Die Gartenlaube (1853)/Heft 32
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No. 32. | 1853. |
Schuld um Schuld.
In einem eleganten, mit allem Luxus des Reichthums und der höhern Stände verschwenderisch ausgestatteten Zimmer, ereignete sich eine Scene, welche wenig zu diesem Glanz der Umgebung paßte.
Der Hausherr, Commissionsrath von Buchau war mit seinem Sohne Ludolf, einem jungen Referendar, in heftigem Wortwechsel. Mit vor Wuth bebender Stimme und Angst zugleich rief der Vater: „Das Zuchthaus ist mir gewiß – meiner Gattin und Tochter; Deiner Mutter und Schwester Elend und Schande und Dir selbst nicht minder – Du hast es in Deiner Hand, dies Alles von uns zu wenden – aber Du willst nicht – o wehe mir, daß ich einen solchen Sohn habe!“ Die stattliche Gestalt des angehenden Sachwalters, dem man sein Alter sonst nicht ansah, erschien in diesem Augenblick zusammengesunken und in ihrer ganzen Haltung geknickt gleich der eines altersschwachen Greises.
Der Sohn lehnte an einem Pfeilertisch von glänzendem Marmor und es war, als ob die fieberheißglühenden Hände Kühlung auf dieser steinernen kalten Platte suchten. Mit dem wohltönenden Klang eines schönen Organes sagte er gedämpft: „Aber was Sie von mir verlangen, ist nicht mindere Schande! Ich soll ein Weib heirathen – weil es Geld hat – das ist freilich eine Nichtswürdigkeit, die täglich geschieht und die eben nur deshalb von der Welt nicht verdammt wird, weil man durch Gewohnheit gegen dies Vergehen so sehr abgestumpft ist, daß sogar die Klugheit es nicht nur entschuldigt, sondern sanctionirt. Aber Sie verlangen noch Schlimmeres von mir: ich soll ein Weib heirathen, das mir zuwider ist, das ich verachte – ein Weib, das der allgemeinen Verachtung anheim gefallen! Ich soll meinen ehrlichen Namen hergeben und –“
„Halt!“ unterbrach ihn der Vater mit einem unheimlichen Lächeln: „Du wirst morgen nicht mehr mit einem ehrlichen Namen prunken können, wenn Dein Vater in’s Gefängniß wandert und Dich vielleicht ein Verdacht der Mitschuld trifft!“ Er sah, wie Ludolf bei diesen Worten zusammenzuckte, und um den Eindruck derselben zu benutzen, fuhr er fort: „Fräulein Zahring [344] ist auf das Härteste beurteilt worden – aber Du weißt so gut wie ich, daß dennoch nie Jemand ihren Ruf in Bezug auf ihre weibliche Ehre angetastet – wie kannst Du da eine Heirath mit ihr für eine entehrende Zumuthung halten?“
„Ist es denn gleichgültig,“ entgegnete Ludolf, „ob ein Weib sich der schlechtesten Handlungen schuldig gemacht oder nicht, sobald es nur nicht zu den Gefallenen gehört? Nein Vater – diese Zahring ist verächtlicher als eine solche – ich kann mich nicht an sie verkaufen!“
Der Commissionsrath sah nach der Uhr. Sie zeigte auf Drei und ein Viertel. „Ich lasse Dir bis um 5 Uhr Bedenkzeit,“ sagte er mit erzwungener Fassung – „um diese Stunde erwarte ich, daß Du bei Fräulein Zahring erscheinst und mir eine Stunde nachher Deine Verlobung meldest. Die Sache wird nichts Peinliches für Dich haben. Sie weiß nicht und darf es nicht erfahren, daß Du ihr nur um diesen Preis Deine Hand bietest – es wird Alles so abgemacht, daß jede peinliche Scene, jedes Erröthen Dir und ihr erspart wird. Wähle: eine reiche Partie – das Bewußtsein treu erfüllter Pflicht, den guten Namen, die Ehre, das Leben Deines Vaters gerettet zu haben, die Erhaltung aller Lebensfreuden für Mutter und Schwester – meine ewige Dankbarkeit und meinen Segen, meinen Stolz, einen solchen treuen Sohn zu haben – oder den ewigen Vorwurf des Gewissens: ich konnte meinen Vater, die Meinen Alle retten und ihnen Alles – und dann erliege unter den Qualen dieses Fluches!“
Ludolf war allein. Aufgeregt ging er im Zimmer hin und her. Todtenblässe bedeckte sein Gesicht, aber sein Hirn glühte, seine Schläfe hämmerten, daß das braune lockige Haar, welches sie bedeckte, sichtbar davon aufflog. Eine furchtbare Entdeckung war ihm so eben erst gemacht und eine noch furchtbarere Wahl gelassen worden! –
Der Commissionsrath machte ein glänzendes Haus. Jedermann begegnete ihm mit Hochachtung und sprach nur Gutes von ihm. Allgemein war er als gewissenhafter Staatsdiener bekannt. Seit länger als zehn Jahren brachte es seine Stellung mit sich, daß er eine bedeutende Staatskasse unter sich und in seiner Verwahrung hatte. Ein Zufall hatte ihm jetzt verrathen, daß diese Kasse in den nächsten Tagen, wahrscheinlich am nächsten Morgen schon, revidirt werden sollte. Er wußte, daß zehntausend Thaler darin fehlten – darum versetzte ihn diese Nachricht in die äußerste Bestürzung. – Sein Gehalt hatte zu dem Luxus seines Hauses, zu dem er sich durch seine Stellung verpflichtet hielt, nicht ausgereicht. Das Vermögen, das ihm seine Gattin als Mitgift gebracht, hatte er allmälig mit zugesetzt, dieser selbst aber nie Rechenschaft davon abgelegt und sie sich ruhig daran gewöhnen lassen, daß die Lebensweise, welche sie führten, ihrem Einkommen entsprach. Wie nun jenes Kapital aufgezehrt war und mit ihm selbst auch natürlich der Zuschuß der Interessen wegfiel, wollte der Commissionsrath seiner Frau doch nicht das demüthigende Geständniß machen, daß er schlecht gewirthschaftet habe und nun einige Einschränkungen die nothwendige Folge wären. Er nahm jetzt, was ihm fehlte, aus der ihm anvertrauten Kasse. Freilich mit der gewissen Hoffnung, dies Geld nur als Darlehn zu betrachten, das er gelegentlich gewissenhaft wieder ersetze. Anfangs geschah es auch so. Endlich aber war es ihm nicht mehr möglich und die fremden Hunderte wuchsen allmälig zu Tausenden an. Die Seinen hatten keine Ahnung davon und lebten in glücklicher Sorglosigkeit. Er selbst freilich konnte dieser Sorgen sich nicht entschlagen, aber er tröstete sich mit allerhand vagen Hoffnungen. Ein Gewinnst in der Lotterie – vielleicht eine gute Partie für seine Tochter – vielleicht für seinen Sohn –
An diese letzte Spekulation hielt sich der Commissionsrath jetzt.
Die Geschichte des Fräuleins Meta von Zahring war allerdings eine etwas seltsame. Ihre Eltern hatten ihr kein sehr großes Vermögen hinterlassen und sie war als fünfzehnjähriges Mädchen verwaist zu einem Bruder ihres Vaters gekommen, der durch das Vermögen seiner Frau und eigner Erwerbsthätigkeit einer der reichsten Gutsbesitzer geworden war. Er hatte zwei Töchter, etwas älter als Meta; seine Gemahlin war todt. Obwohl Meta von ihren Cousinen auf die freundlichste Weise aufgenommen ward, fühlte sie sich doch nicht nur durch deren größern Reichthum, sondern auch durch ihre Schönheit und Liebenswürdigkeit zurückgesetzt. Meta war häßlich und ein vorzugsweise hämischer und neidischer Charakter machte sie noch häßlicher und raubte ihr auch jene Anmuth von Herz und Geist, welche auch eine unschöne Hülle anziehend zu machen vermag. Mit ihrem Neid wuchs ihre Falschheit. Sie war immer voll Dienstfertigkeit gegen ihre Cousinen und hatte zärtliche Worte für sie, aber im Stillen suchte sie dieselben bei ihrem Vater zu verkleinern oder doch selbst gegen diesen noch zärtlicher und gehorsamer zu erscheinen als jene. Er schenkte ihr auch sein ganzes Vertrauen, obwohl er es darum seinen Töchtern nicht entzog. So waren Jahre vergangen. Da verlobte sich die älteste von ihnen und zwar mit einem Lieutenant, für den Meta selbst eine leidenschaftliche, aber unerwiederte und unbemerkte Neigung empfand. Etwa einen Monat vor dem zur Hochzeit festgesetzten Tage erkrankte die Braut und war nach ein paar Wochen todt. Allgemeine Trauer herrschte in der Familie. Ein Jahr nachher bekam auch die zweite Schwester ein bösartiges Fieber – und starb. – Meta erschien untröstlich – aber nun war sie die einzige Erbin, da der unglückliche Vater seinen einzigen Ersatz in ihr fand, seiner treuen Pflegerin. Er selbst blieb ahnungslos darüber, welche Gerüchte unter der Dienerschaft zuerst und dann in größern Kreisen umgingen. Man sprach von Gift und hielt Meta für fähig, es den beiden Mädchen gereicht zu haben. Aber es blieb nur bei dem Verdacht, bei dem Gemurmel des Publikums. Kein Kläger trat auf, kein genügender Verdacht zu einer Untersuchung lag vor. Die Schwestern hatten verschiedene Aerzte gehabt und keiner von ihnen hatte Auffälliges gefunden oder ausgesprochen. Es blieb also immer nur bei dem Gerücht, aber es war mächtig genug, um Meta zu einer Person zu machen, die man fürchtete, der man mit einer gewissen Scheu [345] auswich. Welche glänzende Stellung sie nun auch in der Welt hatte und welche Hoffnung auf ein reiches Erbe – und wie oft sie es diesem oder jenem Mann merken ließ, daß sie seine Hand nicht ausschlagen würde – es wollte sich kein Freier für sie finden. Sie gewöhnte sich daran, von vielen Partien zu sprechen, die sie ausgeschlagen, aber man wußte recht gut, daß diese Anträge nur in ihrer Phantasie existirten.
Der Oheim starb, da sie bald dreißig Jahre alt war und setzte sie, geringe Legate abgerechnet, zu seiner Universalerbin ein. Die frühern Gerüchte tauchten bei diesem Todesfall zwar nicht wieder auf, da der Erblasser allmälig dem Grabe zugewankt war, allein jetzt machte sich Meta durch Härte und Geiz gegen seine andern armen Verwandten, gegen seine Diener und Alle, die von ihm Unterstützung empfingen, verhaßt. Einige Jahre waren seitdem vergangen, Meta hatte die Grille vieler Frauen: sie hielt es für ein schreckliches Loos, unvermählt zu bleiben, nicht weil sie so einen schönen Beruf und die Uebung der süßesten Pflichten entbehrte – sondern weil die verheirathete Frau eine angesehenere Stellung in der Welt einnimmt, wie ein alleinstehendes Mädchen, trotz alles Reichthums. Und sie stand sehr allein – sie wußte, daß sie von Niemand geliebt und nur von Denen gesucht ward, welche einst von ihr zu erben hofften – denn sonst hatte Niemand viel Vortheil von ihrem Reichthum. Sie war geizig und kannte das Glück des Wohlthuns nicht.
Meta lebte unter der haute volée der Stadt, welcher auch der Commissionsrath angehörte, und Ludolf’s einnehmende Persönlichkeit hatte in ihr eine Leidenschaft erweckt, die sie kaum zu verbergen wußte. Dem Commissionsrath hatte sie dieselbe absichtlich verrathen, weil sie hoffte, er werde vielleicht auf seinen Sohn zu wirken suchen und die Vortheile einer reichen Partie ihm auseinandersetzen.
Als der Commissionsrath die bevorstehende Kassenrevision erfuhr, brachte ihn die Verzweiflung zu einem Schritt, den er sonst im Leben nicht gethan haben würde. Er ging zu Fräulein von Zahring als Brautwerber seines Sohnes. Und da er keine abschlägliche Antwort erhielt, sondern nur die lächelnde: der Sohn möge es immerhin wagen, selbst zu kommen – wagte er seine Bitte um ein Darlehn von zehntausend Thalern – an den künftigen Schwiegervater. Natürlich daß er sich nicht ganz entdeckte – daß er eine andere Schuld vorschob, einen Wechsel, der heute noch ablaufe – daß er die Bürgschaft für einen Freund übernommen, der ihn nun im Stiche lasse – das Geld heut’ Abend noch haben müsse. Meta ahnte, aber sprach es nicht aus, daß Ludolf nur unter dieser Bedingung von seinem Vater zu einem Schritt überredet worden, den er sonst nimmer thun würde – sie schwankte – und Beide führten diese Unterredung wie eine diplomatische Unterhandlung weiter. Die blinde Leidenschaft und die Aussicht, Frau und die Frau eines jungen beliebten Mannes zu werden, trugen den Sieg über den letzten Rest weiblichen Zartgefühls und Stolzes in ihr davon. Der Sohn sollte heute noch kommen – mit ihm sollte von dieser schmählichen Uebereinkunft nie die Rede sein – und der Vater dann noch vor Nacht die nöthigen 10,000 Thaler von der Braut seines Sohnes erhalten.
Und jetzt war Ludolf allein und kämpfte mit Pflicht, Gewissen und Ehre – Liebe kam kaum mit in den Kampf – aber doch schwebte unaufhörlich ein holdes Mädchenbild vor ihm wie ein winkender Schutzgeist.
Fünf Uhr war vorüber und der Commissionsrath traf seinen Sohn Ludolf nicht mehr in seiner Wohnung. Der Vater athmete beruhigt auf – er hoffte, der Sohn habe den schweren Schritt zu seiner Rettung gethan.
Es war sechs Uhr, als Ludolf zurückkam, bleich mit wankenden Schritten und niedergeschlagenen Augen, einen furchtbaren Entschluß auf seinem verstörten Antlitz.
Der Vater streckte ihm die Hand entgegen: „Laß Dich umarmen!“ rief er mit zitternder Stimme und Thränen in den Augen: „Du kommst von Fräulein Zahring? –“
Ludolf wehrte der Umarmung und antwortete tonlos: „Nein – ich kann nicht!“
Der Alte bebte zurück und sank entsetzt in das Sopha, mit seinen Händen sein Antlitz verhüllend – „Verlaß mich, Vatermörder!“ schrie er nach einer Pause, ohne aufzusehen.
„Ich bin bereit, mich für Dich zu opfern,“ sagte Ludolf mit schwer erkämpfter Ruhe, „aber anders als Du willst. Noch heute gehe ich zum Minister – ich gestehe ihm, daß ich die Kasse best-“ er wollte bestehlen sagen, brachte das Wort aber nicht heraus, da er es ja von der That seines Vaters gebrauchen mußte und corrigirte sich: „die Kasse angegriffen – daß er mit mir verfahren mag wie recht ist – ich habe mir bereits eine Geschichte ausgedacht, die ich erzählen werde, wie ich mich in Besitz der Schlüssel und des Geldes gesetzt, ohne daß Du eine Ahnung davon haben konntest – man glaubt den Geständnissen des Verbrechers, wenn sie ihn so graviren wie ich die meinigen ablegen werde. Man wird keine Beweise meiner Unschuld finden – oder Deiner Schuld. Diese That von Dir wird Jedermann unglaublich erscheinen – ich bin ein junger Mann, der noch kein langes Leben hinter sich hat, das ihm Achtung und Vertrauen allgemein erworben – man hält die Jugend von heute für schlecht und der Verführung zugänglich – man wird mir glauben, vielleicht sagen die Meisten: sie hätten das von mir vorausgesehen – ich habe den Sonderling gespielt – sei ein überspannter Charakter – man sehe was dabei herauskomme –“
Der Vater zog die Hand von seinem Antlitz weg und ließ seine Augen prüfend auf dem Sohne weilen, als wolle er bis in die Tiefen seines Herzens lesen. Dann sagte er bitter: „Und Du denkst, der Minister werde mit Dir eine Großmuthsscene spielen, gerührt von Deiner freiwilligen Beichte Dich ungestraft entwischen lassen und die ganze Geschichte vertuschen, weil er mir immer wohl gewollt? Der Staat hat jetzt nicht so leicht zehntausend Thaler zu verlieren – und zu einer einmal angeordneten Kassenrevision kann der Minister [346] selbst keinen Gegenbefehl mehr geben, ohne daß diese außerordentliche Maßregel auffiele. Die Revision wird also stattfinden und der Defect entdeckt werden.“
„Dies ist natürlich,“ sagte Ludolf; „ich bin auf das Zuchthaus vorbereitet und ziehe es einer Heirath mit einer – Giftmischerin vor; ich ziehe die Schande, für einen Dieb zu gelten, der Verspottung vor, mich an ein verächtliches Weib zu verkaufen – ich nehme in’s Zuchthaus ein reines Gewissen mit, während mich an den Traualtar ein beflecktes begleiten würde.“
In kaltem Tone antwortete der Vater: „das heißt, Du wählst statt eines erfolgreichen, aber gewöhnlichen Rettungsmittels eine ungewöhnliche Handlung, die nur ein unnützes Opfer ist. Die Verantwortung für die Kasse habe ich – ich muß dafür haften – selbst wenn keine Spur einer Mitschuld mich träfe, muß ich doch für ihren Inhalt stehen. Und ob der Vater oder der Sohn die That gethan, das ist auch gleich – die Schande bleibt auf der Familie.“
„Es ist doch ein Unterschied. Du behältst Deine Stellung und die allgemein Achtung – der ungerathene Sohn wird ein Weilchen besprochen und dann vergessen,“ entgegnete Ludolf; „ich hoffe aber, daß wenn ich noch vor der Entdeckung bei dem Minister mein Geständniß mache – wenn ich mich noch heute verhaften lasse, nicht die ganze Wahrheit ins Publikum dringen wird, daß er vielleicht aus Rücksicht für Dich mir ein anderes, vielleicht ein politisches Verbrechen unterschiebt für die Oeffentlichkeit, – daß er die Kassenrevision natürlich stattfinden läßt, aber die Revisoren bereits vorher von dem Geschehenen unterrichtet, und daß sie dem Vater nicht die Schuld des Sohnes entgelten lassen.“
Der Vater versank in Nachdenken. Noch einmal versuchte er den Sohn zu der projektirten Heirath zu bewegen – es war vergeblich. Er nannte das von dem Sohn angebotene Opfer ein solches, das er nicht annehmen könne. Aber Ludolf fuhr fort, dafür zu sprechen. Er sagte, daß ein Leben mit Meta jedenfalls eine tägliche Hölle für’s Leben sei, daß er einige Jahre Zuchthaus leichter überstehe, dann könne er nach Amerika gehen und dort ein neues Leben beginnen, noch glücklich werden. Der Vater war überwunden, aber er bestimmte den Sohn, erst morgen früh zwischen sieben und acht Uhr zum Minister zu gehen, der ohnehin diesen Abend nicht zu sprechen sein würde. Er sagte auch: er wolle keine übereilte That von dem Sohne annehmen, sondern nur ein wohlüberlegtes, freiwilliges Opfer. Er umarmte ihn mit Thränen der Rührung und Scham und wollte ihn erst am nächsten Morgen wiedersehen.
Der Commissionsrath war entschlossen, das Opfer seines Sohnes anzunehmen, da er von ihm schied. Aber in der stillen Nacht ward sein Gewissen rege – er konnte keine Ruhe finden, und als der Morgen graute, kleidete er sich an und verließ das Haus. Niemand bemerkte es, nur die Tochter, deren Schlafzimmer der Vorhausthür am nächsten lag, hörte dieselbe leise auf- und zuschließen und Männertritte hinausgehen. Sie glaubte, es sei ihr Bruder, der einen Morgenspaziergang vorhabe, und wunderte sich darüber, aber ohne sich zu beunruhigen.
Gegen sieben Uhr erschien Ludolf im Zimmer seines Vaters, er fand ihn nicht darin, weder in seinem Schlaf- noch im Familienzimmer. Die Tochter sagte nun, was sie vorhin gehört – in furchtbarer Angst eilte Ludolf noch einmal in des Vaters Zimmer und warf einen Blick auf seinen Schreibtisch. Ein Brief lag darauf mit der Aufschrift: „An Ludolf.“ Er riß das Siegel auf – nur wenig Zeilen standen darin: „Geh’ nicht zum Minister – ich kann Dein Opfer nicht annehmen, bleibe eine Stütze für Mutter und Schwester. – Versucht mir nicht zu folgen, sucht mich nicht, besser, Ihr hört jetzt Nichts von mir.“
Ludolf stand vernichtet da. Was sollte er thun? Die Ausführung des Entschlusses, mit dem er jetzt vor den Vater hatte treten wollen, wäre Wahnsinn gewesen, hätte Nichts genützt. Den Vater suchen und suchen lassen – wo? – wollte er sich das Leben nehmen, war es gewiß zu spät, und wollte er fliehen, war es besser, man vermied jede Frage nach ihm – und wie konnte man ihn suchen, ohne hier und da eine solche zu thun und vielleicht die allgemeine Aufmerksamkeit auf den Vermißten zu lenken? Ludolf beschloß zu bleiben und das Kommende zu erwarten, ein Beistand für die Frauen – aber wie sollte er die Ahnungslosen vorbereiten? Da sie ihre Verwunderung aussprachen über des Vaters Ausgang, sagte er, daß er ihm gestern erzählt, es fände vielleicht Kassenrevision statt, und daß er dabei sehr sorgenvoll ausgesehen. Erst verstanden sie diese Andeutung nicht und da Ludolf noch eine Vermuthung hinzufügte, erbleichte die Mutter und die Schwester wieß mit sittlicher Entrüstung einen solchen Zweifel an ihrem Vater als frevelhaft zurück.
Die Ungewißheit währte nicht lange. Die Revisionscommission erschien – der Commissionsrath war abwesend – verreist, sagte Ludolf, er wisse nicht wohin. Die Herren machten bedenkliche Gesichter und versiegelten die Kasse. Als er am andern Tage noch nicht zurück war, da sie wiederkamen, ward dieselbe erbrochen – der Defect war erwiesen.
In wenig Stunden war es das Tagesgespräch: daß der Commissionsrath von Buchau die Kasse angegriffen habe und spurlos verschwunden sei.
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Weltgeschichte an der Donau.
Das über dem osmanischen Reiche aufgestiegene schwere Gewitter hat sich noch nicht entladen, der erste Kanonenschuß ist noch nicht gefallen, gleichwohl aber ein Zustand herbeigeführt worden, der wenn auch nicht so viel wie Krieg, doch weit weniger als Frieden ist. Aller Augen sind zur Stunde nach dem Orient gerichtet.
Zwar wechseln die Cabinette noch Noten, deren vorwiegend friedlicher Charakter nicht zu verkennen ist; auch arbeitet sich noch die Diplomatie mit süß lächelndem Gesicht an Vermittelungsvorschlägen ab; daneben aber thürmen sich die Thatsachen verhängnißschwer auf. Die ungeheuern Rüstungen Rußlands und der Türkei, der auf beiden Seiten geweckte religiöse und nationale Fanatismus, mehr noch aber die Besetzung der Moldau und Walachei durch die Russen, und das hierauf erfolgte Erscheinen der englischen und französischen Flotten in der Besikabai, unweit der Einfahrt in die Dardanellen, haben das Werk der Verständigung, die man noch immer anstrebt, zu einer schweren Aufgabe gemacht. Der bisherige Verlauf zeigt uns in Allem die westlichen Mächte zaudernd gegenüber dem entschiedenen Vorangehen Rußlands.
Das geharnischte Manifest des russischen Kaisers vom 14/26. Juni kündigte die Besetzung der Donaufürstenthümer an, die auch bald darauf am 2. Juli durch den Uebergang der Russen über den Pruth erfolgte. Schon am 15. desselben Monats rückten die kaiserlichen Truppen in Bukarescht, der Hauptstadt der Walachei ein. Die militärische Besetzung dieser Fürstenthümer betrachtet Kaiser Nikolaus als Garantie für die Erfüllung seiner an die Pforte gestellten Forderungen, welche in der Hauptsache bekanntlich auf das beanspruchte religiöse Protektorat über die Bekenner der griechischen Kirche in der Türkei hinauslaufen. Daß der russische Kaiser seine Truppen in die Fürstenthümer einmarschiren lassen konnte, ohne gerade der hohen Pforte offnen Krieg anzukündigen, daß dieser Einmarsch von den mit dem Sultan verbündeten (?) Engländern und Franzosen nicht als Kriegsfall angesehen und für die Türkei überhaupt nicht das Signal zum Kriege wurde, liegt in den eigenthümlichen Verhältnissen der Fürstenthümer, die man kaum noch als Bestandtheile des osmanischen Reiches betrachten kann.
Die Moldau und Walachei liegen zwischen dem Pruth und der Donau, welche beide Flüsse Grenze bilden, und werden weiter von Ungarn und Siebenbürgen begrenzt. Die Moldau zählt auf circa 750 Q. M. ungefähr 700,000 Einwohner, die Walachei, welche in die große und kleine Walachei zerfällt, deren vielleicht 21/2 Million auf circa 1300 Q. M. Die Einwohner bekennen sich größtentheils zur griechischen Kirche. Der Boden beider Länder ist äußerst fruchtbar; Getreide, Obst und Wein wächst in üppiger Fülle; die Wälder enthalten das prachtvollste Schiffsbauholz, [348] die Erde birgt unerschöpfliche Steinsalzwerke und einen noch wenig ausgebeuteten Reichthum an edeln Mineralien; die üppigen Weiden nähren das prachtvollste Vieh. Während die ländliche Bevölkerung fast ausschließlich dem Ackerbau und der Viehzucht obliegt, vermittelt die der Städte einen ausgebreiteten Handel mit den Produkten des Landes. Dieser Handel, Aus- wie Einfuhr, ist jedoch meistens in den Händen der Armenier, Griechen, Juden und Russen, wie denn überhaupt der Bürgerstand unter den Moldau-Walachen so gut wie nicht vorhanden ist. Die Bevölkerung zerfällt eigentlich nur in Adelige und Bauern. Die Adeligen, Bojaren genannt, genießen alle mögliche Vorrechte; die Bauern befinden sich in den drückendsten, an völlige Sklaverei streichenden Verhältnissen. Der üppige Luxus, kolossale Reichthum und die Ueberfeinerung der fast durchgängig französischen Sitten huldigenden Bojaren steht in grellem Gegensatze zu der Armuth und dem niedrigen Culturzustande der übrigen Bevölkerung und mahnt, wie so manches Andere noch, an frühere Zustände in Polen.
In der alten Geschichte sind die von den heutigen Moldau-Walachen bewohnten Strecken unter dem Namen Dacien bekannt. Hier war zur Zeit der großen Völkerwanderung der Tummelplatz der verschiedensten Nationen. Gothen, Hunnen und Slawenstämme brachen wechselsweise über das Land herein, dessen ursprüngliche Bevölkerung romanischen Ursprungs war, und ließen zuletzt ein aus allerlei Elementen bestehendes Mischvolk zurück. Auf die Geschichte desselben näher einzugehen, würde uns zu weit führen. Bald sind diese Staaten von eigenen Fürsten regiert, bald in wilde Anarchie ohne alle Regierung versunken; wechselsweise mehr oder weniger von Ungarn abhängig, endlich eine vollständige Beute der Türken, unter deren Oberherrschaft das Land vollends zu Grunde gerichtet wurde. Diese Zustände machte sich die russische Politik mit der Zeit zu Nutze, und schon von 1774 an erlangte sie durch den Vertrag von Kudschuk-Kainardschi eine Art Protektorat über die Fürstenthümer. Die gegenwärtigen politischen und administrativen Einrichtungen beider Staaten datiren aus der Zeit des Friedensschlusses zu Adrianopel (1829). Dieser stellte sie unter russischen Schutz, während die Türkei nur einen jährlichen Tribut, von der Walachei 3 Mill. Piaster, bezog. Türken durften in beiden Ländern ferner nicht mehr wohnen. An der Spitze der Regierung steht ein auf Lebenszeit gewählter, wegen Verbrechen jedoch absetzbarer Hospodar, welcher der Reihe der Großbojaren angehören muß. Ihm zur Seite steht eine Art Staatsrath, der die Besteuerung ordnet und zugleich Oberappellationsgericht ist. Ferner besteht in der Walachei eine Generalversammlung aus 123 Großbojaren, 36 Abgeordneten des niedern Adels, 27 der Städte und den 4 griechischen Landesbischöfen. Diese Generalversammlung wählt den Hospodar, doch nicht ohne Rußlands Zustimmung; der Sultan hat die Bestätigung und Investitur zu erteilen. Eine solche Verfassung ließ natürlich, so wie ehedem die alte polnische, den Umtrieben der Parteien ein weites Feld, und großer Ruhe hat sich die Bevölkerung dabei nicht zu erfreuen gehabt. Die Verwaltung ist nach europäischen Mustern geordnet, doch ist dies so äußerlich, daß die Donaufürstenthümer noch nicht den civilisirten Staaten zugezählt werden können. Da die Hospodare nur eine sehr kleine Heermacht halten dürfen, so muß in einem solchen Lande ihre Autorität auch auf sehr schwachen Füßen stehen. Das Alles erschütternde Jahr 1848 fand in diesem fernen Winkel Europa’s ebenfalls einen Nachhall, doch wurde durch das damals vereinigte Einrücken der Russen und Türken jeder Widerstand schnell gebrochen und mit der Erstürmung Bukarescht’s von den Türken (14. Sept. 1848) der walachischen Erhebung ein Ende gemacht. An diese gescheiterte Erhebung knüpft sich der verhängnißvolle Vertrag von Balta-Liman, demzufolge vorkommenden Falles Russen und Türken zu gleichen Theilen militärisch in den Fürstenthümern interveniren, wodurch diese nun fast mehr unter russische als türkische Botmäßigkeit gerathen sind. Eben darum aber wurde wohl ihre jetzt erfolgte Besetzung nicht als wirklicher Kriegsfall betrachtet.
Die Zahl der unter dem Oberbefehl des Fürsten Gortschakow eingerückten russischen Truppen mag sich auf ca. 80,000 Mann belaufen. Zum Theil haben sie sich längs der Donau aufgestellt, zum Theil liegen sie in den Hauptstädten Jassy und Bukarescht. Jassy mit ungefähr 30,000 Einw. ist der Sitz des moldauischen Hospodaren Gregor Ghika. In Bukarescht (zu deutsch Freudenstadt) residirt der walachische Hospodar Stirbey. Die trotz ihres schönen Namens schlecht gebaute und schmutzige Stadt zählt in etwa 10,000 Häusern nahe an 100,000 Einwohner, welche einen bedeutenden Handel treiben. Man kann Bukarescht als den Scheidepunkt der orientalischen und abendländischen Welt bezeichnen, und dies auch verleiht der Stadt ihren größten Reiz.
Die nächsten Geschicke der Donaufürstenthümer selbst (das von der Donau südlich gelegene Serbien vielleicht ausgenommen) liegen in der Hand des russischen Kaisers, für welchen auch eine große Partei unter den Eingeborenen arbeitet, und mögen diese Geschicke ausfallen wie sie wollen, jedenfalls geht dabei auch der letzte Schein von türkischer Oberherrlichkeit über die Moldau-Walachen verloren. Verschiedene Theile der Fürstenthümer wurden schon 1774, 1777 und 1812 losgerissen, und kamen theils an Oesterreich, theils an Rußland, und überhaupt zeigt sich in beiden Fürstenthümern den äußern Einwirkungen und innern Verwickelungen nach so viel Aehnliches mit dem alten Polen, daß ihnen unabweislich das gleiche Schicksal bestimmt sein dürfte.
Ueber die Zusammensetzung des Menschen, der Thiere und der Pflanzen.
Pflanzen, Thiere und Menschen verzehren sich fortwährend gegenseitig und dadurch eben können sie sich in ihrem Bestehen auf unserer Erde bis in alle Ewigkeit erhalten. Der Mensch genießt tagtäglich Pflanzen- und Thierstoffe und sein ganzer Körper wird nach dem Tode eine Nahrung für Thiere und Pflanzen, während er bei seinem Leben auch schon eine Menge von Stoffen von sich gibt, welche zum Gedeihen der Pflanzen und Thiere beitragen. Die Pflanze konnte aber zu einer Zeit schon wachsen und gedeihen, ehe es noch Thiere und Menschen auf unserem Erdboden gab und diese Pflanzen werden in ihren halbverbrannten Ueberresten jetzt von uns als Steinkohlen verbrannt. Die Möglichkeit dieses damaligen einsamen Gedeihens der Pflanzen liegt darin, daß diese überhaupt die Fähigkeit besitzen, unorganische Stoffe (wie Luft, Wasser, Erde und Mineralien) so zu verdauen, daß sie endlich zu Pflanzenstoffen werden; eine Fähigkeit, welche Thieren und Menschen abgeht, denn diese brauchen durchaus eine Pflanzen- oder Thiernahrung zu ihrem Leben. Dies ist der Grund, weshalb diese Organismen erst nach der Erschaffung von Pflanzen auf unserer Erde sichtbar werden konnten. Eine andere Ursache, welche die Pflanze vor den Thieren und Menschen bestehen ließ, ist die, daß damals, als die ersten Pflanzen auf der Erde hervorwuchsen, die Atmosphäre enorm reich an Kohlensäure gewesen sein muß. Dieser Stoff (s. Gartenlaube Nr. 28 S. 305) ist es nun aber, welcher die Hauptnahrung der Pflanze ausmacht, während er für Menschen und Thiere Gift ist; ein Stoff, der zur jetzigen Zeit, wo sich die Atmosphäre ziemlich gereinigt von Kohlensäure zeigt, von Thieren und Menschen in großer Menge ausgehaucht wird, während die Pflanze diesen für die genossene Kohlensäure den Sauerstoff, die Lebensluft spendet (s. Gartenlaube Nr. 28 S. 304).
Von den Thieren erhalten sich die meisten und zwar die mit einfacherer Körperbildung (die sog. niedrig organisirten) nur von Pflanzenstoffen, während die höher organisirten Thiere, mit zusammengesetzterem, dem menschlichen ähnlichen Baue, entweder von pflanzlicher oder thierischer Nahrung leben. – Der Mensch kann nun aber blos bei einer Nahrung gehörig gedeihen, welche theils aus dem Thier-, theils aus dem Pflanzenreiche stammt, somit also eine gemischte ist, und er muß, will er gesund bleiben, aus beiden Reichen alle die Stoffe in der gehörigen Menge und Beschaffenheit genießen, aus denen auch sein eigener Körper gebildet ist. Naturgemäß wird er deshalb diesen Genuß nur dann einrichten können, wenn er ordentlich weiß, welche Substanzen seinen eigenen Körper zusammensetzen und welche Stoffe sich in seiner Nahrung, nämlich in den einzelnen Pflanzen- und Thiertheilen befinden.
Die Pflanze, welche aus Zellen, Fasern und Röhren oder Gefäßen aufgebaut ist, besteht in ihrer Grundlage aus Wasser und aus einem Stoffe, welcher Pflanzenfaser oder Cellulose genannt wird, der aus Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff und, weil er keinen Stickstoff enthält, dem Fette, der Stärke und dem Zucker ähnlich zusammengesetzt ist. Dieser Stoff ist es, aus welchem das Holz, die Baumwolle, die Leinwand und das Papier hervorgeht, und welcher durch seine Verwesung und Fäulniß die Dammerde (Humus) und den Torf, durch seine Verkohlung die Stein- und Braunkohlen bildet. In den von Pflanzenfaser gebildeten Zellen der Pflanzen finden sich sodann folgende, für die Ernährung unseres Körpers höchst wichtige Stoffe vor: die Stärke, auch Stärkemehl oder Amylum genannt, ein der Pflanzenfaser und dem menschlichen wie thierischen Fette ähnlich zusammengesetzter, stickstoffloser Stoff, aus dem sich allmälig beim Wachsthum und Blühen der Pflanze, sowie beim Keimen der Samen und Reifen der Früchte, mehrere andere Stoffe hervorbilden, die aber auch keinen Stickstoff enthalten und ebenfalls dieselbe Zusammensetzung wie Fett haben: es sind Zucker, Gummi, Schleim und Gallerte. Der Zucker kann sodann außerhalb der Pflanze in Folge der Gährung, in Spiritus (Alcohol) und dieser weiter in Essigsäure verwandelt werden, also ebenfalls wieder in stickstofflose Materien. – Von weit größerer Wichtigkeit hinsichtlich ihrer Ernährungsfähigkeit für den Menschen als die genannten stickstofflosen Stoffe sind nun aber diejenigen Pflanzensubstanzen, welche Stickstoff enthalten und zusammengenommen eiweißartige genannt werden, im Einzelnen aber als Pflanzeneiweiß, als Kleber oder Pflanzenfaserstoff, als Pflanzenleim und als Legumin oder Pflanzenkäsestoff bekannt sind.
Außer diesen stärke- und eiweißartigen Stoffen enthalten viele Pflanzen nun noch solche organische Substanzen in sich, welche für den Menschen als Nahrungsmittel nicht nur keinen besondern Werth haben, sondern die Pflanze oft sogar untauglich zum Genießen machen können, wie: Farbstoffe, Harze, Oele, Alkaloide (die meisten Gifte). Dagegen werden noch Stoffe aus dem Mineralreiche in den Pflanzen angetroffen, von welchen mehrere auch im menschlichen und thierischen Körper eine große Rolle spielen, wie Kochsalz, Kalk und Magnesia, Kali und Natron, Eisen und Mangan, Kiesel-, Talk- und Thonerde (s. Gartenlaube Nr. 29 S. 316). – Diejenigen Pflanzenstoffe, welche uns besonders interessiren müssen, sind die folgenden.
I. Stickstofflose, fettige oder fettähnliche [350] Stoffe, welche innerhalb unseres Körpers vorzugsweise zur Bildung von Fett und, indem ein Theil derselben im Blute durch den eingeathmeten Sauerstoff zu Kohlensäure und Wasser verbrannt wird, zur Entwickelung der Körperwärme verwendet wird. Sie dienen sonach theils als Ernährungs- und theils als Heizungsmaterial (s. Gartenlaube Nr. 17 S. 186). Außer dem Oele selbst sind hier die folgenden Stoffe beachtungswerth:
1. Stärke; sie findet sich fast in allen Pflanzen, ja selbst in der Rinde und im Holze der Bäume, wiewohl hier in geringer Menge. In größerer Menge trifft man dieselbe in den Kartoffeln (Kartoffelstärke), überhaupt in vielen Wurzeln und Knollen, in den Samen der Getreidearten, besonders des Weizens (Weizenstärke), in den Hülsenfrüchten, im Marke mehrerer Palmenarten (Sagopalme), in Moosen (Moosstärke) und in vielen Früchten (Aepfeln). Von außereuropäischen Pflanzen kommen stärkehaltige Substanzen unter den Namen „Sago, Arrow-root (Pfeilwurzelmehl) und Tapioka (Kassawa, Manihotwurzel)“ zu uns; auch ist das isländische Moos reich an Stärke.
2. Zucker ist wie die Stärke im Pflanzenreiche ebenfalls außerordentlich verbreitet, denn die meisten Früchte, viele Wurzeln und Stengel enthalten Zucker. Am reichlichsten und reinsten findet er sich unter dem Namen Rohrzucker im Safte des Zuckerrohrs, sowie in dem der Runkelrübe und des Ahorns, sodann in geringerer Menge in den Mohrrüben, der Eibischwurzel, dem Mais, den Melonen und Kürbissen, Kastanien. Als Trauben- oder Krümelzucker findet man denselben in fast allen, zumal sauren Pflanzensäften, vorzüglich aber in reifen Früchten (Weintrauben, Aepfeln). Der Zucker in der Manna, in vielen Schwämmen und Flechten, erhielt den Namen des Manna- oder Schwammzuckers. - Am Interessantesten ist die Zerstörung des Krümelzuckers, oder auch des Rohrzuckers nach seiner Umwandlung in Krümelzucker, mit Hülfe der Hefe oder eines gährenden (faulenden) Stoffes zu Alcohol (Spiritus) und Kohlensäure. Diese Zersetzung wird geistige oder weinige Gährung genannt und auf dieser beruht die Wein-, Branntwein- und Bierbereitung, sowie die Bäckerei. Durch eine weitere Zersetzung des Spiritus’ bildet sich aus diesem endlich Essigsäure. Diesen beiden aus dem Zucker bervorgehenden Stoffen, nämlich Alcohol und Essigsäure, mangelt wie dieser und der Stärke ebenfalls der Stickstoff.
3. Gummi findet sich zwar in sehr vielen Pflanzen, allein selten in größerer Menge und es ist deshalb dieser Stoff als Nahrungsmittel ohne Bedeutung. Nur aus einigen Pflanzen des Orients fließt es in Tropfen aus, die an der Luft erhärten und bei uns unter dem Namen „arabisches Gummi“ zu verschiedenen Zwecken, besonders zum Kleben, sogar als Arzneimittel benutzt werden.
4. Pflanzenschleim (Bassorin) ist in vielen Pflanzenstoffen anzutreffen und ertheilt diesen die Eigenschaft, mit Wasser eine zähe Flüssigkeit zu bilden, die als Nahrungsstoff nur geringen Werth hat und ebenso wenig als Arzneimittel. Größere Mengen Pflanzenschleims finden sich in der Salepwurzel, Caraghenflechte, im Leinsamen, in der Eibischwurzel, den Quittenkernen, im Tragant- und Kirschgummi.
5. Pflanzengallerte (Pectin) ist in dem Safte der meisten reifen fleischigen Früchte und Wurzeln enthalten. In unreifen Früchten stellt diese Gallerte aber eine in Wasser unlösliche, also unverdauliche Substanz dar, welche erst durch das Reifen unter dem Einflusse der Pflanzensäuren löslich wird.
II. Stickstoffhaltige oder eiweißähnliche Suhstanzen, welche im menschlichen und thierischen Körper vorzugsweise zur Blut- und Fleischbildung und zum Aufbaue der lebenswichtigen Organe verwendet werden.
1. Kleber- oder Pflanzenfaserstoff (Fibrin) kommt in festem Zustande und in Verbindung mit Pflanzeneiweiß und Pflanzenleim vorzugsweise in den Samen der Getreidearten (besonders des Weizens) vor, wo er mit Stärke vereinigt diesen Samen einen dem Hühnereie ähnlichen Nahrungswerth verleiht; denn dem Eiweiß entspricht der Kleber, dem Dotter die Stärke, der Eierschale die Samenhülle aus Cellulose.
2. Pflanzeneiweiß (Albumin) findet sich gelöst in den meisten Säften der Pflanzen, vorzugsweise aber in den Samen der Getreidearten und in allen Gemüsepflanzen.
3. Pflanzenkäsestoff, Legumin (Casein) wird in den Hülsenfrüchten, hauptsächlich in Erbsen und Bohnen angetroffen; auch kommt in den Mandeln, Nüssen und im Malz ein dem Legumin ähnlicher Stoff vor.
III. Von unorganischen Stoffen enthalten die meisten Pflanzen einige von denen, welche im Menschen- und Thierkörper große Wichtigkeit haben, nur sind in der einen Pflanzenart diese, in der andern jene Stoffe vorherrschend. Nach dem Gehalte an unorganischen Bestandtheilen lassen sich die Kulturpflanzen eintheilen: in Alkalipflanzen (mit Kali und Natron), wie die Kartoffeln und Runkeln; in Kalkpflanzen, z. B. Erbsen und Klee; in Kieselpflanzen, zu denen die Gräser gehören; in Phosphorpflanzen, wie Weizen und Roggen. Keine Pflanzenart enthält aber vom Kochsalze oder Eisen so viel, als der menschliche Körper zu seinem richtigen Bestehen bedarf.
Die Mischungsbestandtheile, welche den thierischen Körper zusammensetzen, haben die größte Aehnlichkeit mit denen des Pflanzenkörpers und deshalb eben kann das Thier durch den Genuß von Pflanzenstoffen sein Leben unterhalten. Auf gleiche Weise ist aber auch der Mensch, dessen Zusammensetzung nun wieder der der Thiere gleicht, im Stande, durch Aufnahme von solchen Thier- und Pflanzenstoffen, die sich auch in seinem Körper vorfinden, seine Existenz mehr oder weniger gut zu behaupten. Wie in der Pflanze sind die Stoffe im Thier- und Menschenkörper theils stickstofflose, theils stickstoffhaltige, theils unorganische, und diese Stoffe werden sodann zur Bildung knöcherner [351] oder knorpliger Gerüste, der Bänder, Sehnen, Muskeln, Gefäße, Nerven, Eingeweide und Häute verwendet.
I. Stickstofflose oder fettige Stoffe. Sie dienen einem dreifachen Zwecke, nämlich: zur Grundlegung aller Gewebe (durch Zellenbildung), zur Fettbildung und zur Wärmeentwicklung (indem sie im Blute durch den Sauerstoff der eingeathmeten Luft zu Kohlensäure und Wasser verbrannt werden). Sie gelangen in den thierischen und menschlichen Körper entweder durch pflanzliche Stoffe, wie durch Oel, Stärke, Zucker, Alcohol, Gallerte und Schleim, oder durch thierische Substanzen, wie: durch die verschiedenen Fettarten, durch Butter, Eidotter, Milchzucker und Milchsäure.
II. Stickstoffhaltige oder eiweißartige Stoffe. Sie dienen allerdings vorzugsweise zur Bildung des Blutes und der Gewebe, können aber doch auch in Folge ihrer Verbrennung durch den Sauerstoff des Blutes zur Wärmeentwicklung beitragen. Dies ist vorzüglich dann der Fall, wenn sie schon eine Zeit lang in die Körpersubstanz übergegangen und in der Form von Organen thätig gewesen waren; sie sind dann gewissermaßen zu brennbaren Schlacken geworden (s. Gartenlaube Nr. 17 S. 186). – Zu diesen stickstoffhaltigen Substanzen gehören: der Eiweißstoff (Albumin), welcher sich flüssig in ziemlich großer Menge im Safte des Fleisches und aller Eingeweide, im Weißen des Eies und im Blute findet. Der Faserstoff (Fibrin), welcher vorzugsweise in der Fleischfaser und im Blute (wo er das Gerinnende bildet) vorhanden ist; der Käsestoff (Casein), welcher in der Milch und im Blute vorkommt; die Gallerte oder der Leim (Gluten), welcher als Grundlage für die Knochen und Knorpel, die sehnigen Theile und die Häute verwendet wird.
III. Von unorganischen Substanzen bildet das Wasser den Haupttheil, denn fast vier Fünftel unseres Körpers bestehen aus Flüssigkeit; an dieses schließt sich dann das Kochsalz, welches fast in allen thierischen und menschlichen Säften angetroffen wird; in nicht geringer Menge findet sich ferner noch: Kali und Natron in Verbindung mit Kohlensäure und Phosphorsäure (im Blute und den übrigen Säften), Kalk und Talk als phosphorsaurer und kohlensaurer (besonders in den Knochen) und Eisen (im Blute).
Vergleichen wir nun die Zusammensetzung der sog. organischen Körper, nämlich der Pflanzen, Thiere und Menschen mit einander, so ergibt sich eine sehr große Uebereinstimmung zwischen allen Dreien und nur darin unterscheidet sich die Pflanze vom Thiere und Menschen, daß sich die Pflanze ihre organischen Bestandtheile aus unorganischen Stoffen und Elementen, besonders aus Wasser, Kohlensäure und Ammoniak (einer Verbindung von Stickstoff und Wasserstoff) bervorzubilden im Stande ist, während Mensch und Thier nur die bereits vorgebildeten, pflanzlichen oder tierischen Stoffe in ihre Substanz umzuwandeln vermöge. Blos noch zwei Stoffe sind es, welche der Mensch außer der gewöhnlichen vegetabilischen und animalischen Kost in seinen Körper zum ordentlichen Wohlsein aufnehmen muß und diese sind „Wasser und Kochsalz“, denn von diesen beiden Stoffen enthält nur ein einziges Nahrungsmittel die hinreichende Menge, und dieses Nahrungsmittel ist die Milch.
Aus der Gewerbswelt.
Gutta Pertscha, malayisch Gutta Pertsha, englisch „Gutta Percha“ geschrieben, weil die Engländer den Laut „tscha“ nicht anders in Buchstaben zu bezeichnen vermögen, ist der ausgetrocknete Milchsaft eines Baumes in Ostindien, dem der Botaniker Hooker den Namen Isonandra Guttabeigelegt hat. Gutta bedeutet nicht etwa Tropfen, sondern malayisch: Baumsaft. Dieser getrocknete Saft, ein biegsames Harz, in seinen chemischen Eigenschaften dem Kautschuk (Gummi elasticum) sehr verwandt, ist bei uns erst seit etwa 10 Jahren bekannt und kam uns über London zu, wohin er einige Jahre früher von einem Dr. Montgommery aus Singapore gebracht worden war als eine Substanz, deren sich die Malayen zur Anfertigung von Messer- und Dolchgriffen bedienten. Die große Aufmerksamkeit, mit der das neue Harz bei seinem Bekanntwerden in der wissenschaftlichen und gewerblichen Welt aufgenommen wurde, verdankt es seinen merkwürdigen Eigenschaften: in Folge der Einwirkung einer nicht den Siedepunkt übersteigenden Wärme weich und bildsam zu werden, in welchem Zustande es sich bilden und zusammenkleben läßt wie Wachs, ohne daß die Verbindung, wenn die Substanz nach dem Erkalten wieder hart und lederartig biegsam geworden ist, sich wieder trennt, sondern so fest hält, wie je zuvor; und gleicherweise die Form, welche ihr, der Substanz, im erwärmten Zustande gegeben wurde, unveränderlich bleibt nach dem Erkalten. Jedermann sah sofort die hohe Wichtigkeit dieser Eigenschaften für Formgebung und bildnerische Zwecke ein; und da es sich ferner ergab, daß die Gutta Pertscha von Wasser, verdünntem Alkohol, von Säuren und Alkalien gewisser Stärke, von Oelen nicht angegriffen wird, so konnte es nicht fehlen, daß der Gebrauch und die Verwendung jenes Stoffes von Tag zu Tag bis jetzt zunahm, und es zu befürchten steht, daß der Rohstoff endlich mangeln werde, wenn man nicht [352] schonender mit den Bäumen verfährt, welche ihn liefern. Wir können uns hier nicht lange bei den Verfahrungsarten aufhalten: die rohe, holzartig aussehende Gutta Pertscha zu reinigen, was durch mechanische Zertheilung im kalten Zustande, darauf folgendes Auswaschen und Kneten in der Wärme und mit Wasser, und endlich durch Ziehen, Strecken und Auswalzen geschieht. In Folge dieser Behandlung erscheint die Gutta Pertscha rein, glatt, lederartig, geschmeidig, in plattendünnen, papierähnlichen Blättern, Röhren, Fäden, und findet in dieser Gestalt Benutzung, man kann wohl sagen, zu den fast zahllosen Zwecken, wozu man auch Leder und Papier und biegsame wasserdichte Röhren benutzt. Als mehr und minder dicke Platten verwendet man sie u. A. zum Besohlen von allerlei Schuhzeug, um dessen Einführung in unserer Stadt sich Herr Bandagist Schramm viele Verdienste erworben hat. Schon sehr viele Leute verstehen die Kunst und legen sich Sohlen unter, welche namentlich wegen ihrer Haltbarkeit und Wasserdichte in nassem Wetter treffliche Dienste leisten. Ferner preßt und prägt man allerhand
Zierrathen und verzierte Geräthe aus den Platten, welche verschiedenartig gefärbt werden können und unverwüstlich sind, falls man sie nur nicht der Hitze aussetzt. In Rieme zerschnitten treiben die Platten Scheiben an Wellen zum Bewegen von Maschinenwerken und Mühlen. Man benutzt sie zur Anfertigung von Feuereimern, die nicht wie andere, siebartig auslaufen, wenn sie gebraucht werden sollen, und zu Schläuchen und Leitungsröhren für Flüssigkeiten, denen ähnliche von anderem Material kaum an die Seite gestellt werden können. So trefflich wie Flüssigkeiten leiten jene Gutta-Pertscha-Röhren auch den Schall, so daß man sie jetzt allgemein als lange Sprachrohre in Schächten, Schiffen, in Fabriken, Gasthäusern u. s. w. gebraucht. Eine menschenfreundliche Verwendung dieser Art sieht man auf unserem Bilde, wo durch eine Röhrenleitung von Gutta Pertscha von der Kanzel aus bis zum Kirchenstuhl Schwerhörigen das Anhören der Predigt möglich gemacht wird. Die Röhre erweitert sich oben an der Kanzel als Schallloch; im Kirchenstuhl aber theilt sie sich nach Bedürfniß in mehrere Zweige, an deren Enden sich Hörröhren befinden, deren Mündungen in die Ohren gesteckt werden. Als Ueberzug schützen Gutta Pertscha-Röhren Metalldrähte bis zu einem gewissen Grade gegen Einwirkung der Feuchtigkeit; und wenn man sie gegenwärtig weniger als Ueberzug von unter der Erde liegenden Landtelegraphendrähten benutzt, weil diese, als nicht zweckmäßig, aufgegeben worden sind, dort wo man oberirdische Drähte anbringen kann, so ist doch ihre Verwendung als Decke über unter Wasser befindlichen Telegraphendrähten fast unabweislich.
Die dünn ausgewalzte Gutta Pertscha ist zur Verpackung, zum luftdichten Verschluß von Flaschen und Büchsen, zum Buchbinden, zum Druck; in diesem Falle muß sie weiß gebleicht werden; zur Fertigung von feinen Stiefeln und Schuhen, in welchem Falle sie einer Färbung bedarf, trefflich anwendbar.
Mit großem Geschick wird sie, zumal in einigen Werkstätten Englands und Amerika’s, grade wie Kautschukkitt, aufgelöst, als Leim benutzt, um die Bogen der Bücher zu vereinigen, statt des Heftens und Nähens und der weiteren Bearbeitung des Rückens. Man legt die Bogen wie gewöhnlich zusammen, schlägt sie, fährt mit einer Raspel über den Rücken und trägt eine oder mehrere Schichten einer Gutta Pertschalösung auf. Zu mehrerer Sicherheit kann man auch einen, mit jener Lösung bestrichenen Kattunstreifen dem Rücken auflegen. Diese Art Heftung möchte jener deutschen vorzuziehen sein, wozu gar kein Faden, sondern nur Tischlerleim gebraucht wird. In Form von Cylindern und starken Platten, runden Scheiben eignet sich unser bildsames Material ungemein gut, behufs Fertigung von Walzen in Druckmaschinen, von Preßcylindern in Flachsspinnmaschinen, welche den Faden naß ausspinnen, für Kolbenliderungen in Kunstsätzen oder Pumpen u. s. w. Ist dasselbe aber zu stärkeren oder dünneren Fäden ausgezogen, so kann es als Ersatz für Taue und Stricke behufs einer Fülle von Zwecken dienen. Den Hausfrauen sind solche starke Pertschafäden als Wäschleinen zu empfehlen. Nichts Besseres zum Binden für Kunstgärtner als jene dünnen Pertschafäden, deren Schmiegsamkeit und Festigkeit erstaunenerregend ist. Netzwerk daraus ist unverwüstlich, was für Jäger und Fischer von Belang ist.
Die Wundarzneikunst benutzt ferner in vielen Fällen mit großem Vortheil die Gutta Pertscha bei Anfertigung von künstlichen Gliedmaßen und allerlei Binden. Eine Lösung jenes Harzes in Chloroform giebt nach Dr. Rapp in Bamberg ein besseres Wundpflaster als Collodium. Man bereitet es aus 1 Theil Gutta Pertscha und 8–9 Theilen Chloroform und kann die daraus entstehende dickliche Flüssigkeit mit einem Pinsel grade wie Collodium auftragen.
Endlich – um mit unsern Beispielen für Anwendung [353] der Gutta Pertscha zum Abschlusse zu kommen, dient es den Zahnkünstlern zur Herstellung der Basis zu künstlichen Gebissen und eingesetzten Zähnen, wodurch es ihnen gelingt, eben so bequem als täuschend der Natur ähnlich, noch blühenden Lippen durch Kunst jene Perlenreihen wieder zu verschaffen, deren Verlust in zeitiger Jugend so viele Menschen betrauern müssen.
Vor den „Wundern der Gutta Pertscha“ ziehen wir für diesmal den Vorhang; vielleicht finden wir Veranlassung, ihn später wieder einmal aufzurollen.
Blätter und Blüthen.
Ein Schauspiel ernstester Art nahm vor Kurzem die Theilnahme der Bevölkerung Wolfenbüttels und der Umgegend in Anspruch. Ein allgemein gekannter Bürger, der Friseur Ernst Eduard Dombrowski stand vom 28. Juli bis 2. August vor dem öffentlichen Schwurgericht, angeklagt seine zweite am 16. April d. J. verstorbene Gattin durch Gift getödtet zu haben.
Dombrowski ist aus Dresden gebürtig, wo sein Vater Hoflakei ist, und seit 1839 in Wolfenbüttel wohnhaft. Während seiner Wanderjahre beging er, in Berlin, einen Hausdiebstahl und wurde in Folge dessen aus dem preußischen Staate verwiesen. Seine erste Frau, mit der er ziemlich glücklich lebte, weil sie ein überaus sanftes, nachgiebiges Wesen war, starb im August 1850 an der Cholera und hinterließ zwei noch kleine Kinder. D. zeigte am Sterbebette dieser, wie er selbst sagt, geliebten Frau, eine empörende Herzlosigkeit und Rohheit. Schon im December desselben Jahres verheirathete er sich zum zweiten Male, nämlich mit der Tochter des Registrator Angelstein, ohne für diese eine Neigung zu fühlen und nach seinem eignen Geständniß, nur auf Anrathen seiner Freunde und um eine Pflegerin für seine Kinder zu haben. Diese Ehe war, wie sich voraussehen ließ, nicht glücklich. D. ist ein, bis zur Lächerlichkeit eitler, heftiger, genußsüchtiger und leichtsinniger Mensch. Seine Gattin war eine sparsame, ordentliche Hausfrau, eine liebevolle, sorgsame und aufopferungsfähige Mutter für ihre Stiefkinder, aber etwas aufbrausend, äußerlich unschön, unliebenswürdig und nicht mehr jugendlich. Er schämte sich ihrer, ging nur ungern und selten mit ihr aus, vernachlässigte sie auf jede Weise und verspottete sie oft Andern gegenüber. Sie fühlte sich unglücklich und unbefriedigt, klagte oft über die harte Behandlung seitens ihres Mannes, und war besonders in Verzweiflung, als er ihr einmal gesagt: er würde sie nicht geheirathet haben, hätte er gewußt, daß ihr Erbtheil durch die zweite Ehe ihres Vaters geschmälert würde; aber sie war leicht versöhnlich, lebenslustig und heiteren Sinnes. Ganz glücklich erzählte sie einem Nachbar am Tage vor ihrem Erkranken, am 10. April, daß D. sich plötzlich verändert und sehr freundlich geworden sei, daß er ihr ein Theaterbillet geschenkt und versprochen habe, sie andern Tages zum Ball zu führen. Am Morgen dieses andern Tages, den 11. April, reichte D. seiner Frau eine mit Leberwurst bestrichene Semmel und einige Stunden nach dem Genusse derselben bekam sie Uebelkeit, heftiges Erbrechen und brennende Schmerzen im Magen. Der herbeigerufene Arzt hielt die Krankheit für Brechruhr. D. ging am Abend allein zum Ball, trotzdem er das cito, cito des Arztes auf dem Rezepte bemerkt hatte, tanzte, lachte und scherzte viel, erzählte, daß seine Frau die Cholera habe, und daß sie gewiß sterben werde, deshalb müsse er noch tanzen, ehe er Trauer bekomme.
Das Befinden der Kranken verschlimmerte sich in den nächsten Tagen nicht, besserte sich vielmehr und der Arzt glaubte sie außer aller Gefahr. D. hingegen versicherte seinen Bekannten: sie sterbe gewiß, er wisse das besser als alle Aerzte, und äußerte, daß er sich nun bald um eine dritte Frau kümmern müsse, das solle aber ein blühendes, hübsches Mädchen sein – seinen Kindern versprach er eine andere Mutter, wenn diese todt sei u. s. w. Am zweiten Tage der Krankheit beredete er die Leidende zur Ausstellung einer Schenkungsurkunde ihres ihm zugebrachten Vermögens, trotzdem sie sich dagegen sträubte, weil sie sich nicht so krank fühlte, um diese Maßregel nöthig zu finden. Freitag am 18. bereitete er eigenhändig Sagoschleim mit Rothwein für sie, brachte diesen nach ihrem Zimmer, ließ die Wärterin kosten, kostete selbst, entfernte sich damit in ein Nebenzimmer, brachte das Getränk dann in einem Glase wieder und empfahl es seiner Frau. Nach dem Genusse eines Theils des Sagoschleims empfand die Kranke heftiges Brennen im Magen und mochte nicht mehr davon trinken. Als am Sonnabend Morgen D. in’s Zimmer kam und den Rest bemerkte, stellte er, um ihn zu wärmen, das Glas auf den Ofen, es sprang und die Flüssigkeit ergoß sich vom Ofen auf den Fußboden. D. selbst trocknete Alles sorgfältig auf. Der Zustand verschlimmerte sich nun von Stunde zu Stunde und am Abende starb sie unter heftigen Krämpfen und Schmerzen. D. saß während ihres Todeskampfes im Nebenzimmer auf dem Sopha und rauchte eine Cigarre. Bei einigen Nachbarn war schon Verdacht gegen D. erwacht und einer derselben fragte ihn sogar, ob er sich nichts vorzuwerfen habe. Am Tage vor der Bestattung aber trug der Vater der Verstorbenen bei der Staatsanwaltschaft auf eine gerichtliche Sektion der Leiche an. Als man D. davon benachrichtigte, wurde er selbst unwohl und erkundigte sich ängstlich, ob man, wenn seine Frau wirklich an Gift gestorben sei, dieses noch im Körper finden könne und als er eine bejahende Antwort erhielt, äußerte er: „nun wenn man auch einen ganzen Klumpen fände und ich gestehe nichts, so kann man mir doch nichts thun.“ Bei der chemischen Untersuchung des Magens und der Eingeweide der Verstorbenen fand man ein [354] Quantum Arsenik von ungefähr 24 Gran, theils als arsenige Säure, theils als Fliegenstein vor, welches nach ärztlichem Gutachten den Tod herbeigeführt hatte. D. wurde verhaftet und man durchsuchte sein Haus, ohne jedoch etwas Verdächtiges zu entdecken. Bei einer zweiten sorgfältigeren Haussuchung fand man aber in einem dunkeln Winkel der Küche eine Büchse mit Rattengift (gefärbte arsenige Säure) und in den Schlafrocktaschen des Angeklagten eine kleine Quantität Fliegenstein, der sich ganz von der Beschaffenheit des im Magen der Todten gefundenen zeigte – er war nämlich feiner zerrieben, als man ihn in der Apotheke zu kaufen pflegt.
Bei den Schwurgerichtssitzungen vermochte der große Saal das Publikum kaum zu fassen. Der Angeklagte, den die öffentliche Meinung längst gerichtet hatte und den die Wachen auf dem Wege zum und vom Gerichtssaal kaum vor thätlichen Mißhandlungen schützen konnten, erschien sorgfältig gekleidet und frisirt und sein ganzes Benehmen zeigte von einer eiteln Selbstgefälligkeit, die den unangenehmsten Eindruck machte. – Er läugnete, je Gift gekauft oder besessen zu haben, aber es wurde durch drei eigenhändig ausgestellte Giftscheine nachgewiesen, daß er sowohl arsenige Säure als Fliegenstein in den Jahren 1844, 48 und 49, angeblich zur Vertilgung des Ungeziefers, aus der Apotheke entnommen hatte. Das Abläugnen dieser Thatsache, sowie anderer durch eine Menge von Zeugen constatirter Fakta’s mußte den Verdacht fast zur Gewißheit machen, aber den schlagendsten Beweis seiner Schuld lieferte er selbst, als er sich zu rechtfertigen suchte. Irgend eine irrige Schlußfolgerung oder die Ueberzeugung, den auf den Ofen geflossenen Sagoschleim vollständig entfernt zu haben, veranlaßten den Angeklagten, während der Verhandlung darauf anzutragen, der Ofen möge untersucht werden. Man fand die Spuren der Flüssigkeit noch und in diesen, bei chemischer Expertise, eine bedeutende Menge Arsenik.
Bis zum letzten Augenblicke der Verhandlung, den gravirendsten Zeugenaussagen gegenüber, selbst bei der schrecklichen Anklage des Staatsanwalts, welche dieser in einer 21/2 Stunden langen Rede begründete, zeigte der Angeklagte die vollständigste Fassung und Ruhe; nur bei der mehrmaligen Erwähnung seiner Kinder brach er in Thränen aus; und als der erste Vertheidiger sich darauf beschränkte, Möglichkeiten für die Unschuld des Angeklagten aufzusuchen, als er sagte, er wolle das Verbrechen nicht bemänteln und wage nicht, das Nichtschuldig von den Geschwornen zu fordern, da drückten seine Züge Angst und Spannung aus. Nachdem auch der zweite Vertheidiger sich damit begnügte, einen zu harten Ausdruck in der Replik des Staatsanwalts zurückzuweisen, trat der Angeklagte selbst auf, um zu seiner Vertheidigung zu sprechen. Er schilderte die Vorzüge seiner zweiten Frau, sein Glück auch während dieser Ehe, seine günstigen äußeren Verhältnisse und fragte, was ihn denn bewogen haben könne, dies Glück selbst zu vernichten. Er erhob endlich die Hand zum Schwur, daß er unschuldig sei und sprach eine indirekte Anklage gegen seinen Schwiegervater aus. Dann wieder auf seine Kinder zurückkommend, konnte er anscheinend vor innerer Bewegung nicht weiter sprechen. Als er einige Augenblicke darauf nach seinem Zimmer abgeführt wurde, fragte er mit der alten Selbstgefälligkeit und Eitelkeit die Aufwärterin, ob sie seine Rede gehört habe, und als sie es verneinte, fügte er hinzu: Da haben Sie viel verloren!
Vier Stunden beriethen die Geschwornen und sprachen dann das Schuldig. Der Staatsanwalt beantragte die Todesstrafe. – Der erste Vertheidiger bat die Richter, zu bedenken, daß in wenigen Jahrzehnten Philosophen und Staatsmänner darüber einig sein würden, daß der Arm des Richters sich nicht mit dem Schwerte des Nachrichters bewaffnen dürfe. Das Urtheil lautete: Tod durch Enthauptung. – Die erschütternden Worte, welche der Präsident an den Verurtheilten richtete, machten auf diesen ebensowenig einen sichtbaren Eindruck, als das Urtheil – mit ebenso aufrechter Haltung und festem Schritte, als an den Tagen vorher, verließ er den Gerichtssaal. Er wird bis zum letzten Augenblicke seine Unschuld betheuern. –
Dem Gedanken, daß die Verstorbene einen Selbstmord begangen, kann man nicht Raum geben. Sie war religiös und lebenslustig, äußerte während ihrer Krankheit oft die Hoffnung auf Besserung und machte Pläne für die Zukunft. Auch ist durch die chemische und ärztliche Untersuchung bewiesen, daß das Gift ihr in zwei bis drei Gaben beigebracht ist, wer sich aber selbst vergiftet, nimmt es gewiß auf einmal. Die langsame Vergiftung weist zugleich die Vermuthung eines unglücklichen Zufalls und den Verdacht auf andere Personen zurück, denn Niemand als der Angeklagte hatte dazu Gelegenheit, Niemand hatte aber auch das geringste Interesse an ihrem Tode als er. – Welche waren aber seine Interessen, welche Beweggründe trieben ihn zu der entsetzlichen That? War er der ungeliebten, unschönen Frau überdrüßig und schämte er sich ihrer in seiner Eitelkeit, so konnte er sich scheiden lassen; aber er hätte dann ihre Mitgift, 200 Thaler und einige Mobilien zurückgeben müssen und das war er vielleicht nicht im Stande. „Ich brauche einen Haufen Geld und werde die Sachen meiner Frau verauktioniren lassen,“ hatte er am Tage nach ihrem Tode gesagt, und früher: „meine dritte Frau soll ein blühendes hübsches Mädchen sein.“ In diesen beiden Aeußerungen liegt vielleicht der Schlüssel zu dem grauenvollen Räthsel.
- Bei Julius Meißner in Leipzig erschien:
und einer Stahlstichprämie: „Luther ertheilt das heilige Abendmahl.“