich, sprangen einander über die Köpfe weg auf die Thür zu. Auch zu den Fenstern wollten sie hinaus, doch waren diese glücklicherweise vergittert. Als nun Alles im Vorhofe zusammeneilte, kam auch der Hauptmann und brachte die traurige Nachricht, daß sie oben im Hauptgebäude denselben Lärm gehört, und daß sein Sohn aus Angst und Schrecken vom ersten Stock auf das Straßenpflaster heruntergesprungen sei. Dieser wurde auch eben auf einer Tragbahre zum Thore hereingebracht und hatte noch lange zu leiden. Nun fragten sich aber Alle kreuz und quer, was denn eigentlich an der Sache sei, und Keiner konnte einen Aufschluß geben. Auch Ludwig Rainer kam zur Einsicht, daß er den rufenden Mann nur im Traume gehört. So blieb denn nichts Anderes übrig, als den ganzen Auftritt für eine unerklärliche Nachwirkung des Schreckens der vorigen Nacht anzusehen.

Am andern Morgen, als am Huldigungstage, marschirte die Compagnie also von Wilten in die Stadt. Zu einigem Troste in ihrer Traurigkeit befahl der Kaiser, daß ihr für diesen Tag die Ehrenwache in der Hofburg übertragen würde. Dort konnte sie auch den herrlichen Festzug am gemüthlichsten betrachten und übersehen.

Des Nachmittags wurde die Mutter mit den vier Brüdern in die Residenz geladen um dort vor dem Kaiser zu singen. Auch Ludwig Rainer und viele andere gute Bekannte erhielten Zutritt. Nachdem der Gesang zu Ende, durften sich Alle an eine gedeckte Tafel setzen und mit goldenen Löffeln essen, welch Letzteres den Meisten ganz neu und ungewohnt gewesen sein soll.

Am andern Tage des Morgens um vier Uhr brachen alle Compagnien aus dem Unterinnthale in Innsbruck auf und marschirten nach Hall, um den erschlagenen Cameraden die letzte Ehre zu erweisen. Die Schützen weinten den guten lieben Jungen manche Thräne nach. Sie wurden zu Hall auf dem Friedhof alle sechszehn in ein Grab gelegt und harren dort einer fröhlichen Auferstehung.




6.

Ludwig Rainer war nun siebenzehn Jahre alt und ein ziemlich leichtsinniges Bürschlein geworden. Indem er dies selbst hervorhebt, erlaubt er sich auch manchen scharfen Tadel uber die männliche Jugend seines Thales. Zechen und Müßiggehen gelte ihr für fashionable, und wer nicht mithalte, werde leicht als ein Kopfhänger oder Betbruder verschrieen. Da es Einer dem Andern im Leichtsinn und Uebermuth zuvorzuthun suche, so werde mancher gute Junge schon früh verdorben und zu Grunde gerichtet. – Salvo meliori. –

„Nun besuchte uns eines Tages,“ heißt es in den Aufzeichnungen Rainer’s, „ein Befreundeter, Johann Masserer nämlich, der mit seinem Bruder Franz, mit Simon Holaus von Zell und der Margaretha Sprenger von Kupferberg als Tiroler Sänger auf Reisen gewesen war. Dieser sagte zu meiner Mutter, er habe mich auf dem Chore singen hören, und meine Stimme habe ihm so gefallen, daß er mich, wenn sie es erlaubte und ich dazu Lust hätte, auf seine bevorstehende Reise als Sänger mitnehmen würde.

Meine Mutter überlegte sich die Sache. Sie mochte wohl finden, daß es besser sein dürfte, den jungen Schwärmer in die weite Welt zu schicken als ihn zu Hause in schlechter Gesellschaft verkommen zu lassen, und gab daher. nach kurzem Bedenken den Bescheid: ‚Ja, wenn Du glaubst, daß Du mit dem leichtsinnigen Bürschlein etwas machen kannst, so nimm ihn nur mit – schlimmer kann er nimmer werden, als er ist.‘ Diese Worte habe ich in meinem Leben nicht mehr vergessen. Ich nahm mir von dieser [841] Stunde an vor, ein anderer Mensch und recht sparsam zu werden, und der Mutter bald zu zeigen, daß ich mich gebessert habe. Es war auch wirklich das größte Glück für mich, daß ich von Fügen fortkam.

So war nun Alles zur Abreise fertig. Meine Mutter gab mir achtzehn Gulden Zehrpfennig mit, und mein Onkel Franz führte uns mit seinem Gefährte bis Kufstein. Beim Dreikönigswirth gaben wir dort das erste Concert, und ich trat da zum ersten Male vor einem Tiroler Publicum als Sänger auf. Ich benahm mich so couragirt, als wäre ich schon viele Jahre auf der Bühne gestanden. Unser Gesang fand ungemeinen Beifall, und wir machten schon in Kufstein ganz gute Geschäfte.

Von da reisten wir nach München, wo wir eine geraume Zeit verweilten und sehr beliebt waren. Wir hatten auch die Ehre, öfter vor dem Herzog Maximilian von Baiern zu singen. In kurzer Zeit schon hatte ich mir achtzig Gulden erspart. Dafür habe ich meinem Freunde Holaus viel zu danken. Er behandelte mich sehr gut, lehrte mich sparsam sein und doch dabei zu leben, wie es einem anständigen Menschen geziemt.

Eines Tages kam in München mein Freund Felix Margreiter zu uns, welcher eben auf der Heimreise begriffen war, um wieder eine Sommerfrische auf der Pfunser Alpe zu nehmen. Diesem gab ich die ersparten achtzig Gulden für meine Mutter auf mit dem Bemerken, der Leichtsinnige lasse sie Alle schön grüßen und er sei setzt schon ein besserer Mensch geworden. Es läßt sich denken, daß sie darüber zu Hause eine große Freude hatten.“

Die Reise wurde nun unter günstigen Bedingungen fortgesetzt – von München über Nürnberg, Bamberg nach Kissingen, von da nach Würzburg, Frankfurt bis Bad Ems und von da wieder zurück nach Karlsruhe und Baden-Baden. Hier aber ward ihrem Singen ein unerwünschtes Ziel gesetzt. Simon Holaus nämlich wurde krank und lag lange Zeit am Nervenfieber darnieder. Er erholte sich sehr langsam, und an eine Fortsetzung der Kunsteise war vor der Hand nicht zu denken. So traten sie denn den Rückweg nach Fügen an, wo sie eines Abends um zehn Uhr ankamen und bei Franz Rainer einkehrten.

„Wir unterhielten uns diesen Abend sehr angenehm; alle unsere Freunde strömten zusammen, und meine Mutter hatte eine große Freude, mich so umgeändert wiederzusehen.“




7.

So weit der erste Folioband, der aber kaum zum vierten Theile beschrieben, übrigens auch erst spät, im Jahre 1851, begonnen worden ist, als Herr Rainer einst von einer Schriftstellerlaune befallen wurde und sich erinnerungsselig hinsetzte, um seine Memoiren oder wenigstens die Geschichte seiner Jugend für Kinder und Enkel schriftlich herzustellen. Aelter und gleichzeitig entstanden ist das Tagebuch der Reise nach Amerika, etliche dreihundert enggeschriebene Seiten, auf welchen Herr Rainer vom 1. Januar 1840 bis in den Mai 1863 Tag für Tag seine Erlebnisse verzeichnete. Diesen reichhaltigeren Stoff zu verarbeiten will ich aber gern einem richtigeren Nachfolger überlassen. Gleichwohl mag in Kürze erwähnt werden, daß die erste Idee, die Fügener nach Amerika zu führen, von einem französischen Abenteurer, Eugen Burnand, ausging. Dieser erschien eines Tages im „Gasthaus zum Hackelthurm“, suchte die Sänger kennen zu lernen und „gaschierte sie dann auf zwei Jahre zu einer Kunstreise an“. Die anderen Glieder der Gesellschaft waren Simon Holaus, Margaretha Sprenger und Ludwig’s Base, Helena Rainer, eine Tochter des Onkels Johann Simon Holaus; der älteste unter ihnen zählte kaum zweiundzwanzig Jahre. Diese junge Gesellschaft, unerfahren und voll Vertrauen, wurde von dem Franzosen arglistig betrogen. Als sie nach vierzehn Monaten endlich Abrechnung und Auszahlung ihres Verdienstes verlangte, war Jener bald verschwunden und kam nicht wieder zum Vorschein. Die Zillerthaler saßen nun ohne alle Mittel, ganz verlassen zu New-Orleans; aber mit Hülfe einiger Schweizer Kaufleute gingen sie wieder unverzagt ihrem Berufe nach und errangen sehr schöne Erfolge, bis sie in Boston ein neues Mißgeschick befiel. Helena Rainer, ein reizendes, unverdorbenes Mädchen, hatte sich nämlich heimlich mit einem Amerikaner versprochen und eröffnete den Anderen erst wenige Tage vor der Hochzeit, daß sie aus der Gesellschaft treten werde.

Da alle Bitten und Vorstellungen vergeblich waren, so standen die Verlassenen allein, ohne Sopran, in der Welt und mußten sich schleunig um einen Ersatz umsehen. Als solcher fand sich ein hübscher irischer Knabe, in welchem Ludwig Rainer zufällig Anlage zum Jodeln entdeckt hatte. Die armen Eltern ließen den Jungen gern ab und so trat er denn nach einiger Uebung zu Boston mit den Zillerthalern als Tiroler auf und fand allgemeinen Beifall. Dies dauerte aber auch nicht lange; nach einem halben Jahre schlug des jungen Irländers feiner Sopran in eine Baßstimme um und die Gesellschaft war wieder in großer Noth. Sie schrieb nach Fügen und bat um Hülfe. Nachdem sie in Halifax drei Monate sehnsüchtig geharrt, kamen auch zwei Zillerthaler an, aber leider solche, „die besser mit der Heugabel umzugehen wußten, als mit Alpengesang!“ Die Enttäuschung war sehr bitter und es blieb nichts übrig, als in die Heimath zurückzukehren.

Damals brachte jedes Mitglied sechstausend Gulden nach Hause. Wäre Alles nach Wunsch gegangen und die letzte Widerwärtigkeit nicht eingetreten, so hätte, meint Ludwig Rainer, jeder Theilnehmer ebenso leicht sechszigtausend Dollars heimbringen können. Nach dieser Reise geschah es, daß ich den vielgewanderten Sänger 1844 zu Fügen traf und kennen lernte. Nunmehr entschloß er sich zu heirathen und zwar dieselbe Margareth Sprenger, welche mit ihm in Amerika gewesen. Sie starb aber bald nach ihrer ersten Entbindung. Von Gastwirths Hannele war nicht mehr die Rede; doch soll sie schon lange in Wien eine ganz glückliche Gattin und Besitzerin einer großen Meierei mit Milchwirthschaft sein. Nachdem sich Ludwig Rainer wieder verehelicht, kaufte er das Hirschenwirthshaus in Rattenberg. Im Jahre 1848 zog er gegen Garibaldi und seine Schaaren als Schützenlieutenant nach Wälschtirol. Als das Jahr 1851 und mit ihm die erste große Weltausstellung in London herankam, regte sich aber wieder eine tiefe Sehnsucht nach dem alten Wander- und Sängerleben in der weiten Welt. Auch Freund Holaus wollte nicht mehr zu Hause bleiben und so stellten sie wieder ein Quintett zusammen, welches sie nach London führten. Das Unternehmen hatte sehr guten Erfolg; die Zillerthaler sangen sogar mehrmals in Windsor Castle vor der Königin Victoria, von welcher ihr Hauptmann eine goldene Uhr zum Geschenk erhielt. Auch in Schottland und Irland ließen sie ihre Lieder erschallen und der große Name Rainer übte noch allenthalben seinen Zauber. Kaum zurückgekehrt, zog unser Held auch singend nach Italien und im Jahre 1855, von Graf Morny eingeladen, zur Weltausstellung nach Paris, wo er und seine Gesellschaft mehrmals in die Tuilerien beschieden wurden. Von Paris wandten sie sich nach dem Norden und sangen an den skandinavischen Höfen. Im Jahre 1858 nahm Ludwig Rainer ein langes Engagement in St. Petersburg an und blieb, wie schon erwähnt, gegen zehn Jahre dort. Da auch seine zweite Frau gestorben, so vermählte er sich am Newa-Strand zum dritten Male, und zwar mit Anna Prantl, der Wirthstochter von Margreten, welche, wie schon früher berichtet, eine Schwester der beiden schwarzen Gestalten ist, die ich damals zu Schwaz gesehen. Das war eine sehr lustige Hochzeit, ganz nach Tiroler Art, und mußten dabei auch die geladenen Gäste, mehrere hundert an der Zahl, in Tiroler Tracht erscheinen. Es störte die Freude keineswegs, daß das Brautpaar von deutschen und russischen Freunden auch mit sehr kostbaren Geschenken beehrt wurde.

Aus Rußland zog den Sänger 1868 das Wiener Schützenfest heraus. Er blieb mit seiner Gesellschaft sechs Monate in der Kaiserstadt an der Donau, bereiste dann Ungarn, Siebenbürgen, das Land der Walachen und drang selbst in die Türkei vor.

Vergangenen Herbst haben wir ihn und seine Gesellschaft in München gesehen und gehört. Damals gedachte er wieder ein halbes Jahr auf Wanderschaft zuzubringen. Die freie Zeit, welche er zwischen hinein in seiner Heimath verlebte, hatte er rührig benützt, um am Achensee nicht weit von der bekannten Scholastica, einen neuen Gasthof zu gründen. Eine Zubehör desselben, die Veranda oder das Kaffeehaus, sehr elegant an’s Gestade hingestellt, ist schon seit ein oder zwei Jahren eröffnet. Das Hôtel selbst soll im kommenden Sommer fertig sein. Während der unternehmende Mann in den europäischen Hauptstädten Zillerthaler Lieder singt, waltet dort in der Einsamkeit Frau Anna Rainer, die züchtige Hausfrau, jetzt von den Gästen des Achenthals nicht minder hochgestellt als freundliche tüchtige Wirthin, wie vordem von Russen und Tataren als kunstreiche Jodlerin. Möge das Unternehmen vor allen tellurischen Nationen Gnade und so das Gedeihen finden, das es verdient.




[842]
Im Hauptquartier des Prinzen Friedrich Karl.
Von unserem Berichterstatter Georg Horn.
Sechster Brief. Die historische Stunde im Schlosse Frescaty.

Der Capitulation von Metz gingen eine Reihe von Verhandlungen vorauf, welche nicht nur zwischen dem Hauptquartier des Marschalls Bazaine und den Hauptquartieren in Versailles und Corny stattfanden, sondern welche ihre Fäden auch nach Deutschland und nach England, nach den Wohnsitzen des entthronten Kaiserpaares hinüber leiteten.

Am 22. September Nachmittags gegen fünf Uhr konnte man einen offenen Jagdwagen aus dem Parke von Corny die Straße nach Jouy entlang über die Moselbrücke, nach Ars sur Moselle zu und von da weiter bis an die Vorpostenlinie seinen Weg nehmen sehen. Der Wagen wurde von dem Commandanten des Hauptquartiers der zweiten Armee, von dem Rittmeister v. Willisen, gelenkt, und neben ihm saß ein Mann in Civil, etwa fünfzig Jahre alt, von gedrungener Figur, soviel man aus der sitzenden Stellung desselben entnehmen konnte. Er trug ein graues Sommercostüm, grauen Hut, graue Cravatte, graue Handschuhe und einen französischen Henriquatre, Alles an dem Manne war grau, nur seine lebendigen Augen nicht, die waren von tiefstem Schwarz, und sein Haar war schneeweiß. Jedenfalls war der Betreffende dazu angethan, Aufmerksamkeit zu erregen, sei es durch seine Erscheinung, sei es durch die Gesellschaft, in welcher er sich befand; denn ein Mann, ein Civilist, den man von dem Commandanten des Hauptquartiers geleiten, den man den Weg nach den Vorposten nehmen läßt, kann keine unbedeutende Persönlichkeit sein. Der Name des begleitenden Officiers, dessen Vater unter der Regierung Friedrich Wilhelm des Vierten vielfach in wichtigen militärisch-diplomatischen Sendungen verwendet worden, war jedenfalls mitwirkend, daß man in dem Fremden den Träger eines in der politischen Welt bedeutenden Namens sehen wollte; wenige Tage zuvor hatten die Zeitungen die Nachricht von den Verhandlungen des Grafen Bismarck mit Jules Favre gebracht – der Graue war Jules Favre oder zum Wenigsten dessen Bruder, und aus dem Hauptquartier gekommen, um durch Autorisation des Obercommandos der Cernirungsarmee durch die Vorposten hindurchgelassen zu werden und mit Bazaine über das Schicksal der Armee und der Festung zu unterhandeln.

Das war die Auffassung, die man am selben Abend noch über die Erscheinung des Fremden hatte. Aus den maßgebenden Kreisen verlautete über ihn natürlich kein Wort; aber die Combination war angeregt. Ein Amerikaner, der sich an jenem Abend in Corny befand und aus Versailles gekommen war, wollte mit ihm gereist sein, und versicherte hoch und theuer, daß es der Bruder Jules Favre’s sei, der in vertraulicher Sendung von Bazaine komme; in Pont à Mousson, wo man ihn beim Einsteigen in den Waggon vielleicht wegen seiner außergewöhnlich auffallenden Persönlichkeit angehalten hatte, habe er einen Paß vorgezeigt, nach dessen Einsichtnahme der betreffende Beamte sehr höflich die Mütze abgenommen und vielfach um Entschuldigung gebeten habe, daß man ihn überhaupt belästigt habe; unter dem Paß wollte der Amerikaner ganz deutlich die großen, energischen Schriftzüge des Grafen Bismarck gesehen haben. Die Annahme, daß er zu Verhandlungen mit Bazaine gekommen sei, gewann dadurch an Wahrscheinlichkeit, daß der Commandant des Hauptquartiers am Abend allein mit dem Wagen nach Corny zurückkehrte. Jedenfalls hatte der Graue sich durch die preußischen und französischen Vorposten hindurch nach Les Plantières, wo sich damals der Marschall Bazaine befand, zu diesem begeben.

Ich hatte, von einem Spaziergange von St. Blaise zurückkehrend, den Wagen aus dem Parke von Corny ausbiegen sehen, und ich muß gestehen, ich war über den Fremden nicht weniger frappirt, als es alle Welt war, die leitenden, in die Sache eingeweihten Persönlichkeiten vielleicht ausgenommen. Am Vormittage des zweitfolgenden Tages sah ich den grauen Mann wieder, aber diesmal nicht allein; auf dem Wagen, der die Straße von Jouy herkam und wieder von dem bereits genannten Officier gefahren wurde, saß neben diesem der angebliche Bruder Jules Favre’s, auf dem Hintersitze aber noch ein Herr, der eine weiße Mütze mit dem Genfer Conventionszeichen trug, zu welcher mir aber sein ganz und gar ausgesprochenes militärisches Aeußere nicht stimmen wollte; in einem zweiten Wagen folgten mehrere Herren mit eben solchen Mützen, die Wagen fuhren in den Schloßhof von Corny ein, man führte die Ankömmlinge in den Speisesaal, wo man ihnen ein Frühstück servirte, und etwa eine Stunde darauf sah man sie durch das Dorf Corny hindurch in der Richtung nach Pont à Mousson zu wieder abfahren. Auf die Frage, wer diese Herren gewesen, ertheilte man zur Antwort, es seien Aerzte einer luxemburgischen Ambulance, die mit der Armee des Marschalls Bazaine in Metz eingeschlossen worden, jetzt aber durch die Vermittelung des älteren Herrn, nämlich des grauen Mannes, nach Verhandlungen mit dem preußischen und französischen Obercommando wieder herausgeholt worden seien. Also das war der Zweck, also in dieser fast nüchternen, rein technischen Weise löste sich das Geheimniß, das den grauen Mann umschwebte? Doch nein! In demselben Augenblicke, als ich diese Antwort erhielt, erinnerte ich mich ganz genau, wo ich den Mann gesehen hatte, dessen militärische Erscheinung und Haltung sich von der seiner Begleiter und angeblichen medicinischen Collegen auffallend unterschied, und auf den mir gewordenen Bescheid erwiderte ich:

„Gewiß, ich zweifle nicht, daß die Herren in der That Aerzte sind, mit Ausnahme eines Einzigen –“

„Welchen meinen Sie?“

„Den Herrn von mittlerer, schmächtiger, eleganter Figur, mit dem dunklen Henriquatre; wenn der ein Recept verschreiben sollte, das könnte der Apotheker gewiß nicht lesen.“

„Woraus schließen Sie das?“

„Aus der kalten, fast beleidigenden Zurückhaltung, die er gegen seine angeblichen Collegen bewahrte. Ich sah die Herren im Hofe absteigen und dort kurze Zeit verweilen, ehe sie sich zum Frühstück begaben. Ich schloß es ferner aus der funkelnagelneuen weißen Mütze mit dem rothen Kreuze, welche von den etwas isabellenfarbigen der übrigen Aerzte auffallend abstach, und die jedenfalls erst gestern gekauft worden war, und dann kommt mir dem Herrn Doctor gegenüber eine Erinnerung an das Herbstmanoeuvre des preußischen Gardecorps im Herbste 1865. Demselben wohnte unter anderen fremdherrlichen Officieren damals der österreichische General von Gablenz und der französische General Bourbaki bei. Letzteren hatte ich mir noch recht genau angesehen; er interessirte mich wegen seiner Erfolge beim Sturm des Malakoff, und jetzt glaube ich ihn wiedergesehen zu haben.“

„Ah bah! Sie irren. Wie wäre das möglich? Gewiß, Sie täuschen sich.“

Und doch hatte ich mich nicht getäuscht, so sehr man auch bemüht war, mir meine Wahrnehmung auszureden; und mit Recht; denn was jetzt ein öffentliches Geheimniß ist, nämlich, daß General Bourbaki Metz mit Vorwissen der beiden Oberbefehlshaber verlassen hat, um sich nach England zur Kaiserin und dann nach Wilhelmshöhe, zum Kaiser zu begeben, das wurde damals noch als tiefes Geheimniß bewahrt; die englischen Blätter brachten die erste Nachricht über das Erscheinen des Generals in England, und die politische Bedeutung, die sich daran knüpfte. Jetzt ist in England auch eine Broschüre über diese Mission erschienen, und der Verfasser derselben ist kein Anderer, als der graue Mann, der am 22. September gegen Abend in Corny erschienen war, versehen, wie der Amerikaner ganz richtig bemerkt hatte, mit einem Geleitschein des Grafen Bismarck. Jedoch nicht als Bruder Jules Favre’s entpuppte er sich, sondern als ein Herr Reignier, auch Graf Reignier, wie von gewisser Seite behauptet wird. In der Broschüre erzählt er seine politischen Fahrten von England nach Versailles, von da in das Hauptquartier der Cernirungsarmee von Metz und seinen Empfang bei den maßgebenden Persönlichkeiten desselben. An jenem Abend des 22. September war er nicht mehr aus Metz vom Marschall Bazaine zurückgekehrt, sondern erst am folgenden Morgen; nach einer Besprechung im Hauptquartier von Corny wurde er wieder an die Vorposten gebracht, um sich zum Marschall Bazaine zurückzubegeben und demselben das Resultat derselben mitzutheilen. Dort hatte er die Nacht verbracht und kam am Vierundzwanzigsten Morgens mit dem General Bourbaki in Corny an. Um nicht die Aufmerksamkeit auf denselben zu lenken, um die [843] ganze Sache übechaupt nicht auffällig zu machen, hatte man die luxemburgischen Aerzte ihm beigegeben, unter ihrer Allgemeinheit sollte seine Besonderheit verschwinden, aber wie sich Achilles unter den Töchtern des Lykomedes verrieth, so der Mann des Schwertes unter den Männern der Lancette.

Welches aber war der Zweck dieser trotz der erwähnten Broschüre und angeblichen Enthüllungen derselben noch immer geheimnißvollen Entführung des Generals Bourbaki? Die Anhaltepunkte des genannten Schriftstückes sind ungenügend, die Motive unklar. Nach den von Herrn Reignier gemachten Mittheilungen hat er die Mission auf eigenen Antrieb unternommen. Graf Bismarck ist aber nicht der Mann, welcher dem ersten besten Privatmann, den die unbezwingbare Lust, Politik zu treiben, anwandelt, Gehör schenkt, noch weniger einen Geleitschein und jedenfalls eine Vollmacht giebt. Der Betreffende muß mit seiner ganzen Persönlichkeit auf einer sehr festen, solidarischen gesellschaftlichen Basis fußen, er muß schon sehr gewichtige und sichere Anhaltepunkte bieten, um ein solches Vertrauen zu verdienen und zu rechtfertigen. Wie aus den Mittheilungen sonst gut unterrichteter englischer Blätter verlautet, sei dagegen die Kaiserin der ganzen Intrigue fremd und sehr erstaunt gewesen, als sich der General Bourbaki bei ihr melden ließ, während diesem und dem Marschall Bazaine von dem Unterhändler Herrn Reignier doch versichert worden sei, daß die Gemahlin Napoleon’s des Dritten einen der Generale von Metz zu sehen wünsche. Wo ist in diesem Gemenge und Gewirre von Möglichkeiten, Unwahrscheinlichkeiten und Widersprüchen die Wahrheit? Jedenfalls beim Grafen Bismarck.

Nach meiner Auffassung hat Reignier scheinbar aus eigenem Antrieb, factisch aber im Auftrag der bonapartistischen Emigration in London, der Mitglieder der Regentschaft der Kaiserin und im Einverständniß mit dieser selbst, sich in das große Hauptquartier begeben, nachdem man dessen Geneigtheit kannte, zum Zwecke von Friedensverhandlungen mit demjenigen Regierungskörper wieder anzuknüpfen, mit dem man abgebrochen hatte, nämlich mit der Regentschaft der Kaiserin. Dabei bleibt die Annahme gar nicht ausgeschlossen, daß die Kaiserin, ehe sie auf die Vorschläge der bonapartistischen Emigration einging, den Rath eines der dem Kaiser ergebensten Generale hören wollte, und als solcher galt von jeher der Commandeur der kaiserlichen Garde, General Bourbaki, der mit Bazaine in Metz eingeschlossen war. Durch ihn aber wird die Kaiserin die Abtretung von Elsaß und Lothringen als eine der wesentlichsten Friedensbedingungen kennen gelernt haben, und es bedurfte gar nicht erst des militärischen Rathgebers, um ihr zu sagen, daß, wer für Frankreich einen solchen Frieden unterzeichne, für Frankreich auch verloren sei. Erst dann mag man sich veranlaßt gesehen haben, der Sache für die Oeffentlichkeit eine Wendung zu geben, nach welcher die Kaiserin diese ganze Fügung der Dinge von sich abgewiesen hätte und ihr vollständig fremd gewesen wäre.

General Bourbaki hatte nach seiner politischen Odyssee nach Metz zurückkehren wollen und ein darauf bezügliches Gesuch, wie man hört, von Luxemburg aus an das Obercommando der zweiten Armee gerichtet. Ehe dies jedoch beantwortet war, reiste Bourbaki nach Brüssel ab. Von da hat er sich bekanntlich nach Tours begeben und der Republik zur Verfügung gestellt. Unter ihr bildete er die Armee von Lille, deren Commando er allerdings bald wieder abgab, doch wohl nur, um später ein anderes Corps zu übernehmen.

Einen Tag nach dem Erscheinen der luxemburgischen Aerzte in Corny, an einem herrlichen Sonntagmorgen voll Wärme und Sonnenschein, fuhr ich nach Toul; die Festung war zwei Tage vorher, am Dreiundzwanzigsten, gefallen, und ich wollte mir das Aufathmen einer seit acht Wochen eingeschlossenen und durch die Capitulation befreiten Stadt ansehen. Auf dem Bahnhofe von Pont à Mousson herrschte das lauteste lebendigste Treiben und trotz aller Mühsale und alles Elends des Kriegs die heiterste Sonntagslaune. In allen deutschen Mundarten frugen die Schaffner die Coupés ab, ob „Niemand Neues“ vorher eingestiegen sei – da ließen sich französische Laute vernehmen, der Schaffner des Waggons, in welchem ich saß, hatte das Coupé bereits geschlossen, riß jetzt aber die Thür desselben noch einmal auf, um noch einen Passagier einsteigen zu lassen. Wer war dieser? Der graue Mann aus Corny, damals immer noch der angebliche Bruder Jules Favre’s. Er fuhr mit mir bis nach Frouard; er sagte mir, daß er an diesem Tage nur bis Nancy gehe. Wohl war die Unterhaltung ziemlich einseitig; er schien nicht Lust zu haben, eine solche anzuknüpfen und ich wollte keine solche erzwingen. Seine Geheimnisse hätte er mir doch nicht offenbart. Im Laufe der Fahrt nahm er ein kleines altes Buch heraus, das mir eine Miniaturausgabe eines französischen Classikers zu sein schien, und chiffrirte. Im Uebrigen hatte der Mann gar nicht das Aussehen eines Abenteurers; sein Auzug war gewählt, ohne gesucht zu sein, seine Manieren die besten, sein Französisch das vollendetste.

Das war der Ausgang der ersten Unterhandlung. Um jeden Preis wollte der Marschall Bazaine einem Schicksal ähnlich dem von Sedan entgehen; vielleicht hätte er doch noch einen gewaltsamen Durchbruch versucht, wenn ihm unsere wirkliche Truppenstärke um Metz bekannt gewesen wäre, so aber hatte er dieselbe, wie sich später herausstellte, um die Hälfte zu hoch taxirt. Was er durch Gewalt nicht erreichen konnte, konnte ihm vielleicht auf dem Wege diplomatischer Vereinbarung gelingen. Ich habe den Marschall Bazaine am Nachmittag des 29. October in Corny gesehen, er kam unter strömendem Regen mit seinem Stabe in den Schloßhof geritten und schwang sich trotz seiner Jahre und seiner Corpulenz leicht und elastisch aus dem Sattel; ein Officier des Prinzen Friedrich Karl kam ihm entgegen, um ihn nach den Gemächern des hohen Herrn zu führen. Während der Beauftragte mit ihm sprach, hatte ich Gelegenheit, mir den „Kaiser von Metz“ so recht in nächster Nähe anzusehen und dabei bekam ich durch ihn weniger den Eindruck eines Feldherrn als den eines Condottiere des römischen Mittelalters. Alles an dieser festen, gedrungenen Gestalt, mit den rapiden, entschlossenen Bewegungen, mit diesem kurzgeschorenen Kopfe, mit der wie aus Eisen gegossenen Stirn, mit diesen dunklen glühenden und verschlagenen Augen, alles das deutete auf einen Charakter, der sich mit seinem Rechte auf sich selber stellt, der den Erfolg über die Mittel setzt, und sich und seine selbstbestimmende Kraft als den Anfang und das Ende der Dinge betrachtet. Einer solchen Natur muß es eine unerträgliche Pein und Marter sein, ein Schicksal wie eine unerbittliche Nothwendigkeit sich nahen zu sehen, anstatt dasselbe durch eigene Machtvollkommenheit zu bestimmen, ein Gefangener zu sein, wo er als Gebieter auftreten, wo er mit seiner Armee die künftigen Schicksale Frankreichs leiten, der Regent des künftigen Regenten sein konnte. Darum seine neuen Anerbietungen im Hauptquartier von Versailles durch den General Boyer; er wollte seine Armee derjenigen Regierung zur Verfügung stellen, die der herrschenden Anarchie ein Ende machen würde, er wollte sich mit derselben in irgend einen Theil von Frankreich zurückziehen und so lange mit derselben eine passive Haltung bewahren, bis der Friede hergestellt sei. „Ja, die Armee – gut – aber die Festung Metz? Wird diese zugleich übergeben werden?“ mag General v. Moltke gefragt haben. „Ohne die Festung können wir es einmal nicht thun.“ Darauf ein achselzuckendes Schweigen des Generals Boyer und die Relais zurück bis Nantreuil und von da die Locomotive bis Ars sur Moselle wurden für den Unterhändler ohne Resultat bestellt.

Etwa zehn Tage später schickte der Marschall wieder einen Brief an den preußischen Oberbefehlshaber und einige Stunden darauf hielt ein Wagen vor der Freitreppe, die zu den Gemächern des Prinzen Friedrich Karl führt; zwei preußische Officiere stiegen aus und halfen einem Greise in der Uniform der französischen Generale aus dem Wagen. In seinen blauen Capottenmantel gehüllt stieg derselbe langsam die Stufen hinauf, scheinbar ruhiger, als er wirklich war; man sah ihm an, er wollte nicht bemerken lassen, wie die Kniee unter ihm zitterten. Man meldete dem Prinzen den General Chaugarnier. Der preußische Oberbefehlshaber kam dem greisen Helden mit den Anzeichen der höchsten Verehrung entgegen, die Thüren schlossen sich hinter den Beiden nach einer halben Stunde öffneten sich dieselben wieder. Der Abschied des preußischen Feldherrn von dem berühmtesten militärischen Manne Frankreichs war wahrhaft herzlich, General v. Stiehle geleitete ihn entblößten Hauptes die Treppe hinab, Alles beugte sich in Achtung vor ihm und er selbst war am meisten gebeugt. Ein tragisches Schicksal hatte dieses greise Haupt getroffen, über welches die Kugeln und die Donner so und so vieler. ruhmvollen Schlachten dahingesaust waren; in der Stunde der Gefahr hatte er seinen vielbewährten Degen, der allein eine Armee werth war, zur Verfügung gestellt, nicht dem Kaiser, nicht den Napoleoniden, nur dem Vaterlande, für das er stets gekämpft und gesiegt hatte, und nun ward er bestimmt, mit dem Zauber der Gewalt seines ruhmvollen [844] 

Die Beschießung von Metz am Abend des 9. September
Nach der Natur aufgenommen von Chr. Sell

[845] 

WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [846] Namens für die Fehler und die Sünden des Kaiserreiches, von dem er sich von je in Thaten, Worten und Gesinnung abgewendet hatte, bessere Bedingungen zu erlangen. „O, der Prinz,“ äußerte er sich einige Tage später, „war so zart, so rücksichtsvoll! Welch nobles Herz – aber auch welch eiserner Wille! Die Armee und die Festung! war sein Wort; daran hielt er fest, trotz meiner Bemühungen, ihn von dieser Forderung abzubringen, und dabei war er mild und gut, wie ein Sohn gegen einen Vater. O, dieser Gang! Es war der schwerste in meinem ganzen Leben, schwerer als Alles; ich weiß, daß der Tod gegen ihn mir ein Leichtes sein wird.“

Auf der Straße von Corny nach Metz, rechts ab von der Ferme Tournebride; etwa tausend Schritte von derselben entfernt, blickt zwischen hohen Baumgruppen ein stattliches Schloßgebäude hervor, das Schloß von Frescaty. Ein schnurgerader Weg führt dahin, derselbe ist in der Nähe des Schlosses rechts und links von dichtem Laubholz eingefaßt; der Herbst hat dasselbe mit feinen glühenden Farben gemalt. Links kommt man an das Eingangsthor zu einem Parke, an dasselbe stößt ein Wärterhaus, nach dem Inwohner sucht man jedoch vergebens; nur hohle Fensteröffnungen starren Einem entgegen, die Fensterkreuze, die Thüren sind ausgebrochen, die Wände sind halbe Ruinen. Ein gerader Parkweg führt nach dem Schlosse. Wie herrlich mußte sich’s im heißen Sommer hier wandeln, als noch alte hohe Bäume diesen Weg beschatteten, Bäume, von denen man nur noch die mächtigen abgehauenen Strünke rechts und links erblickt! Ein Menschenalter und mehr noch ist in diesem Parke verwüstet. Diesem Bilde der Zerstörung entspricht auch das Schloß. Ein stattliches Gebäude, zwei Stockwerke hoch mit einem Schieferdache; seitwärts liegen die Wirthschaftsgebäude, vor demselben mag einstmals ein sorgsames Blumenparterre der Gegenstand der Freude und der Pflege des Besitzers gewesen sein, jetzt sieht man nur noch glatt niedergetretenen Boden. Das Vestibul des Gebäudes ist nicht so luxuriös, als man es in modernen Schlössern Frankreichs findet, aber die Reste, die man von der Decoration der Wände noch sieht, deuten an, daß es auf die Wohnlichkeit und Behaglichkeit der übrigen Räume schließen ließ. Vom Vestibul tritt man zu ebener Erde in ein ziemlich großes Gemach; jedenfalls war dasselbe ein Empfangssalon, von der ursprüglichen Einrichtung sind nur noch die Tapeten und die Lambrequins an den Fenstern übrig. Links von diesem Salon liegt ein kleinerer; hier ist es schon behaglicher; hier ist die ganze Einrichtung noch vorhanden; die Sophas, die Portièren, die Gardinen sind von türkischem Stoffe, auf dem Kamin, auf einem Spiegeltisch liegen Bücher, vorzugsweise englische, und auch Albums.

Aus einem derselben, das zu Photographien bestimmt war, sind dieselben herausgenommen; dafür aber befindet sich ein um so werthvolleres Zeugniß darin, das geschriebene Zeugniß eines preußischen Jägerofficiers, bekundend, daß er der erste Preuße war, der mit seiner Truppe hier einzog, und Alles bereits in dem verwüsteten Zustande vorgefunden habe; in welchem man es gegenwärtig sehe. In der Mitte dieses Schirms erhebt sich ein halbrunder Tisch von polirtem Ebenholz, um diesen sitzen auf Sesseln und Fauteuils fünf Officiere, an der Fensterseite General v. Stiehle und Hauptmann Steffen, ersterer als der Bevollmächtigte des preußischen Oberbefehlshabers leitet die Verhandlungen, letzterer führt das Protokoll; an der Wandseite gegenüber haben die Franzosen Platz genommen, der Bevollmächtigte Bazaine’s, General Jarras, neben ihm Oberst Fay, der dritte, Major Samuel, lehnt am Kamin. Die Gardinen sind zugezogen, die Lichter angezündet, es ist Ende October, heute der 27., die Nächte fangen früh an.

Es ist die zweite Zusammenkunft, die zwischen diesen Herren hier stattfindet; die erste hatte hier General v. Stiehle am 25. Nachmittags, aber nicht mit den Anwesenden, sondern mit dem General Cissey, der für den Marschall die Bedingungen der Capitulation in Empfang nahm. In dem General Cissey nahte dem Marschall das Schicksal, dessen eisernem Arme er seit siebzig Tagen sich zu entwinden bemüht war, in ihm nahte sich die Nemesis, und vielleicht tauchte in dem Augenblicke, wo er die Bedingungen der Ergebung empfing, Menschen und Zeiten jenseits des Oceans vor ihm auf, vielleicht flüsterte ihm etwas in das Ohr und in die erschreckte Seele: Metz für Mexico. Aber die Bedingungen, Armee und Festung zu übergebe, sind hart. Noch suchte er Schwierigkeiten zu erheben, trotzdem der Hunger überall die Zähne fletschte und aus den hohlen Augen stierte; in den Zelten lagen, stöhnend nach Nahrung, von Fieber geschüttelt, die Soldaten, ein Bild des Grauens und Entsetzens, und noch schrecklicher war der Anblick der Pferde, sie hatten sich bei lebendigem Leibe angefressen. Vielleicht war aber doch noch eine Möglichkeit vorhanden, diesen Bedingungen zu entgehen. Wenn man mit der Armee noch einen letzten verzweifelten Versuch machte! Was der planvollsten Ueberlegung oft nicht gelingt; kann vielleicht dem bis zum Aeußersten, bis zur Grenze des Wahnsinns angespannten Willen gelingen. Womit aber diesen Versuch machen? Mit der Armee? Da mußte der Marschall eine Kunde vernehmen, die alle weitere Widerstandsgedanken in ihm lähmen mußte, die ihm entsetzlicher klangt, als vielleicht die Meldung von der letzten Tagesportion, die Nachricht, daß in der Armee, namentlich unter den Ingenieur- und Artillerie-Officieren eine Verschwörung gegen die Generale bestände, daß dieselben sämmtlich am 29. October Mittags verhaftet werden sollten. Da hatte es für ihn kein Zögern, kein Bedenken mehr gegeben, und jetzt - die Uhr zeigt auf acht - tauchen die Generale v. Stiehle und Jarras die Federn in das Tintenfaß, ein Federzug - die Capitulation von Metz ist unterzeichnet, die Bevollmächtigten reichen sich gegenseitig die Actenstücke und fünf Minuten danach sprengt ein Ordonnanzofficier, der im anstoßenden Salon die Wache gehabt, durch den Park und die Straße nach Corny entlang – er bringt dem Prinzen Friedrich Karl die Nachricht: Metz ist über!




Aus eigener Kraft.
Von W. v. Hillern geb. Birch.
(Fortsetzung.)


Saltenowen und Hermersdorff waren nicht ohne vornehme Nachbarschaft. Drüben im Walde, in dem Exile verbannter Geister und Götter, stand auf einem Hügel ein altes verwittertes Jagdschloß, mit seinen spitzen Thürmchen die spitzen Wipfel der Tannen überragend. Der See warf sein Bild inmitten der düsteren Schatten, die es umlagerten, unsicher und verschwommen zurück, man glaubte die auf seinem Grunde versunkene Stadt aus der Tiefe aufragen zu sehen, und das Volk hier glaubte es auch, denn der Haasznensee ist tückisch und hat schon manchen Baum und manche Deichhütte vom Ufer hinabgespült. Das alte Schloß Schornkehmen im Walde war so still und todt wie sein Spiegelbild in der Fluth. Es war von grauer Vorzeit her im Privatbesitz der Fürsten von D. und den Grafen Schorn zu Lehen gegeben. Dort lebte der Senior der Familie, der stolze Graf Friedrich Schorn, ein wunderlicher Junggeselle, abgewendet der Welt und den Menschen. Er war immer ein Sonderling gewesen, aber seit sein Bruder Egon, den er mehr als Alles auf der Welt liebte, schimpflich aus dem Johanniterorden ausgestoßen worden, hatte er sich ganz zum Einsiedler gemacht.

Unkraut wuchs auf der Schwelle des Hauses. Die Spinnen woben ihre Netze, die Waldmeister ihre Zauberreihen um die Pforte und die Wetterfahne krächzte mit den Raben dem Einsiedler ein trauriges Schlummerlied. Jenseits des Sees und des Lykflusses lagen die Schorn’schen Ländereien, ein großes Areal; sie wurden von armen Pächtern bewirthschaftet, denn der alte Herr mochte sich nicht mehr darum kümmern; er mußte dabei zu viel unter Menschen stehen. Er hatte einen Verwalter, dem er Alles anvertraute. Es war ein Schweizer mit Namen Schmetthorn, mehr wußte Niemand von ihm. Nur wenn er betrunken war, prahlte er bisweilen geheimnißvoll: „Wenn ich nicht wäre - da stünde es schlimm um des Grafen Bruder,“ woraus die Leute schlossen, daß er diesem einst einen großen Dienst geleistet und nun dafür mit Amt und Würden belohnt ward. –

Dieser Schmetthorn war schon Feldheim von je ein Dorn im

[847] Auge gewesen und blieb es auch Alfred fort und fort. Er war der böse Geist der ganzen Gegend, der immer wieder verdarb, was dieser gut machte. Er trieb Wucher und verführte die Leute zu Trank und Spiel, daß sie immer mehr herunterkamen. Dann lieh er ihnen Geld auf ihre Besitzungen, und wenn sie nicht fähig waren zu bezahlen, zog er ihr Hab und Gut ein. Von alledem wußte natürlich der alte wunderliche Herr auf Schloß Schornkehmen nichts, und Niemand konnte es ihm sagen, denn er ließ Keinen in seine Nähe kommen, als den schlauen Verwalter, der ihn ganz umsponnen zu haben schien.

„Wartet nur,“ tröstete Schmetthorn oft die Leute, wenn sie klagten, „sobald der Alte stirbt und sein Herr Bruder an die Reihe kommt, da wird’s besser. Da soll alle Tage Sonntag und jedes dritte Haus ein Krug sein.“

Die Bauern schüttelten die Köpfe, denn Graf Egon trieb sich immer noch drüben in Polen herum und der Verdacht der Spionage war nun einmal unzertrennlich von seinem Namen; wenn er ihn indessen mit Branntwein abwaschen wollte, so konnte man sich das immerhin gefallen lassen. Endlich kam der Tag, der die schönen Verheißungen wahr machen sollte. Eines Morgens läutete zum ersten Male seit Jahrzehnten das Glöckchen auf dem Schloßthurme von Schornkehmen. Es war ein trauriges Geläut. Tausende von Spinnweben zerrissen, als der Schwengel sich in Bewegung setzte. Alte und junge Käuzchen flogen erschreckt aus den Lucken, wo sie so lange ungestört genistet hatten; die kleine Colonie des Ungeziefers hatte schon längst vergessen, daß die Glocke eigentlich da sei zum Läuten, und erhob ein Jammergeschrei, da sie sich bewegte und Alles wegschleuderte, was so sicher auf sie gebaut schien.

Aus dem Schlosse bewegte sich ein Leichenzug quer durch den Wald der Brücke zu, die über eine schmale Stelle des Sees nach den Schorn’schen Ländereien jenseits führte. Dort wurde der Graf Friedrich in die Familiengruft gesenkt. Sein Geleit war klein, Niemand als der Geistliche, der Kreisphysicus, ein paar Rittergutsbesitzer aus der Umgegend und Alfred gaben ihm die letzte Ehre. Das Gesinde goß das Wasser, womit die Leiche gewaschen war, nach Masurischer Sitte in Kreuzesform hinter dem Sarge aus, damit der Geist des Todten nicht wiederkehre, und dann schauten sie sich besorgt an: Wer gab ihnen denn nun den üblichen Leichenschmaus? Da kam ein Reiter mit schweißbedecktem Pferde herangesprengt: „Ich gebe ihn Euch, Ihr Leute!“ rief er, als er die Klagen der „Leidtragenden“ hörte. Es war ein immer noch stattlicher Mann, etwas gedunsen und verlebt, aber hoch zu Roß und von einschmeichelndem Wesen. Er hatte zwei Furchen in Kreuzesform im Gesicht, es war der Bruder des Verstorbenen, Graf Egon.

„Komm’ ich zu spät?“ fragte er hastig, „ist mein Bruder schon beerdigt?“

Die Leute zeigten ihm den Weg, den der Zug zum Kirchhof genommen, und er warf sein Pferd herum. „Auf Wiedersehen beim Leichenschmaus!“ rief er nickend und ritt dem Zuge nach. Er erreichte ihn noch an der Kirchhofmauer, stieg ab und schloß sich an. Als der Sarg geweiht und beigesetzt war, trat er auf die Umstehenden zu, welche bisher nicht gethan, als hätten sie ihn gesehen, und verneigte sich. „Die Herren kennen mich wohl nicht mehr, wie es scheint? Ich war etwas lange aus der Gegend fort. Ich stelle mich Ihnen vor als Ihren Gutsnachbar, Erben von Schornkehmen!“

Die Herren lüfteten leicht die Hüte, und der Aelteste von ihnen sprach ruhig, kalt und gemessen: „Wer der Erbe des Grafen Friedrich von Schorn ist, geht uns nichts an – wollen Sie gefälligst Ihre Mittheilungen hierüber den zuständigen Behörden machen.“

Und ohne ihn weiter eines Blickes zu würdigen, verließen die Herren den Kirchhof. Egon senkte den Blick zu Boden, er war schwer getroffen. Aber als er die Augen wieder aufschlug, sah er, daß nicht Alle fort waren. Einer war geblieben. Er betrachtete erstaunt das schöne Gesicht mit dem vollen Bart und den ernsten durchdringenden Augen, die so unbeweglich, so vernichtend auf ihn gerichtet waren. Das Gesicht war ihm bekannt, es knüpfte sich etwas Entsetzliches für ihn daran. Wer war der Mann? Warum wich ihm alles Blut bei seinem Anblick zum Herzen zurück? Eine gelbe Blässe überzog die glatten gedunsenen Wangen und fast tonlos fragte er: „Wer sind Sie?“

„Alfred von Salten!“ war die ruhige Antwort.

„Herrgott!“ schrie Egon laut auf und taumelte zurück wie ein Besinnungsloser. Er mußte sich an dem Portal des kleinen Erbbegräbnisses halten, um nicht umzusinken.

Alfred betrachtete ihn mit unaussprechlicher Verachtung. „Erschrecken Sie nicht, ich habe nur wenige Worte mit Ihnen zu reden. Als ich ein leidenschaftlicher kurzsichtiger Knabe war, schwur ich, meine Mutter, meinen Vater an Ihnen zu rächen; dieser Augenblick überzeugt mich, daß ich meine dem Dienste der Menschheit geweihten Hände nicht mit Ihrem Blute zu besudeln brauche, denn Gott hat mein Rächeramt übernommen und so furchtbar an Ihnen vollzogen, wie kein Sterblicher es vermocht hätte. Verachtet, gemieden als Spion der russischen Regierung, abhängig von dem gemeinen Schurken, Ihrem Gefängnißwärter, der hier den Herrn spielt, weil er Sie einst um schnöden Lohn vor schmachvoller Strafe rettete - äußerlich so tief gesunken, innerlich so gepeinigt von steter Furcht vor der Strafe, daß mein bloßer Anblick Sie zu Boden schmettert, - zerrüttet, gealtert, krank -! Was könnte ich Ihnen noch Schlimmeres anhaben, was Ihnen nehmen, als ein Dasein, von dem Sie zu befreien eine Wohlthat wäre? Nein, gehen Sie hin und leben Sie weiter wie bisher - dann ist meine Rache vollzogen!“

Egon wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Ich beschwöre Sie, Sohn meiner geliebten Adelheid, hören Sie -“

„Schweigen Sie!“ rief Alfred empört. „Nennen Sie den Namen nicht. Meine Mutter büßte und starb wie eine Heilige, ich will ihr Andenken nicht beflecken lassen durch einen Hauch Ihres Mundes.“

Egon versuchte wieder zu sprechen.

„Schweigen Sie,“ befahl Alfred gebieterisch, „und hören Sie, was ich Ihnen zu sagen habe. Ich darf Ihnen Ihr verwirktes Leben schenken, damit Sie elend seien, aber nicht, damit Sie elend machen. Wenn Sie so fortfahren, die Ihrem Schutz empfohlenen Leute an den Rand des Abgrundes zu führen, wie es Ihr Verwalter bisher that, dann sind Sie nicht nur erbärmlich und verächtlich, sondern gemeinschädlich, und dann wird es meine Pflicht, meinen Schwur so zu erfüllen wie es für das Wohl aller anderen Menschen am besten ist. Das merken Sie sich: Sie sind mir verfallen und ich werde Sie einfordern, wenn es nöthig ist.“ – – – – –

Alfred hielt Wort; er beobachtete Egon fast ein Jahr lang, und dieser lebte unter seinen wachsamen Augen wie unter dem Schwert des Damokles. Der König hatte Alfred zum Landrath ernannt, und er versah dies Amt mit der ihm eigenen Gewissenhaftigkeit und unerbittlicher, aber weiser Strenge. Als indessen der furchtbare deutsch-österreichische Krieg ausbrach, da litt es ihn nicht mehr zu Hause, und er trat wieder unter die Fahne des rothen Kreuzes, die er selbst errichten geholfen. So blieb er lange von den Gütern fern, und als er endlich mit Ruhm bedeckt zurückkehrte, wählte ihn der Kreis Lyk in das Abgeordnetenhaus. Eine großartige Thätigkeit als Abgeordneter wie als Arzt hielt ihn von nun an in der Residenz fest. In Politik und Wissenschaft wuchs sein Ruf von Tag zu Tag. Mittlerweile aber zogen sich die Wolken um Masuren immer drohender zusammen. Der Winter des Jahres 1867 nahte. Fortwährende Regengüsse waren niedergeströmt und hatten die Ernte vernichtet. Das Getreide enthielt statt des Kerns nur einen klebrigen Brei. Die Flüsse hatten meilenweit die Ufer unter Wasser gesetzt. Die ganze Nachbarschaft um Alfred’s Güter her war zu Grunde gerichtet. Aber auch auf Alfred lasteten die Wolken schwer, welche wie schmutzige triefende Lumpen vom Himmel herabhingen. Wieder mußte er Summen aufbringen, um rechtzeitig der Noth zu steuern und die Ersparnisse aus dem Gewinn der Fabrik fielen mit zum Opfer. Aber er murrte nicht. „Wohl mir, daß ich es noch kann!“ sagte er.

Noch saßen die Bursche und Mädchen in den Spinnstuben beim Kienspahn und sangen hungernd und frierend ihre masurische Volkshymne:

 „Lobet Ihr andere Länder, wie’s Euch gefällt,
Für mich bleibt Masuren das schönste der Welt.
Schau’t, wie die Seen so herrlich brausen,
Darinnen die köstlichen Fische hausen!
Aus den Bergen kann man den Kalkstein hauen,
Von dem sich die Reichen die Häuser bauen,
Und die Wälder, wie dunkel und wild sie stehen,
Drin spielen die Hasen mit scheuen Rehen.
In Heerden halten wir die Gänse, die fetten,
Die uns liefern die Braten und warmen Betten.

[848]

Auch die Schafe blöken hier in Heerden,
Umhüpft von den Kühen und munteren Pferden.
Die Jugend wächst auf hier in blühender Gesundheit,
Zum Kampf für das Land und den König hereit.
Hier drängen sich ein die Litthauer und Sachsen,
Denn wahrlich, hier ist eine andere Welt!“

So sangen sie und drückten sich aneinander, um sich zu wärmen und tranken Schnaps zu schimmligen Wrucken. Die Kühe die so munter auf den Wiesen springen sollten, lagen entkräftet bei ihnen in der Schaluppe und übertönten mit ihrem Hungergebrüll den Lobgesang, denn das Gras war auf den Wiesen in der Nässe schwarz gefault, und Heu kommen zu lassen, dazu fehlte es an Geld. Das Schlachtmesser war der letzte Wohltäter des armen abgemagerten Viehes. Noch wenig Tage und das elende Futter war zu Eude, die treuen Hausgenossen mußten fallen.

Wo waren die Schafheerden, von denen das Lied sang? Sie waren auf den nassen Weiden dem Lungenwurm erlegen.

Wo waren die Betten, welche die Gänse den Frierenden liefern sollten? Von Haus zu Haus nur Stroh und Spreu und Lumpen zum Bedecken.

Die Fische in den Seen konnten nicht gefangen werden, denn es war gefährlich, auf den angeschwollenen Wassern zu schiffen; das Wild in den Wäldern gehörte der Herrschaft, und der schöne Kalkstein in den „Bergen“ baute den Armen keine Häuser.

Die „blühende Jugend“ hatte schwarze Ringe um die Augen, blaue Lippen und eine fahlgelbe Haut. Der ausgehungerte Körper setzte giftige Säfte an. Fiebermiasmen, dem Sumpf entstiegen, in den die Erde rings verwandelt war, schüttelte die morschen Glieder. Noch wenige Wochen und die Lieder vom „schönsten Lande der Welt“ verstummten. Die letzten Mittel waren verbraucht, die knochige Kuh geschlachtet und verzehrt. Das Faß mit Sauerkohl, das nach dortiger Sitte an dem Kopfende des Bettes gohr, war leer.

„Wovon sollen wir nun leben, was sollen wir essen?“ fragten die hohläugigen Gesichter, und das Schicksal blieb ihnen die Antwort schuldig. Die Kälte kam, die bittere Kälte, und die Lumpen, die seit Monaten hundert Mal naß geworden und wieder getrocknet und wieder naß geworden waren, bis sie den Menschen vom Leibe fielen - sie schützten nicht vor dem Erfrieren. So verkrochen sie sich in die niedrigen Lehmhütten in das modrige Stroh, zehn, zwölf in einer Stube bei einander. Das einzige kleine Fenster, nur ein Loch mit einem Stückchen Glas bedeckt, ward vernagelt und die Thür verstopft, damit es warm blieb, denn der Torf war in der Nässe auch verfault und die Wälder gehörten dem König. Da war keine Heizung als der Branntwein und die Fiebergluth der Typhuskranken. Um und in das dunstige Bett solch eines Unglücklichen drängte sich Alles und wer durfte, der schmiegte sich an ihn, um sich zu wärmen an dem lebendigen, Gift ausströmenden Ofen. Wer sich noch schleppen konnte, der schlich zähneklappernd aus der warmen Brutstätte des Ungeziefers und Siechthums hinaus zum Kruge, um für die Andern Schnaps zu holen, und so schnell als möglich kroch er wieder hinein. Dann ward getrunken so lange, bis das Bewußtsein erlosch. Den Kranken schoß die Gluth des Fiebers, durch das Alkohol zum Brand angefacht, aus allen Poren und bedeckte Gesicht und Körper mit rothen brandigen Flecken, und die Gesunden, stumpf, blödsinnig vor Schwäche und Trunkenheit; sanken hin auf die schlammige schlüpferige Erde der ungedielten Hütten, müde des Kampfes um ein Dasein, welches keines Kampfes mehr werth war, die Waffen streckend, mit denen sie sich um ihr bischen Menschenthum gewehrt. Zwischen Leben und Sterben, zwischen Wachen und Schlafen dämmerten sie hin im Zwielicht ihrer dumpfigen Schaluppen. Dicht und dichter wallte der Schnee herab und verschüttete vollends die Stätten lebendiger Verwesung!

Und dies war noch nicht das Aergste, was die Natur an Gräueln schaffen kann, um dem Menschen den Untergang zu bereiten. - Hier in den Dörfern war das Elend doch noch über der Erde, aber es gab ein Elend unter der Erde, dem Nichts gleichkam. Draußen in den unbewohnten Gegenden, wo die Eisenbahn von Rastenburg nach Lyk gebaut wurde; da lebte ein Geschlecht des Entsetzens, wie die Erde wohl kein zweites aufzuweisen hatte. Es waren die „Losleute“, welche an der Bahn beschäftigt wurden; um sie, die im Winter schlechter daran waren als die Raben auf dem Felde, vor dem Hungertod zu schützen. Doch es gelang nur schlecht. Denn dieser Abhub der Menschennatur war so dem Trunke ergeben, daß er den Lohn, mit dem er Weib und Kind ernähren sollte, zur Hälfte vertrank. Licht, Luft und Reinlichkeit, die Bedürfnisse höher organisirter Wesen, existirten nicht für diese elenden Geschöpfe. Maulwürfen gleich hatten sie sich längs der Bahnstrecke in die Erde eingegraben. In Gruben unter dem Boden, nur von Fichtenstämmchen gestützt und bedeckt, hausten sie mit Weib und Kind, und Fuß hoch lastete der Schnee auf den Dächern, die sich nur handbreit über die Oberfläche erhoben. Wer, unkundig der Verhältnisse, an einem Sonntagmorgen, wo die Arbeiter in ihren Schlupfwinkeln versteckt ausruhten, über die beschneite Haide ging, der mochte wohl denken, er stehe auf einem unterirdischen Gnomenreich oder auf einem von kleinen Vulcanen untergrabenen Boden; denn so weit das Auge auf der öden Fläche reichte, ringelten sich aus niedrigen Schneehügeln kleine Rauchsäulen empor. Ein rauchendes Schneefeld, auf dem auch nicht die Spur eines lebendigen Wesens zu sehen, war wohl ein seltsames Bild. Doch wenn der erstaunte Fremde näher kam, sah er, daß der Dampf einer unterirdischen Esse entquoll, und gelang es ihm, unter dem Schnee die Stufen zu finden, welche in die räthselhafte Höhle hinabführten, dann wehe ihm, denn er schaute, was die Götter dem bevorzugten Sohne der Civilisation gnädig bedecken mit Nacht und Grauen.

In einem Raum, fast zu niedrig zum Stehen, fast zu kurz zum Liegen, kauerte eine halbnackte Familie um das Feuer, an dem als Sonntagsgericht saure Rüben kochten, der einzige warme Bissen der ganzen Woche. Dies Feuer war zugleich das einzige Licht, doch es war immer am Verlöschen, denn es hatte zu wenig Luft in der engen Grube; wo von allen Seiten das Wasser herabsickerte. Aber wo das Feuer fast erstickte, da mußten fünf, sechs, sieben Lungen athmen. Ein Pesthauch strömte dem Eintretenden entgegen; denn alle Dünste, welche die feuchte Erde, die verfaulten Kleider und die kranken Körper ausströmten, blieben in dem hermetisch verschlossenen Raume zusammengeballt. Krüppelhafte, thierisch scheue Kinder verkrochen sich vor dem Fremden; und der Vater, der Ernährer des Hauses, kam ihm entgegen mit stierem Blick, gedunsener farbloser Haut; wie ein Leichnam, der lange im Wasser gelegen. In der Ecke auf dem einzigen Strohlager der Familie schrie ein Säugling neben der Leiche der Mutter und suchte vergebens an der erstarrten Brust nach Nahrung. Sie lag noch seit gestern, wie sie gestorben; man war zu stumpf, sie wegzuräumen. Hierzu war es noch lange Zeit; wenn man gegessen hatte. - Den Säugling, der noch zu klein war, um die Milch entbehren zu können, ließ man eben schreien, bis er todt war. So vergrub sich hier das Entsetzlichste unter der weißen dichten Schneedecke. Hier war der Mensch buchstäblich zum Gewürm geworden, das seinen ekeln Anblick in der Tiefe verbirgt. Als aber der eigentliche harte Winter kam, die Erde zu Stein fror und die Arbeiten großentheils eingestellt werden mußten, da spieen diese Gräber der Lebendigen ihren scheußlichen Inhalt aus und verbreiteten ihn über die ganze Gegend.

In Rotten oder einzeln ergossen sich die entlassenen typhuskranken aussätzigen Arbeiter über das hungernde Land und bettelten um Obdach und Brod; den Gifthauch ihrer moralischen und physischen Fäulniß weithin verschleppend und rings um sich her die Luft verpestend, daß kein Mensch in ihrer Nähe aushalten konnte, daß man sie auf ganze Strecken roch. Wer in ihren Dunstkreis kam, den erfaßte die rothfleckige Seuche, die sie in ihren feuchten Gräbern unter dem Schnee ausgebrütet hatten. Was lebte, das floh vor diesen wandelnden Leichen, und wo ein Wirth schwach genug gewesen, sie aufzunehmen; da stand gar bald der ganze Krug verödet; denn die Gäste mieden ihn, und alle seine Bewohner erlagen der todbringenden Berührung.

Als Alfred auf die Nachricht dieses Elends herbeieilte, erkannte er, daß zwei Schrecknisse sich mit teuflischer Wuth über das arme Land geworfen, gegen die der Einzelne machtlos war, denn wer dem Mangel nicht zum Opfer fiel, den würgte die Seuche hin! Und wieder stemmte sich der eine Mann mit unbeugsamem Muth gegen die unsichtbaren Feinde.

Er berief den Kreistag zusammen und setzte es durch, daß ein Capital zusammengeschossen wurde, wovon Lazarethe und Suppenanstalten gegründet wurden. Alfred selbst errichtete deren mehrere auf seinen Gütern und erließ alle nöthigen polizeilichen Verordnungen gegen das Betteln und Vagabundiren, um die weitere [849]

Der letzte Brief.
Für die Gartenlaube entworfen von F. W.

Verschleppung der Krankheit durch die brodlosen Arbeiter zu hintertreiben. Er rief die Wohlthätigkeit des ganzen Landen auf, seine Berichte lenkten die Theilnahme Europa’s auf diese schwer heimgesuchte Provinz und von nah und fern eilten barmherzige Frauen und Männer herbei, um selbst zu helfen und zu pflegen. – Umsonst! die kostbarsten Leben fielen der Seuche zum Opfer. Mancher sonst so unerschrockene Arzt brach zusammen, überwältigt von Ekel und Anstrengung. Das ganze Land war in einem Zersetzungsproceß begriffen und steckte auch die Gesunden, die zu retten kamen, mit seinem Leichengift an. Viele mußten, für lange an Leib und Seele gebrochen, umkehren. Nur Alfred hielt aus, unberührt, unermüdet, so lange es nöthig war, bis er erkannte, daß Einzelne, und wären es ihrer noch so viele, hier machtlos waren, daß hier nur eine rasche Hülfe von Seite des Staates durchgreifen könne, und so blieb ihm nichts übrig, als nach B. zurückzukehren und seinen Einfluß in den Kammern zu Gunsten der Provinz aufzubieten.

Doch vor seiner Abreise mußte er noch einen Act strenger Justiz an Egon und seinem Verwalter üben. Es war ein grauer Decembermorgen, als Alfred sich dem Schlosse Schornkehmen näherte. Die Bäume glichen ringsumher nur riesigen Krystallisationen, so glänzend weiß starrten die gefrorenen Aeste empor, jede Nadel der [850] jungen und alten Fichten war von einer Eiskruste überzogen. Tausendfältige zierliche Formationen gefrorener Gräser und Sträucher bedeckten den Boden, überzogen von unzähligen Spinnweben, an deren feine Fäden sich Millionen von winzigen Eissplittern angesetzt und sie zu rauhen silbernen Schnürchen verwandelt hatten. Der ganze Wald glich einem Meisterwerk aus mattem getriebenem Silber, als bestünde die Welt nur aus Kindern, für die der höchste Herr und Meister solch kostbares Spielzeug zu schaffen sich bemühte. Auch Alfred trat seine Kindheit wieder vor die Seele hier mitten in all dem kalten Silberglanz und er dachte an das Rückert’sche Bäumlein, das silberne Blätter wollte haben. Hier waren lauter solche verzauberte Bäume und sie ragten so still und steif in ihrem starren Schmuck empor, daß es nicht einmal dem Winde gelang, sie zu bewegen. Nur dann und wann krachte es tiefer im Dickicht, wo der Schnee in ungeheuren Klumpen zwischen dem Gezweig zusammengeballt war, und ein zu schwer belasteter, vom Frost spröde gewordener Ast brach unter der schimmernden Bürde vom Stamme herab. Eine Nebelkrähe flog kreischend auf. Dann war Alles wieder still. „Solche Ruhe, solcher Friede inmitten der Gährung und des qualvollen Ringens eines sterbenden Volks! Welch ein Gegensatz!“ sagte Alfred zu sich selbst, und der Hauch seines Mundes zog als weiße Wolke vor ihm her, wie ein Geist, der ihm den Weg zeigen sollte.

Endlich war die andere Seite der Borken’schen Forst erreicht und das alte graue Schloß hob sich scharf ab von der Fülle silbernen Schimmers ringsumher. Er umging das Gebäude und näherte sich den Scheuern und Ställen, welche daran angebaut waren, um den Verwalter zu suchen. Es war noch früh. Die faulen Knechte schlichen schläfrig umher und stierten den Ankömmling dumm an. Da sah Alfred in dem gefrorenen Gebüsch eine schwarze Masse an der Erde, er näherte sich ihr und fand eine Frau bei zwei, wie es schien, schlafenden Kindern liegen. Er bückte sich, um sie aufzuheben, sie waren sämmtlich todt. Alfred rief die Knechte herbei. Sie kamen gleichgültig heran.

„Was ist das für eine Frau?“ fragte Alfred und untersuchte die Leichen, die nur noch Haut und Knochen waren.

„Ach, das ist die Frau, die sich immer mit den Kindern Nachts in den Stall schlich, ’s ist eines Lehrers Wittwe, der Mann ist am Typhus gestorben.“

„Mein Gott!“ rief Alfred entsetzt, „sie hat, wie es scheint, erst die Kinder und dann sich selbst erwürgt!“

„Das hat sie wohl gethan, weil sie der Hunger zu sehr quälte,“ erklärte einer der Knechte. „Wir haben schon lange bemerkt, daß die eine Kuh, die der Thür zunächst stand, weniger Milch als sonst gab. Vorgestern paßte der Verwalter auf und entdeckte, daß eine Frau mit zwei Kindern hereinschlich und daß sie von der Kuh tranken. Deshalb schloß der Verwalter gestern den Stall zu – nun hat sich die Frau wohl nicht mehr zu helfen gewußt und hat lieber gleich ein Ende gemacht.“

„Gräßlich!“ rief Alfred.

„Ich weiß noch Mehrere, die ihre Kinder erwürgt haben, weil sie das Geschrei nicht mehr aushielten,“ fuhr der Knecht phlegmatisch fort, „der Verwalter hat’s aber vertuscht,“

„Ruft mir den Grafen und den Verwalter!“, befahl Alfred zitternd vor Entrüstung.

Er mußte lange warten.

Endlich kam Schmetthorn mit seinem verschmitzten Lächeln und seiner widerlichen Galgenphysiognomie. „Der Herr Graf bedauern, nicht erscheinen zu können, sie liegen noch im Bette,“ sagte er, aber das Wort blieb ihm im Halse, als er die Leichen am Boden sah.

„Schurke,“ schrie ihn Alfred an, „Schurke, der längst in ein Zuchthaus gehörte, das ist Dein Werk! Statt der armen Frau den Tropfen Milch zu gönnen, der ihr Leben fristete, stießest Du sie hinaus in die Kälte und ließest sie sterben! Und sie ist nicht das einzige Opfer Deiner Unmenschlichkeit nirgend ist das Elend so hoch gestiegen wie in Schornkehmen! Aber ich bin Dir auf den Fersen und werde Dir das Handwerk legen, Du Hund!“

„Herr Baron,“ zischelte Schmetthorn, „ich bin ein ehrlicher Mann und ich dächte, Ihre Frau Mutter, wenn sie noch lebte, hätte Sie hierüber bestens belehren können.“

„Ja, weil ich weiß, daß Du den Namen meiner Mutter noch im Grabe auf’s Neue beschimpfen kannst, weil Du von ihr bestochen worden, deshalb schone ich Dich, sonst hätte ich Dich längst den schweizer Behörden ausgeliefert. Aber es wird dennoch geschehen, wenn Du nicht augenblicklich meine Befehle vollziehst. Wie ich hörte, hast Du und Dein nichtswürdiger Gebieter, der jedoch nur ein Spielball ist in Deiner Hand, große Vorräthe von Korn aufgespeichert, mit denen Ihr Wucher treibt, während die Unterthanen von Schornkehmen Hungers sterben! Du wirst mir diese Vorräthe für den landwirthschaftlichen Verein zu den jetzigen Durchschnittspreisen ablassen, damit wir sie an die Bedürftigen Eures eigenen Guts vertheilen, da es noch Zeit ist. Weigerst Du Dich, dann werde ich Zwangsmaßregeln gegen Dich ergreifen, die diese Gegend auf immer von Dir befreien! Entscheide Dich, öffne Deine Speicher, Du hast keine Minute Zeit, Dich zu bedenken.“

Diese Drohung verfehlte ihre Wirkung nicht. Angesichts der drei todten Opfer des Schuftes schloß Alfred das Geschäft mit Schmetthorn ab. Es waren die letzten Ersparnisse, die er hiezu beisteuerte, denn der Kauf überstieg weitaus die vom Verein ausgeworfene Summe. Aber leichten Herzens ging er von dannen, er hatte für den Augenblick Alles gethan, was in seinen Kräften stand, und konnte getrost seine Wirksamkeit in der Kammer für das arme Land beginnen.

„Wart’, Bürschchen,“ murmelte ihm Schmetthorn wüthend nach, „es wird wohl auch einmal ein Tag kommen, wo man Dir an den Kragen kann! Dann sollst Du mir heimzahlen mit Zinsen!“

(Fortsetzung folgt.)




Der letzte Brief.[3][WS 1]

Am Himmel Abendsonnengluth,
Und Spicherns Höhe trieft von Blut,
Der Himmel roth, der Berg so roth,
Und tausend Helden starr und todt.

Nur der dort an der Mauer lehnt,
Der stirbt nicht, weil sein Herz sich sehnt,
Sein junges Herz, das steht nicht still,
Weil ein Wort es noch sagen will.

Gottlob, du treuer Camerad,
Dich führte Gott den rechten Pfad.
Kann ich dir helfen, Bruder, sprich,
Wie lab’ ich dich, wie rett’ ich dich?

Er kniet zu ihm, das Haupt geneigt.
Und auf die trockne Lippe zeigt
Der Todeswunde, und ihn letzt
Der Tropfen, der die Lippe netzt.

Du tapfres Herz, das alle Kraft
Für’s letzte Wort zusammenrafft!
„O schreibe!“ – Sieh, ich bin bereit.
Und er dictirt sein letztes Leid.

Aus wunder Brust haucht’s tief und hohl:
„Du liebe Mutter, lebe wohl!“
Das war sein Brief und letzter Will’.
Das junge Herz, nun stand es still.
 Friedrich Hoffmann.


  1. Vgl. Gartenlaube 1869 Nr. 27.
  2. Das Wirthshaus zu den drei Gilgen wurde später niedergerissen, noch ein anstoßendes Haus dazu gekauft und auf der erweiterten Stelle der jetzt rühmlich bekannte „Gasthof zum Bären“ erbaut. – Die Tafel an der Kirche zu Fügen ist aber vor einiger Zeit entfernt worden und daher jetzt nicht mehr zu sehen.
  3. Unser Bild, von einem Künstler, dessen Griffel der Kenner auf den ersten Blick herausfindet, stellt eine Scene dar, die sich nach der Schlacht bei Saarbrücken zutrug. Ein Westphale, zur Hülfe für die Verwundeten abgeschickt, fand einen preußischen Infanteristen, der an einer Mauer lehnte. Ein Schuß durch den Leib hatte ihn tödtlich getroffen. Auf die Frage des Westphalen, ob er zu trinken begehre, schüttelte der Arme, dessen jugendliches Antlitz der Schmerz furchtbar entstellt hatte, das Haupt, deutete aber an, ihm die trockenen Lippen anzufeuchten. Als dies geschehen war, fragte er den Westphalen, ob er schreiben könne; dieser bejahte es, seine Brieftasche hervorziehend. Und nun dictirte der Sterbende: „Liebe Mutter, leb’ wohl!“ und die Adresse: „Berlin, Oranienstraße Nr.…“ In diesem Augenblick bat ein anderer Verwundeter dicht dabei um einen Trunk, der Westphale reichte ihm diesen, und als er sich wieder umdrehte, athmete sein Schützling noch einmal tief auf und verschied.
    Die Redaction.

[851]
Blätter und Blüthen.


Knall-, Brumm- und Krachkosten des Krieges. Die Munitionsvergeudung der Franzosen, namentlich wie dieselbe mit Hülfe der schweren Geschütze in den belagerten Forts um Paris geübt wird, hat schon mehrfach zu der Frage veranlaßt, welche Summe durch das meist ganz zwecklose Knallen im Durchschnitt täglich verpulvert werde. Wir geben nun eine Anleitung zur Feststellung dieser Summe, indem wir von competenter Hand folgendes Verzeichniß der Kaliberstärken und Schußkosten mittheilen.

Es kostet nämlich:

1) der Granatschuß des Vierpfünders (8 Cm. Kanon, 1 Pfund Ladung, Gewicht der Granate 8,5 Pfund) 1 Thlr. 10 Sgr.;

2) der Granatschuß des Sechspfünders (9 Cm. Kanon, 1,2 Pfund Ladung, 13,8 Pfund Gewicht der fertigen Granate) 1 Thlr. 20 Sgr.;

3) der Granatschuß des Zwölfpfünders (12 Cm. Kanon, 2,1 Pfund Ladung, 29 Pfund Geschoßgewicht) 2 Thlr. 18 Sgr.;

4) der Granatschuß des Vierundzwanzigpfünders (15 Cm. Kanon, 4,5 Pfund Ladung, 54,3 Pfund Gewicht der Granate) 4 Thlr. 10 Sgr.

5) Der Zweiundsiebenzigpfünder und der Sechsundneunzigpfünder, beide ausschließlich in der Küsten- und Marine-Artillerie eingeführte Kaliber, haben, entsprechend den ihnen sich darbietenden verschiedenen Zielen, außer dem Kartätschschuß noch zwei Geschoßarten, die Langgranaten und die Hartgußgranaten. Erstere zeichnen sich vor den gewöhnlichen Granaten durch größere Länge und dünnere Eisenstärke aus und fassen deshalb eine bedeutende Sprengladung. Sie sind gegen Erdwälle, Holzschiffe und die nicht gepanzerten Theile der Panzerschiffe bestimmt. Die Hartgußgranaten sind ausschließlich zum Durchschlagen von Panzerplatten bestimmt, werden aus der Gruson’schen Fabrik in Buckau bei Magdeburg bezogen, haben eine ganz massive Bogenspitze und nur ganz kleine zur Aufnahme der Sprengladung bestimmte Sprengkammern. Die Ladung besteht aus prismatischem Pulver.

Der Schuß des Zweiundsiebenzigpfünders (21 Cm. Kanon, 9 Pfund Sprengladung für Langgranaten, 3 Pfund für Hartgußgranaten, 16 bis 34 Pfund Ladung) durchschnittlich 200 Thlr.

Der Schuß des Sechsundneunzigpfünders (23 Cm. Kanon, 13 Pfund Sprengladung für Langgranaten, 5 Pfund für Hartgußgranaten, 35 bis 48 Pfund Ladung) 300 Thlr.

6) Der Schuß des Tausendpfünders, der bekanntlich bis jetzt in einem einzigen, noch von der Pariser Weltindustrieausstellung her allbekannten Exemplare vorhanden ist, kostet, je nach Geschoßart und Stärke der Ladung, 150 bis 500 Thlr. – Eine nähere Auskunft über dieses Riesengeschütz in B. Graser’s Buche über „Norddeutschlands Seemacht“ sagt: „Das Vollgeschoß von Stahl wiegt 1100 Pfund, die Granate 981 Pfund, während das Gewicht des Bleimantels 200 Pfund, das der Pulverladung 100 bis 200 Pfund beträgt. Das Hohlgeschoß wird von einem länglichen Gußstahlkern mit massiver Spitze gebildet und in dasselbe wird hinten, nachdem es aufgeschraubt ist, ein Beutel mit 16 Pfund Pulver als Sprengladung eingesetzt und darauf der Boden zugeschraubt und festgenietet. Eine besondere Zündungsvorrichtung für die Sprengladung ist nicht nöthig, da schon die Friction beim Aufschlagen allein die Explosion bewirkt. Jeder Schuß kostet 800 Thlr. und die Kosten des Geschützes betragen im Ganzen bebeutend mehr, als die Unterhaltung eines Infanterieregiments während eines ganzen Jahres.“




Der letzte Märzminister. Nicht blos die weimarischen Lande legten am fünfzehnten September Trauer an, der Mann, der an diesem Tage dort gestorben ist, der Staatsminister Christian Bernhard von Watzdorff, nahm eine hohe Stelle in Deutschland ein, er hatte, wie die Gartenlaube von 1866 dargethan, an der Spitze der Regierung einer moralischen Großmacht gestanden; und hätte deren Beispiel den politischen Großmächten zum Muster gedient, wie unsägliches Elend würde von den Völkern fern gehalten worden sein! Das kleine Weimar zu solcher Würde unter den Staaten zu erheben, das war die gemeinsame Arbeit edelmüthiger Fürsten und redlicher deutscher Männer; das höchste Verdienst im letzten Vierteljahrhundert gebührt aber dem Manne, den sie mit gerechten Thränen in der Stadt unserer größten Todten nun auch zur Ruhe geleitet haben.

Unsere Leser werden gern jetzt das Bild dieses letzten Märzministers, wie wir es auf Seite 285 der Gartenlanbe von 1866 mitgetheilt, sich vor Augen stellen. Wir freuen uns, daß damals, kurz vor den Stürmen eines Kriegs, der dem deutschen Vaterlandsfreunde keinen Siegesjubel gestattete, uns noch die Gelegenheit geboten war, mit „der ersten deutschen Verfassung den letzten Märzminister“ zugleich zu feiern und des Letzteren Streben und Wirken als Staatsmann und Patriot darzustellen; hat uns doch der siegesstolze Krieg dieser Tage zur Erfüllung der Dankespflicht, so hohes Verdlenst nach Würden zu ehren, Zeit und Raum erst so spät gegönnt, und es ist ein schöner Zufall, daß wir die Erinnerung an ihn statt an seinen Todestag nun an seinen Geburtstag anknüpfen können.

Bernhard v. Watzdorff würde am zwölften December sein sechsundsechszigstes Jahr erreicht haben; er ist zu früh von uns gegangen. Und dennoch preisen wir ihn vor Tausenden seiner Gesinnungsgenossen glücklich, die aus dem Leben schieden, ohne die große Erhebung unseres Vaterlandes noch gesehen zu haben. So haben der tiefste Schmerz, mit dem der Tod seiner Gemahlin ihn beugte, und der höchste Jubel, zu welchem Deutschlands Triumph ihn erhob, zusammengewirkt, um sein Herz zu brechen.

Es war zu früh! Gerade die kommende Zeit, die aus den im Sturm der Noth und der Begeisterung zusammengeführten und in Kämpfen und Sorgen, durch Blut und Thränen innig verbundenen Staaten und Völkern ein durch Einheit für seine Ziele, Wege und Kräfte unüberwindliches deutsches Reich aufzurichten hat – diese Zeit kann Männer, wie Watzdorff, nur schwer entbehren. Die Zahl der Erprobten ist nicht gar so groß, und die der reinen Charaktere, denen das Volk sein ganzes Vertrauen schenken darf, wenn es sie zu seinen Sprechern im Volks- und Fürstenrath beruft, ist leider noch kleiner. Möge Bernhard von Watzdorff Allen ein Vorbild sein, die auf den Weg seiner Pflichten gestellt werden!
H.


Aus den Tagen der Beschießung von Metz erhalten wir von Christian Sell eine vorzügliche Illustration, welche wir heute unseren Lesern vorlegen und deren Einsendung der Künstler mit folgenden Zeilen begleitet hat: „Am Abend des 9. September wurden in die vorher aufgeworfenen Feldverschanzungen nördlich von Pouilly sechsunddreißig schwere Feldgeschütze eingefahren, welche zwischen acht und neun Uhr bei strömendem Regen und furchtbarem Sturm ihr Feuer auf Metz eröffneten. Dasselbe dauerte ununterbrochen bis gegen elf Uhr Nachts; fast drei Stunden lang währte das donnernde Gebrüll der Kanonen, unter welchem die feindlichen Werke mit einem Hagel von Geschossen überschüttet wurden. Es wurde fast nur Salvenfeuer abgegeben, und wenn (ich habe für meine Darstellung einen solchen Moment gewählt) eine ganze Reihe von Geschützen aufblitzte, so war nicht nur die Gegend ringsum, sondern auch der durch den heftigen Regen niedergedrückte Pulverdampf hell und grell erleuchtet. Es war ein schauerlicher, aber höchst malerischer Anblick und dieser allein veranlaßte mich denn auch, in der Sklzze die Beschießung jenes Abends zu fixiren, wenn ihr Einfluß auf den eigentlichen Gang der Dinge auch nicht gerade von Bedeutung war. – Im Hintergrunde meines Bildes liegt links hoch Fort St. Quentin, in der Mitte Metz, nur an der Domkirche erkennbar; im Mittelgrunde hält der Generalstab, während vorn Abtheilungen vom neununddreißigsten und vierundsiebenzigsten Infanterieregimente postirt sind. Die Häuser links und rechts gehören zum Dorfe Pouilly.“




Ein Heldengrab. Es dürfte in unseren Tagen von Interesse sein, eines Grabes zu gedenken, welches vielleicht von Wenigen gekannt und noch weniger besucht ist, und dennoch schon ein halbes Jahrhundert existirt, von deutscher Treue und Standhaftigkeit zu zeugen.

Als 1813 die Niederlausitz unter dem Drucke französischer Herrschaft seufzte, desertirten fünf von den Franzosen gefangen genommene Westphalen (K. Mocke, H. Menke, F. Kersick, J. Westphal, A. Brenner). Sie wollten über die Grenze, um zu ihren deutschen Brüdern zu stoßen. In der Gegend von Cottbus machten sie Halt, den Pferden die nöthige Ruhe und Nahrung zu gönnen, als sie sich plötzlich von französischen Reitern umzingelt sahen. Ein Bauer aus Dissen, einem Dorfe bei Cottbus, hatte den Verräther an ihnen gemacht, an eine Flucht war nicht zu denken, und zum zweiten Male wanderten die braven Westphalen in die Gefangenschaft.

Nach dem Kriegsgesetze werden bekanntlich Deserteure erschossen.

Geht man, von Cottbus aus nördlich, an der Goyatzer Pferdebahn entlang, so kommt man zu der Stelle, wo die fünf Wackeren ihre That mit dem Leben büßen sollten. Eine zahlreiche Menschenmenge wohnte dem traurigen Acte bei, und noch leben in Cottbus Leute, welche die Execution mitangesehen haben.

Vier lagen hereits von Kugeln durchbohrt am Boden, da sprengte auf schaumbedecktem Roß ein Reiter heran, in der einen Hand die Begnadigung vom Kaiser haltend. Noch steht der Letzte, der eines Goldschmieds Sohn gewesen sein soll, als ihm seine und seiner Cameraden Begnadigung gebracht wird. Aber seine vier Genossen liegen todt vor ihm, er blickt auf sie nieder, sein Auge leuchtet stolz auf und: „So wie diese hier für’s Vaterland gestorben sind, so will auch ich mit ihnen in den Tod gehen,“ ruft er, und von feindlichen Kugeln sinkt auch er todt zusammen.

Jetzt bezeichnet ein einfaches Denkmal den denkwürdigen Ort. Akazien, Birke und Gesträuch fassen die Gräber der fünf Gefallenen ein. Als ich jüngst die Stelle besuchte, fand ich dort einen vertrockneten Eichenkranz und auf dem einen der Gräber einen Blumentopf. Das Kreuz war mit den Namen von mehreren Soldaten aus Westphalen beschrieben, welche das Grab ihrer Landsleute besucht hatten.

Auf der Vorderseite des Kreuzes befinden sich in lateinischer Schrift folgende Worte:

„Ruhestätte

der unter französischer Herrschaft am 16. Juli 1813 hier

erschossenen Krieger aus Westphalen“

Der Stein trägt die Namen der Erschossenen, wie ich sie oben angegeben, während auf der Rückseite des Kreuzes zu lesen ist:

„Liebe zum Vaterlande war ihr Tod.
Gesetzt von den Bewohnern der Stadt Cottbus und Umgegend. 1845.“

Der Stein selbst wieder ist mit den Worten geschmückt:

„Und schmücken Euch auch keine Ruhmeshallen,
Für Deutschlands Freiheit seid auch Ihr gefallen.“
Schließlich mag noch erwähnt werden, daß der verrätherische Bauer später ein Schicksal erfuhr, in welchem das Gerechtigkeitsgefühl des Volkes das wohlverdiente Strafgericht sah. Früher sehr wohlhabend, verarmte er allmählich derart, daß er am Ende seines Lebens hat betteln gehen müssen.
O.


Berichtigung. Unsere Auskunft über die „Promotio in absentia“ (S. 811 der Gartenlaube) hat wegen des leidigen Zusatzes „durch Kauf“ Anstoß bei den betreffenden Facultäten erregt. Dieser Zusatz entsprang einem volksthümlichen Ausdruck. Das Volk sagt nämlich: „Er hat sich den Doctor gekauft“, wenn Jemand diese akademische Würde nicht durch mündlichen Beweis seiner wissenschaftlichen Tüchtigkeit, d. h. durch Examen oder Disputation erwirbt, sondern sie durch Einsendung einer schriftlichen Arbeit und gegen Erlegung der üblichen Kosten sich verschafft. Im Auge des Volks war die erkämpfte Würde mehr werth, als die „gekaufte“, [852] obgleich der Kostenpunkt bei beiden Promotionsweisen ziemlich derselbe ist. Die Mißachtung dieses letztern „Doctortitels“ war durch diejenigen Universitäten selbst verschuldet, welche um der Gebühren willen die Erwerbung desselben nur allzu leicht gemacht hatten. Dieser Unfug hat sehr lange gedauert, und da das innere Lehen der Universitäten sich der Oeffentlichkeit früher gern entzog, so wissen wir nicht einmal, wann jener Mißbrauch völlig beseitigt worden ist.

In einzelnen Staaten, wie z. B. in Preußen, ist die Promotio in absentia ganz abgeschafft. Da, wo sie aber gegenwärtig noch besteht, wie z. B. in Leipzig, ist durch die „Bedingungen für die Erwerbung des Doctorgrades bei der philosophische Facultät“ genügend vorgebaut, daß auch auf diesem Wege nur wissenschaftlich Gebildete den Doctorgrad erlangen. Zu diesen Bedingungen gehört 1) die Einreichung einer wissenschaftlichen Abhandlung mit Hinzufügung der Erklärung auf Ehrenwort, daß dieselbe vom Bewerber selbst und allein verfaßt worden sei. 2) Ohne mündliche Prüfung und nur auf Grund einer Dissertation zu promoviren, soll auch fernerhin älteren Bewerbern um das Doctorat, und namentlich solchen frei stehen, welche schon eine Reihe von Jahren die Universität verlassen haben, und ihrer amtlichen Stellung oder anderer Rücksichten wegen sich nicht wohl zur mündlichen Prüfung stellen können. Bei alledem muß 3) die Dissertation nach dem Gutachten der zur Prüfung bestellten Fachmänner eine Förderung der Wissenschaft enthalten, und es muß ihr, außer der im Eingange vorgeschriebenen Erklärung des Bewerbers noch die eines mit diesem persönlich bekannten glaubwürdigen Mannes beigefügt sein, „daß er den Bewerber zur Abfassung einer Schrift, wie die betreffende, für fähig halte.“ Endlich ist zu einer solchen Promotio in absentia die Zustimmung der betreffenden Facultäts-Section mit einer Mehrheit von zwei Dritteln ihrer Mitglieder erforderlich.


Kleiner Briefkasten.

M. in Gl. Wir kennen in der von Ihnen bezeichneten Branche überhaupt nur ein Buch, das wir in jeder Beziehung empfehlen können: Säen und Pflanzen nach forstlicher Praxis. Handbuch der Holzerziehung von Heinr. Burckhardt. Wenn der zu Ihrem Rittergute gehörige Wald eine so bedeutende Ausdehnung hat, wie Sie versichern, so dürfte der von Ihnen projectirte Versuch wohl gewagt werden, wir maßen uns indeß in derlei Dingen kein Urtheil an und können Sie, was die Waldcultur, Bestandespflege und Kräftigung des Waldbodens anlangt, nur wiederholt auf das obige, bereits in vierter Auflage bei Rümpler in Hannover erschienene Buch hinweisen.

Fr. B. S. in Kappel. Gehen Sie Nachricht, in welchem Kappel Sie wohnen. Es giebt in Deutschland nicht weniger als achtzehn Dörfer und Weiler dieses Namens. Dieser Fall ungenügender Ortsangabe kommt uns leider sehr oft vor.



Für die Verwundeten und die Frauen, Wittwen und Kinder unserer unbemittelten Wehrleute

gingen ferner ein: Bahnhofspersonal in Gusow 4 Thlr.; Ertrag einer durch Jenny Gernet in Archangel veranstalteten Sammlung 80 Rubel (69 Thlr. 10 Ngr.); dreizehnte und vierzehnte Wochensammlung der Klinkhardt’schen Buchdruckerei 10 Thlr. 1 Ngr.; sechszehnte und siebenzehnte Wochensammlung der Officin von Schelter und Giesecke 51 Thlr. 28 Ngr.; F. M. in Leipzig 5 Thlr.; ein glückseliger Deutscher in Mühlingen 5 Thlr.; erster Gewinn des Kutschke-Marsches von Musiklehrer Peter in Friedrichsdorf 20 Thlr.; Ergebniß einer Lotterie von Olga und August K. 10 Thlr.; zwei Mädchenclassen der Stadtschule zu Stallupönen 1 Thlr. 20 Ngr.; G. Stentzel in Warschau 5 Thlr.; Herm. Heide in Chemnitz 2 Thlr.; M. S. in Landshut, Ertrag einer Wette 6 Thlr.; unter den Augen des alten Dessauer’s in der Gosenschenke von Eutritzsch am Bußtag gesammelt durch Apian Bennewitz 5 Thlr. 15 Ngr. ; A. Sauber in Halmstad (Schweden) 15 Riksdaler; Erlös einer von Eisenach eingesandten Haarflechte 1 Thlr. 5 Ngr.; monatlicher Beitrag von F. B. u. O. A. 2 Thlr.; vier Wochensammlungen der Glacéhandschuhmacher in Altenburg, angeregt durch C. Thierfelder 30 Thlr.; Str. Exped. Blkl. Bhd. Ngl. Bch. Schr. 2 Thlr.; der social. Arbeiter-Unterstützungsverein Nr. 8 in Philadelphia, meist aus Sachsen bestehend, durch d. Secretär Robert Fischer 30 Thlr.; M. H. in Braunschweig 1 Thlr.; A. Gr. in Augsburg 2 Thlr.; Max Schirlitz 1 Thlr. 15 Ngr.; von einem Studenten, dem Herr Doctor Kindermann unentgeltlich einen Rath ertheilt hat 1 Thlr.; C. H. in Lüneburg 2 Thlr.; B. R. a. K. 2 fl. rh.; Adolf Haas aus Moskau 150 Rubel.

Die aus Lyons (Amerika) eingegangenen 2700 Thlr. wurden bereits in voriger Nummer quittirt.


Aus Oesterreich gingen erfreulicherweise wiederum ein: Aus Klosterneuburg a. d. Donau 5 Thlr.; von sieben in Leipzig studirenden Siebenbürgern 7 Thlr.; Ertrag eines von der vereinten Gesellschaft „Eintracht“ in Kallich (Böhmen) und Rübenau (Sachsen) veranstalteten Concerts 15 Thlr.; Heinrich Schuller aus Agnethlen (Siebenbürgen) 1 fl.; S. in Reichenberg 2 fl.; zweiter Beitrag der deutschen Zecher der Locomotivenfabrik in Wiener Neustadt 13 fl.; zweiter Beitrag der techn. Burschenschaft „Teutonia“ in Brünn 60 fl. 60 kr. und 1 Thlr.; D. gr. K. in Kronstadt 7 fl.; Amalie Oravetz in Fokschau „zum Gedächtniß meines seligen Gatten“ 10 fl.; Ertrag einer Sammlung in Frankenmarkt (O.-Oest.) durch H. Peyrer 110 fl.; vom Volksschullehrer J. Konnerth und dessen Collegen in Heltau (Siebenbürgen) 5 fl.; zweite Sendung von Joh. Goetzger in Wien 10 fl. (später vielleicht); von einer Whistpartie in Hermannstadt 15 fl.; H. in Nyék (Ungarn) 25 fl.; Concertergebniß der Liedertafel in Braunau (Oberösterreich) durch Dr. Fz. Wasserburger 147 fl. (112 fl. rh. u. 20 Thlr.); dritte Sendung aus Bistritz in Siebenbürgen 316 fl. u. 1 Ducaten und zwar: aus der Bistritzer untern Vorstadt 44 fl. 45 kr., aus den Bistritzer Districtsgemeinden Ober-Neudorf 6 fl., Treppen 37 fl. 27 kr., Baierdorf 20 fl., Petersdorf 6 fl., Senndorf 7 fl. 80 kr., Klein-Bistritz 20 fl., Lecheritz 123 fl. 32 kr. nebst 1 Ducaten, Mettersdorf 10 fl., Dürrbach 51 fl. 16 kr.

(Summa sämmtlicher bis jetzt quittirter Eingänge 18,889 Thlr. 14 Ngr. 1 Pf.)
Ernst Keil.



Als Weihnachtsgeschenke empfohlen!
Bechstein, Hof- und Stubenvögel. 5. Aufl. Mit 79 prachtvollen Vogelportraits in Farbendr. eleg. broch. 2 Thlr.
Bock, Buch vom gesunden und kranken Menschen. 8. Aufl. broch. 2 Thlr., geb. 2 Thlr. 8 Ngr.
Gartenlaube, 1859. 1860. 1862-65. 67-1869. broch. à 2 Thlr., eleg. geb. in gepr. Decke à 22/3 Thlr.
Glaßbrenner, Adolf, Neuer Reineke Fuchs. Vierte, verbesserte Ausgabe. broch. 1 Thlr.
Marlitt, Gold-Else. 6. Aufl. ungeb. 1 Thlr., geb. 1 Thlr. 8 Ngr.
Marlitt, Das Geheimniß der alten Mamsell. 4. Aufl. broch. 2 Thlr.
Marlitt, Thüringer Erzählungen. 2. Auflage. 1 Thlr. 15 Ngr.
Marlitt, Reichsgräfin Gisela. 2 Bände. 2. Auflage. 2 Thlr. 20 Ngr.
Prutz, Rob., Buch der Liebe. eleg. geb. 1 Thlr. 15 Ngr.
Schefer, Leopold, Für Haus und Herz. Hinterl. Gedichte. Herausgeg. von R. Gottschall. geb. 1 Thrl. 27 Ngr.
Schmid, Herman, Gesammelte Schriften. 27 Bände. à Band 7½ Ngr.
Stolle, Ausgewählte Schriften. Volks- und Familienausgabe. 30 Bände. Zweite Auflage. broch. à Band 7½ Ngr.
Stolle’s Palmen des Friedens. Gedichte. Eleg. geb. mit Goldschn. 1 Thlr. 15 Ngr.
Storch, Gedichte. eleg. cart. 1 Thlr. 6 Ngr.
Storch, Ausgewählte Romane und Erzählungen. Volks- und Familienausgabe. 31 Bde. broch. à Bd. 7½ Ngr.
Traeger, Gedichte. Achte, sehr vermehrte Auflage. Prachtvoll geb. mit Goldschnitt 1½ Thlr.
Weber, Carl Maria von, Ein Lebensbild von Max Maria v. Weber. 3 Bände. 6 Thlr. 25 Ngr.
Wislicenus, Gustav Adolph, die Bibel. Für denkende Leser betrachtet. broch. 2¾ Thlr.




Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Illustration von Friedrich Wilhelm Heine