Die Gartenlaube (1853)/Heft 15
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No. 15. | 1853. |
Drei Heimgegangene.
Frühling! Frühling! ewig grünes, rosengeschmücktes Evangelium, uns Staubgebornen alljährlich gesendet, daß wir an ihn glauben, den Vater der Liebe; daß wir erkennen, wie es das Licht ist und die Liebe, welche Recht behalten nach den Winterstürmen der Erde. Und hat der Winter seine Eispaläste noch so hoch gethürmt und hat er den Himmel und seine Sonnen noch so dicht verhangen; und hat er die Herzen noch so erkältet und kleinmüthig gemacht, daß sie oft verzaget, ob es je wieder Frühling werden könne – Ein Frühlingsgruß, Ein himmlischer Klang, und die Eispaläste brechen zusammen und die Wolkendecken zerreißen, und die Herzen athmen gläubig, und die Knospen schwellen und die Frühlingsglocken hallen klar und Sieg verkündend durch den himmlischen Saal.
O beneidenswerthes Menschenherz, in welchem die Frühlingsglocken wiederhallen bis in die tiefsten Tiefen, in welchem darum nie ganz Winter wird, mag solcher noch so gewaltig sein eisiges Haupt schütteln. Und ein solches Herz war Dir beschieden, theurer Vollendeter, der Du an jenem Frühlingsheiligenabende einsam hinauswandertest nach dem stillen Eichenhaine.
Wie der Wüstenwandrer nach der quellenreichen Oase hattest Du Dich lange gesehnt aus dem lärmvollen Altagleben, aus dem Staub der Geschäfte, aus dem Kreise unerquicklicher Gesellen nach einer stillen friedenvollen Abendstunde, draußen in freier Gotteswelt, wo der Abendstern still über dem Walde stand und im tiefen Gebüsch ein Vöglein wie im Frühlingstraum von Zeit zu Zeit seine leise Stimme erhob.
In den Kronen der alten Eichen rauschte es frühlingverheißend; die schwellenden Knospen umspielte weiche warme Abendluft – rings athmete tiefe Ruhe. Wiederholt warst Du hinausgetreten auf den grünen Rasenteppich, der im weiten Kreise vom Walde umgrenzt wird und Dein Auge hing lange, lange an dem stillen Abendsterne, der in wunderbarem Glanze über dem Walde stand. Und leise sprachst Du für Dich:
O dringe doch, Du Himmelsschein,
In jede Menschenseele ein,
Und decke so, Du Himmelsruh,
Ein jedes Herz und Auge zu.
Noch einmal überfloh Dein Auge die weite Waldrotunde, die immer tiefer in die Schatten des Abends hinabsank; dann kehrtest Du in den Hauptgang zurück und [156] wandeltest einsam dem dunkeln Frühlingsdome entlang. Die Aeolsharfe Deiner Brust war aber durch den Frieden des Abend wunderbar gestimmt und so zog eines Deiner schönsten Lieder durch Deine Seele: Du dichtetest:
Ich wollt’ ich wär die Eiche dort
Im duftig grünen Wald,
Und würde wie der Eichenbaum
Wohl tausend Jahre alt.
Geküßt so, wenn noch Alles ruht,
Vom ersten Sonnenstrahl,
Geküßt wenn niedersinkt die Nacht,
Vom letzten Licht zumal.
In jedem Frühling grün und neu –
Der Vögel luftig Haus –
So jährlich fügend Ring an Ring,
Und breitend Schatten aus.
Und träumend, wenn der Winter naht –
Im Innern warm und stark –
Voll Sommermärchen in der Brust,
Voll Trieb und Drang im Mark.
Erwachend wieder in den Lenz,
Der meine Knospen sprengt,
Ein Auge jedes Blatt, worauf
Sich Gottes Sonne senkt.
Vom Winterscheine sanft bestrahlt,
Vom Glühwurm hell umsprüht,
Entschlummernd, wenn die Nachtigall
Im Busche singt ihr Lied.
Der Wandrer ruhte unter mir,
Der Kinder frohe Schaar –
Den Menschen flüstert leis ich zu,
Wie einsten schön es war.
Und wenn ich alt geworden wär’,
Wohl an die tausend Jahr,
Dann baute man aus mir ein Haus.
Tisch, Wiege, Todtenbahr.
Im Wiegenraum ein holdes Kind,
Vom Leben angelacht –
Am Tisch beim Wein ein Lebehoch,
Vielleicht mir dargebracht.
So lebt’ ich, fühlte Alles mit,
Wär’ selbst das letzte Haus,
Worin nach einer Welt voll Pein
Der müde Mensch ruht aus.
Der Dichter hatte den Eingang des Wald-Parks erreicht, als von der Stadt her eine Gestalt kam, die bei ihm vorüberschritt, deren Gesichtszüge er aber wegen der Dunkelheit nicht zu erkennen vermochte. Nach einigen Schritten blieb der fremde Wandrer stehen.
„Doctor, bist Du es?“
„Alle gute Geister loben Gott den Herrn, Berthold[1], woher, von wannen? Welch’ seltener Gast zu solcher Stunde?“
„Hergesehn, wenn Du wissen willst, wie der Mensch im Glück aussieht, siehe mich an.“
„Ich will hoffen, daß Dein Glück wenigstens bis Morgen aushält, dann will ich mir Dich bei Tage besehen; jetzt trotz der Brille ist mir’s unmöglich.“
„Der Director war ein Mensch und hat endlich meinen sechswöchentlichen Urlaub bewilligt, den ich für mein Gastspiel bestens zu benutzen gedenke. Der Mensch im Glück braucht aber Einsamkeit oder muß sich auslaufen. Drum will ich noch bis Gohlis – komm’ mit!“
„Mörder, kennst Du mein Reservoir? – sieh’, diese sinkenden Nebel.“
„Bei Noack treiben wir die bösen Nebel wieder heraus. Komm’!“
„Und würfst Du die Krone selber hinein
Und sprächst, wer mir bringet die Kron’
Er soll sie tragen und König sein –
Mich gelüstet nicht nach dem theuren Lohn!“
Während die Beiden noch auf diese Weise unterhandelten, ward eine dritte Gestalt in der Dunkelheit sichtbar. Sie kam ebenfalls ziemlich schnellen Schrittes von der Stadt her, umging die beiden Freunde, um sich von ihrer Autenticität zu überzeugen; dann breitete sie beide Arme aus und preßte den Doctor und Berthold convulsivisch an’s Herz, und drehte Beide im Kreise umher.
„Gerechter,“ schrie der corpulente Berthold, „der Mensch erwürgt mich; Lortzing, bist Du des Teufels!“
„Ich hab’s wohl gerne, wenn der Becher überschäumt,“ meinte der Doctor, indem er im Kreise herumgedreht wurde, aber vor allen Dingen
„erkläret mir, Graf Oerindur,
dieses Räthsel der Natur.“
„So vernehmt, theurer Freund,“ rief jetzt der gefeierte Tondichter, indem er die Beiden los lies – „eben habe ich den Brief bekommen – mein Czaar hat in Berlin prächtig Glück gemacht.“
Unsern herzlichsten Glückwunsch, riefen Beide aus einem Munde, und ihre Hände drückten innig die des glücklichen Componisten.
„Ja, das wußte ich, treue Seelen,“ sprach dieser, den aufrichtig gemeinten Händedruck dankbar erwiedernd, „daß Euch diese Nachricht Freude machen würde. Ich bin daher schon in der halben Stadt nach Euch herumgelaufen. Ein glücklicher Zufall trieb mich hierher.“
Lortzing mußte jetzt über die Berliner Aufführung seines Czaar und Zimmermann erzählen. „Ich bin mit der Besetzung ganz zufrieden,“ sprach er, „nur Deine Rolle, Berthold, hätte ich in besseren Händen gewünscht.“
„Den Bürgermeister?“
„Ja, Du weißt, ich habe diese Partie für Dich geschrieben.“
„Ein tüchtiger Bürgermeister,“ sprach Berthold in seinem trocknen humoristischen Tone, „ist auch heut zu Tage eine wahre Rarität.“
„Das ist aber ja heut ein wahrer rarissima avis unter den Tagen,“ sprach der Kometenlenker Herloßsohn, „Lortzing Glück in Berlin, Berthold Glück bei Ringelhard und ich habe meinen neuen Roman ebenfalls glücklich bei Reimann in Hannover an den Mann gebracht.“
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„Ich sei daher, erlaubt mir die Bitte
In Eurem Bunde der Dritte.“
„Wir können heut das glückliche Kleeblatt in höchst eigener Person aufführen.“
Berthold faltete mit rührender Komik die Hände: „Einmal drei Glückliche bei einander“ sprach er, „dies ist doch noch was Rareres als ein guter Bürgermeister.“
„Und dieser himmelvolle Frühlingsabend,“ schwärmte Lortzing, indem sein sprechendes Auge über den Himmel schweifte, der sich immer mehr mit Sternen füllte.
„Ja, aber geliebte Glückskinder,“ gab der stets für sein Rheuma besorgte Doctor, zu bedenken, unser Postament, fühle ich, wird nicht wärmer. Hütten bauen können wir hier einmal nicht, dies zu gestatten würde ein wohllöblicher Magistrat, am Eingange des Rosenthals, gerechten Anstand nehmen. Also wohin?“
„Freunde,“ sprach der noch immer freudig erregte Lortzing, indem er von Neuem des Doctors und Berthold’s Hand ergriff, „solcher Sonnenblicke im Leben gibt es so wenige, laßt sie uns nicht in philiströser Eintönigkeit vorüberziehen. Wir bleiben heute Abend beisammen. Ihr seid meine Gäste bei Alippi.“[2]
„Auf die heutigen Nachrichten schmeckt allerdings ein Trunk,“ sprach Berthold, „aber da muß ich mich vor allen Dingen erst zu einem selbstständigen Staatsbürger machen und meinen Hausschlüssel holen.“
„Albert,“ rezitirte der Doctor, „den Gedanken gab Dir ein Gott ein. Ich habe noch ein paar Flaschen Tokaier von der ungarischen Gräfin, die bring’ ich mit. Wir lassen Czaar und Zimmermann leben, den knospenden Frühling – die künftige Rosenblüthe – die Sterne der Nacht – das deutsche Lied – die Clothilden, Clementinen – Paulinen und was der angenehmen Gegenstände mehr sind.“
Die drei Glücklichen waren bis zu Herloßsohn’s Wohnung in der Hainstraße gelangt, wo sie sich trennten.
„Also um Neun Uhr?“ frug Berthold.
„Punct Neun,“ commandirte der Compositeur des Czaar und Zimmermann.
„So lebt denn wohl, edle Pairs des Königreichs,“ sprach Herloßsohn, „ich muß noch eine nichtswürdige Correctur lesen, lebt wohl – “
„Bei Alippi sehen wir uns wieder!“
Mit diesen Worten war er in der Hausflur verschwunden.
Kennt ihr jene geheimnißvollen Räume, wo hinab kein Sonnenblick fällt, wo nie das holde Licht des Tages freundlich geleuchtet; und wo tief Unten zwischen engen Kerkerwänden der Muscatello duftet; die Perlen des Rheingaus in unvergleichlicher Schöne funkeln und uns Märchen erzählen, lieblich und schön, von dem Rauschen des grünen Rheinstroms, von dem Singen der Pirole, von den weinfröhlichen Hügeln des Sankt Johannes, und den dunkeln Nußbaumwäldern Sankt Goa’s? Während die Julisonne glühend auf den Dächern und Fluren ruht, Alles versengend in erstickender Hitze, herrscht da unten eine ewig erquickende Kühle. Italien schüttet seine Goldorangen und das Morgenland seine Trauben und Mandeln in die dunkeln Tiefen. Während oben das Leben und Treiben der Menschen sich prosaisch abspinnt in unerquicklicher Hast, im Lärm der Geschäfte, waltet hier unten heilige Ruhe und leise auf den Zehen kommt herbeigeschlichen ein reizend Kind aus fremden Wunderhimmeln, die – Poesie.
Eine solche prächtige Weingruft hatten sich auch unsre drei Freunde, die wir auf der Hainstraße verlassen hatten, ausgesucht. Sie saßen bei einander in freundlich erhelltem Raume in allerhöchster Gemüthlichkeit, und waren eben in der angenehmen Beschäftigung begriffen, die Perlen eines kostbaren, milden Scharlachbergers prüfend über die Lippen gleiten zu lassen. Im Vorgemach duftete italisch eine Pyramide Apfelsinen.
Die unferne Rathhausuhr verkündete die zehnte Stunde. Der Ruf des Feuerwächters ertönte – die Straßen wurden stiller und leer. Oben blühte ein wundervoller Sternenhimmel.
Kaum waren die zehn Schläge der Rathhausuhr verklungen, als Berthold fromm die Hände faltete. „Kinder,“ sprach er feierlich, „jetzt betet, daß uns der Teufel oder sonst ein böser Gnome keinen Schauspieler herabschickt.“
„Und keinen Literaten,“ setzte Herloßsohn dazu.
„Und keinen Weinreisenden,“ schloß Lortzing.
„Uebrigens,“ fuhr Letztrer fort, „wir könnten es ja Rossi sagen, daß er die Klappe oben zumacht.“
Der stets für Recht und Billigkeit besorgte Doctor gab das nicht zu.
„Bis um Elf,“ sprach er, „muß offen bleiben. Dies verlangt das Geschäft so.“ Er hatte kaum diese Worte gesprochen, als es die unfernen Stiegen herabklirrte und zwei lebensmüde Börsenjünglinge, die sich bereits auf der ersten Gallerie ennuyirt, bei Kühl und Großberger ennuyirt, bei Riedel ennuyirt, und sonst wo ennuyirt, traten mit Geräusch und Nonchalance, den Hut auf dem Kopfe, in die Weingruft.
„Ah sieh da – der Herloßsohn, der Berthold, der Lortzing – famos – Rossi – halbe Julien – die Günther süberb – dies Stück abominabel – “
Mit diesen, in etwas näselndem Tone gesprochenen Worten, nahm der Längere in möglichst nachlässig bequemer Stellung neben Herloßsohn Platz.
„Pyramidal ennuyirt – sprach der Kleinre, der sich ebenfalls auf einen Sessel geworfen – „Ringelhard verdient gehangen zu werden – Rossi – Glas Zuckerwasser – Apropos, Berthold ist die Kleine – mon dieu, wie heißt sie – Schwarzkopf, Burgstraße, engagirt?“
„Ja,“ sprach Berthold, dem der Bissen eines tranchirten Cotelettes im Munde quoll, trocken und im Doppelsinne, „die wird wohl engagirt sein.“
„Süberbe Taille. – Ringelhard ist ein Knicker.“
„Doctor,“ fuhr der Andre, der die langen Füße unterdeß auf einen Stuhl placirt hatte, in fast wagerechter Stellung fort, – „der Champagner schmeckt nicht mehr – La fitte nicht mehr – Dom Dechanei nicht mehr – Kirchenstock nicht mehr – rathen Sie Doctor.“
„Da gehen Sie doch in’s Wasser, guter Freund,“ rieth Herloßsohn, „was trinken muß der Mensch.“
„Famoser Witz – immer geistreich der Doctor – war nahe daran, Doctor – die verfluchten Kiel-Altonaer – schließe ab 65 – Gloggnitz 73 – fängt der [158] Hallunke der Thiers Crawall an – Baisse 20 – zum Erschießen – aber der liebe Gott half noch.“
Bei Herloßsohn, der zwar nie zu den Frommen gehörte, aber sich in der blasirtesten und leichtfertigsten Gesellschaft immer ein kindlich religiöses Gemüth bewahrte, trat jetzt die Galle in’s Blut, in Folge des edeln Scharlachbergers das Herz auf die Zunge. Nichts empörte ihn mehr, als wenn der Name Gottes auf so unseligem Gebiete gemißbraucht wurde.
„Sagen Sie doch, der Teufel half,“ sprach er, „aber lassen Sie den lieben Gott bei Ihren elenden Actien aus dem Spiele.“
„Elend – ha ha, – stehen wieder 66 die Altonaer – Gloggwitz 81 –“
„Haha“ – fiel der Kleinere ein „der Doctor Herloßsohn ist fromm geworden – famose Entdeckung – muß morgen in die Leipziger Zeitung, damit dies Blatt einmal interessant wird.“
Dieser Witz von wegen des Interessantwerdens der Leipziger Zeitung schien den beiden Jünglingen eben so geistreich wie belachenswerth. Sie lachten aus vollem Halse.
Berthold raunte Lortzingen in’s Ohr: „Wollen wir den Rackers nicht ein halb Pfund Brechweinstein in’s Gesöff schmeißen. Ich halt’s nicht mehr aus; mir kribbelt’s im ganzen Leibe.“
Lortzing tröstete: „Hoffentlich verduften sie bald.“
„Rossi,“ hob der Lange wieder an, indem er mit vornehmer Nachlässigkeit seinen Wein prüfte, „wo ist dieser Julien her?“ Herr Rossi nannte das Haus. „Bah,“ fuhr der Koster fort, „Sie müssen von ...... nehmen, wenn Sie was Feines haben wollen.“ Er kostete nochmals. [159] Das bekam ihm aber übel. Ein paar Tropfen geriethen in die Luftröhre. Ein langanhaltendes Husten folgte.
„Wenn der Kerl nur dies einzige Mal erstickte,“ brummte Berthold. Nachdem sich der Husten gelegt, frug der Ermattete; „Doctor – kein Mittel für den Husten – der Satan plagt mich täglich?“
„O ja“ sprach Herloßsohn trocken.
„Aber ein Radicalmittel – Sie sind ja so ein Stück Radicaler.“ Dieser Witz erschien ihm wieder äußerst belachenswerth.
„Ein Radicalmittel,“ fuhr Herloßsohn in demselben trockenen Tone fort, „Sie müssen sich die Gurgel abschneiden. Das ist der Sitz des Uebels. Wenn der beseitigt ist“ –
„Menschenfeindlicher Doctor - aber guter Witz – Ach wer doch schon in Paris wär’“ – Er streckte sich wieder so lang aus als er gewachsen war.
„Ja, ich wünscht’s auch,“ brummte Berthold.
Dem Kleinern schien sein Zuckerwasser auch nicht zu munden. „Die Limonade ist matt wie Deine Seele, Rossi.“
„Wünschen Sie etwas Rothwein darunter?“ bringt mir einen Absynth, aber alten.“
„Jetzt fängt er gar an zu schnapsen,“ murrte Berthold, „’s wird immer unterhaltender.“
„Charles – !?“
„Qui vive?“
„Schläfst wohl gar.“
„Wollen wir?“ – frug der Lange ohne seine Positur zu verändern.
„Pauline schmollt sonst.“
Auf diese Worte erhob sich Charles, matt und schlaftrunken, und warf einen Thaler hin. Der Kleinere goß seinen Absynth hinunter und erhob sich ebenfalls.
„Adjos – menschenfeindlicher Doctor“, sprach Charles, Herloßsohn nachlässig und halb gnädig die Hand hinhaltend.
„Wünsche recht wohl zu leben,“ sprach Berthold und halb für sich; „Hol’ Euch der Satan.“
Die Beiden stolperten hinaus. Unsern drei Glücklichen fiel aber eine Centnerlast von der Brust.
„Gott sei getrommelt und gepfiffen,“ rief Berthold neu aufathmend.
Lortzing erhob sein Glas; „Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag.“
Herloßsohn rieb sich gemütlich die Hände; „Kinder, nun kann’s hübsch werden.“
Eben schlug die Rathhausuhr die Eilfte Stunde. Aber kaum war der eilfte Schlag erklungen, da riefen drei Stimmen wie aus einem Munde;
„Rossi, die Klappe zu!“
Ludwig XVII. noch am Leben.
In dem Augenblicke, wo der Stern der Bonapartes seinen Höhepunkt erreicht hat, gewährt es ein ernstes und trauriges Interesse, auf die Dynastie zurück zu blicken, welche jenen in der Regierung von Frankreich vorausging. Das Haus Bourbon gelangte im Jahre 1588 mit dem großen, aber unglücklichen Heinrich IV. auf den französischen Thron, und mit so unwandelbarer Gleichmäßigkeit war das Schicksal dieses Hauses gewoben, daß der letzte regierende Fürst aus demselben, obgleich ihm erst in Folge einer fünfmaligen Anwendung des Salischen Gesetzes die Krone zufiel, doch in seiner Person noch alle natürlichen und legitimen Rechte der Capetinger vereinigte, und als der gerade Erbe Hugo Capet’s, der 987 zur Herrschaft gelangt war, das Schauspiel dieses 800jährigen Herrschergeschlechts zu seinem tragischen Schlusse brachte.
Ludwig XVI. heiratete 1770 Marie Antoinette Josepha Johanna von Oesterreich, die Schwester Joseph’s II., der Königin von Neapel und der Herzogin von Parma; die Tochter Kaiser Franz I. und der Königin von Ungarn und Böhmen, Maria Theresia. Am 10. Mai 1774 bestieg Ludwig den Thron. Marie Therese Charlotte, das erste Kind dieses unglücklichen königlichen Paares, wurde im December 1778, ein zweites Kind, welches aber bald wieder starb, 1781 geboren. Das dritte, der aus der Revolutionsgeschichte bekannte Dauphin Karl Louis erblickte am 25. März 1785 das Licht der Welt.
Das traurige Schicksal dieses Kindes, seine Schönheit, seine guten Fähigkeiten und seine Leiden sind bekannt. Nach der Trennung desselben von seinen weiblichen Verwandten und nach dem Tode seiner Mutter 1793 wurde der junge Prinz den Händen des Schuhflickers Simon übergeben, der ihn in einer, jedes menschliche Gefühl empörenden Weise behandelte. Kälte, Hunger, Schmutz, Mangel an Schlaf, übermäßige Anstrengung seiner Kräfte, Prügel und die Schrecknisse der Zeit brachten ihn in einen Zustand völliger geistiger Stumpfheit. Erst nach dem Falle Robespierre’s und nach der Hinrichtung Simon’s wurden seine Leiden geringer. An die Stelle der offenen Brutalitäten Robespierre’s und St. Just’s trat unter dem Convent die heimliche Niederträchtigkeit. Schon das Dasein Ludwig’s XVII. war ein schlimmes Ding für die Republikaner, welche es damals nicht einmal vor sich selbst entschuldigen konnten, ihn zu tödten. Im December 1794 wurde im Convent der Beschluß gefaßt, „daß der Regierungsausschuß Maßregeln treffen solle, den Sohn Ludwig’s aus dem Territorium der Republik zu entfernen.“ Am 9. Juni 1795 wurde dem Convent berichtet, daß derselbe gestorben sei. Sein Tod wurde von drei Aerzten beglaubigt und einem Skrophelleiden zugeschrieben. Die Herzogin von Angoulême, seine Schwester, hat in ihren Memoiren über die näheren Umstände dieses Todes dasjenige mitgeteilt, was sie darüber in Erfahrung gebracht hatte.
Ist nun Ludwig XVII. 1795 wirklich gestorben, wie damals berichtet wurde und seitdem allgemein geglaubt worden ist, oder ist er noch am Leben und hält sich im Staate New-York auf?
Die Beantwortung dieser Frage soll durch Aufführung der nachfolgenden Thatsachen in so weit versucht werden, [160] als es überhaupt möglich ist, in einer Sache, die so sehr in das Gebiet des Wunderbaren hinüberspielt, eine Ansicht zu gewinnen, die auf allgemeine Geltung Anspruch machen kann.
Vor etwa zwei Jahren wurde in öffentlichen Blättern Nordamerikas darauf aufmerksam gemacht, daß neuerdings an’s Licht gekommene Thatsachen es als wahrscheinlich herausstellten, daß der Geistliche Eleazer Williams in Green Bay in Wisconsin Niemand anders sei als der todtgeglaubte Ludwig XVII. Diese Notiz erweckte ein allgemeines Interesse und veranlaßte den Geistlichen Hanson, die sorgfältigsten Nachforschungen anzustellen, um die Wahrheit jener Angabe zu ergründen. Er machte zu diesem Zwecke mehrere Reisen, auch nach dem nördlichen Theile des Staates New-York, und als er von hier im Herbste 1851 nach New-York zurückkehrte, brachte ihn der Zufall auf der Eisenbahn mit demselben Manne zusammen, den er seit einigen Jahren vergebens gesucht hatte. Er traf in einem Waggon den Geistlichen und Indianer-Missionär Williams in lebhaftem Gespräch mit zwei Indianern und war von der Aehnlichkeit desselben mit dem bekannten Familiengesichte der Bourbonen so überrascht, daß er sich Williams sofort als Amtsbruder vorstellte, mit ihm später auf einem Dampfboote die Reise den Champlain-See hinunter fortsetzte und in der mit ihm beginnenden Unterhaltung gleich auf die Sache selbst einging. Zu seinem größten Erstaunen erfuhr Hanson, daß Williams selbst die Geschichte seines königlichen Ursprungs nicht für unglaublich halte, obgleich er auf dessen Frage, ob ihm, der doch bei dem Tode seiner Mutter bereits acht Jahre alt gewesen, gar keine Erinnerung von dem geblieben sei, was in Paris und vor seiner Reise nach Amerika vorgegangen, entgegnete: „Darin eben liegt das Geheimniß meines Lebens. Ich weiß Nichts von meiner Jugend. Alles, was vor meinem dreizehnten oder vierzehnten Jahre liegt, ist verwischt, gänzlich ausgelöscht aus meinem Gedächtniß, unwiederbringlich verloren. Denken Sie sich ein Kind, das, so viel es davon versteht, stumpfsinnig, seines Erachtens bis zu jenem Augenblicke sogar ohne Bewußtsein war. Es badete mit einer Schaar Indianerknaben im Georgs-See. Mit der Furchtlosigkeit des Stumpfsinnes kletterte es auf eine Felsenspitze. Es stürzte kopfüber in das Wasser. Es wird für todt herausgezogen, in eine Indianerhütte gebracht und in’s Leben zurückgerufen. Da war der blaue Himmel, da lag der glänzende See – das ist das Erste, was ich von meinem Leben weiß.“
Dieser Sturz in den Georgs-See ist eine wichtige Begebenheit in dem Leben Williams’, denn von jener Zeit an schien sein Geist seine Spannung und Gesundheit wieder erlangt zu haben, und es lebten manche Bilder und Erinnerungen aus der Vergangenheit in ihm wieder auf, ohne daß er ihnen jedoch Namen und Platz anweisen konnte. Als höchst bedeutungsvoll in dieser Beziehung erscheint folgender Vorfall. Ein eben aus Europa zurückgekehrter vornehmer Mann unterhielt sich mit Williams und legte während des Gesprächs mehrere Lithographien und Kupferstiche auf den Tisch; kaum hatte Williams eins dieser Bilder erblickt, so rief er, ohne dessen Unterschrift gesehen zu haben: „Großer Gott! das Gesicht kenne ich; es hat mich durch mein ganzes Leben verfolgt.“ Und dies Bild stellte niemand anders dar, als den Schuhflicker Simon, den Kerkermeister des Dauphin.
Wie ist nun aber der Indianer-Missionär Eleazer Williams dazu gekommen, in sich nach und nach die Ueberzeugung zu befestigen, daß er der Sohn Ludwig’s XVI. sei? Er ist in einer Indianerfamilie erzogen; sein angeblicher Vater Thomas Williams galt in Folge der Abstammung von seinem Großvater mütterlicher Seits als ein Indianer vom Irokesenstamme, der sich mit einer Vollblut-Indianerin verheirathete. Mit dieser erzeugte er, außer Eleazer, noch eilf Kinder, die alle die Abstammung ihres Blutes an sich tragen, nur Eleazer nicht, der weder seinen angeblichen Geschwistern, noch diese ihm glichen. Thomas Williams wie seine Frau waren katholische Christen und alle ihre Kinder sind nach empfangener Taufe in das Kirchenregister eingetragen, nur Eleazer’s Name fehlt. Auch wurde derselbe in die Schule nach Long Meadows, im Staate Massachusets, geschickt und dort der Sorgfalt des Geistlichen Ely anvertraut. Aus den Büchern dieses Geistlichen geht hervor, daß für Eleazer Williams halbjährlich mit großer Pünktlichkeit das Schulgeld bezahlt worden ist, und daß sein angeblicher Vater Thomas Williams diese Gelder nicht hergab, steht außer Zweifel, da ihm hierzu die Mittel fehlten, auch seine andern Kinder nicht eine gleiche Erziehung genossen. Endlich haben sowohl Thomas Williams wie seine noch lebende Frau, also die angebliche Mutter Eleazer’s, eine hochbetagte Frau, zu verschiedenen Malen erklärt, daß Eleazer nur ihr Pflegekind sei; doch waren selbst Eleazer’s Bemühungen bis jetzt vergebens, seine Mutter dahin zu bringen, daß sie bestimmt erkläre, wer ihn (Eleazer) ihr zur Pflege übergeben. Einiges Licht ist allerdings in dieses Geheimniß gedrungen und zwar durch die Aussage eines Sterbenden. Es war dies ein Franzose, Namens Belanger, der im Jahre 1848 in New-Orleans starb und auf seinem Todtenbette das Bekenntniß ablegte, daß er derjenige sei, der den Dauphin nach Amerika geschafft und ihn unter die Indianer im nördlichen Theile des Staates New-York gebracht habe. Nun ist aber geschichtlich erwiesen, daß am 31. Mai 1795 ein gewisser „Bellanger“, ein Maler, den Dienst im Gefängnisse des Dauphin hatte, länger mit ihm sprach und eine Zeichnung des Prinzen machte. Sollte sich dieser nicht, unter Vorwissen des Convents, heimlich mit dem Prinzen entfernt haben? Eben so wahr ist es, daß im Jahre 1818 der damalige französische Geschäftsträger Genet, der sich in einer Gesellschaft im Hause des Dr. Hosack in New-York befand, in welcher auch zugleich mehrere angesehene Männer, und unter diesen der Graf Jean d’Angeley, zugegen waren, bestimmt erklärte: „Meine Herren, der Dauphin von Frankreich ist nicht todt, sondern nach Amerika geschafft worden.“ Ueber diesen interessanten Gegenstand wurde noch weiter gesprochen, wobei Genet unter Anderem gegen die Gesellschaft äußerte, er glaube, der Dauphin befinde sich im westlichen Theile von New-York, und Le Ray de Chaumont wisse Alles, was ihn betreffe, am Besten. Dieser Le Ray de Chaumont war 1794, 95 oder 96 nach Amerika gekommen, hatte sich dort angekauft und immer nicht weit von dem Orte gelebt, wo Williams erzogen wurde. Erst nach der Julirevolution im Jahre 1832 kehrte er nach Frankreich zurück. Er, wie noch ein anderer Franzose, der Oberst De Fervier von der Leibgarde Ludwig’s XVI., welcher, mit einer Indianerin verheirathet, unter den Indianern in Oneida lebte, wo auch [161] Williams einen großen Theil seines Lebens zubrachte, scheinen den Letzteren gewissermaßen überwacht zu haben.
An diese Thatsachen reihen sich noch andere, nicht minder wichtige Umstände, unter denen der eine besondere Beachtung verdient, daß Louis Philipp als Herzog von Orleans, begleitet von seinen Brüdern, in den neunziger Jahren bei den Indianern im westlichen New-York, so wie auch in New-Orleans, in der Nähe des eben erwähnten Belanger, waren. Ferner, daß Eleazer Williams bis zur Stunde über dem linken Auge und auf der rechten Seite der Nase die Spuren einer Mißhandlung an sich trägt, die er von seinem grausamen Kerkermeister, dem Schuhflicker Simon, zu erdulden hatte; auch sind seine Kniee ganz mit skrophulösen Narben bedeckt, und es ist Thatsache, daß der Dauphin hauptsächlich an dieser Krankheit litt. Dann ist zu erwähnen, daß Schachteln mit Kleidern und Medaillen von Ludwig XVI. und Maria Antoinette bei dem Kinde zurückgelassen wurden, von denen eine, so wie ein Kleid der unglücklichen Königin sich noch im Besitze Williams’ befinden.
Der Aehnlichkeit Eleazer Williams mit den bekannten Familienzügen der Bourbonen – und das Portrait des Indianer-Missionärs sieht dem Ludwig’s XVIII. auf’s Haar ähnlich – ist schon erwähnt, doch wird eine genauere Beschreibung seiner Persönlichkeit für die Leser gewiß von Interesse sein. Sein Teint zeigt uns die Farbe, wie sie bei Jemandem zu sein pflegt, der lange im Freien gelebt hat, und er gilt deshalb für einen Halbindianer. Aber seine Züge sind entschieden die eines Europäers, sie sind mehr breit, und ganz charakteristisch sind die vollen, hervorragenden, österreichischen Lippen. Jeder Kundige weiß, daß solche niemals bei den Eingeborenen, und selbst sehr selten bei den Amerikanern gefunden werden. Sein Kopf ist wohlgebildet und sitzt stolz auf den Schultern. Seine Augen sind dunkel, aber nicht schwarz. Sein Haar kann schwarz genannt werden, ist dicht und glänzend, aber mit Grau gemischt. Seine Augenbrauen sind voll, von derselben Farbe – am linken findet sich eine Narbe. Sein Bart ist stark, sein Nase gebogen, die Nasenlöcher sind weit und scharfgeschnitten. Sein Temperament ist heiter; er hat etwas sehr Lebendiges in seinen Manieren, liebt gute Kost und neigt zur Wohlbeleibtheit, wie dies in der bourbonischen Familie gewöhnlich ist.
Sprechen nun alle diese Thatsachen und äußeren Erscheinungen dafür, den jetzt 68jährigen Eleazer Williams für Ludwig XVII. zu halten, so wird man in diesem Glauben noch durch ein wichtiges Ereigniß bestärkt, das sich im October 1841 zutrug, und das eigentlich die Hauptveranlassung war, den bis dahin mit seiner Abstammung unbekannten Williams zu der Ueberzeugung zu bringen, daß er wirklich der sei, für den ihn dunkle, unbestimmte Gerüchte ausgaben. Im genannten Jahre, im October, besuchte nämlich der Prinz von Joinville die Vereinigten Staaten und stellte im Staate New-York sorgfältige Nachforschungen nach dem Geistlichen Eleazer Williams an. Am 18. October traf der Prinz in dem am Michigan-See belegenen Hafen von Mackinac mit demselben Dampfschiffe ein, auf welchem Williams, der dasselbe erwartet hatte, nach Green-Bay fahren wollte. Der Prinz machte gleich nach der Ankunft des Dampfbootes mit seiner Gesellschaft einen kurzen Ausflug nach einer Berggegend und während seiner Abwesenheit theilte der Kapitain des Schiffes, Mr. Shook, Williams mit, daß ihn der Prinz während der Fahrt von Buffalo her zwei bis dreimal nach einem Herrn Williams gefragt habe, der Missionär unter den Indianern in Green-Bay wäre. Der Kapitain bemerkte, nur er (Williams) könne der sein, den der Prinz suche, und obgleich Williams dies nicht für wahrscheinlich hielt, da er den Prinzen gar nicht kenne, so war doch der Letztere kaum zurückgekehrt, als ihm Williams von dem Kapitän vorgestellt wurde. Beim Anblicke des Missionärs verrieth der Prinz Ueberraschung und Verwunderung, dann ergriff er Williams Hände, drückte sie lebhaft und sprach wiederholt seine große Freude aus, daß ihn sein gutes Glück mit Jenem zusammengeführt. Williams befand sich nun drei Tage in der Gesellschaft des Prinzen, der sich mit ihm ausschließlich über die erste französische Revolution und über die wichtigen Dienste unterhielt, die Ludwig XVI. den Nordamerikanern in ihrem Kampfe gegen England geleistet. Es schien, als wollte der Prinz den Missionär durch diese Unterhaltung gleichsam auf die wichtige Enthüllung vorbereiten, die er ihm am nächsten Tage, 19. October, als kaum das Dampfschiff gelandet war, machte. Der Prinz von Joinville offenbarte nämlich dem erstaunten Eleazer Williams, daß er der Sohn Ludwig’s XVI. sei und legte ihm zugleich eine Urkunde vor mit der Aufforderung, dieselbe zu unterzeichnen und damit allen Ansprüchen auf den Thron von Frankreich gegen Zusicherung eines glänzenden Auskommens zu entsagen. Der Prinz ließ den tieferschütterten Williams zehn bis funfzehn Minuten allein, damit er sich sammeln könne, und als er, zu ihm zurückgekehrt, seine Aufforderung wiederholte, gab der Missionär dieselbe Antwort, die Ludwig XVIII. im Jahre 1802 Napoleon ertheilte: „Obgleich arm, elend und verbannt, kann ich doch meine Ehre nicht opfern!“
Am folgenden Tage, 20. October, verabschiedete sich der Prinz auf die wohlwollendste Weise von Williams und kehrte nach New-York zurück. Ueber diese hochwichtige Zusammenkunft hat sich Williams, der auf das Entschiedenste erklärt hat, daß er niemals auf den Thron Anspruch machen werde, in seinem Tagebuche ausführlich ausgelassen, auch ist es erwiesen, daß nach der Rückkehr des Prinzen nach Frankreich Ludwig Philipp eigenhändig an Williams geschrieben hat.
Alle diese Thatsachen, die hier aufgeführt wurden, um die Identität des Indianer-Missionärs Eleazer Williams mit Ludwig XVII. darzuthun, sind ausführlich in einer so eben in Dessau erschienenen Broschüre behandelt, die indessen nur die deutsche Uebersetzung eines größeren Aufsatzes ist, der im Februarheft von Putnam’s Monthly Magazine of American Literature, Science and Art mitgetheilt wird. Der Verfasser dieses Aufsatzes ist der oben erwähnte Geistliche Hanson, der keine Mühe scheut, diese wunderbare Geschichte vollständig zu enthüllen, mit Eleazer Williams im engsten Verkehr steht und mit seiner Genehmigung jenen Aufsatz veröffentlicht, auch den Prinzen von Joinville als Gentleman gleichsam aufgefordert hat, vor der Welt Zeugniß abzulegen über das, was er in Green-Bay mit Eleazer Williams verhandelte. Es ist demselben bereits geglückt, abermals einige „neue und wichtige Thatsachen“ aufzufinden und er wird dieselben in einem der nächsten Hefte des genannten amerikanischen Magazins mittheilen.
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Aus der Menschenheimath.
des Schulmeisters emer. Johannes Frisch an seinen ehemaligen Schüler.
Wenn Du einmal zufällig unter gangbaren neuern Münzsorten eine recht alte Münze mit fast abgegriffenem Gepräge einnimmst, so versäumst Du gewiß nicht, sie mit Interesse und ganz genau anzusehen. Du buchstabirst Dir die halb verwischte Schrift so gut es geht, zusammen und besiehst Dir Wappen und Kopf genau. Bist Du damit fertig, so hast Du nun Deine Neugierde befriedigt. Aber dann kommt noch etwas hinzu. Das siehst Du nicht auf der Münze. Es wird nur durch sie in Dir geweckt. Du denkst nun an die lange Zeit, die seit ihrer Prägung verflossen ist.
Du denkst nicht blos an die tausend Hände, durch die sie seitdem gegangen ist, sondern Du denkst auch an ihren Verfertiger. Du siehst im Geiste in altdeutscher Tracht den Prägemeister und seine kräftigen Gesellen und es fällt Dir auch wohl ein, daß Derjenige, der die neue Münze zuerst ausgab, dafür gewiß viel mehr an Werth erhalten hat, als Du heute dafür erhältst. Oder laß mich einen andern Fall denken. Hast Du einmal einen alten gothischen Dom besucht? Wenn Du da die zierlichen Arbeiten der alten längst verfaulten Steinmetzen an den schönen Spitzbogenfenstern zwar halb verwittert aber doch noch in ihrer ganzen Zierlichkeit und phantastischen Mannigfaltigkeit erblickst, da belebt sich Dir gewiß, mir geht es wenigstens so, der Raum um die Kirche zum geschäftigen Bauplatze, auf dem es hämmert und meiselt, daß es eine Lust ist. Wir sehen dann den ehrwürdigen Baumeister im seidenen Wamms mit der goldenen Halskette unter den Bauleuten herumgehen und sich den langen Bart streichen. Da streift man die Gegenwart von sich ab und tritt wie durch Zauberei im Nu um vier, fünf Jahrhunderte zurück in die alte Zeit unserer Väter.
Sag’, woher kommt das? Was ist es, was uns da bewegt? Ist es etwa Sehnsucht nach der Vergangenheit und eine Abneigung vor der Gegenwart? Ich glaube nicht. Es ist der Zauber der Geschichte, welcher aus solchen alten Ueberbleibseln uns anweht, der Geschichte unseres eigenen Volkes. Ich bin überzeugt, daß uns die alten Baudenkmäler der Mexikaner ziemlich kalt lassen würden. Wir kennen ja die Geschichte jenes Volkes nicht, wir gehören ihm nicht an, und wir sehen höchstens aus dem Grade der Verwitterung, aber nicht aus dem Baustyle jener mexikanischen Bauwerke, ob sie neu oder alt sind.
Sieh, mein Freund, hierin erblicke ich einen mächtigen Zug des menschlichen Herzens, denn das ist dabei vielleicht mehr betheiligt als der Geist; – ich möchte für meine heutigen Mittheilungen diesen Zug in Dir recht wach rufen. Fragen wir, was diesem Zuge zum Grunde liegt, so finden wir als Antwort den in jedem unverdorbenen Menschen schlummernden Drang, als ein Glied sich der langen Kette des Bildungsganges der Menschheit anzuschließen. Denn wahrlich, bloße kindische Neugierde liegt unserer Theilnahme für Alterthümer nicht zu Grunde. Es ist mehr, es ist das unbewußte Vergleichen der Vergangenheit mit der Gegenwart, das Anknüpfen dieser an jene.
Daß ich Dir heute von den ältesten geschichtlichen Denkmälern erzählen will, sagt Dir schon die Ueberschrift, die ich wie gewöhnlich, so auch diesmal über meinen Brief gesetzt habe. Das sollen aber keine gothischen Dome sein, auch keine alten Inschriften oder römischen Bildsäulen. Viel, viel älter sollen sie sein, Millionen Jahre älter, als das Menschengeschlecht. Die mindestens 4000 Jahre alten Pyramiden der ägyptischen Pharaonen sind dagegen neugeborene Kinder.
Ich meine die Versteinerungen. – Daß ich sie geschichtliche Denkmale nenne, wird Dich nicht Wunder nehmen, wenigstens wird es Dir am Schlusse meines Briefes einleuchten. Nicht blos das Menschengeschlecht hat eine Geschichte. Unsere Mutter Erde hat auch eine Geschichte und zwar eine unendlich viel längere und bewegtere. [163] Wir Menschen gehören zwar auch mit auf den Schauplatz dieser Geschichte, aber wir sind zu allerletzt darauf getreten. Vor uns haben zwar noch keine menschenähnlichen Geschöpfe, aber Tausende von Thier- und Pflanzenarten ihr Rolle in dieser Geschichte gespielt, deren letzte Nachkommen längst ausgestorben sind, und neuern Thier- und Pflanzenformen Platz machen mußten.
Weiß man auch nicht, wie viele Jahrtausende seit der Bildung der ältesten oder, um mich deutlicher auszudrücken, der zuerst entstandenen dieser versteinert bis auf unsere Zeiten gekommenen Wesen verflossen sind, so hat die Naturwissenschaft doch Gründe, diese Zeit nicht nach Jahrhunderten, selbst nicht nach Jahrtausenden, sondern nach Millionen von Jahren zu schätzen. Darf man doch annehmen, daß seit der Bildung der Steinkohlen – und schon lange vor dieser Zeit lebten Thiere und Pflanzen auf der Erde – acht Millionen Jahre verflossen sind. Und dennoch kann man sich heute noch ein ziemlich vollständiges Bild von der Pflanzenwelt machen, welche ihre Leiber zur Bildung der Steinkohlen hergegeben haben. Und die Fische und andern Thiere, die lange vor der Steinkohlenbildung gelebt haben, kennt man größtentheils, wenigstens ihrer äußeren Gestalt nach, heute eben so genau wie unsere Karpfen und Insekten.
Wie unsere Urahnen, wenn auch nicht in Gestalt doch in Sitten und Gewohnheiten, in Kunst und Wissenschaft desto mehr von uns abweichen in je älteren Zeiten sie vor uns gelebt haben, so weichen auch jene vorweltlichen Thiere und Pflanzen, wie man sie mit einem höchst sonderbar gewählten Worte bezeichnet, von der heutigen ebenfalls um so mehr ab, in je älteren Perioden des Erdlebens sie gelebt haben. Die Versteinerung – wie diese stattfindet, erzähle ich Dir vielleicht einmal später – hat aber ihre äußere Gestalt oft so vollkommen erhalten, ja nicht selten sogar ihren innern Bau, daß ihnen oft nicht viel mehr als das Leben fehlt, nur daß ihre meist weiche, lebenerfüllte Körpermasse in todten, starren Stein umgewandelt ist.
Mein heutiges Bild zeigt Dir die naturgetreuen Abbildungen von einigen Versteinerungen aus der ältesten Zeit unserer Erdgeschichte.
Fig. 1 stellt eine Muschel aus jener Periode vor, welche derjenigen vorausging, an deren Ende die mächtigen Steinkohlenlager sich bilden. Sie ist also einer der allerältesten Urahnen der heutigen Muschelwelt. Du siehst übrigens, daß sie von unsern heutigen See- und Süßwassermuscheln sehr abweicht, indem die eine Schale schnabelförmig vor der anderen hervorragt, was bei keiner Muschel der Jetztwelt der Fall ist. Wenn aber auch unsere heutigen Muscheln von denen jener Urzeiten bedeutend abweichen, so haben wir eben doch noch Muscheln. Das gilt aber nicht von den andern Thieren. Fig. 2 Wahrscheinlich ist es ein Thier gewesen, was wir, wenn es jetzt noch lebendig vorkäme, im Systeme in die Nähe der Krebse oder Asseten stellen müßten. Seine Art, seine Gattung, seine Familie, d. h. seine näheren Systemverwandten sind längst gänzlich aus der Reihe der lebenden Thiere verschwunden. Diese wunderbaren Thiere lebten, aber in großer Menge und Mannigfaltigkeit der Arten, eben nur in der allerältesten Zeit, noch lange vor der Steinkohlenzeit. Nur einige wenige Arten erhielten sich bis in diese, um dann für immer zu verschwinden. Man nennt sie alle zusammen deshalb Paläaden, was etwa uralte Thiere bedeutet.
Figur 3. stellt ein Stück eines mehrartigen, gegliederten Stengels dar, eines Calamiten, welcher einer ausgestorbenen Pflanzenfamilie angehörte, die an der Bildung der Steinkohle einen großen Antheil gehabt hat. Was wirst Du aber zu der letzten Figur meines Bildes sagen? Es ist ein Rindenstückchen, in natürlicher Größe, von einem Baume, von dessen Holze die Steinkohlen größtentheils herrühren. Man nennt diese Bäume, eben wegen dieser zierlichen Bildungen auf der Rinde, Schuppenbäume. Es waren Bäume von der Größe und dem Ansehen unserer Fichten, standen aber auf der verwandtschaftlichen Stufenleiter des Gewächsreiches viel tiefer, da es nur riesige Bärlapp-Arten waren, und als solche zu den Farrenkräutern gehörten. Ueberhaupt hatte es die damalige Pflanzenwelt nicht weit über die Farrenkräuter hinaus gebracht, indem es außer einer großen Menge baumartiger Farren blos noch einige wenige Nadelhölzer, den unsrigen ähnlich, gab. Von allen diesen Pflanzen findet man die Ueberreste, als Rinde, Blätter, Früchte, in den Schieferthon- und Sandsteinschichten, welche zwischen den Steinkohlenflötzen liegen, und zwar als Abdrücke, auf welchen der abgedruckte Pflanzentheil meist deutlich als zarte Steinkohlenkruste, worin er verwandelt wurde, zu erkennen ist. Die Schuppenbäume hatten lange, schmale Nadelblätter, ähnlich unseren Kiefern. Man findet in den Steinkohlengebirgen häufig in den Schieferthonschichten Zweige davon mit den ansitzenden, verkohlten und abgedrückten Nadeln und zapfenartigen Früchten.
Wenn ich Dir nun hierzu bemerke, daß man aus den Schichten der Steinkohlenperiode Pflanzenüberreste von bereits über 500 Arten kennt, die meist ein vollständiges Bild der Pflanzen, von denen sie herrühren, geben, so wirst Du mir zugeben, daß wir dieselben, (wie überhaupt alle Versteinerungen), mit Fug und Recht geschichtliche Denkmale nennen können. Denn man kann an ihnen erkennen, wie in früheren Jahrtausenden das Pflanzenreich beschaffen war, man liest aus ihnen die Geschichte des Pflanzenreichs, die wieder ein Theil der Geschichte unseres Erdkörpers ist.
Unsere Erdoberfläche ist mit zahlreichen geschichteten Gebirgsmassen bedeckt, die sich in dem langen Verlaufe der Umbildung derselben zu ihrer gegenwärtigen Beschaffenheit aus großen Wasserfluthen niederschlugen. Diese Schichten bilden gewissermaßen die Riesenblätter eines Geschichtsbuches. Was sie uns erzählen, würden wir ohne die Versteinerungen darin schwer verstehen. Die Versteinerungen sind aber die erläuternden Figuren, die Illustrationen, in diesem unermeßlichen, uralten Buche der Erdgeschichte.
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Blätter und Blüthen.
Die wandelnde Leiche um Mitternacht. (Klopfgeistergeschichte.) Gewiß hat der Leser schon von Madame Haydn aus Amerika gehört, die unlängst nach London kam, um die nüchternen Engländer mit jener Welt des Jenseits, wo man nicht mehr „Geld macht“, etwas näher bekannt zu machen, als ihre Hochkirche es vermag. Mad. Haydn nimmt gegen Bezahlung von 10 Guineen (70 Thaler) Einladungen zu Familienthees an und dafür trinkt sie nicht nur Thee, sondern läßt auch Geister erscheinen, wenn auch nicht erscheinen, so doch „höhere“ Buchstabirübungen machen. Der Witz ist so. Mad. Haydn vertheilt ABCBücher d. h. Blätter, worauf die Buchstaben stehen. Nun fragt sie: Wer nun gefälligst einem Verstorbenen etwas sagen will, gehe langsam mit einem Griffel über die Buchstaben weg. Der geehrte Verstorbene wird auf die Art antworten, daß er jedesmal klopft: klapp tapp tapp, wenn der Griffel einen Buchstaben berührt, der das Wort bilden helfen soll, welches er antworten will. Bisher hat sie ziemlich gut geklopft, namentlich viele schöne Male 10 Guineen aus gläubigen Taschen. Auch hat sie schon von ihren Geistern Tische und andere Meubels im Zimmer herum rücken lassen und so den Meubelfuhrherren bange gemacht, daß die Todten ihnen Concurrenz machen würden. Dieses unerklärliche Auftreten von Klopfgeistern hat in unserer nüchternen Zeit allerdings etwas sehr Angenehmes und schauerlich Romantisches, wie man es jetzt gerade brauchen kann. Aber was hilft’s? „Das Klopfen hört man wohl, allein es fehlt der Glaube.“ Sehen muß man’s. Sprechen müssen sie, nicht blos auf eine langweilige Weise buchstabiren. Deshalb ist folgende Geistergeschichte mit Fleisch und Bein und Hand und Fuß gewiß interessanter, als alle Klopffechterei der hagern Amerikanerin.
Auf einem ganz fashionablen Platze Londons, in Soho-Square, wo täglich und immer viele Equipagen halten, miethet einer der feinsten „Gentlemen“ herrlich ausmeublirte Zimmer bei einem reichen Rentier. Rentier und Gentlemen haben beide nichts zu thun und so schließen sie bald Freundschaft, um sich die Zeit gegenseitig zu vertreiben. Der Miether ist bald wie ein Kind im Hause und hat Zutritt zu allen Zimmern und Schätzen. Er ist ein ganz feiner, stets vornehm gekleideter Herr mit weißester Wäsche und Glanzlackstiefeln, wofür der Engländer durchweg eine wahre Hochachtung hegt. Ohne sehr weiße Wäsche kommt nur der Millionär vorwärts. Sehr weiße Wäsche kann sogar baares Geld ersetzen, zumal wenn glanzlackirte Stiefeln dazu kommen. Der Herr Miether ist auch immer sehr fidel. Plötzlich wird er traurig und trauriger. Sein geliebter Bruder in einem andern Stadttheile ist erkrankt und zwar bedenklich. Boten und Briefe werden häufiger. Endlich bleibt der Miether einige Nächte ganz aus, und bei seiner Rückkehr theilt er mit gebrochener Stimme mit, daß der Bruder hinüber geschlummert sei in der Blüthe seiner Jahre. Er findet herzliche Theilnahme, will sich aber gar nicht trösten lassen. Es liegt ihm noch etwas Schweres auf dem Herzen. Der Verstorbene hat ihn, schon mit gebrochenen Augen, gebeten: „Laß mich in unserer Familiengruft ruhen!“ Nun sei aber die Familiengruft in Westminster, und da er nicht in dem betreffenden Sprengel gestorben sei, verlange die Hochkirche mit ihrem bekannten guten Magen eine ungeheure Summe, um ihre Erlaubniß zu geben, Soso-Square gehöre zu dem Sprengel. Ob er, der Hauswirth, nicht erlauben wolle, die Leiche heimlich hierher zu bringen. So beweise man, daß der Bruder hier gestorben und erspare über ein halbes Tausend Thaler.
Die Erlaubniß wird bereitwillig gegeben und die Leiche unter Schluchzen und Weinen des Bruders in eins seiner Zimmer gebracht. Mit schmerzlicher Theilnahme wirft der Portier einen furchtsamen Blick in den geöffneten Sarg, wo die edle Gestalt des Bruders der Verwesung pflegt, und eilt schaudernd davon.
Nach englischer Sitte wacht immer Jemand in dem Hause, wo ein Todter der Beerdigung harrt. Der Portier und ein Kutscher haben das Ihrige schon gethan, so daß sich für die dritte Nacht das Dienstmädchen bequemen muß, aufzubleiben. Sie sitzt furchtsam am Kaminfeuer und stört, um die Stille fleißig zu stören, sehr oft in den glühenden Kohlen. Auf einmal hört sie’s zwölf schlagen, und rauschen und knistern im Sarge. Die Leiche erhebt sich und setzt sich neben sie an’s Feuer, einen stieren hohlen Blick auf sie heftend. Vor Schreck ganz gelähmt, sitzt sie eine Weile still, ohne schreien zu können. Endlich läuft sie davon, die Treppe hinauf und gerade in das Schlafzimmer des Portiers und seiner (hoffentlich) bessern Hälfte. Die Leiche stahkt[3] feierlich, wie es Leichen geziemt, hinterher in dasselbe Schlafzimmer, schließt die Thür, stellt sich davor und bindet die Drei mit ihrem hohlen, stieren Blick danieder, so daß sie weder zu schreien, noch überhaupt sich zu bewegen wagen. Alle Drei thun weiter nichts, als schwitzen Angst, wozu sie auch große Ursache hatten. Nach einer Viertelstunde schien sich die Leiche zu langweilen und ging deshalb feierlich und langsam ab. Portier, Portiece und Dienstmädchen schwitzen Angst fort, bis die Morgenröthe (so weit sie überhaupt in London in Betracht kommen kann) hereinleuchtet und hernach sogar etwas Sonne, welche denn ohne besondere Beleuchtung zeigte, daß nicht nur Leiche und Miether, sondern auch alles Geld und alle Pretiosen (für mehr als 120,000 Thaler) spurlos verschwunden waren.
Das Tischrücken und die Tänzerin Pepita geben jetzt allein den Unterhaltungsstoff auf der Leipziger Messe ab. Man vergißt Leder, Tuch und Wechsel und hört und spricht nur immer von diesen beiden. Wir überlassen die glutaugige Tänzerin den Bein-Enthusiasten und Aesthetikern und kümmern uns nur um das merkwürdige Experiment, das jetzt in Leipzig und allen Orten, in allen Familien und Privatgesellschaften mit mehr oder weniger Erfolg versucht wird. Die Art und Weise,
[165] wie es zu Stande gebracht wird, ist bekannt. Um einen runden Tisch bilden 4, 5 oder 7 Personen eine Kette. Die auf diese Weise um den Tisch Placirten dürfen weder ihre Füße untereinander, noch den Fuß des Tisches berühren; sie stehen mit dem letzteren und unter sich nur vermöge der Kette in Verbindung, die dadurch gebildet wird, daß jeder Einzelne seine beiden Hände auf den Tisch legt und mit seinen kleinen Fingern jene des Nachbars berührt, und zwar so, daß der kleine Finger der rechten Hand auf dem kleinen Finger der linken Hand des Nachbars zur rechten Seite ruht. Die Kleider dürfen sich nicht berühren und bei mehren Versuchen hat es sich als praktisch herausgestellt, wenn die Kette abwechselnd durch das männliche und weibliche Geschlecht gebildet wurde. Man kann dabei sprechen, lachen und scherzen, darf aber die Kette keinen Augenblick unterbrechen. Nach 30 oder 40 Minuten, oft erst nach 11/4 Stunde beginnt nach und nach der Tisch zu ächzen, zu knacken, hebt sich, wenn auch wenig, und fängt dann plötzlich an sich zu drehen, erst langsam, dann immer rascher und rascher, daß die Kette kaum folgen kann. Sobald sich die Kleider berühren oder die Kette gesprengt wird, steht der Tisch, sobald die Kette wieder geschlossen, beginnt der tolle Tanz von Neuem. Bei einzelnen Versuchen hat das Kreisen schon nach 4 und 6 Minuten begonnen, bei den meisten ist es ganz verunglückt. Man erzählt sich, daß durch das Eintreten eines Knaben W. in Leipzig in die Kette sofort das Kreisen begonnen habe; nachdem er herausgetreten, konnte trotz aller Bemühungen der Anwesenden der Tisch nicht in Bewegung kommen.
Den Grund und die Ursache dieser merkwürdigen Erscheinung suchen die Meisten in einem thierisch-magnetischen Fluidum, das mehr oder weniger jedem Menschen innewohnt und durch den kettenartigen Verband mehrer Personen zu einer kreisenden Strömung gebracht wird, die so mächtig und eigenthümlich wirkt, daß dadurch sogar todtes Holz zu einer Bewegung gebracht werden kann. Viele Personen wollen diese Strömung bei den Versuchen ganz deutlich in den Fingern und Armen gefühlt haben, auch wird allgemein angenommen, daß durch sogenannte Sensitive (nervös-erregte) das Experiment bei Weitem leichter und schneller zur Ausführung gebracht werden könne. Viele Ungläubige, die anfangs das Faktum abläugneten, haben sich durch den Augenschein von der Wahrheit desselben überzeugt.
Dagegen erklärt ein Herr Siebert in der neuesten Nummer der Augsburger Allgemeinen Zeitung das Ganze für ein Kinderspiel, das schon vor 30 Jahren vielfach geübt wurde. Das Schließen der Kette ist nach seiner Versicherung völlig überflüssig, das Berühren oder Nichtberühren der Kleider von keinerlei Einfluß und von einer elektro-magnetischen Einwirkung gar keine Rede. Das Auflegen der Hände auf den Tisch genüge, um nach einiger Zeit die vielbesprochene Bewegung hervorzurufen. Diese Bewegung entsteht, nach seiner Ueberzeugung, durch das Zittern der Hände und Arme.
Er bezeichnet es geradezu als einen großen Irrthum, daß man glaube, der Bewegung des Tisches nachzulaufen, während man sie doch selbst veranlasse. Man schiebe, während man glaube nachzulaufen. Sein Bericht schließt mit einigen derben Seitenhieben auf die Leichtgläubigkeit der Jetztwelt und auf die neuerdings erwachte Lust an allen mysteriösen Dingen.
Was den Schreiber dieser Zeilen anlangt, so will er sich vorläufig jedes Urtheils enthalten. Die elektro-magnetische Strömung im Menschen ist keine neuentdeckte Kraft, jeder Gebildete kennt deren Existenz. Ihre Einwirkung auf Holz aber wäre neu. Hinzufügen muß er noch, daß zwei Versuche in seinem eigenen Hause – ohne Erfolg blieben.
Wenn sich die Thatsache, d. h. die bewegende Einwirkung des thierischen Magnetismus im Menschen auf Holz und andere Gegenstände bestätigen sollte – welche ungeheuren Folgen würden sich daran knüpfen? Welche Veränderung in allen Maschinen, in der Heillehre, in Beförderungsmitteln etc. etc. Aber: Wer das Wenn und das Aber erdacht etc. etc.
Ein Spaß. Ein junger Student in L. ging vor einigen Tagen mit dem Professor spatzieren, der wegen seiner persönlichen Fürsorge für die jungen Herren überall der Studentenfreund heißt. Als sie auf das Feld kamen, entdeckte der Student ein Paar alte Schuhe am Wege, die einem armen Manne, der auf dem Acker arbeitete, gehören mochten. „Wir wollen dem Manne mal einen Streich spielen und seine Schuhe verstecken,“ sagte der Student zum Professor. „Wenn wir uns hinter die Bäume dort verstecken, können wir sehen, wie er sich haben wird.“ „Lieber Freund, man sollte sich doch wohl niemals einen Spaß auf Kosten der Armen machen,“ entgegnete der Studentenfreund; „doch ich will auf Ihren Vorschlag eingehen: spielen wir dem Manne einen Streich. Sie sind reich; stecken Sie in jeden Schuh einen harten Thaler und dann wollen wir hinter den Bäumen abwarten, wie er sich haben wird.“
Der Student ging darauf ein, versteckte in jeden Schuh einen harten Thaler und dann mit dem Professor sich selbst. Da es schon Abend war, brauchten die Herren nicht lange auf die Wirkung ihres Schabernacks zu warten. Der arme Mann kam bald heran, zog seinen Rock an und schlüpfte zu gleicher Zeit in den einen Schuh. Da er etwas hartes darin fühlte, bückte er sich und fand bald das Stück Geld. Erstaunen und Wunder spiegelten sich auf seinem faltigen Gesichte; er starrte den Thaler an, schlug auf einen Stein, um die Aechtheit des Geldes zu prüfen, drehte sich um und wieder um, sah sich dann nach allen Seiten um, und da er Niemanden sah, steckte er endlich das Geld in die Tasche. Jetzt zog er den andern Schuh an. Sein Erstaunen, als er den andern Thaler fand, war lächerlich erhaben. Er stürzte auf seine Kniee, betete gen Himmel mit nassen, dankbaren Augen und dankte dem wunderbaren Gotte im Himmel so laut und inbrünstig, daß die Versteckten jedes Wort vernahmen. Er sprach von seinem kranken, hilflosen Weibe und den kleinen Kindern, die nun der Himmel nicht verlassen werde. –
Der junge Mann stand erschüttert und konnte sich der Thränen nicht erwehren. „Gefällt Ihnen mein Schabernack nicht besser, als der Ihrige?“ fragte der Professor.
Kein Wort hat der junge Mann gesagt, aber die Hände des „Studentenfreundes“ hat er geküßt unter Thränen [166] der Freude und der Beschämung und ein Gefühl ist in ihm rege geworden, das er bisher noch niemals gekannt. Irren wir nicht, so wird der Spatziergang vielen Armen Segen bringen.
Selbstmord. In Berlin macht augenblicklich der Selbstmord eines jungen reichen Arztes, Namens Amort viel von sich reden. Die Feuerspritze sagt darüber: Der Selbstmord des Dr. Amort ist eine jener Schauder erregenden Thaten, in denen die Furie des Wahnsinns unter der Maske geistiger Gesundheit erscheint, einer Maske, welche uns das Lächeln frohen Lebensmuthes vorlügt, während unter derselben der mordgierige Hohn der Selbstvernichtung grinzt. Dr. Amort sah aus wie der Urtypus üppiger Lebensfülle und glücklicher Behaglichkeit. Seine Persönlichkeit besaß diese Eigenschaften in solchem Grade, daß sie dadurch auffiel. Es mag wenige Berliner geben, die ihn nicht wenigstens von Ansehn gekannt haben. Kaum 30 Jahr alt und mittelgroß, besaß Dr. Amort eine fast übermäßige Leibesfülle und ein breites pausbackiges Gesicht, dessen alabasterweißer Teint und strotzende Röthe mit den feinen Conturen und den geistvollen, gutmüthig blickenden Augen einen zugleich angenehmen und burlesken Eindruck machten. Dieser Contrast zwischen Anmuth und Burleske, der ihn überhaupt charakterisirte, fand auch in seiner eleganten Kleidung und dem formlosen weißen Filzhut einen Ausdruck. Amort war reich, körperlich gesund, geistig reich begabt, gebildet, voll Humor und Jovialität, ein guter Gesellschafter und als solcher in den besten Häusern gern gesehen und selbst gesucht, ein Ehrenmann durch und durch, gutmüthig, theilnehmend, als Freund zu jeder Aufopferung bereit und fähig. Er liebte die sinnlichen Genüsse des Lebens, aber in fast noch höherem Maaße die geistigen. Er hatte zuerst Jura, dann Medizin studirt, interessirte sich aber zugleich lebhaft für die schöne Literatur und war Freund und Kenner der Künste. Und dieser Mann, der so durch und durch berufen war, das Leben in seiner reichsten Fülle zu leben, hat seinem Dasein durch Selbstmord ein Ende gemacht, ohne andere Ursache, als weil vielleicht an einer einzigen Fiber seines Hirns ein Tropfen erblichen Giftes haftete. Bereits mehrere Mitglieder seiner Familie sind Opfer dieser selbstmörderischen Manie geworden. Grauenvoll ist die Ruhe, wir möchten sagen die Behaglichkeit, womit Amort die That ausführte. Er war am Mittwoch noch mit einigen Freunden in einem Kaffeehause zusammen, aß, trank, scherzte, – während bereits auf dem Tisch in seinem Zimmer der Brief lag, in welchem er den Freunden mittheilte, daß sie morgen seine Leiche finden würden, und in seinem Pult das Testament, worin er über seine Effecten, Bücher, Pretiosen etc. zu Gunsten seiner Freunde verfügte. Dieser rothwangige, lebensüppige Genußmensch war bereits eine designirte Leiche; dieser frische, joviale Geist wandt sich heimlich unter der Martergeißel des Wahnsinns! Entsetzlicher Betrug, wenn strotzende Gesundheit und leuchtender Geist so heimtückisch lügen! – Als man Amort’s Leiche bei Moritzhof aus dem Wasser zog, ging eben der Dr. L... vorüber, und erkannte mit Entsetzen in der Leiche seinen ehemaligen Schüler. Amort hinterläßt ein bedeutendes Vermögen. Weder Noth und Sorgen, noch unglückliche Liebe oder gekränkter Ehrgeiz haben ihn zu dem traurigen Schritt freiwilliger Selbstvernichtung getrieben. Er war geliebt und geachtet in allen Kreisen, in denen er sich bewegte. Seine That kann nichts sein, als die gräßliche Wirkung eines verhüllten Wahnsinns, einer Monomanie, deren finsteres inneres Getriebe in die unerforschlichen Irrgänge der menschlichen Seele führt.
Zwei Denkmäler. Zu Ende des Jahres 1812 befanden sich zwischen Moskau und dem Niemen 1131 französische Kanonen in der Gewalt der Russen. Kaiser Alexander befahl, aus diesen Kanonen nach Art der berühmten Rostrumsäule in Rom (aus Schiffsschnäbeln) zwei colossale Säulen, die eine in Moskau, die andre in Petersburg zu errichten. Ob es eine Antwort auf diese russischen Denkmäler sein sollte oder nicht – genug! am Tage nach der Schlacht von Bautzen, den 23. Mai, erließ Napoleon früh Morgens 2 Uhr ein Decret für Errichtung eines Monumentes auf dem Mont Cenis zu Ehren Frankreichs und Italiens mit folgender Inschrift: „Kaiser Napoleon hat auf dem Schlachtfelde von Wurschen die Errichtung dieses Denkmals anbefohlen als einen Beweis seiner Dankbarkeit gegen die Völker von Frankreich und Italien und für die fernste Nachwelt zum Andenken an diesen merkwürdigen Zeitpunkt, wo in drei Monaten zwölfmalhunderttausend Mann zum Schutze der Integrität des Gebiets des französischen Reichs und dessen Bundesgenossen die Waffen ergriffen haben.“ 25 Millionen Franken waren zur Ausführung dieses Denkmals bestimmt und alle Architekten des französischen Reichs zu dessen Entwurf aufgefordert. Leipzig ersparte Geld und Mühe! Unterdessen ist das Monumenten-Errichten für Napoleon I. wieder in Schwung gekommen, u. A. wird die Stadt Lille eine Quantität Bronze, die von den bei Austerlitz eroberten Kanonen herrührt, für eine Statue desselben verwenden. Bei den beweglichen Franzosen ist nun einmal der Cäsarencultus in Mode!
Literarisches. Amerika, das uns die Geisterklopfer und die Tischverrücker gesandt hat, vergißt bei allem Mysteriösen und Geheimnißvollen doch das Praktische nicht. Auch in der dortigen Literatur bestätigt sich das. So erscheint jetzt in Washington ein polytechnisches Journal, das in merkwürdig populairer Form die wichtigsten Entdeckungen in der Physik, Chemie, Technik, Ackerbau etc. zur Kenntniß des Publikums bringt und durch prachtvolle Illustrationen instructiv veranschaulicht. Wenn man unsre deutschen polytechnischen Journale dagegen liest, die von unnützen Theorien strotzen und in einer für den Handwerker und den weniger Gebildeten unverständlichen Gelehrtensprache geschrieben sind, so fühlt man das Praktische dieses amerikanischen Journals recht auffallend heraus. Einer der Redakteur ist ein Deutscher, Namens Fleischmann. – In Paris wird nächstens die erste Nummer einer großen deutschen Zeitung ausgegeben werden. Tüchtige Kräfte sollen sich dabei betheiligen. Trotz alledem fürchten wir, daß sie das Schicksal ihrer vier Vorgängerinnen haben wird, und nach einigen Monaten wegen Ueberfluß an Abonnentenmangel eingehen wird.