Die Gartenlaube (1855)/Heft 4
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No. 4. | 1855. |
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(Schluß)
„Robert! Robert!“ rief Franz mit durchdringender Stimme und indem er beide Hände ausbreitete. „Du, Du willst mich retten? Nein, das kannst Du nicht, Du bist gekommen, um mich zu verderben! Geh, und sage Deiner Mutter, daß ich meine Ansprüche auf die Erbschaft mit in das Grab nehme! Du bist mein Feind, aber ich verzeihe Dir. Deine Mutter ist die Schwester meines Vaters, der mich dort oben erwartet!“
Diese Wendung der Scene hatte Robert nicht vorausgesehen; er hatte vielmehr gehofft, sein Zeugniß über den Vetter nur vor den Richtern ablegen zu müssen.
„Franz,“ sagte er bestürzt, „Du siehst, ich stehe auf der Seite Deines Vertheidigers.“
„Willst Du mir jetzt mein Leben hinwerfen, wie an jenem Abends Deine Börse? Geh’, ich will Dir nichts zu danken haben! Das Gericht mag nach dem Gesetz erkennen, und ich beuge mich willig dem Urtheile. Noch einmal, Robert, ich verzeihe Dir, denn ich kann den nicht hassen, den ich bemitleiden muß.“
Der aufgeregte Franz trat seinem Vetter einen Schritt entgegen, um ihm die Hand zu reichen – da sah er plötzlich Helenen, die leichenblaß hinter Robert stand. Wie gelähmt blieb er stehen und starrte sie einen Augenblick an; dann bedeckte er mit beiden Händen sein bleiches Gesicht und brach in ein lautes Schluchzen aus. Aber plötzlich wieder ermannte er sich.
„Auch Du bist gekommen?“ rief er in einem herzzerreißenden Tone. „Willst auch Du mir den Abschied vom Leben noch erschweren? Was ist das? Was ist das?“ fragte er, beide Hände an die Stirn legend. „Meine Gattin steht auf der Seite meines Vertheidigers –“
„Fassen Sie sich, mein Herr!“ sagte Helene zwar bebend, aber so deutlich, daß es die Versammlung verstehen konnte. „Ich bin eben so wenig Ihre Feindin als ihre Gattin.“
„Großer Gott!“ rief Franz in einem schrecklichen Ausdrucke.
Dann sank er wie leblos zu Boden. Auf den Befehl des Präsidenten trugen ihn zwei Gerichtsdiener aus dem Saale. Die Versammlung war so erschüttert, daß sie einige Augenblicke in peinlicher Stille verharrte. Der Advokat Petri schien der einzige zu sein der seine Fassung nicht verloren hatte.
„Ich frage das Gericht,“ begann er mit lauter, fester Stimme, „ob dieser Mann zurechnungsfähig ist? So war er schon vor der Zeit, in die seine Vergehen fallen. Träume von Liebesglück und Reichthum haben ihm das Hirn verrückt. Jeden reichen Mann will er beerben, und jede Dame, die ihm gefällt, betrachtet er als seine Frau. Fräulein Helene S. die Verlobte des Herrn Simoni, sah er zum ersten Male kurz vor seiner Verhaftung – sie machte denselben Eindruck auf ihn, wie heute. Aus diesem Grunde bat ich das verehrte Brautpaar, mit mir vor den Schranken des Gerichts zu erscheinen, um den trostlosen Zustand des Angeklagten zu constatiren.“
„Sie haben früher den Angeklagten, Franz Osbeck, nicht gesehen?“
„Ich habe ihn nie gesehen, ich kenne ihn nicht;“ antwortete Helene fest und entschieden.
Auch Robert bestätigte den Irrsinn seines Vetters, und führte als Beweis die fixe Idee desselben von der Erbschaft an. Man schloß das Zeugenverhör, und die Zeugen traten in das Vorzimmer zurück.
„Erwarten Sie mich!“ flüsterte Julius Helenen zu, als sie sich von ihm trennte.
Der Staatsanwalt beharrte bei seinem Antrage auf Erkennung der Todesstrafe, indem er sich darauf stützte, daß der Irrsinn des Angeklagten nicht genug erwiesen, daß Franz Osbeck ein ehemaliger Offizier, als ein energischer und freisinniger Charakter bei seinen Kameraden bekannt gewesen, und selbst in diesen Zustande ein der Gesellschaft und der Regierung höchst gefährlicher Mensch sei. Als er seine Rede geschlossen, zitterten die Zuhörer für das Schicksal des Angeklagten. Nun aber begann Julius seine Vertheidigungsrede, eine so scharfsinnige, feurige und glänzende Rede, wie sie wohl selten vor einem öffentlichen Schwurgerichte gehalten worden. Unter dem Beifallsjubel der Menge trat er von der Rednerbühne ab. Die Geschworenen zogen sich in das Berathungszimmer zurück. Nach einer halben Stunde verkündete der Präsident, daß der Angeklagte auf Grund ärztlicher Zeugnisse und zureichender Aussagen glaubhafter Zeugen wegen Unzurechnungsfähigkeit mit Stimmeneinhelligkeit der Geschwornen von der Todesstrafe frei gesprochen, aber rücksichtlich seines Zustandes mit Landesverweisung belegt worden sei.
Als Julius in das Zimmer der Zeugen trat, zeigte ihm ein Diener an daß der Herr die Dame habe nach Hause führen müssen, da letztere plötzlich krank geworden sei. Nun eilte er zu seinem Clienten, der sich unter dem Beistande eines Arztes zwar erholt hatte, aber immer noch in einem bejammerswerthen Zustande war. Franz hörte seine Freisprechung mit einem unheimlichen Lächeln an. Dann versank er in ein dumpfes Hinbrüten, er äußerte weder ein Zeichen des Dankes noch der Freude. Julius brachte den unglücklichen Freund in einem Wagen nach seiner Wohnung. Ein befreundeter Arzt ward herbeigerufen, und dieser [42] erklärte, nachdem er den Kranken einige Zeit beobachtet, daß die furchtbare Gemüthserschütterung einen völligen Irrsinn herbeigeführt habe.
„Sie trug die weiße Rose nicht!“ murmelte Franz vor sich hin. „Auch sie hat mich verleugnet!“
Dies waren die letzten Worte, die der Unglückliche sprach. Dann verharrte er hartnäckig in einem Schweigen, als ob er die Sprache verloren hätte, und so viel sich Julius auch bemühte, ihm sein Glück und die Mittel zur Erlangung desselben klar zu machen – Franz verstand ihn nicht; dasselbe unheimliche Lächeln umspielte seinen bleichen Mund, dieselben Blicke, welche die Zerstörung des Verstandes verriethen, entströmten seinen trüben Augen.
Die Freude des Advokaten über den errungenen Triumph verwandelte sich in einen tiefen Schmerz.
„Ich habe zu viel auf seine Geistesstärke gebaut,“ dachte er. „Leider gab es kein anderes Mittel, ihn vom sichern Tode zu retten. Aber noch verliere ich die Hoffnung nicht, das wiederkehrende Glück wird den Schleier zerreißen, den ein furchtbares Geschick über seinen Geist geworfen,“
Durch einen Brief benachrichtigte er die Commerzienräthin von dem Ausgange des Prozesses ihres Neffen. Als Antwort darauf erhielt er fünftausend Gulden in Banknoten, die ihm Robert zur Verpflegung und zur Bestreitung der Reisekosten übersandte.
Denselben Abend ward die Klingel an der Thür des Advokaten gezogen. Die junge Gattin desselben öffnete, und Helene, dicht in einen Mantel gehüllt, trat ein. Laut weinend sank sie der jungen Frau an die Brust. Beide traten in das Zimmer des Advokaten, der mit den Vorbereitungen zur Abreise beschäftigt war.
„Wo ist Franz?“ rief sie hastig.
Julius berichtete, daß er sich in einem Zimmer des ersten Stockes befände.
„Ich muß ihn sehen und ihm Aufklärung geben –“
„Helene, wir haben unser Ziel nur halb erst erreicht, versäumen wir die nöthige Vorsicht, so zerstören Sie mir die Grundlage meines Rettungswerkes. Sie dürfen Franz jetzt noch nicht sehen, denn er wie wir werden scharf beobachtet. Nur in der Verfassung, die ich künstlich herbeigeführt, kann er morgen seine Reise antreten. Sobald Ihre Mission in dem Hause der Commerzienräthin erfüllt ist, sobald Sie mit allen Mitteln zur vollkommnen Beglückung unsers armen Freundes ausgerüstet sind, werden Sie ihm folgen können. Bewahren Sie nur kurze Zeit noch den Heldenmuth, den Sie bis jetzt gezeigt haben, folgen Sie blindlings meinen Anordnungen, so werden wir bald an dem erwünschten Ziele sein. Vergessen Sie nicht, daß es sich um Leben und Tod handelt. Franz ist ein seltsamer Client, denn wir mußten ihn gegen seinen Willen retten. Jetzt gilt es, sein Gemüth zu heilen, und darum folgen Sie und harren Sie aus.“
Helene zog die weiße Rose von ihrem Busen – sie hatte sie nämlich von Georg zurückerhalten – und gab sie dem Advokaten.
„Verwenden Sie den Schmuck,“ sagte sie gefaßt; „Sie kennen ja seine Bedeutung. Ich bedarf seiner nicht, aber Franz – –“ In diesem Augenblicke ward die Glocke an der Hausthüre gezogen. Die drei Personen schraken heftig zusammen. Die junge Frau zog Helenen mit sich fort in ein Seitenkabinet. Der Advokat ging hinaus, öffnete und empfing Robert Simoni. Er bat um eine kurze Unterredung. Julius führte ihn in sein Arbeitszimmer.
„Mein Herr,“ sagte er, mißtrauisch den Gesichtsausdruck des Advokaten prüfend, „auf Ihre Veranlassung erschien Helene, die Gesellschafterin meiner Mutter, an meiner Seite vor Gericht.“
„Ganz recht !“ antwortete Julius mit großer Ruhe.
„Sie gaben als Grund dafür an. daß sich in Gegenwart der Richter der Eindruck wiederholen möge, den sie auf Franz vor seiner Verhaftung ausgeübt.“
„Und was ich erwartete, mein Herr, ist in Erfüllung gegangen.“ „Franz nannte sie seine Frau!“ sagte der junge Kaufmann in einer Angst, die er vergebens zu verbergen suchte.
„Können Sie den Worten eines Irren, zumal wenn er sich in einer solchen Situation befindet, irgend eine Bedeutung beilegen?“ fragte Julius mit kalter Ruhe. „Sie kennen den Zustand meines Clienten schon seit langer Zeit, Sie selbst wissen am Besten, daß sich sein Irrsinn in extravaganten Ansichten und Handlungen äußert – wie kann es Sie wundern, daß der, der in seiner Verblendung nach Ihrem Vermögen trachtet und dem Staate eine neue Regierung geben will, nun auch Ihre Braut für seine Frau hält? Es ist klar, der leidige Communismus hat dem armen Menschen den Kopf verdreht – er will die Häfte Ihres Vermögens und Ihre in der That reizende Braut. Wünschen wir uns Glück, daß die Pläne der heillosen Demokratie vereitelt sind. Uebrigens fürchten Sie nichts, Franz Osbeck ist für immer unschädlich geworden; die Freisprechung auf Grund seiner Indispositionsfähigkeit hat ihn aus der Liste der vernünftigen Staatsbürger gestrichen. Ihre Braut selbst hat laut erklärt, daß sie den Demokraten nicht kennt – –“
„Die Gründe leuchten mir ein!“ sagte Robert hastig. „Da die Sache nun abgethan, so bitte ich um die Rechnung für meinen Vetter.“
„Ich werde sie Ihnen nach meiner Geschäftsordnung zustellen.“
„Und was werden Sie mit Franz beginnen?“
„Morgen bringe ich ihn in eine Irrenanstalt der Schweiz, da er binnen achtundvierzig Stunden das Königreich zu verlassen hat.“
Kaum hatte sich der Kaufmann entfernt, als der Advokat zu seiner Frau in das Kabinet trat.
„Wo ist Helene?“ fragte er.
„Ich habe ihr leise die Thür geöffnet, sie muß jetzt schon zu Hause angelangt sein.“
„Gut, nun fürchte ich nichts mehr.“
Arm in Arm gingen die beiden jungen Gatten zu dem kranken Freunde. Sie trafen ihn, still vor sich hinbrütend, in einem Lehnsessel. Ihr freundliches Zureden hatte keinen Erfolg, er verharrte in seinem düsteren Schweigen. Eine tiefe undurchdringliche Schwermuth hatte seinen Geist in starre Fesseln geschlagen. Der Advokat verbrachte die Nacht bei ihm. In der Dämmerung des nächsten Morgens fuhr ein Reisewagen mit Extrapostpferden vor. Julius befand sich in seinem Zimmer, um die zur Reise nöthigen Papiere und Gelder einzustecken. Da ließ ein Domestik einen Greis eintreten, der eine schwere Reisetasche trug. Es war Georg. der alte Diener der Wittwe Simoni.
„Was wollen Sie?“
„Herr,“ sagte der athemlose Georg, „mich sendet Mamsell Helene – –“
„Zu welchem Zwecke?“
„Um Herrn Franz Osbeck zu begleiten.“
„Unmöglich! Meine Vorkehrungen sind so getroffen, daß es keiner Person mehr bedarf –“
„Lesen Sie! Lesen Sie!“ rief Georg mit Thränen in den Augen, und indem seine zitternde Hand ein Papier überreichte.
Der Advokat las die Zeilen, die von der ihm wohlbekannten Hand Helenen’s geschrieben waren.
„Sie sind ein Freund seines verstorbenen Vaters?“ sagte er dann überrascht.
„Der einzige, wahre Freund des seligen Osbeck. und ich werde meine alten Tage ruhig beschließen, wenn es mir vergönnt ist, seinem unglücklichen Sohne ein treuer Diener zu sein. Mamsell Helene hat mir seinen traurigen Zustand geschildert, und glauben Sie mir, Herr Advokat, es giebt keinen Menschen in der Welt, dessen Nähe heilsamer auf den Kranken wirkt, als die meinige. Ach, ich kann dem Himmel nicht genug dafür danken, daß er diese Nacht zwischen mir und Mamsell Helene eine Verständigung herbeiführte. Da litt es mich nicht länger unter den herzlosen Menschen, die des leidigen Geldes wegen ein so schändliches Verbrechen begehen. Ich schrieb der Wittwe einen Brief, schnürte mein Bündel, und bin nun hier. Doch lieber Herr, erlassen Sie mir jetzt jede weitere Erklärung, unterwegs werde ich Ihnen Alles erzählen. Und dann,“ fügte er leiser hinzu, „bin ich auch im Stande, Ihnen Aufklärungen über den verstorbenen Buchhalter zu geben, die dem armen Franz wohl noch einmal nützen können.“
Julius trug kein Bedenken, die Dienste des Greises anzunehmen, zumal da er sich erinnerte, von Franz gehört zu haben, daß er es war, der ihm in der Ballnacht eine Unterredung mit der Wittwe vermittelte; er hielt es selbst für einen glücklichen Zufall, dem Geisteskranken einen befreundeten Diener beigeben zu können. Und außerdem ging ihm ja die Empfehlung der vorsichtigen Helene voran, die dringend bat, den alten Georg nicht abzuweisen. Während die Koffer auf den Wagen gebracht wurden, führte Julius seinem Freunde den neuen Diener zu. Franz erkannte ihn nicht, obgleich man ihm den Namen Georg nannte. Willenlos [43] und ruhig wie ein Kind ließ er sich zu dem Wagen führen, der, nachdem der Advokat und Georg ihre Plätze eingenommen, im raschen Trabe die Residenz verließ.
Mit dem Beginne des Frühlings glaubte sich Robert Simoni auf dem Gipfel seines Glücks, denn Helene trug seinen Verlobungsring an dem Finger. Man sah das wirklich schöne Paar in einem eleganten Wagen durch die Promenaden der Stadt fahren. Man bewunderte ihre kostbaren Toiletten in einer Loge des Hoftheaters, und die Geldaristokratie empfing sie freudig in ihren Sälen, die den Verlobten zu Ehren sich öffneten. Man sprach nur selten noch von der verhängnisvollen Schwurgerichtssitzung, und wenn es geschah, pries man die Bereitwilligkeit der jungen Leute, mit der sie den irrsinnigen Demokraten vom Tode gerettet hatten. Schon dachte Robert, der nur Anbetung und Liebe für Helene war, an seine Vermählung, um mit seiner Gattin nach Hamburg zurückkehren zu können, als die Commerzienräthin plötzlich krank wurde. Die Aerzte erkannten das Wesen der Krankheit nicht sogleich, und riethen nur Ruhe und sorgliche Pflege. Helene litt keine Wärterin, sie selbst versah den Dienst bei der Kranken, und Robert unterstützte sie dabei.
Es war in der Nacht vom ersten zum zweiten Ostertage, als Helene, nachdem die Kranke eingeschlummert war, sich in ihr Gemach zur Ruhe begab, das durch eine Thür von dem Krankenzimmer geschieden ward. Sie ließ die Thür offen, um desto leichter die Wünsche der Commerzienräthin zu hören. Noch kämpfte sie mit den ersten Angriffen des Schlafes, als sie die Glocke der Kranken hörte, das erste Mal mitten in der Nacht. Helene sprang auf, und warf einen Nachtmantel über. Im nächsten Augenblicke stand sie an dem Krankenbette, das durch eine elegante Nachtlampe matt beleuchtet ward. Der Arm der Kommerzienräthin, der nach der Glocke gegriffen hatte, hing schlaff durch die Gardine herab.
„Was ist Ihnen, Madame?“ fragte ängstlich Helene, indem sie die Gardine zurückzog.
Entsetzt fuhr sie zurück, als sie das von dem Lichte erhellte Gesicht der Kranken erblickte. Welch eine gräßliche Veränderung war darin vorgegangen. Eine Leichenblässe bedeckte es, während die Augen in einem düstern, unheimlichen Glanze glühten. Helene starrte die Frau einen Augenblick sprachlos an.
„Soll ich nach dem Arzte schicken?“ fragte sie endlich.
Madame Simoni gab ein verneinendes Zeichen. Dann ergriff sie die Hand ihrer jungen Wärterin und sagte mit großer Anstrengung:
„Helene, ich betrachte Sie als meine Tochter! Vielleicht erlebe ich es nicht mehr, daß Sie mein Sohn seine Gattin nennt.“
„Verbannen Sie diesen Gedanken!“ stammelte Helene, die das heftige Zittern der Hand fühlte, welche die ihrige hielt. „Die Krankheit wird vorübergehen!“
Die Witwe zuckte heftig zusammen. Dicke Schweißtropfen erschienen auf ihrer gerunzelten Stirn.
„Mein Gott! Mein Gott!“ hauchte sie. „Was ist das? Was ist das?“
Die arme Helene ward von einer wahren Todesangst ergriffen.
„Ich will Robert rufen!“
Zuvor hören Sie mich an! Setzen Sie sich näher heran!“ sagte leise und ängstlich die Kranke. „O, mein Kopf wird von fürchterlichen Schmerzen zerrissen!“ jammerte sie. „Ich fühle, daß mein Ende naht! Helene, ich achte und liebe Sie – von Ihnen verlange ich den letzten Dienst!“
„Was fordern Sie, Madame? Sie sind meine Wohlthäterin – Ich verspreche Ihnen, Alles zu erfüllen.“
Athemlos lauschend bog sich Helene über das Bett. Sie sah das gräßlich entstellte Gesicht der Kranken nicht, sie war nur darauf bedacht, jedes Wort zu erhaschen, das den bleichen, bebenden Lippen entquoll.
„Helene, schwören Sie mir, meinen Willen zu thun!“
„Ich schwöre es!“ sagte sie rasch.
„Mein Sohn ist ein schwacher, leidenschaftlicher Mensch! Erhalten Sie ihm sein Vermögen, das auch das Ihrige ist! Ich will es, ich will es!“ rief sie wie im Delirium. „Es muß geschehen, weil ich es will! Mein Wille hat das Vermögen erworben – er wird es auch zu erhalten wissen!“
„Sie sehen mich bereit, Madame!“ hauchte Helene.
„Zünden Sie Feuer in dem Kamine an.“
Helene fachte das dem Erlöschen nahe Feuer an, daß es aufprasselte. Die Kranke hatte sich mit fieberhafter Anstrengung emporgerichtet. Als sie die Flammen des Feuers sah, verzog sich ihr Gesicht zu einem grinsenden Lächeln.
„Zu mir! Zu mir!“ stammelte sie dann.
Helene, zitternd am ganzen Körper, unterstützte die Kranke, die sie fest an sich drückte. Dann zog sie ein weißes Tuch hervor, an dem ein Schlüssel angeknotet war.
„Oeffnen Sie jenen Secretär, Helene! In dem mittelsten Fache liegt ein Buch – hier ist der Schlüssel.“
Helene flog zu dem Secretär, öffnete ihn, und holte ein schwarzes, ziemlich starkes Octavbuch hervor. Das Gefühl, das sich ihrer bei dem Anblicke dieses Gegenstandes bemächtigte, läßt sich nicht beschreiben. Der Athem stockte einen Augenblick in ihrer Brust, und leise schluchzend preßte sie das Buch an ihre Lippen. Madame Simoni bemerkte diese Bewegung nicht, denn sie war in die Kissen zurückgesunken, aber sie erhob sich wieder mit übermenschlicher Anstrengung und stammelte:
„Werfen Sie – das Buch – in das Feuer – in das Feuer! Helene – vernichten Sie das Buch – – es ist mein letzter Wille!“
Leise ächzend brach die Wittwe zusammen. Die Kraft des Körpers hatte sie verlassen, obgleich die Kraft ihres unbeugsamen Geistes, den sie in ihrem ganzen Leben bethätigt, noch die Beweise von den Mitteln vernichten wollte, mit denen sie das große Vermögen zusammengeschaart hatte. Die arme Helene verlor fast das Bewußtsein, als sie sich im Besitze des Schatzes sah, dem sie so unendliche, schwere Opfer gebracht hatte. Daß sie so rasch ihr Ziel erreichen würde, woran sie bereits gezweifelt, hatte sie nicht gedacht. Sie trat zur Lampe und öffnete den Deckel ihres Schatzes, es war das Geheimbuch des verstorbenen Kaufmanns Simoni. Ihr Sinnen war nun darauf gerichtet, das schwer Errungene zu bewahren, denn noch hatte sie in Robert einen gefährlichen Feind zu bekämpfen. In rathloser Angst irrte sie durch den Vorsaal auf den Corridor. Hier zeigte sich ihr die Oeffnung eines Kamines. Sie riß ihr Tuch vom Halse, wickelte das kostbare Buch hinein, und verbarg es in dem schwarzen Schlunde. Dann zog sie die Glocke, die zu Robert’s Zimmer führte und eilte zu der Kranken zurück, die sie in einem bewußtlosen Zustande antraf. Noch war sie beschäftigt, die Ohnmächtige durch starke Essenzen in’s Leben zurückzurufen, als Robert hastig eintrat. Sein erster Blick fiel auf den noch geöffneten Secretär. Mit dem Mißtrauen, daß er stets gehegt, durchsuchte er die Fächer desselben.
„Ihre Mutter, Robert!“ flüsterte die bestürzte Helene. „Schicken Sie zum Arzte, – ehe es zu spät wird.“
„Nicht der Arzt, aber ich komme zu spät!“ rief der Kaufmann, die junge Frau mit durchbohrenden Blicken ansehend. „Helene, hier waltet ein Geheimniß ob – wer hat den Secretär geöffnet?“ fragte er mit bebender Stimme. „Wer hat das Möbel erbrochen, in dem meine Mutter ihre Werthpapiere aufbewahrt?“ fügte er in der gräßlichsten Angst hinzu, die Eifersucht und Mißtrauen in ihm erregten.
Da erhob sich Helene in stolzer Würde.
„Ich,“ rief sie, „ich habe ihn mit dem Schlüssel geöffnet, den mir Ihre kranke Mutter gab! Sie wollte, daß ich ein gewisses Buch vernichtete.“
Robert bebte zusammen.
„Helene, Sie sind meine Verlobte, meine Gattin! Wo ist das Buch?“
„Zeihen Sie mich des Undanks, Herr Simoni; halten Sie mich für eine Abenteuerin, für eine Betrügerin – aber länger kann ich die Maske nicht tragen, unter der Sie mich bisher gesehen haben.“
„Was ist das? Was ist das?“ rief Robert. „Großer Gott, das ewige Mißtrauen, das sich in mir regte.“
„Es bestätigt sich, mein Herr!“
„Mutter,“ rief Robert von Zorn übermannt, wir haben eine Spionin des blödsinnigen Franz bei uns aufgenommen!“
„Mein Herr,“ rief Helene würdevoll, „sagt Ihnen Ihr Mißtrauen nicht, wer ich bin? Wer ist wohl einer solchen Aufopferung [44] fähig, als ich sie bethätigt habe? Der Zufall führte mich, die Hülflose, in Ihr Haus, und bis zu jener verhängnißvollen Nacht, in der Franz verhaftet war, wußte ich nicht, daß Sie in irgend einer Beziehung zu dem Unglücklichen stehen, ich wußte nur, daß ihn boshafte Menschen seines väterlichen Vermögens beraubt hatten. Ich verleugnete die Gefühle meines blutenden Herzens, ich bekämpfte den grausamen Schmerz über das Schicksal des Verhafteten, und empfing scheinbar Ihre Huldigungen. Herr Simoni, es wacht ein Gott über die Verbrecher, denn er machte mich zur Zeugin des Pactes, den Sie mit Ihrer Mutter geschlossen, er ließ mich erfahren, daß ich – o wunderbare Fügung des Schicksals! – daß ich der Preis war, um den Sie die Beweise Ihrer Sünde auslieferten, die Beweise, daß die Schwester den Bruder überlistet hat. Ich verband mich mit Ihnen zur Befreiung des armen Franz, ich verleugnete ihn vor Gericht, damit man ihn für wahnsinnig halten sollte; mein Herr, solche Opfer kann nur eine heiße, treue Liebe bringen! Nicht eine Spionin des unglücklichen Franz haben Sie aufgenommen, sondern – seine Gattin!"
Robert ergriff krampfhaft die Lehne des Sessel und stieß einen durchdringenden Schrei aus.
„Ich stellte List der List gegenüber,“ fuhr Helene fort. „Nicht des Besitzes wegen kämpfte ich mit Ihnen, denn ich liebe meinen Gatten auch als Bettler – aber sein Geist hat wirklich unter der Gewalt seines Geschickes gelitten, er hält mich für untreu und jammert über den Verlust seiner Gattin – nur mit den Beweisen dessen, was ich für ihn erstrebt, kann ich zu ihm zurückkehren, nur dann wage ich mich ihm wieder zu nahen, wenn ich ihm die Gründe meiner Handlungen, die Opfer meiner Gattenliebe darthun kann! Jetzt wissen Sie Alles, und die Gattin Franz Osbeck’s verläßt Ihr Haus, um ihre heiligste Pflicht zu erfüllen.“
Helene wollte das Zimmer verlassen.
„Bleiben Sie!“ rief der todtbleiche Robert, indem er die bebende Hand nach ihr ausstreckte.
„Meine Sendung ist erfüllt! Wollen Sie verhandeln, so wenden Sie sich an den Advokaten Ihres Vetters.“
In diesem Augenblicke trat die erschreckte Kammerfrau ein. Helene von einer tödtlichen Angst um ihren Schatz getrieben, stürzte aus dem Gemache. Auf dem Corridor holte sie das Geheimbuch aus dem Verstecke, verbarg es unter dem leichten Nachtmantel und eilte die Treppe hinab. Sie traf den Portier auf der Hausflur, der durch das Getümmel wach geworden war.
„Oeffnen Sie!“ befahl die bebende junge Frau.
„Mein Gott, was ist geschehen?“ fragte der Portier.
„Ich hole den Arzt, Madame Simoni ist gefährlich krank!“
„Die Nacht ist kühl, Fräulein – Sie sind leicht gekleidet!“
„Oeffnen Sie, um Gotteswillen!“
Helene stürzte auf die Straße hinaus. Die Uhr der Kathedrale verkündete die zweite Morgenstunde, als sich ihr die Thür des Advokaten öffnete. Bewußtlos sank die junge Frau in die Arme ihrer Freundin.
Eine heitere Frühlingssonne schien auf die reizende Landschaft des Züricher Sees herab, als ein mit Postpferden bespannter Reisewagen auf der spiegelglatten Chaussee, die sich an dem Rande des ungeheuern Bassins hinzieht, rasch dahinrollte. Auf dem hohen Bocke neben dem lustig blasenden Postillon saß der Advokat Julius Petri. Dem Schwager stand ein dreifaches Trinkgeld in Aussicht, deshalb trieb er seine dampfenden Rosse zur Eile an. In kurzer Entfernung von der Stadt stand ein steinernes Muttergottesbild an der Straße.
„Hier ist das Zeichen!“ rief der Advokat. „Den Weg rechts!“
Der Wagen fuhr nun eines sanfte Anhöhe hinan, und nach zehn Minuten hielt er vor einer mit jungem Laube bedeckten Hecke, die ein einfaches, liebliches Häuschen umschloß. Julius sprang vom Bocke und half zweien Damen aussteigen: Helenen und seiner Gattin. Arm in Arm traten sie zu einer Gitterthür, durch deren Stäbe sie einen reizenden Garten übersehen konnten. An dem Häuschen war ein alter Mann mit dem Aufbinden des Weinstocks beschäftigt, der sich wie eine schlanke Arabeske an der weißen Mauer emporwand.
„Georg!“ rief Julius leise.
Der alte Gärtner wandte sich. Vor freudigem Erstaunen entsanken ihm Messer und Faden, die er in der Hand hielt. Dann eilte er durch den mit gelbem Sande bestreuten Weg und öffnete zitternd die Gitterthür.
„Wo ist Franz? Wie befindet sich mein Mann? Georg, haben sie ihn gut gepflegt? Um Gottes willen, Georg, ein Wort, – wo ist Franz?“ rief Helene.
Der Greis küßte schluchzend die Hände der jungen Frau.
„Es ist gut, Alles gut, Madame Osbeck!“ sagte er dann. „Der gute Herr Franz hat schon seit einem Monate wieder mit mir gesprochen, und er lies’t alle Briefe, die ihm der Herr Advokat unter meiner Adresse gesandt hat. Jetzt sitzt er in seinem großen Lehnstuhle und hält Mittagsruhe – dann wollte ich mit ihm auf den Berg steigen, von wo er nach Deutschland hinübersehen kann. Ach du lieber Gott, welch’ ein frohes Erwachen wird das sein! Ich habe Sie erst in einigen Tagen erwartet.“
„Und wie spricht er von seiner Frau?“ fragte Julius.
„Seitdem er wieder mit mir spricht, trägt er auch ihre weiße Rose auf der Brust.“
Laut schluchzend vor Freude sank Helene dem greisen Diener in die Arme.
„Er denkt noch an mich!“ rief sie aus, „er glaubt an meine Treue und Liebe – nun trete ich ihm getrost unter die Augen! Mein Gott im Himmel, stärke mich zu diesem großen, wunderbaren Augenblicke!“
„Fassung, Helene!“ ermahnte Julius. „Ueberlassen Sie sich nur meiner Leitung.“
Georg führte die Gäste, die leise folgten, in das kleine, freundliche Zimmer. Eine spanische Wand von blauen Tapeten umstand deshalb einen großen Lehnsessel, in welchem der schlummernde Franz saß. Sein bleiches Gesicht, von einem wohlgeordneten Barte umgeben, trug das Gepräge eines tiefen, stillen Schmerzes. Der Schlummernde war völlig angekleidet, und auf der Brust, die eine schwarze Weste bedeckte, glänzte die weiße Rose. Helene konnte sich bei dem Anblicke der Blume, die so lange an ihrem Herzen geruht hatte, einer heftigen Bewegung nicht erwehren; sie verbarg ihr in Thränen gebadetes Gesicht an der Brust der Freundin.
Der greise Diener war dem Schlummernden näher getreten.
„Herr Franz!“ flüsterte er, indem er leise seine Hand auf die Achsel desselben legte. „Es ist zwei Uhr!“
Franz schlug die Augen auf. Seine Blicke trafen Julius, der ihm gegenüberstand. Ungläubig starrte er den Freund an.
„Ich bin’s!“ sagte lächelnd der Advokat. „Franz, reiche mir getrost Deine Hand, ich bringe frohe Botschaft.“
Ein schmerzliches Lächeln umspielte den Mund des bleichen Mannes.
„Botschaft, nur Botschaft!“ flüsterte er. „Die Rose an meiner Brust verliert ihren Glanz – man sandte sie mir, damit ich sie mit meinen Thränen benässen soll. Mein Rechtsanwalt hat mir ein trauriges Leben gerettet.“
„Mehr noch, Franz! Was forderst Du – Reichthum, Freiheit – ?“
Franz schüttelte schmerzlich sein Haupt.
„Nimm die Rose, gieb sie ihr zurück – sie erinnert mich nur daran, daß es besser gewesen wäre, ich hätte mein Todesurtheil empfangen. Es lage eine schwarze Nacht auf meinem Geiste – der Schimmer dieser Rose lichtete sie auf kurze Zeit – sie trug sie als Brautkranz in dem Haare – sie sollte das Symbol meiner Liebe sein – meine Gattin verleugnete mich!“ fügte er dumpf hinzu.
Länger konnte sich Helene nicht halten; sie trat hervor und warf sich, einen durchdringenden Schrei ausstoßend, zu den Füßen des bestürzten Franz nieder.
„Helene! Helene!“ rief er, zitternd die Arme nach ihr ausstreckend.
„Verzeihung, Franz, Verzeihung! Ich habe nicht einen Augenblick aufgehört, die Frau zu sein, Dich zu lieben! Was ich that, hielt ich für meine Pflicht – o, so bestätigen Sie doch, mein Herr, daß ich die Ehre und das Vermögen meines Gatten rettet, daß ich nur Ihren Anordnungen folgte, obgleich mir das Herz dabei blutete. Franz, jetzt kann ich bei Dir bleiben – ich bringe Alles, Alles mit, was Dich glücklich macht! Glaube mir, ich habe nicht minder gelitten, als Du!“
„Franz,“ rief Julius, „ohne Deine Gattin wäre es mir unmöglich [45] gewesen, Dich zu retten! Nicht mir, ihr verdankst Du Dein Leben, Deine Freiheit, und gern gestehe ich es ein, daß die Gattenliebe stärker war, als die Kunst und der Scharfsinn des Juristen! Madame Simoni ist todt und Robert hat auf die Hälfte seines Vermögens zu Deinen Gunsten verzichtet, weil er nicht anders konnte. Ist Deine Liebe schwächer als die ihrige?“
„Helene, Helene!“ rief Franz, indem er zu ihr auf die Knie niedersank und sie mit beiden Armen umklammerte. „Jetzt sehe ich klar in dem Chaos von Begebenheiten – verzeihe mir, mein Geist war zu schwach, um Alles zu fassen. Könnte ich Dir einen Vorwurf machen, so wäre es der, daß Du des Reichthums wegen mich und Dich einer so herben Prüfung unterworfen hast!“
Laut weinend lagen sich die beiden Gatten in den Armen. Heiße Küsse brannten auf den behenden Lippen.
„Das hat Gott gefügt!“ sagte der greise Georg, indem er die Hände faltete.
Eine Stunde später hatte der Advokat Rechnung abgelegt, und Franz, dessen letzte Zweifel gelöst waren, befand sich in dem Besitze seiner Gattin und eines großen Vermögens, das ihm erlaubte, ein freies, unabhängiges Leben zu führen. Der Mai fand die beiden glücklichen Paare in Interlaken, dem Eldorado der Engländer. In der kräftigen, heitern Bergluft erstarkte die Gesundheit Franz Osbeck’s, und erhielt er auch sein blühendes Aeußere nicht wieder, so stellte sich doch der Lebensmuth wieder ein und er genoß in vollen Zügen das Glück, das er in dem Besitze einer treuen, hingebenden Gattin fand. Helene trug keinen andern Schmuck mehr als die weiße Rose. Julius nannte sie den Orden, den sie durch Heldenmuth verdient hatte.
Im Herbste trennten sich die Freunde. Es war der erste schmerzliche Augenblick nach einem glücklich verlebten Sommer, als Julius mit seiner Gattin schied. Der Advokat ging nach der Residenz zurück, um seine Praxis zu üben, und Franz und Helene bezogen ein bequemes Haus, das sie am Marktplatze Zürichs gekauft hatten. Der dem Tode entgangene und für irrsinnig erklärte Franz Osbeck ward ein geachteter Bürger der freien Schweiz. Monatlich erhält der Advokat Petri Briefe, die bestätigen, daß sein Client sich eines ungetrübten Glückes erfreut. Zwei Jahre später theilte Julius dem Freunde mit, daß Robert Simoni fallirt habe, und nach einem wüsten Leben mit dem Reste seines Vermögens nach Amerika entflohen sei.
Marseille, Toulon, Brest, Boulogne und sonstige Seestädte Frankreichs – die Lungen des Landes – gewinnen unter den jetzigen Verhältnissen des Krieges sowohl, als des friedlichen Verkehrs mehr Interesse, als selbst das glänzend-elende Herz des Kaiserreichs. Es wird daher Niemandem unwillkommen sein, einige dieser Orte beiläufig mit zu besuchen, zumal wenn man die Reise bequem und wohlfeil haben kann.
Ohne Umstände versetzen wir uns in das lustige, warme Frankreich am mittelländischen Meere, wo das bunte, glänzende, weite Marseille seine Arme allen Schiffen der Erde öffnet und stets neugierig ist, die Kriegs- und Handelsnachrichten von den Häfen des mittellandischen Meeres und des englischen Indiens zu vernehmen und blitzschnell an electrischen Drähten durch alle Welt zu zucken. Nicht weit davon streckt und schlängelt sich das Plymouth Frankreichs, Toulon, das Herz der französischen Kriegsmacht für das mittelländische Meer, von großer Wichtigkeit im jetzigen Kriege, historisch berühmt von vorchristlicher Römerzeit her, später durch Angriffe afrikanischer Seeräuber und als Schwerpunkt der jetzigen französischen Herrschaft in Nordafrika. Seine Kraft und Wichtigkeit als Kriegshafen verdankt Toulon Ludwig XIV., dem sogenannten großen Fürsten und Eroberer. Da der Hafen durchaus ein künstlicher ist, läßt sich denken, welch’ ungeheuere Summen dessen Ausgrabung und Befestigung verschlangen. Die Zerstörung eines Theiles dieser Werke und Vernichtung der darin liegenden Flotte durch die englische Flotte unter Sidney Smith im Jahre 1793, wobei sich Napoleon zum ersten Male als militärisches Genie im Großen hervorthat, bilden ein merkwürdiges Factum.
Die Republikaner hatten die äußeren Forts und Höhen bereits genommen und ließen unter dem Commando Napoleon’s unbarmherzig [46] und unaufhörlich Bomben und Granaten auf die Stadt herabregnen, welche im Interesse der Bourbonen und der alten Autorität von England bereits vier Monate besetzt und vertheidigt worden war. Da öffnete sich am 16. December plötzlich die Erde hinter den Olivengärten von Klein-Gibraltar (Name eines Forts), und warf in sechsunddreißig Stunden über 8000 Bomben und Granaten auf die Engländer, die am folgenden Tage unter Dugomier und Muiron entweder vertrieben oder in den Forts bis auf den letzten Mann in Stücke gehauen wurden. Der Erfinder dieser Attacke und Schöpfer der bis zu ihrer Vollendung unsichtbar gebliebenen Batterien hinter den Olivengärten war ein junger Artillerie-Lieutenant von 23 Jahren, Namens Bonaparte, der große Sohn der Revolution, der bekanntlich hernach seine eigene Mutter verschlang, wovon er den Magenkrebs bekam, der ihn nicht verschlang, sondern langsam vernichtete, so daß er mehrere Jahre lang sterbend und verlassen auf Helena umherging. Während eines Monates hatte er damals Batterien von 200 Kanonen gegen die Engländer und gleichsam vor deren Augen geschaffen und zwar so dicht vor den Forts, die sie inne hatten, daß sie und Toulon sich nur zwei Tage gegen deren plötzlich eröffnetes, wirksames Spiel halten konnten.
Die Stadt Toulon mit 40,000 Einwohnern ist ein Oval, dessen eine längere Krümmung sich am Meere hinzieht, während die andere schön und majestätisch nord- und landwärts aufsteigt bis zu einer hohen Bergkette, die Stadt und Festung als ein malerischer Hintergrund einschließen. Das Malerische hat freilich nichts Anmuthiges, denn die Berge steigen starr und steinern, ohne Baum und Blumen und grünes Leben nach dem Meere herab. Die Festungswerke sind ungemein stark. Doppelte ungeheure Wälle umgeben die Stadt, außerdem ein tiefer, breiter Graben. Die Redouten auf den Wällen im Norden, Osten und Westen sollen bombenfest sein. Unter den Forts ist La Malgne auf einer Halbinsel südwestlich das größte und merkwürdigste, da es eine in unerschütterlichste Wirklichkeit verwandelte Befestigungs-Wissenschaft sein soll. Jetzt wird eben daran gearbeitet, dieses Fort mit der Stadt selbst zu verbinden. Letztere zerfällt, wie die meisten aller Städte, in zwei ganz charakteristische Theile, eine enge, alte, schmutzige und eine neue, breite, luftige, heitere Stadt. Die größte Schönheit ist la Rue de Lafayette, die beiden Stadttheile durchschneidende, mit Bäumen bepflanzte, stets von Verkehr, Menschen und Soldaten überfüllte Hauptstraße. Sie läuft in den Hafen hinaus, wo sie in einen großen offenen Platz (Place d’Armes) mündet. Letzterer gewährt mit seinen Bäumen der vornehmen Welt kühlenden Schatten und eine architektonisch schöne Ansicht des Admiralitäts-Hauses, welches die eine ganze Seite einnimmt. Der Kaufmanns-Hafen unweit davon mit dem Rathhause und zwei kolossale Statuen von Puget (die als Meisterwerke ersten Ranges gepriesen werden) gilt demnächst als die größte Merkwürdigkeit für friedliche Leute. Militärische Personen finden natürlich in den Arsenalen, Kasernen u. s. w. die größte Augenweide, für Wasserbaukunst haben die bombenfesten Bollwerke des Hafens, der 30 Linienschiffe, eben so viele Fregatten und noch eine Menge kleinerer Schiffe beherbergen kann, ein großes Interesse. Das Arsenal gilt als eins der schönsten in Europa. Es bedeckt 87 Morgen Landes und hat musterhafte trockene Docks und Plätze für Bau und Reparatur von Schiffen. Voriges Jahr arbeiteten hier täglich etwa 6000 Menschen an Rüstung der Flotte, außerdem 3500 Verbrecher, die früh aus ihren Galeeren heraus- und Abends wieder hineingetrieben wurden. Die Galeeren bestehen hier aus alten Kriegsschiffen, die vollständig in Arbeits-, Zucht- und Marterhaus verwandelt wurden. Seit 1682, wo die Bagno-Straf-Anstalt gegründet ward, haben hier Hunderttausende geseufzt und gelitten und zwar für Thaten und Gesinnungen, die zu verschiedenen Zeiten als große politische Tugenden gefeiert wurden. Zuchthaus, Guillotine, Bagno sind der Mode unterworfen, wie der Schnitt des Rockes.
Eine große Wohlthat in der Stadt ist das gute, klare, frische Wasser, welches aus den Gebirgen herunter geleitet wird und an einigen öffentlichen Plätzen in schönen Fontainen aufspringt. Diese verschönern eigentlich den heitern neuesten Stadttheil im Nordosten der Stadt. Ein anderer Anbau im Westen, genannt Navarin, ist berüchtigt als schmutziger Sammelplatz der Genueser, die in Toulon eben denselben Rang einnehmen, wie die Irländer in London. Die mercantile Wichtigkeit Toulons und seine Industrie steigen zusehends seit der Eroberung von Algier. Der Austausch zwischen Algier und Frankreich über Toulon wächst in demselben Grade, als in Nordafrika Civilisation und Culturbedürfnisse zunehmen.
So klar es Jedem, der Schmerz empfindet, wird, daß in seinem Körper nicht Alles so ist, wie es sein soll, so unklar ist dem Arzte gewöhnlich der Sitz und die Art des Leidens, welches den Schmerz hervorrief. Denn man glaube ja nicht etwa, daß der Schmerz allemal an der Stelle empfunden wird, wo das Uebel seinen Sitz hat, oder daß derselbe Schmerz immer aus ähnlichen Ursachen erzeugt wird. So kann z. B. zu wenig Blut im Gehirne ebensolchen Kopfschmerz veranlassen, wie zu viel Blut in diesem Theile, und gar nicht selten nimmt bei Herz- und Leberkrankheiten der Schmerz seinen Sitz in der Achsel oder in der Hand, anstatt im erkrankten Organe; Hüftgelenkleiden sind in der Regel mit den heftigsten Schmerzen im gesunden Knie begleitet und bei Rückenmarkskrankheiten schmerzen gewöhnlich die Beine, während der Rücken schmerzlos ist. Auch in den gesündsten Zähnen kann ein hohler, bisweilen gar nicht einmal schmerzender Zahn die heftigsten Zahnschmerzen (meistens Zahnreißen genannt) erregen, und sehr häufig leiden Solche, denen ein Bein abgeschnitten wurde, noch Jahre lang zeitweilig an unangenehmen Empfindungen oder Schmerzen in den scheinbar noch vorhandenen Zehen des abgeschnittenen Beines. Hierzu kommt noch, daß gar nicht selten ganz unbedeutende Uebel die heftigsten Schmerzen nach sich ziehen, dagegen sehr gefährliche Veränderungen in den wichtigsten Organen fast schmerzlos sind. Es findet ferner auch Statt, daß dasselbe Leiden bei dem einen Menschen sehr heftige, bei dem andern gar keine oder nur unbedeutende Schmerzen verursacht und daß derselbe Mensch einen Schmerz zu verschieden Zeiten ganz verschieden empfinden kann. Alle diese Thatsachen sollen den Leser davon überzeugen, daß der Schmerz eine höchst unsichere Krankheitserscheinung ist und nicht viel mehr anzeigen kann als daß sich als irgend einer Stelle des Körpers irgend eine krankhafte Veränderung befindet.
Die Einrichtung innerhalb unseres Körpers, durch deren Vermittelung Schmerz von uns gefühlt werden kann, ist folgende: vom Gehirne, dem Sitze des Bewußtseins, ziehen sich gleich den Drähten beim elektromagnetischen Telegraphen eine Menge feiner Fäden oder Nerven nach allen Theilen des Körpers hin, jedoch nach der einen Stelle eine größere, nach der andern eine geringere Anzahl solcher Fäden. Wie nun beim Telegraphen eine Nachricht von einer Station durch den Draht äußerst schnell zur andern Station fortgepflanzt werden kann, so wird auch Alles, was dem Endpunkte des Nervenfadens passirt, im Momente hin zum Gehirne telegraphirt und wenn hier das Bewußtsein wirklich vorhanden ist, empfunden. Man nennt diese Fäden deshalb auch Empfindungsnerven; je mehr ein Theil unseres Körpers davon besitzt, desto empfindlicher ist er, je geringer die Anzahl derselben, desto weniger empfindlich zeigt sich derselbe; manche Stellen sind auch wohl ohne alle Empfindungsnerven und also auch ganz und gar ohne Empfindung. Geschehen nun ungewohnte und widernatürliche Einwirkungen, die übrigens von der allermannigfaltigsten Art sein können, auf diese Empfindungsnerven, so erregen diese auch widernatürliche, unangenehme oder, bei höherem Grade, schmerzhafte Empfindungen. Sollen diese sonach zu Stande kommen, so gehört durchaus dazu: 1) eine widernatürliche Einwirkung oder Reizung eines Empfindungsnervens; 2) Leitung der widernatürlichen Reizung zum Gehirne und 3) Vorhandensein des Bewußtseins im Gehirne. Nach der Art der Reizung, nach der Leitungsfähigkeit [47] der Nerven und nach der Empfindlichkeit des Bewußtseinsorganes muß natürlich die widernatürliche Empfindung oder der Schmerz verschieden wahrgenommen werden. Ist z. B. das Gehirn berauscht und eingenommen (durch Krankheiten, Gemüthseindrücke, Spirituosa, Schwefeläther, Chloroform, Opium u. s. w.), dann machen Reizungen und Verletzungen von Gefühlsnerven weit geringere Schmerzen als dies bei freiem Gehirne der Fall wäre und vollkommene Bewußtlosigkeit zieht auch totale Schmerzlosigkeit nach sich, während krankhafte Empfindlichkeit des Gehirns ganz gewöhnliche Eindrücke schon als Schmerz empfinden läßt. Daher kommt es denn, daß in der Schlacht starke Verletzungen in Folge des Gemütszustandes bisweilen kaum gefühlt werden und daß Betrunkene oder Chloroformirte fast oder ganz empfindungslos sind, daß durch Opium heftige Schmerzen gemindert und gehoben werden können, und daß Kranke, deren Bewußtsein durch irgend welche Gehirnaffection gestört ist, ihren sonst sehr schmerzhaften Krankheitszustand nicht wahrnehmen. Ebenso muß aber auch der Mensch, so lange in seinem Gehirne das Bewußtsein noch nicht ausgebildet ist (denn dieses entwickelt sich nur ganz allmälig), sonach in der frühesten Jugend und bei Hirnmangel, empfindungs- und schmerzlos sein. Man lasse sich hierbei nur nicht durch die Schmerzensbewegungen (Schreien, Zucken, Strampeln, Begreifen, Umsichschlagen etc.) beirren, denn diese geschehen hier vermöge der eigenthümlichen Nerveneinrichtung (in Folge der Anregung bewegender Nerven von Seite der gereizten Empfindungsnerven) ganz unwillkürlich und bewußtlos (d. s. unbewußte Reflexbewegungen). – Auch der Zustand der Empfindungsnervenfäden, welcher von der Ernährung und Behandlung derselben abhängig ist, hat großen Einfluß auf das Gefühl und den Schmerz. Je besser nämlich ein solcher Faden leiten kann, desto schneller und stärker wird die Reizung zum Gehirne geschafft, während bei schlechter Leitungsfähigkeit des Nerven die Empfindung nur schwach und matt wahrgenommen wird. Im erstern Falle, wo heftigere Schmerzen zu Stande kommen müssen, spricht man von großer, im letztern von geringer Reizbarkeit der Nerven; nach beider Richtung hin kann die Reizbarkeit ausarten und enorm gesteigert oder gelähmt erscheinen. Da nun bei verschiedenen Menschen die Leitungsfähigkeit oder die Reizbarkeit der Nerven und die Empfänglichkeit des Gehirns sehr verschieden ist, so wird dieselbe Reizung von Verschiedenen auch ganz verschieden empfunden werden müssen, Einer fühlt den Schmerz nicht so wie der Andere – Daß sich nach der Art der Reizung auch die Beschaffenheit der Empfindung und der Grad des Schmerzes richten muß, versteht sich wohl von selbst; ein Mückenstich schmerzt weniger als ein Messerschnitt und Sonnenstrahlen brennen nicht so wie glühende Kohlen.
In Folge der Gewohnheit (welche bei der Entwickelung und Ausbildung des Nervensystems die größte Rolle spielt), oft aber auch noch mit Zuziehung anderer Sinne, lernen wir allmälig Empfindungen oder Schmerzen, die wir durch das Gehirn wahrnehmen, an die Stelle zu versetzen, wo sie erregt werden. Dies ist nun aber in der Regel am Endpunkte des Empfindungsnervens und wir meinen deshalb später aus Gewohnheit, selbst wenn dieser Nerv an einer ganz andern Stelle seines Verlaufes vom Gehirn bis zu seinem (peripherischen) Ende gereizt, ja wenn er sogar sammt dem Theile, in welchem er endigte, ganz abgeschnitten wurde, wir meinen doch, daß die die Empfindung oder den Schmerz erregende Reizung an jenem Endpunkte seinen Sitz hätte. So bedingt z. B. Reizung desjenigen Nervens, welcher am kleinen Finger endigt, Schmerz in diesem Finger auch wenn jener Nerv in der Ellenbogengegend gereizt wurde. Deshalb also die eigenthümliche Empfindung im vierten und kleinen Finger, wenn man sich an den Ellenbogen (an das Mäuschen) stößt. Aus demselben Grunde können Amputirte noch nach Jahren Schmerz im abgeschnittenen Gliede bei Reizung solcher Nerven empfinden, die in diesem Gliede endigten. Zur bessern Verständigung dieser Thatsache denke man sich einen Telegraphendraht (Nervenfaden) zwischen zwei Stationen (dem Gehirn und irgend einem Körpertheile) ausgespannt; wird der Telegraph auf der einen (Körper-) Station in Thätigkeit gesetzt, so weiß der Telegraphist auf der andern (Hirn-) Station in Folge der Erfahrung und Gewöhnung, daß eine Nachricht von jener Station aus geschickt ist. Er würde dies aber auch dann noch glauben müssen, wenn der Apparat ohne sein Wissen von der (Körper-) Station weggenommen und an einer ganz andern Stelle (Zwischenstation) desselben Drahtes angebracht worden wäre. Ja er würde diese Veränderung, wenn er sich durch langjähriges Telegraphiren an bestimmte Stationen gewöhnt hätte, sehr oft vergessen und meinen, die Nachricht käme noch von der früheren, vielleicht ganz eingegangenen Station. Oder man denke sich einen Klingelzug aus der dritten Etage direkt herabgeführt zum Hausmanne; dieser, mit der Einrichtung des Zuges bekannt, müßte stets glauben, es würde in dieser Etage geklingelt, auch wenn Jemand im zweiten oder ersten Stocke an der Klingelschnur zöge; würde dies aber öfters oder später stets vorfallen, dann würde er natürlich nicht mehr irre geleitet werden können. Im menschlichen Körper werden nun durch Krankheitsprozesse sehr oft Nerven nicht an ihrem Endpunkte, sondern an irgend einer Stelle ihres Verlaufes gereizt und deshalb finden sich gar nicht selten an äußerst schmerzhaften Stellen auch nicht die geringsten krankhaften Veränderungen vor, wohl aber an einer ganz entfernten Stelle, an welcher der Empfindungsnerv des schmerzenden Theiles vorbeigeht.
Eine andere Einrichtung im Nervensysteme, welche die Beurtheilung der Schmerzen bedeutend erschwert, ist die, daß im Gehirne (vielleicht auch im Rückenmarke oder in den Nervenknoten) ein Empfindungsnerv einem oder vielen andern, gewöhnlich den benachbarten Empfindungsnerven, seine Reizung mittheilen kann und daß dann alle diese in Mitempfindung versetzten Nerven an ihren Endpunkten gereizt worden zu sein scheinen, dadurch aber Schmerz in den ganz gesunden Theilen des Körpers, zu welchen sich jene mitempfindenden Nerven begeben, gefühlt wird. Am deutlichsten zeigt sich eine solche Mitempfindung in den Zähnen. Trägt nämlich der gereizte Nerv eines einzigen hohlen Zahnes seine Reizung auf die übrigen Nerven der gesunden Zähne über, dann wird in allen, auch den gesündesten Zähnen Schmerz empfunden. Würde dieser eine hohle Zahn, die Quelle des ganzen Schmerzes, ausgezogen, sofort würde auch aller Schmerz (oder das sogen. Zahnreißen) verschwinden. Bei ganz beschränkten aber schmerzhaften Krankheiten breiten sich solche Mitempfindungen bisweilen über große Strecken des Körpers aus und lassen das Uebel weit schrecklicher erscheinen als es wirklich ist. Uebrigens können stark gereizte Empfindungsnerven ihre Reizung auch benachbarten Bewegungsnerven mittheilen und daher kommt es, daß bei heftigen Schmerzen eine Menge unwillkürlicher Bewegungen gemacht werden, ja sogar Krämpfe eintreten können.
Die Ursachen schmerzenerregender Reizungen der Empfindungsnerven sind sehr mannigfaltige und theils äußere (Verwundungen), theils innere. Die letzteren rufen gewöhnlich durch Druck oder Spannung von Empfindungsnerven Schmerz hervor und bestehen meistens entweder in Blutüberfüllung der Haargefäße oder in Ausschwitzung von Blutbestandtheilen aus dem Haargefäßblutstrome. Die einfachsten und besten äußern Hülfsmittel bei Schmerzen sind kalte oder warme Umschläge; erstere sind immer gleich nach der Verwundung und dann anzuwenden, wenn der schmerzende Theil geröthet ist, sonst stets die letzteren. Das hülfreichste, aber nur vom Arzte zu verordnende innere Mittel gegen Schmerzen bleibt stets Opium (Morphium).
Die schwimmende Meeres-Festung von Eisen.
Wenn man ungefähr eine deutsche Meile weit von der London-Brücke östlich die Themse heruntergefahren zwischen Wäldern von Masten hindurch, vor den Docks vorbei, krümmt sich der breite Rücken des Flusses plötzlich zu drei Vierteln eines Cirkels um eine öde, niedrige, morastige Halbinsel, genannt die Insel der Hunde.
Sie ist über eine englische Meile lang und eine halbe breit. Seit Jahrhunderten war sie verrufen als ein Giftpilz des Sumpfes, als unbewohnbar auch schon deshalb, weil die Fluth der Themse, sobald sie ihre gewöhnliche Anschwellung etwas übersteigt, den ganzen Morast mit schmutzigem Wasser bedeckt und mit eintretender [48] Ebbe ihren giftigen Schlamm zurückläßt. Der steigende ungeheure Werth des Bodens in dieser Nähe Londons ließ diese Halbinsel unberührt, bis auch ihre Bestimmung kam und zwar eine der bedeutendsten im modernen Festungsbau für Befreundung und Verbindung der Völker und Erdtheile. Sie ist die Krim des Westens geworden, aus der sich sogar bereits ein Sebastopol erhebt, mächtiger, wenigstens bedeutungsvoller und mehr Leben verheißend, als die östliche Krim-Festung Todte fordert. Die Insel ist die Haupt-Vulkan-Schmiede für eiserne Dampfschiffe geworden, aus deren Wirrwarr sich während dieses Jahres ein fabelhafter Riese immer gewaltiger, unabsehbarer und höher erhob. Diese eiserne Riesenfabel ward mit der Zeit immer wirklicher und massiver, und mitten in der versebastopolten Presse fanden zuweilen Nachrichten und Notizen über deren Fortschritte Platz, die so unglaublich klangen, daß ich neulich beschloß, eine Expedition nach ihrer Geburtstätte selbst vorzunehmen.
Als ich mich auf meinem eisernen Themse-Dampfschiff-Omnibus mit vielleicht Tausend andern Personen dem berühmten Etablissement von Scott Russel & Comp. näherte, schrumpften wir alle in eine Nußschale zusammen. Ein thurmhoher eiserner Riese, zugleich lang und breit, wie eine ganze deutsche Provinzialstadt, hob und streckte sich vor uns und ein Kleingewehrfeuer von Tausenden von Handhammern und der ununterbrochen Feuer speiende, erderschütternde Donner des schweren Geschützes von Dampfmaschinen getriebener Eisenhämmer, dumpf niederkrachend auf ungeheuere, weiche, glühende Eisenmassen, die zahllosen Dampfwolken und leckenden Flammen, die aus dem betäubenden Geknatter der Handhämmer überall hervorschossen, das Krachen, Donnern, Blitzen, Rauchen, Kreischen und Stöhnen aus unzähligen andern Schuppen und Werkstätten und weithin nach allen Seiten im Freien gab das Bild einer furchtbaren hitzigen Feldschlacht. Ich dachte unwillkürlich an die schaudervolle Schlacht bei Sebastopol vom 5. November mit 9000 todten Russen, vielleicht eben so viel todten Engländern, Franzosen und Türken und unzähligen Verwundeten und Verkrüppelten. Aber welch’ ein Contrast! Hier verletzten die Flammen und Schläge und Donner von Tausenden eisenbewaffneter Helden nicht einen kleinen Finger, und nach dem gewaltigen Kampfe des Tages legte sich Jeder auf das Ruhebett des Bewußtseins, so und so viel verdient, genützt, gefördert zu haben in dem gewaltigsten Werke der Kultur, das jemals unternommen ward.
Da haben wir also die eiserne Wasserstadt vor uns, welche die Ost-Dampfschiff-Compagnie bauen läßt, um Australien bis auf ein Drittel der bisherigen Entfernung zurückzuführen, das die größte aller schwimmenden Kriegsfestungen – den Wellington – dreifach an Größe übertreffende, doppeleiserne Doppeldampfschiff. Fünf doppeleiserne Wände, jede 675 Fuß lang und über 60 hoch, heben und strecken sich vor uns, je 60 Fuß von einander, durchschnitten von mehreren andern Eisenwänden von derselben Höhe, so daß eine Menge innere Abtheilungen entstehen, jede groß genug, wie es scheint, ein ganzes Seeschiff in sich aufzunehmen. Aber nur das Alles zusammen soll zu einem einzigen, friedlichen Kaufmannsschiffe zusammengeschmiedet werden. Das geht nicht nur über unsere, sondern auch der üblichen Sachverständigen Fassungskraft, wie denn auch das ganze Unternehmen die kühnste, großartigste Ausführung eines neuen mathematischen und nautischen Problems genannt werden muß. Der Plan ward anfangs lange auch von Sachverständigen lächerlich gemacht, wie ja auch das sachverständige Publikum vor einem halben Jahrhundert das erste, fertige Dampfschiff wirklich niederspottete, bis ein Amerikaner herüber kam und von dem schon faulenden Modelle das Maß zu seinem ersten Dampfschiffe nahm. (Bei dieser Gelegenheit bemerke ich beiläufig, daß sich durch den Engländer Wrightson, der in Marburg studirte, ein Deutscher, Papin, Erfinder der papinianischen Töpfe, als wirklicher erster Erfinder und Erbauer des ersten Dampfschiffes herausgestellt hat, der wegen derselben von sachverständigen Schiffern ermordet ward. Wrightson wird die betreffenden aufgefundenen Documente nächstens veröffentlichen.)
Der große Russel (wie wir ihn zum Unterschiede von dem kleinen Staats-Russel nennen) ließ sich dadurch nicht irre machen, da er sein Unternehmen auf die sicherste aller Wissenschaften, Mathematik und nautische Gesetze, gründete und mit dem Ingenieur der Ost-Compagnie, Mr. Brunel, seiner Sache gewiß war, ehe zu deren Ausführung geschritten ward.
Zunächst mußte ein Baugrund geschaffen werden. Zu diesem Zweck wurde ein Raum von 1000 Fuß Länge und 500 Fuß Breite am Ufer abgegrenzt und je 5 Fuß von einander mit ungeheuern Pfählen, die 50 Fuß tief eingerammt wurden, befestigt. Auf diesem Boden wurden zwei Schiffsladungen (24,000 Centner) Erde und Kies festgedroschen und so der Baugrund gewonnen. Auf diesem ward zunächst der Kiel in einer Länge von etwa 700 Fuß gelegt, ein ungeheuerer, solider Eisenbalken. Die Wände des Schiffes erheben sich in doppelten, 36 Zoll von einander entfernten Eisenwänden, deren Platten, obwohl aus vielen Tausenden bestehend, doch alle erst einzeln in hölzernen Modellen ausgeführt und danach in mathematisch genau berechneten Biegungen und Formen gegossen wurden, so daß jede mit einer Nummer versehen einen ganz genau bestimmten Platz bekam. Sie sind etwa einen Zoll dick und 10 Fuß lang. Jede wiegt etwa 20 Centner. Sie werden drei- und vierfach in einander befestigt, geschmiedet, geschroben und gekittet und in den beiden Wänden durch rechte Winkel von einander gehalten. Die rechten Winkel haben sich als die Form der größten Festigkeit des Eisens ergeben. Alle Außen- und Zwischenwände und Decks bestehen aus solchen dicken, doppelten Eisengefügen, welche zugleich 10 vollkommen wasserdichte innere Räume bilden. Die zwei großen Längenwände, welche durch den ganzen innern Körper hindurchgehen (gekreuzt durch Querwände) bilden um die Maschinenräume herum vollkommen isolirende Räume für die Kohlen. Der Boden des Schiffes außen ist 15 Fuß weit, von beiden Seiten des Kiels ganz eben und läuft nach dem Schnabel zu in concaver Zuspitzung, worin, neben der ungeheuren Länge, das Geheimniß seiner berechneten, fabelhaften Geschwindigkeit liegt. Die unterste Etage ist für Maschine, Dampfkessel, Oefen, Kohlen und Güter bestimmt. Darüber dehnen sich drei Etagen zwischen doppelten eisernen Decks durch die ganze Länge und Breite des Schiffes hindurch, welche so Raum zu ungeheuern Gesellschaftssälen und Privatwohnungen für 1000 Passagiere erster Klasse, bequeme Schlafstellen für 600 zweiter Klasse und unzählige dritter Klasse gewähren. Die drei großen Säle in den drei Etagen sind jeder 60 Fuß lang und 20 breit.
Das Schiff wird von 3000 Pferdekraft durch Räder und eine Schraube zugleich getrieben werden. In einem besondern Schuppen wurden die Bestandtheile der Räder gegossen und geschmiedet. Jeder der vier Cylinder, worin die Pistons arbeiten sollen, besteht aus 700 Centner Eisen. Ich bin mit dem Hute auf dem Kopfe durch einen dieser Cylinder hindurchgegangen, ohne mich bücken zu müssen und mit dem Hute anzustoßen. Kurz vorher hatten 18 Personen darin ein feierliches Festessen abgehalten. Die Maschinen sind 50 Fuß hoch. Die Maschinerie für die Schraube, den Propeller, und dieser selbst wurde in einer andern Anstalt (Watts) gegossen und geschmiedet. Um beide in Bewegung zu setzen, müssen 20 hausgroße Ofen und eben so viel Dampfkessel (deren jeder von 16 Pferden kaum fortzubringen war) und fünf kolossale Schlotte in vereinigter Riesenkraft arbeiten. Sie werden dann sich selbst – 60,000 Centner – den Schiffskörper, 200,000 Centner, 1000 Paasagiere erster, 600 zweiter und (angenommen) 500 dritter Klasse und über 200 Schiffsbeamte – zusammen mindestens 6000 Centner mit Passagiergütern, – 500,000 Centner Ladung und 40,000 Centner Kohlen – also Summa Summarum etwa 1 Million Centner in der noch nie erreichten, durchgängigen Geschwindigkeit von 5 deutschen Meilen in der Stunde, in 30 Tagen nach Australien bringen, ohne jemals anzuhalten, und in 30 Tagen wieder zurück, ohne dort oder unterwegs jemals Kohlen einzunehmen. In letzterem Umstande liegt die Lösung der bisher für unüberwindlich gehaltenen Schwierigkeit des Dampfschiffverkehrs auf den großen Oceanen, da die Meeres-Dampfer in entfernten Häfen oft kaum für den zehnfachen Preis Kohlen bekommen konnten, während der neue Koloß auf einmal alle Kohlen für die Hin- und Herreise (zu 10 Schillinge die Tonne) einnehmen kann. Die auf diese Weise erzielte Ersparniß beträgt – außer 60 Tagen von 90 – mindestens 10,000 Thaler für jede Fahrt. Und die von 2000 Menschen jedesmal ersparten 60 Tage (da die Dauer der Reise bisher durchschnittlich 90 Tage beträgt) ist ziemlich 3 Millionen ersparten Stunden gleich. Davon nur die Hälfte angenommen und den Productionswerth jeder nur auf 5 Sgr. abgeschätzt, geben für jede Reise eine anderweitige Ersparniß von 250,000 Thalern. Da Zeit im vollsten Sinne Geld ist, [49] dürfen wir in deutscher Gemüthlichkeit diesen Adam Riese nicht über die Achsel ansehen.
Die bisher noch nie erreichte Geschwindigkeit, welche man diesem eisernen Kolosse zugerechnet hat – und sie ist keine Rechnung ohne den Wirth – gründet sich auf die erprobte nautische Erfahrung und von Brunnel und Russel in ganz bestimmte mathematische Wissenschaftsform gebrachte Regel, daß der Widerstand des Wassers bei spitzer und concav nach dem Körper hin sich ausbreitender Form des Schiffsschnabels (mathematisch genau zu bestimmen nach der Länge der Einschnittslinien und ihres Winkels) in bestimmten Verhältnissen zur Länge des Schiffes abnimmt. Ich weiß nicht, ob dies richtig ausgedrückt ist, da man die Sache nur durch mathematische Formeln deutlich machen kann; aber für die allgemeine Vorstellung reicht es wohl hin.
Neben der Geschwindigkeit spielt die Sicherheit eine Rolle. Mit seinen doppelten Eisenwänden gilt das Schiff als unverwundbar durch die üblichen Mittel, die auf offener See vorkommen, und als noch unvollkommen sicher, wenn blos eine Haut durchstoßen sein sollte. Selbst nach Zertrümmerung des halben Schiffes würden noch 5 von den 10 wasserdichten Räumen Zuflucht gewähren und es über Wasser erhalten.
Neben dem merkwürdigen Anblicke, den der Napier’s Wellington-Schiff dreimal an Länge übertreffende Koloß mit seinen fünf Dampf- und Rauchschlangen auf offenem Meere gewähren wird, ist der Umstand ganz neu, daß man auf ihm und mit ihm dem Winde fast immer entgegen fahren und so niemals Segel brauchen können wird. Wenigstens müßten die Orkane, die mit ihm nur immer gleichen Schritt halten wollten, sehr gute Läufer sein. Um Wind und Wogen wird sich also die Wasserfestung nicht sehr bekümmern. Was letztere betrifft, können sie ihren gradlinigen ebenen Schnitt durch die Weltmeere wohl selten krümmen und biegen, da der Schiffskörper in der Regel immer die nächste höchste (immer die neunte) Woge erreicht haben wird, ehe er die beiden andern höchsten verlassen.
Endlich wird die 20 englische Meilen in der Stunde dahinzischende scharfgeschnäbelte Eisenmasse von 1 Million Centner ohne eine einzige Kanone gegen ganze Flotten sich nöthigenfalls zerstörender erweisen, als Napier mit seiner ganzen Armada. Das Schiff wird denn auch keine Waffen bei sich führen, als sich selbst, und einen etwaigen Feind, und sei es der Wellington selbst oder die ganze russische Flotte, in zwei Stücke zerstoßen und ruhig seinen Weg fortsetzen.
Im Jahre 1855, welches die Vollendung des kolossalsten Wunders aller maritimen Architectur erleben wird, hören wir mehr davon.
Jetzt nur noch ein Wort über die doppelte Dampfkraft, mit der es getrieben werden soll. Die Dampfkraft von 1300 Pferden für die Räder und 1700 für die Schraube werden ganz unabhängig von einander wirken, so daß, wenn eine Maschinerie invalid werden sollte, immer noch die andre bleiben würde. Außerdem ist selbst für den Fall, daß beide unterwegs unbrauchbar würden, für Masten und Segel gesorgt.
Da sich mancher von der jetzigen Dampf-Schraube keine richtige Vorstellung bilden mag, fügen wir eine Abbildung derselben bei, wie sie das neue Seeungeheuer mit ihren Windmühlenflügeln durch die Oceane jagen wird. Die ehemalige Schraube ist durch Wissenschaft und Erfahrung wirklich bis zu blos zwei Windmühlenflügeln zurückgeführt worden. Wie der Wind diese Flügel dreht und deren Bewegungen im dahin eilenden Winde bezeichnet Schraubengänge bilden würden, so bilden auch die Bewegungen des Propellers Schraubengänge im Wasser, oder um einen imaginären Cylinder gewundene schiefe Ebenen, in deren Gängen das Schiff gleichsam durch’s Wasser vorwärts geschoben wird, da man sich den Wasser-Cylinder, um welchen sie laufen, im Verhältniß zu der Geschwindigkeit der Bewegungen als festen Körper denken muß.
Obgleich jeder der Flügel etwa 28 Fuß lang ist, erscheinen sie doch zu den gewaltigen Verhältnissen des Schiffskörpers ungemein klein. Dies ist auch blos Folge der Wissenschaft und Erfahrung, daß sich große Flügel über eine gewisse Länge hinaus als die Triebkraft schwächend erweisen. Nur ein zufälliges Unglück brachte den ersten Erfinder dieser Art von Dampfschrauben, Mr. Petitt Smith, diesem Geheimnisse auf die Spur. Als er sein erstes so construirtes Schiff (mit bloßen Flügeln hinten unterm Schiffe, unmittelbar vor dem Ruder), den nachmals berühmt gewordenen „Archimedes“ zur ersten Probefahrt aussandte, brach gleich im Anfange etwas von dem Ende des einen Flügels ab. Die von ihm vorausgesagte Geschwindigkeit wurde nun nicht etwa [50] nicht blos erreicht, sondern bei Weitem übertroffen. Das hydrodynamische Gesetz, nach welchem sich kurze Schraubenflügel mächtiger erweisen, als längere über gewisse Verhältnisse hinaus, ist ohne genaue mathematische Proceduren nicht deutlich zu machen. Eben so kann ich keine Rechenschaft geben über den eigentlichen Sinn des Processes, der mit der Schraube vorgenommen ward, als der Zeichner diese Skizze aufnahm. Der ganze Apparat stand noch in einem großen Schuppen und wird erst später an den eigentlichen Ort seiner Bestimmung gebracht werden. Wir bemerken nur noch, daß die Flügel von Kanonen-Metall gegossen wurden (da eiserne in Folge galvanischer Wirkungen immer bald rosten) und in jedem für mehr als 10,000 Thaler Metall verlangt ward. Die Kosten des ganzen Riesenwerks sind auf 400,000 Pfund Sterling oder 2,750,000 Thaler veranschlagt worden, doch weiß man jetzt schon, daß 3 Millionen Thaler kaum ausreichen werden. Das ist wenig, wenn man bedenkt, daß das Schiff eine Brücke zwischen zwei Welttheilen über die beiden großen Oceane hinweg bilden wird und eine einzige Brücke über die Themse beinahe doppelt so viel Kapital in Anspruch nahm.
Heute will ich Ihnen einen Mann vorführen, den alten Lecoq, der sich nicht scheut, der Natur den Handschuh vorzuwerfen. Und das geschieht noch dazu aus Bescheidenheit, daß er sich einen Nebenbuhler der Natur nennt; er will diese gute alte Mutter Natur nicht beschämen, im Grunde genommen aber arbeitet sie lange nicht so proper, so nett und appetitlich als er. Ihre Werke sind voll Unvollkommenheiten, während die seinigen – „ich bin ein Künstler!“ ruft der alte Lecoq aus, „und die Kunst ist die Natur, aber wie sie vom menschlichen Genie vervollkommt wird. Die Natur schafft den Marmor, der Mensch die Statue; die Natur bringt das Weib zu Stande, der Mensch aber eine Venus von Milo, ein Ideal, das gar nicht existirt. Gehen Sie in alle Meierhöfe des Anjou und der Marne; schauen Sie sich alle Hähne an, prüfen Sie alle Kämme derselben; keiner sieht dem andern gleich; alle sind sie mehr oder weniger von einer Menge Mängel behaftet und einen Künstler, der solche gemacht hätte, würde man ganz gewiß auslachen. Da sehen Sie einmal die meinigen an; wenn ein Hahn dazu käme, sie zu bewundern, ich glaube, der Kerl stürbe vor Aerger, keinen so schönen zu tragen. Sehen Sie einmal, wie das ausgezackt, zugeschnitten, hergerichtet und ausgerechnet ist! Ist das eine Pracht!" Der alte Lecoq fabricirt nämlich Hahnenkämme.
Der alte Lecoq (diesen Spitznamen hat er selber angenommen) bewohnt ein Haus, das ganz für seine Profession geschaffen zu sein scheint. Wer da hineinschaut, weiß nicht, wer von beiden ein größeres Original ist, der alte Lecoq oder sein Nest. Es ist eigentlich eine kleine Stadt, wie man ihrer in den industriellen Stadttheilen antrifft, und die man einen Hof heißt. In der Vorstadt du Temple existiren deren noch einige fünfzehn. So ein Hof schließt eine ganze Bevölkerung in sich, man könnte sagen, einen vollständigen Bienenstock menschlicher Wesen. Der Hof, den sich Lecoq ausgesucht hat, ist einer der kuriosesten. Der Hausherr, welcher ein großer Fabrikant ist, hat daselbst eine Dampfmaschine für seine Fabrik angelegt; weil er aber kleine Fabrikanten hinziehen wollte, so hat er das ganze Erdgeschoß von 350 Fuß Länge von der Hauptwalze seiner Maschine durchziehen lassen, so daß er jedem seiner Miethsparteien nebst der Wohnung einen Radriemen vermiethet, an dem sie dann ihre kleinen Maschinen anbringen können. Lecoq besitzt nun auch einen solchen Riemen als Miether; den Mechanismus hat er uns so explizirt:
„Ich war dreißig Jahre alt und kam von meinen Reisen in den Cordilleren zurück, ich war in China und in Japan gewesen und hatte so ziemlich von Allem gegessen. was ein Mensch essen kann. Als ich nach Frankreich zurückkam, fühlte ich eine Art Scham beim Anblicke der Armuth unserer Küche im Vergleich mit der jener Länder, die wir stolzermaßen barbarisch nennen. Wirklich, wenn Sie unser ohnehin sehr seltenes Wildpret, unsere geschmacklosen Flussfische abrechnen, so bleibt Ihnen das Wunder unserer Gemüse und Eier, eine wahre Nonnenkost.
„Was sind unsere verschwenderischsten Tafeln neben einem chinesischen, japanischen oder indischen Gastmahle, wo man die ganze zoologische Leiter des Herrn Blumenbach’s neben einander figuriren sieht; von den Elephantenhufen bis zu den Eiern der Fliegenvögel, von …? Können wir unsere Kochkunst auch nur mit der der alten Römer vergleichen, wo man 10,000 Hähnchen nahm, um einen anständigen vol-au-vent für 50 Patrizier zu bereiten? Dazu nahm man nur die Kämme, mit dem Reste fütterte man die Sklaven feist und fett, bis man diese in die Fischweiher warf, um die Karpfen zu mästen. Apicius, Lucullus! Ah, das waren Männer, die wenigstens zu essen verstanden! Ah, wenn ich daran denke! Ein Ragout von Pfauenhirn! …
„Ich nahm mir also vor, meinen Landsleuten alle dieses Sachen aufzutragen, deren Beschreibung uns heut zu Tage fabelhaft erscheint. Ich dachte also nach. Eine halbe Stunde darauf konnte ich ausrufen wie Archimedes: Eureka! Ich hab’s!
„Ich ließ mir eine Maschine bauen, ich selber zeichnete meine Grabstichel und zwei Tage darauf war ich etablirt, wie Sie mich hier sehen. Seitedem sind dreißig Jahre vergangen, mein Glück ist gemacht und ich brauche mir nichts mehr zu wünschen; jetzt könnte ich wie Andere dick thun! Ich könnte mir jetzt Diners machen lassen, wie ich welche Andern servirt habe. Aber nein, ich habe meine Existenz dem Wohle meiner Mitbürger gewidmet und ich will mein Ziel bis zum Ende verfolgen.“
So sprach Lecoq. Nun aber hören Sie, wie er das Glück seiner Mitbürger versteht. Er rechnete nach und fand, daß jeden Morgen in Paris nicht mehr als 25-30,000 Hähnchen eingeführt werden. Etwa 10,000 dieser armen Opfer kommen auf bürgerliche Tafeln, die andern 15,000 gerathen in die Hände der Restauranten etc. Von diesen werden etwa 12,000 Hahnenkämme auf Ragouts verwendet. Einem Hähnchen, das man auf Familienschmäußen aufsetzt, lässt man diese natürliche Zierde – aber verlangen Sie einmal einen vol-au-vent, oder ein Gericht Hahnenkämme, wo Sie nur immer wollen, und Sie werden bedient sein! Wie ist das möglich!? Und wenn Sie auch annehmen würden, daß man gleich beim Eintritte in Paris diesen Thieren den Hahnenkamm abschnitte, so würde das Alles nicht hinreichen, um die Verzehrung dieses Artikels in Paris zu erklären. –
Nun sehen Sie, das ist das Geheimniß von Lecoq, da fängt seine Rolle als Wohlthäter des menschlichen Geschlechtes an.
Er hat den Hahnenkamm und den haricot de coq erfunden – den künstlichen nämlich.
Er nimmt einen Ochsengaumen, einen Schöpsen- oder einen Kalbsgaumen, lieber aber einen Ochsengaumen, bleicht ihn in siedendem Wasser, zerkocht ihn dann während achtundvierzig Stunden, dann nimmt er die Haut vom Gaumen, so daß er ihn hübsch ganz erhält. Auf einem Ambos schlägt er dann mittelst eines Hohlstichels die Stücke aus, und das sind dann Hahnenkämme, vollkommener als die natürlichen. Die Kenner selbst täuschen sich über die Meisterwerke Lecoq’s und gleichwohl giebt es ein Mittel, sie zu erkennen. Der wirkliche Hahnenkamm, der schlechte, trägt auf beiden Seiten Wärzchen, während die schönen, künstlichen, kurz die von Lecoq nur auf der einen Seite welche zeigen.
Die Patissiers, die Restauranten, Unterhändler kaufen sie um drei Sous das Dutzend und verkaufen sie um fünf Sous an bürgerliche Häuser.
Was man den haricot de coq nennt, das macht er ebenfalls mit dem Hohlstichel. Kalbs- und Schöpsenhirn dienen ihm dabei als Rohstoffe.
Herr Lecoq wunderte sich, daß man ihm noch keine Statue errichtet hat und nur meine Bemerkung schien ihm einigen Trost zu
[51] leihen, daß die wirklichen[WS 1] genialen Erfinder erst nach dem Tode anerkannt werden. –
Einen andern kuriosen Kauz, dessen Fach Sie gewiß nicht in Paris vertreten wähnen, muß ich Ihnen in der Gestalt eines Herrn Deshaies vorstellen. Er ist ein sterbliches pariser Kind und kam wie Kant nie aus der Stadt hinaus, die er sich zur Residenz gewählt hatte; aber er kann, was man so nennt, Schlangen bezaubern, ganz so wie ein Birmane, ein Malaye oder ein schwarzer Kerl von der Küste von Mozambique. Wenn man ihn fragt, wie er zu diesem Talente gekommen ist, so versetzt er bescheiden: „durch die Bücher.“
Der alte Deshaies hat eine vollständige Sammlung aller kriechenden Thiere der Wälder Frankreichs; er schließt Freundschaften mit ihnen, nährt sie, pflegt sie, liebkoset und hätschelt sie; er hat ihnen kleine, hübsch warme Nester gemacht, worin sie es ganz bequem und behaglich haben. Darin besteht nun seine Industrie. Er verkauft den Garköchen Buschaale, wie die Leute sagen, und diese machen daraus prächtigen Backfisch.
„Wenn man ihm einmal die Haut heruntergezogen hat, so kommt meinem Buschaale kein Flußfisch gleich.“
Der alte Deshaies läuft daher die ganze schöne Jahreszeit in den Wäldern herum, wie ein Waldheger. Ueberhaupt sieht er aus wie eine Figur aus Cooper’s Romanen und benimmt sich auch so. Wenn er lacht, so geschieht das ganz leise; er spricht leise und tritt leise auf, als wenn er Furcht hätte, seine Beute zu verscheuchen. Sein Gang ist leicht wie der einer Gazelle, seine Arme breitet er immer aus, als suche er beständig die Baumäste auseinander zu thun; er hat ein feines, leuchtendes und durchdringendes Auge. Alle seine Sinne sind außerordentlich ausgebildet; sein Geruch und sein Gehör sind wunderbar; er erräth instinktmäßig die Nähe einer Blindschleiche; selbst seinen Anzug hat er nach dem amerikanischen Romandichter copirt.. Er trägt hohe Kamaschen von Leder, eine kurze flaschengrüne sammetne Hose, eine Art Latz von Rehleder, und auf seinem kleinen Fuchsschädel sitzt ein breitkrämpiger Hut, am Gürtel hängt seine einzige Waffe, ein kleines sichelartiges Messer.
„Ihr Handwerk muß Sie sehr anstrengen,“ bemerkte ich einmal.
„Ah, nicht mehr als die Jagd, und diese amüsirt manche Leute,“ versetzte er. Was mich betrifft, so freut mich der Betrieb meiner Profession. Ich war dazu geboren; in meinem Körper hat sich eigentlich eine Ogibewas-Seele verirrt; ich weiß selbst nicht, wie sie nach Paris gekommen ist. Ich habe die Gehölze, die Einsamkeit sehr gern, meine Nächte bringe ich eben so bequem am Fuße einer Eiche zu, als im besten Bette von der Welt.“
„Und damit verdienen Sie viel?“
„In Paris giebt es 500 Händler mit Flußaalen, die alle ziemlich gut fortkommen, mit meinen Waldfischen mache ich ihnen Concurrenz; ich bin mit der Vorsehung zufrieden, Schlangen hat es immer genug gegeben, und wird ihrer auch immer genug geben.“
„Das ist gerade nicht sehr tröstlich für Feinschmecker.“
„Mein Gott! wenn sie nicht betrogen werden wollen, müssen Sie sich mit Ergebenheit entschließen, von Schöpsenschlegeln zu leben. Zwei Ihrer großen Gelehrten, die Herren Payen und Chevalier haben dicke Bücher über die Fälschung der Nahrungsmittel veröffentlicht, und doch haben sie nur die Hälfte der Wahrheit gesagt.“ – –
Früher habe ich Ihnen einmal von dem Fabrikanten von Lebkuchen erzählt, der vor allen Gelehrten einen Zucker erfunden hat, mit dem er seine Pfefferkuchen versüßt, ohne daß die Runkelrübe oder das Zuckerrohr nur im Geringsten deswegen belästigt werden. Heute bin ich bei Madame Badeuil gewesen, die ebenfalls um zwanzig Jahre der Wissenschaft vorausgeeilt ist. Während die Verwaltung der öffentlichen Wohlthätigkeitsanstalten Wasserbecken baut, worin die Blutegel ihr Blut wieder hergeben können; während man von allen Seiten mehr oder weniger lesbare Memoiren darüber druckt, hat diese Frau Badeuil, eine ganz simple Krankenwärterin, eine wirklich sehr einträgliche Industrie daraus gemacht.
Sie leiht Blutegel aus.
Madame Badeuil hat ein empfindsames Herz, sie hat die kleinen Viecher und die Leute gern; sie ist die wahre Vorsehung verlaufener Hunde und kranker Leute. Sie kann kein lebendiges Wesen leiden sehen. Daher hat sie etwas für die Blutegel gethan, diese armen kleinen Dinger, die so viel Gutes leisten und die der Mensch so schlecht belohnt!
„Herr,“ sagte sie, „wenn die Blutegel den reichen Leuten Gutes thun, so können sie den Armen nicht schaden; ich setze nämlich den Fall, daß die Reichen sich nicht etwa aus Luxus und zur puren Unterhaltung Blutegel ansetzen. Ich habe mir also oft gedacht, daß eigentlich jeder Mensch Blutegel haben sollte. Anstatt daher diejenigen Blutegel in den Abzug zu werfen, die ich meinen Kranken gesetzt hatte, habe ich sie heimlich aufbewahrt, sie gepflegt und sie das Blut wieder hergeben lassen. Jetzt habe ich ihrer sehr viele und leihe sie aus; Niemandem thun sie also weh, wie Sie sehen.“
„Freilich. Aber wie machen Sie es, daß sie sich wieder entleeren, damit sie nicht ungesund werden?“
„Das ist mein Geheimniß. Aber ich will es Ihnen schon sagen. Ich nehme eine gute Hand voll Küchensalz und werfe es ihnen auf den Rücken; dann lasse ich sie darin Etwas ausputzen, sie entleeren sich; dann gebe ich sie in eine Schüssel, die am Grunde ein kleines Loch hat, und über die ich ein Sieb lege. Das stelle ich nun unter einen Wasserbehälter und lasse aus dem Hahne desselben eine Stunde lang Wasser laufen, bis sie kein Wasser mehr hergeben. Aber jetzt kommt der eigentliche Moment: ich nehme lauwarme Holzasche, wickle sie zwischen doppelter Leinewand darin einige Male herum, bis sie keinen Flecken mehr machen und fange das Bad mit fließendem Wasser wieder an. Und das ist Alles! Ich bin fest überzeugt, daß sie wieder nüchtern sind, wenn ich sie eine Stunde später wieder in’s Glas thue.“
„Und Sie gebrauchen sie gleich den andern Tag?“
„O, nein! Sie müssen erst noch gehörig behandelt werden. Drei Tage darauf nehme ich ein Stück Thonerde, knete es gut durch, mache eine hohle Kugel daraus und sperre die Thierchen hinein. Zur Vorsicht mache ich einige kleine Löcher darein und umwickle das Ganze mit einer feuchten Leinewand, damit die Erde nicht hart werde. Meine Blutegel sehen Licht hereinbrechen, sie kriechen darauf los, sie strengem sich an, strecken sich aus, um durch die engen Oeffnungen zu gelangen und entleeren sich somit gänzlich. Wenn sie dann wieder auf meiner Leinewand liegen, so sind sie gesund und frisch als ob sie eben erst auf die Welt kamen. So kann man sie bei jedem Menschen ohne die geringste Gefahr anwenden. Ich aber will sie nicht ermüden. Daher gebe ich sie immer in verschiedene Gläser, klebe einen Zettel darauf und schreibe den Tag gehörig daran, so daß sie der Reihe nach an die Arbeit kommen; bei mir giebt’s keinen Vorrang. Sehen Sie, ich habe ihrer mehr als zweitausend; einige sind länger als zehn Jahre in meinen Diensten und doch so gut als am Anfang. Diese gebrauchten Blutegel sind eben so gut als ganz neue.“
„Wie viel zahlt man Ihnen für’s Ausleihen?“
„Fast Nichts; ich verlange nur 30 Sous für funfzehn Blutegel und für’s Ansetzen. Sie begreifen, daß ich sie Niemandem anvertraue. Diese armen kleinen Thiere gehen nie ohne ihre Herrin aus dem Hause.“
Es scheint also, daß die Erfahrung den Gelehrten Recht giebt, die behaupten, daß man die Blutegel entleeren könne. Die Verwaltung der Spitäler hat die prächtigen Maulbeerbäume des Gartens der Miramionnes umhauen lassen, um daselbst Wasserbehälter anzulegen. Wir haben fünf bis sechs Berichte über diesen Gegenstand gelesen, wir wissen aber nicht, welches System man daselbst angewendet hat. Jedenfalls empfehlen wir das der Madame Badeuil, das uns gut vorkommt und einige Aufmerksamkeit verdient, wenn nämlich eine 29jährige Erfahrung in den Augen von Gelehrten einen Werth haben kann. – –
Schließlich muß ich Sie mit einigen Worten vor der letzten Menschwerdung des Frackes, der Seidenweste und des Glanzschuhes aufhalten. Im Quartier du Temple gelangen diese Kleidungsstoffe allmälig in’s „finstere Land des Unbekannten,“ wohin endlich Alles geräth.
Wenn ein Kleid über alle Stufen der Toilette heruntergekommen ist, vom Schneider zum Kunden, dann zu dessen Bedienten oder Hausmeister, dann zum Alt-Kleiderhändler, zum Trödler, dann zu irgend einem Barriere-Stutzer, so kommt es endlich in den Temple, in diese Metropole, in diese Todtenstadt der Kleidungsstücke. Hier nun wird es gewendet, geflickt, wieder hergestellt; nur eine Phase, eine Periode muß es noch durchmachen, bevor es zum Wollenfabrikanten kommt, eigentlich zum Fabrikanten, der die Wolle damit [52] sättigt. Diese Periode muß ein Kleidungsstück bei der Familie Verdurst durchmachen. Der Name Verdurst ist nicht etwa von einem Pariser erfunden worden, der begreiflicherweise Meurt-de-Soif spricht – sondern diese Familie und ihr Name existirt wirklich; sie wohnt im sechsten Arrondissement; sie beschäftigt sich ausschließlich mit dem Aufkaufe alter Kleider nach ganzen Hunderten, nach Centnern; flickt sie aus und verkauft sie wieder an den Barrieren.
Du lieber Himmel, was wissen Sie von wohlfeilen Sachen! Die Gebrüder Verdurst verkaufen ihre Kleider Abends beim Fackelschein, licitando an den ersten besten Meistbietenden … „mit Verlust,“ wie sie sagen. Da können Sie einen vollständigen Anzug aus Human’s, Blanc’s oder Morbach’s Werkstatt um 3 Francs bekommen und haben überdies noch Gelegenheit, einige Proben von Geist, Witz und Gelehrsamkeit der Gebrüder Verdurst in den Kauf zu nehmen. Es giebt nichts Komischeres als ihre Anpreisungen; ich kann Ihnen ein Muster davon geben:
„Sehen Sie, meine Herrn! Dieser Frack gehörte einem russischen Fürsten, der darin die Eroberung einer Tänzerin der Grande-Chaumière gemacht hat. Später war er der Gegenstand der Bewunderung aller Stammgäste der Closerie-des-lilas auf dem Rücken eines sehr berühmten Hühneraugen-Doctors. Mit demselben Fracke hat später der Kammerdiener eines Mylord eine Statistin der Delassements entführt, weil sie ihn darin für seinen Herrn hielt. Der Frack kam in unsere Hände, weil der Kammerdiener sich zu Grunde richtete dadurch, daß er seiner Geliebten zu oft eingemachte Pflaumen kaufte. Nun sehen Sie! Trotz aller dieser glorreichen Andenken, trotz aller der darin gemachten Eroberungen, gebe ich Ihnen diesen meisterhaften Frack für 3 Francs. Die Herren, welche ihr gutes Glück gern versuchen, mögen es sich gesagt sein lassen.“
Der Frack wird mit 3 Francs ausgerufen; nach und nach fällt er auf 30 Sous herunter. Die Hose wird zu einem Frank losgeschlagen und die Weste für 10 Sous. Uebrigens sind die Gebrüder Verdurst eben so oft die Käufer als Verkäufer eines Kleidungsstückes. Wenn man sich diese Fetzen ankauft, so geschieht es nur auf wenige Tage. Am Montage verkauft man oft wieder, was man am Samstage gekauft hat. So kommt ein Kleid wohl 20 Mal zu den Verdurst’s zurück, die sich immer wieder ein kleines Geschäftchen und einen Profit daraus machen.
Von meiner pariser Kunsthandlung aufgefordert, hatte ich mich mit nach der Krim eingeschifft, wo endlich Aussicht war die Mappe zu füllen, nachdem man so lange in Varna brach gelegen hatte. Wenn es drüben nichts als faule Zeit gegeben hatte, so hatte der Stift dafür hier desto größere Auswahl, Bilder im Großen und im Kleinen. Ich greife auf Geradewohl in meine Mappe, um Ihnen Etwas zugehen zu lassen.
Mein erstes Bild zeigt den Marschall St. Arnaud bei seinem letzten Ritte. Die Krankheit St. Arnaud’s hatte schon bedeutende Fortschritte gemacht, als er in der Krim anlangte. Trotz heftigem Fieber stieg der Marschall am Tage der Schlacht an der Alma zu Pferde, hielt sich dreizehn Stunden auf demselben und verheimlichte seinen schmerzensreichen Kampf mit der Krankheit, die ihn aufrieb, mit einer an’s Unglaubliche grenzenden Willenskraft. Erst als die Kräfte seines Körpers mehr und mehr schwanden, ließ er sich durch zwei Reiter auf dem Pferde halten. Er wollte, wie es scheint, den Tod auf dem Schlachtfelde um jeden Preis suchen und er soll sogar mehrmals ausgerufen haben: „Giebt es denn keine Kugel heute für mich?“ Bekanntlich erbarmte sich seiner keine russische Kugel; er erlag der Krankheit, mit der er gerungen. Ich sah ihn eines Tages, wie er matt und kraftlos, von zwei Reitern gehalten seiner Wohnung zuritt, wo er todtkrank vom Pferde gehoben und auf sein Feldbett getragen werden mußte. Er war kein großer Feldherr, aber ein tüchtiger Soldat.
In dem Drastischen eines großen Kampfes finden sich immer auch komische Parthien, und ein Maler möchte sich wirklich hundert
[53]
Augen und ebenso viel Arme wünschen, nur um skizziren zu können. Mein zweites Bild läßt den Oberfeldprediger der Franzosen auf einer Kanone sehen. Wie kam der würdige Mann da hinauf? Im Anfange der Schlacht bei der Alma befand sich der Oberfeldprediger in der Nähe des Generals Canrobert, aber sehr bald wurde ihm das Pferd unter dem Leibe erschossen. „Das ist ein schlimmer Unfall,“ sagte der General, „ich kann Ihnen leider kein andres Pferd geben lassen. Also auf Wiedersehen!“
[54] Der tapfere Geistliche, Parabère mit Namen, blieb indeß nicht zurück, denn er hielt es für seine Pflicht, mitten in der Schlacht, in der Nähe der Verwundeten und Sterbenden zu sein, um ihnen sogleich Trost bringen zu können. Wie sollte er indeß zu Fuß die steile Anhöhe hinaufkommen? Während er noch nachdachte, wie er das wohl anfange, wurde eine Kanone rasch vorüber gefahren. Ohne sich lange zu besinnen, setzte er sich auf das Geschütz und forderte die Artilleristen auf, ihren Weg fortzusetzen, ohne sich um ihn zu bekümmern. Auf dieser Kanone gelangte er auf die Höhe hinauf und in den Kugelregen auf die bluthgetränkte Fläche, wo er nur zu viel Gelegenheit fand, sein Amt zu üben: Verwundeten Trost zuzusprechen und Sterbenden die letzte Segnung der Religion zu ertheilen.
Der dritte Griff in meine Mappe entführt uns der Krim und versetzt uns nach Pera, den verwundeten General Thomas zeigend.
General Thomas, der in der Schlacht an der Alma verwundet worden war, wurde mit anderen Verwundeten zur Pflege nach Constantinopel gebracht. Durch die lange Straße von Pera wurde er auf einer Bahre von Matrosen getragen. Alle, die in der Straße sich befanden, blieben stehen, entblößten ihr Haupt oder verbeugten sich, um dem verwundeten Tapfern ihre achtungsvolle Theilnahme zu bezeugen, wie an jedem Posten die Wache heraus trat und präsentirte. Thomas erhob sich dann ein wenig auf seiner Bahre und nickte mit dem Kopfe den Dank, den er durch Worte und Handbewegungen nicht auszudrücken vermochte.
Auf der Heimkehr aus Belgien und Frankreich führte uns der Weg durch die alte Bergstadt Saalfeld, dicht am Fuß des thüringer Waldes gelegen, dessen Berge kaum eine halbe Stunde von der Stadt entfernt, ihre grünen Häupter erheben. Es war am späten Herbstabend, als wir in dem Städtchen anlangten und Erschöpfung von der Reise und Müdigkeit ließen uns trotz des regen Lebens, welches noch im Gasthof herrschte, sogleich den Schlummer suchen.
Der Tag fing an zu grauen als wir durch Hörnerklang und Trommelschall aus dem unruhigen Schlaf, den man stets hat, wenn man an nicht gewohnter Stätte zum ersten Male schläft, aufgeweckt wurden. Der Gedanke, daß dies Feuerlärm sei, brachte uns schnell aus dem Bett und an’s Fenster, von wo aus wir den ganzen Marktplatz übersehen, zu unserm Erstaunen aber nichts bemerken konnten, als eine Musikbande, welche in größter Ruhe und Gemächlichkeit rings um den Marktplatz marschirte, sich dann vor dem alten Rathhaus aufstellte und aus ihren Blechinstrumenten allerlei lustige Weisen und Märsche in die frische Morgenluft hinausschmetterte. Nach einer kleinen Weile wurde die Musik durch Generalmarsch wirbelnde Trommelschläger, die aus den Seitengassen hervorkamen, unterbrochen, und zugleich strömte aus allen Gassen und Gäßchen allerlei Volks, Männer, Frauen, Mädchen, Kinder, die ersteren fast sämmtlich mit Flinten und Büchsen jeden Kalibers bewaffnet, auf dem Marktplatz zusammen. Wenn man nicht dicht vor sich das ehrwürdige, altdeutsche Rathhaus mit seinen hervorspringenden Erkern, gothischen Fenstern und spitzen Thürmchen und die grün-weißen Cocarden an den Helmen einiger sächsisch-meining’schen Feldjäger, welche im Gedränge hier und da sichtbar wurden, gesehen, so hätte man glauben mögen, man wäre in einer amerikanischen Pflanzstadt des Westens, und aus den dunklen Waldbergen, die sich um die Stadt ziehen, wären die Rothhäute hervorgebrochen, lüstern nach dem Feuerwasser und dem Scalp der weißen Männer.
Rasch kleideten wir uns nun an und eilten hinab auf den Marktplatz, auf welchem eben zwei geordnete Züge, voran Musikchöre und junge Männer in schwarzer Kleidung, grün-weißen Schärpen und Säbeln, denen sich wieder mit Flinten Bewaffnete angeschlossen, erschienen. Dieser feierliche Habitus erregte nur noch mehr unsere Neugierde, und wir wendeten uns an einen der Umstehenden, der auf ein langes französisches Infanteriegewehr mit Feuerschloß, gelehnt, gemüthlich seine kurze ulmer Pfeife rauchte, mit der Frage, was denn das Alles bedeute? Den Mann mochte jedenfalls unsere Unwissenheit befremden, denn er zeigte ein sehr verwundertes Gesicht und sprach, nachdem er sich von seinem Erstaunen erholt, indem er mit seiner kurzen Pfeife über die Menge wies: „Dös ist Flurumzug.“ Wir hatten keine Zeit, eine nähere Erklärung zu verlangen, denn Trommelwirbel und rauschende Fanfaren, die einem aus dem Rathhaus herauskommenden Zug, in dessen Mitte sich mächtig wehende Fahnen mit den Farben und Wappen der Stadt und des Landes und weiß gekleidete Mädchen, an der Spitze aber der Bürgermeister und die übrigen Väter der Stadt befanden, begrüßten – schnitten jede Erörterung ab. Nachdem sich der Zug gruppirt, trat eins der weißgekleideten Mädchen, mit jenem bekannten blonden thüringischen Gesichtstypus, hervor und überreicht einem ebenso blonden jungen Mann mit einigen uns unverständlichen Worten eine roth-goldene Fahne, worauf dreimaliger Tusch und Abmarsch der ganzen Versammlung; voran Musik, dann Fahnen mit Ehrenwachen, Magistrat, Weiber, Kinder, mit Flinten und Büchsen bewaffnete Männer, die Schulen mit ihren Lehrern, Bier-, Wurst-, Schnaps-Marketenderinnen, Alles bunt durcheinander. Noch ehe der Zug das Stadtthor erreicht hatte, attachirten wir uns einem gravitätisch hinter dem Zug einher wandelnden Bürger von mehr als behäbigem Aussehen, dem sein colossaler Körperumfang es höchst wahrscheinlich unmöglich machte, eine Muskete zu schleppen und in der Colonne mit zu marschiren mit der festen Absicht, ihn nicht eher wieder loszulassen, als bis wir wüßten, was hier vor sich ginge. Der Mann wischte sich erst mit dem blau und weißgewürfelten Taschentuch den perlenden Schweiß, der ihm trotz des frischen Herbstmorgens auf die Stirn getreten, ab und antwortete dann in einigen Absätzen:
„Ja, sehen Sie, bester Herre, dös ist der Flurumzug, und den halten wir alle zehn Jahre, und da gehen wir um’s Stadtweichbild und sehen nach, ob die Grenzstein’ noch alle auf dem rechten Fleck stehen, und da zieht Alles mit was nur Bein’ hat, und nun passen’s auf, nun werden Sie sehen, was geschehen thut.“
In dem Augenblick, wir waren während des Gesprächs vor das Thor hinaus in die freie Stadtmarkung gelangt, verging uns aber nicht nur das Sehen, sondern auch das Hören, denn aus mehr als ein Paar hundert Flinten krachte eine Salve, die das Echo in den hohen, steilen Sandbergen an der Saale tausendfach zurückdröhnte. Trommel- und Trompetenschall klang dazwischen und eine dichte Menschenmenge versammelte sich um einen Grenzstein, den ersten des Weichbildes, auf welchen der Zug nach seinem Austritt aus der Stadt gestoßen. Rechtzeitig gelangten wir noch durch’s Gedrängte in den Mittelpunkt des Kreises, wo der Magistrat, umgeben von Fahnenträgern, Musikchören und einer Masse Volkes stand und der Stadtschreiber eben eine Urkunde verlas, durch welche dargethan wurde, daß besagter Grenzstein, ein Grenzstein des städtischen Weichbildes sei und sich Jeder dies merken möge zum ewigen Gedächtniß, wobei er schließlich aus der Menge auf gerade Wohl einen funfzehn- bis sechzehnjährigen Buben an den kurzgeschnittenen, semmelblonden Haaren ergriff und ihn kräftig abschüttelnd, eine dreimalige kräuselförmige Bewegung um den Markstein machen ließ und ihn dadurch gewissermaßen zum testis in memoriam perpetuam stempelte. Dem Burschen, der auf so eigenthümliche Stärkung seines Gedächtnisses höchst wahrscheinlich nicht vorbereitet war, traten vor Erstaunen oder auch vor Stolz über die ihm widerfahrene Ehre die Augen, wie einem nürnberger Nußknacker, aus den Höhlen, und mit weitgeöffnetem Munde schaute er bald den Stadtschreiber, bald den Grenzstein und sich selbst an. Noch lange sahen wir ihn in tiefe Gedanken versunken auf dem selben Stückchen Erde, wo mit ihm die merkwürdige Ceremonie vorgenommen, stehen, als sich der Zug schon längst wieder in Bewegung gesetzt. Jetzt löste sich indessen die Ordnung der Prozession auf und Alles gruppirte sich willkürlich, mit Ausnahme einer kleinen Schaar, die den Magistrat umgab. Im Nu waren die Gebirgskämme und die buschigten Ufer der Saale mit zahlreichen Trupps bedeckt, die nach allen Richtungen hin ein lustig knatterndes Gewehrfeuer eröffneten. Aus jedem Busch, hinter jedem Felsenabhang hervor blitzte und [55] knallte es, und jeder Schuß verkündete den scheel drein blickenden Dörflern, die am Saum ihrer Felder und Wiesen standen, daß die Bürger der ehrwürdigen Bergstadt ihr altes, verbrieftes, hundertjähriges Weichbildrecht geltend machten. Mehrere Dorfgemeinden nämlich, die im Bezirk des städtischen Weichbildes, welches einen Umfang von vielleicht 4–5 Stunden hat, liegen, wollten diese, schon seit vielen hundert Jahren, alle zehn Jahre stattfindende Prozession der Weichbildumgebung nicht mehr dulden und hatten bei der Staatsregierung eine Art actio finium regundorum erhoben, in Folge dessen die Staatsbehörde die Prozession bei 25 Fl. Strafe verbot; indessen die Stadt zahlte die Strafe und übte den alt-germanischen Brauch aus, und den Dörflern blieb nichts übrig als in ihren langen, blauen Sonntagswämsern trotzig auf ihre lange Stecken gestützt und den Pfeifenstummel im Mund, von ihren Dörfern aus den lustigen Zug vorüberrauschen zu sehen. Denn lustig war die Prozession wahrlich, vollends nachdem gegen Mittag sich die ganze Karavane in einem weiten, grünen Waldthal, wie sie das thüringer Gebirge so reizende und viele hat, lagerte. Ringsherum um den Thalkessel dicht mit Eichen, Tannen, Buchen und Buschwerk bewachsene Hügel, unten im Thal eine weite große Waldwiese, mit jenem kurzen, frischen, grünen Rasen, wie man ihn nur in den thüringischen Wäldern trifft, – murmelnde, zwischen den moosbewachsenen Felsen herabströmende Waldbäche mit köstlich klarem, kalten Wasser, und über diesem Thal, das wie abgeschlossen durch die dichten, grünen Waldberge von dem Staub der Heerstraße und dem Geräusch der Städte dalag, ein reiner, blauer Himmel, von dem die milde Herbstsonne ihre goldenen Strahlen durch das hier und da schon roth- und gelb gefärbte Laub, herab auf das dunkelgrüue Moos und den hellen Rasen warf. Und nun auf diesem grünen Stückchen Erde diese nomadisirende Bevölkerung von vielleicht tausend Köpfen jeden Alters und Geschlechts! Hier um die Wagenburg, auf welcher die ungeheueren Bierfässer lagerten, eine zechende und lärmende Gruppe ehrsamer Stadtbürger, die heute einmal den Alltagsmenschen ausgezogen hatten und die, herausgerissen aus dem dumpfen, niedrigen Kramladen und der Werkstatt, mit der frischen würzigen Waldesluft auch frischeres, regeres Leben einathmeten und das Blut ihrer munteren Jugendzeit wieder durch die Adern rollen fühlten; dort am Abhang des Hügels eine bunte Schaar blondhaariger und blauäugiger Mädchen und junge Bursche, die trotz des unebenen Wiesengrunds einen bal champêtre abhielten und ihre Tänzerinnen nach thüringischer Sitte mit kräftigem Arm hoch emporschwangen; um jenes qualmende Bivouac, an welchem auf dem Rost hunderte von Würsten schmoren, lag eine Schaar lauernder, hungriger Musikanten, während um eine andere Musikbande, die drüben auf sonnigen Hügel sich niedergelassen, ein Chor junger Leute, die ihre Studentenjahre noch nicht ganz vergessen, sich gesammelt und um einen auf ein Bierfaß sitzenden Präses gruppirt, die alten lustigen Studentenweisen, von dem: „Stoßt an, Jena soll leben!“ bis zu dem: „Bemooßter Bursche ziehe ich aus,“ in die dunkle, grüne Waldesnacht hineinsangen und dabei den großen schäumenden Humpen voll braunen Gerstensaftes kreisen ließen.
Unter jenen Haselnußbüschen aber träumten ein paar sanft Entschlummerte, die gar zu häufig dort an der Wagenburg von dem gambrinischen Quell gekostet, einen süßen Traum von Malz und Hopfen, ruhig und ungestört, trotz der knatternden Flinten- und Büchsenschüsse, von denen fortwährend die Waldung wiederhallte.
So verflossen drei lustige Stunden, bis von der Wagenburg herüber, wo der Magistrat sein Zelt aufgeschlagen, Trompetenklänge und Trommelwirbel zum Aufbruch riefen. Blitzesschnell wurde das Lager abgebrochen, die zerstreuten Gruppen ordneten sich, voran die Musikbanden mit dem Magistrat und den Fahnen, dann die Sectionen bewaffneter Männer, die Wagenburg mit den ungeheueren Bierfässern, die fahrenden Marketenderinnen mit ihren Bratspießen und Rosten und Kohlenbecken, denen die Mädchen und Frauen und schließlich wieder ein Schwarm mit Flinten Bewaffneter, welche die Arrièregarde des Zugs bildeten, sich anschlossen. Unter fortwährendem Gewehrfeuer stieg die Karavane die waldigen Höhen empor, und nach wenigen Minuten war sie zwischen den Felsen und Wäldern verschwunden, und einsam und schweigsam lag der Grund da, der eben noch einen so lustigen Anblick geboten.
So geht es fort drei volle Tage, bis das große weite Weichbild umgangen, bei jedem Grenzstein Halt gemacht, dieser ausgehoben, die darunter liegenden Urkunden und Zeichen untersucht, neue hinzugefügt und die oben von uns beschriebene Zeugenerwählung zum ewigen Gedächtniß an einem Buben vollzogen worden ist. Da das Fest nur alle zehn Jahre wiederkehrt, in einer andern Stadt, außer Saalfeld, unseres Wissens nach noch die einzige, wo diese Feierlichkeit stattfindet, geschieht es nur alle funfzig Jahre, so ist die Betheiligung daran eine allgemeine und man kann es im strengsten Sinne des Worts ein Volksfest nennen.
Dies und der eigenthümliche altdeutsche Charakter, der sich, wie denen, welche die Grundzüge alt-germanischen Staatenlebens kennen, nicht entgangen sein wird, abgesehen von der echt-deutschen Grenzstein-Ceremonie, in der Sonderung der Gemeinde, von dem was außer der Gemeinde liegt, in der strengen Isolirung durch die gewissenhafte Beobachtung der Marken, manifestirt, haben uns eine kurze Darstellung dieses Festes, mit dem Gedanken, daß diese auch für weitere Kreise, insbesondere aber für solche, welche sich für Eigenthümlichkeiten deutschen Volks- und Gemeindelebens interessiren, nicht ganz ohne Interesse, niederschreiben lassen.
Der Selbstmord eines Skorpions. Zu den unangenehmsten Landplagen des Orients gehört namentlich der Skorpion, ein garstiges Ungeziefer, das sich bereits im Banate und in Siebenbürgen zeigt, in den Herkulesbädern von Mehavia von den Bauern schon als interessante Species den Gästen in kleinen Gläsern verkauft wird, jenseits der Donau aber sich in solcher Menge vorfindet, daß man alle Ursache hat, vor ihm auf der Hut zu sein.
Vor Kurzem las ich in den Blättern von einem Storch, der in Elbing freiwillig seinen Tod in den Fluthen eines Baches gesucht, und in dem man eine neue Gattung von Selbstmördern entdeckt haben wollte; da ich nun ebenfalls im Thierreiche ein ähnliches Beispiel zu beobachten Gelegenheit gehabt habe, so will ich dasselbe dem Leser hier zum Besten geben.
Mein Selbstmörder gehörte zu den Skorpionen, von denen ich oben gesprochen. Schon in Widdin war ich diesen garstigen Thieren häufig in den Häusern und im Lager begegnet, später in Varna bewahrte mich Nachts, als ich in der offnen Gallerie eines Khan’s campirte, mein Durst vor dem Stich einen solchen Thieres, das ich, in Folge dieses Durstes erwachend, auf meinem Mantel kriechen sah und also noch zur rechten Zeit unschädlich machen konnte. In Konstantinopel endlich, wo der Skorpion zu den Hausthieren gehört, bot mir der Zufall die Hand, um mich an diesem garstigen Thiere zu revanchiren
Wir saßen eines Abends in Pera in der Gaststube einer deutschen Veranda. Mehrere deutsche Artillerie-Offiziere, die bisher vergebens um Anstellung in der türkischen Armee nachgesucht, immer vertröstet worden, und jetzt des Wartens müde, im Begriff waren, nach dem asiatischen Kriegsschauplatze zu gehen und dort ihr Glück zu suchen, ferner ein Franzose und ich, wir bildeten die kleine Gesellschaft, die gemüthlich um den Tisch und sich von den jüngsten Kriegsereignissen erzählte. Plötzlich schlug der Hund des Lieutenants P. an und sprang bellend um einen kleinen Gegenstand, den wir in dem Schatten, welchen der Tisch auf den Steinboden des Zimmers warf, nicht bemerken konnten.
„Es wird wohl ein Skorpion sein!“ rief der Wirth, der seiner Sache gewiß, schon mit der Feuerzange herbeikam und mit derselben gleich darauf einen Skorpion von etwa drei Zoll Länge, einen der größten welche ich bisher gesehen, an’s Licht hielt und auf den Tisch setzte. Herr v. C., ein Baier, der soeben hereintrat, ließ sich von dem Wirth eine kleine Flasche geben, der Skorpion wurde abermals mit der Feuerzange gepackt und sollte in die Flasche gesteckt werden, denn v. C., der in Pera ansässig, war ein großer Liebhaber dieser Thiere, er war bereits einmal von einem Skorpion gestochen worden, hatte vier Wochen an einer dick geschwollenen Seite laboriren müssen, und sammelte seitdem alle Skorpione, deren er habhaft werden konnte.
Eben dieser Stich war die Veranlassung der Liebhaberei des Herrn v. C., er sammelte die Skorpione, um sich vor ihnen zu hüten; jeder Hausbewohner von Pera nämlich hält sich gern eine bis zur Hälfte mit Oel gefüllte große Flasche, in diese werden die Skorpione gesteckt, welche man erhaschen kann, sie werden in diesem Oel ertränkt und müssen in diesem Oel verwesen, denn dieses gilt als einziges und sicherstes Gegengift gegen den Stich der Skorpione.
Während wir von Herrn v. C. wissen wollten, was mit diesem Skorpion anzufangen gedenke, holte uns der Wirth seinen Balsam aus dem Schrank; es war eine gute Quartflasche, in deren Oel bereits acht [56] oder zehn Skorpione den Tod gefunden hatten. Er wollte bereits seine Frau und einen seiner Gäste mit diesem Gegengift geheilt haben.
Herr v. C. reichte dem Wirth sein Fläschchen, der letztere packte das kleine, schwarze, krebsartige Thier mit der Zange; dieses aber leistete eine so verzweifelte Gegenwehr, wie ich sie nie von einem so unbedeutenden Geschöpf gesehen habe. Das Interesse, welches wir an der Vertheidigung des Skorpions fanden, brachte den Wirth auf den Gedanken, uns eine kleine Unterhaltung zu bereiten.
„Meine Herren,“ sagte er, „ich sehe, wir haben es hier mit einem den verzweifeltsten und galligsten dieser Thiere zu thun; geben Sie Acht, ich werde Ihnen jetzt ein kleines Schauspiel veranstalten.“
Er legte den Skorpion wieder auf den Steinboden und während der Hund wieder um ihn her sprang, brachte der Wirth eine Schaufel voll glühender Kohlen, die er im Kreise um den Skorpion herum legte. Wir hockten uns um diesen Zauberkreis und waren neugierig auf Das, was jetzt geschehen sollte. Dies ließ nicht lange auf sich warten.
Dem Skorpion ward es langweilig, sich so anschauen zu lassen, er suchte also sich davon zu machen und rückte auf die Kohlen los. Drei-, viermal machte er einen Angriff auf den glühenden Zirkel, als er sah, daß diese Angriffe nach allen Richtungen vergeblich waren, zog er sich in die Mitte des Kreises zurück und schien zu überlegen; dann begann er von Neuem dasselbe Manöver.
Auch dies fiel natürlich eben so fruchtlos aus, denn wo der Wirth noch eine Oeffnung in dieser Einkreisung gesehen, stopfte er sorgfältig dieselbe mit neuen Kohlen zu. Zweimal hatte der Gefangene umsonst seine Befreiung versucht und dadurch die Ueberzeugung gewonnen, daß keine Rettung möglich. Während dieser Versuche aber schien das Thier in eine entsetzliche Wuth gerathen zu sein; er schlug den Steinboden mit dem Giftstachel an seinem Schwanze und klappte verzweifelt seine Scheeren zusammen. Abermals zog er sich in die Mitte des Kreises zurück und bäumte und wand sich hier.
„Jetzt aufgepaßt!“ rief der Wirth. Und richtig: die Katastrophe kam. Der Skorpion bäumte sich nochmals und zog den Stachel und den Kopf unter sich zusammen; nach wenigen Sekunden sahen wir ihn die Scheeren, den Kopf und den Schwanz von sich strecken und kein Lebenszeichen mehr von sich geben.
„Meine Herren, der Vorhang kann fallen, das Trauerspiel ist aus,“ sagte der Wirth, nahm den Skorpion mit zwei Fingern aus der glühenden Arena und zeigte ihn uns.
„Das ist das dritte Mal, daß ich auf diese Weise einen Skorpion zum Selbstmord gezwungen habe,“ sagte der Wirth lachend zu uns und legte den Selbstmörder auf den Tisch. „So klein diese Bestie auch ist, so kann kaum ein anderes Thier so viel Galle in sich tragen, wie dieses; in seiner Wuth hat er sich seinen Stachel in den Kopf gebohrt, und ist an seinem eigenen Gifte gestorben. Sehen sie nur!“
In der That zeigte uns der Wirth die Stelle, wo sich der Skorpion in eins der Gelenke seiner Schale den giftigen Stachel gebohrt. Ich überzeugte mich, daß das Thier nicht an irgend einer Brandwunde gestorben, und kann also mit gutem Gewissen diesen unerhörten Selbstmord in die Naturgeschichte einregistriren.
Der Ocean auf dem Tische. Wir haben in einer frühern Nummer von dem neuen wissenschaftlichen Luxusartikel des Meerwasser-Aquariums und seiner Bewohner gesprochen. Wo aber bekommt man in Leipzig, Dresden, Berlin u. s. w. alle Tage frisches Seewasser her? Man macht es sich, wie in England und Schottland, wo Marine-Aquarien mit Seethieren und Seepflanzen schon ein sehr beliebter Schmuck in den Gesellschaftszimmern der wohlhabenden Leute geworden sind und immer noch mehr werden. Das Seewasser besteht nach Schweitzer’s Analyse (in 1000 Gran) aus 964,744 Wasser, 27,059 Chlorid von Sodium, 3,666 Chlorid von Magnesium, 0,765 Chlorid von Potassium, 0,029 Bromid von Magnesium, 2,295 Schwefel-Magnesia, 1,407 Kalk-Sulphat und 3,033 kohlensauerm Kalk. Der englische Chemiker Gosse setzte danach künstliches Seewasser zusammen, ohne sich um die geringen Quantitäten von Bromid, von Magnesium und von kohlensauerm Kalk weiter zu bekümmern. Ersteres findet man in dem Wasser des mittelländischen Meeres gar nicht. Auch den Schwefelkalk (Kalk-Sulphat) ließ er aus, da er nicht auflöslich ist und also dem Seewasser selbst nicht wesentlich sein kann. So behielt er vier Ingredenzien, die er in folgender Weise feststellte und zusammensetzte: Gewöhnliches Kochsalz 31/2 Unzen, Epiom-Salz 1/4 Unze, Chlorid von Magnesium 200 Gran (troy), dazu 40 Quart Wasser. Das giebt eine gute, auf Wochen für ein kleineres Aquarium ausreichende Menge Seewasser und kostet vielleicht 4–5 Sgr. Mr. Gosse filtrirte das so gebraute Seewasser durch einen Schwamm in den Glasbehälter, der mit einigen gewaschenen Steinen vom Meeresufer, an denen etwas Seegras (Ulva latissima) wurzelte, versehen worden war, ließ dann sich etwas Vegetation entwickeln, die ziemlich rasch zum Vorschein kam, um so, wie die Natur im Großen, die Stätte für thierisches Leben zu bereiten, und setzte dann verschiedene Seethierchen hinein: verschiedene Species von Actima, Bowerbankia, Cellularia, Balanus, Serpula u. s. w. Thiere und Pflanzen gediehen sofort in der besten Gesundheit und verfuhren ganz biblisch: Seid fruchtbar und mehret euch und füllet auch das Seewasser, wo mehr Platz ist, als auf der Erde, auch mehr Freiheit und Vergnügen, wie man aus der Heiterkeit der gefangenen kleinen Bewohner der Tiefe schließen muß.
Der calculirende Fuchs. Ein Jäger auf dem Harz, der eines Morgens Wache hielt im Forste, bemerkte einen Fuchs, der sich vorsichtig einem alten dicken Baumstumpfe näherte. Als er nahe genug war, machte er einen beherzten Sprung bis auf den Kopf des Stumpfes. Hier sah er sich ein Weilchen um, als wollte er die schöne Aussicht genießen und sprang dann wieder herab. Diese gymnastische Uebung wiederholte er etwa fünfmal, ehe er davonschwänzelte. Aber schon nach einer Minute kehrte er zurück und zwar mit einem derben tüchtigen Stück Eichenholz in der Schnauze. Mit dieser Last beschwert wiederholte er seine ritterliche Uebung, und zwar nicht nur zu meiner, sondern auch seiner eigenen Befriedigung, denn er ließ nach einigen glücklichen Repititionen seine Last fallen, wickelte sich oben zusammen legte den Schweif um sich und schien so auf seinen Lorbeeren ausruhen zu wollen. Stunden lang behielt ich ihn im Auge: er lag und blieb wie todt liegen. Ich war neugierig geworden und ließ mir den Gedanken nicht nehmen, daß Reineke nicht blos zu seinem Vergnügen geturnt habe. Gegen Abend ward denn auch meine Neugier befriedigt. Eine wilde Sau kehrte mit ihrer Nachkommenschaft aus dem Dickicht in ihre Heimath zurück und zwar auf ihrem bereits sichtbar gewordenen Wege vor dem Baumstumpfe vorbei. Zwei von der unerfahrnen Nachkommenschaft waren etwa sechs Schritt hinter der Mutter und den andern Jungen zurückgeblieben und zottelten hinterher. So wie sie an den Stumpf kam, sprang Reinecke wie ein Blitz vom Todtenschlafe auf, herunter und mit einem der beiden Ferkel wieder hinauf. Es kreischte und quiekte jämmerlich. Die Mutter kehrte wüthend um und grunzte und knurrte wie wahnsinnig an dem Stumpfe in die Höhe, um ihr Kind zu retten. Der Diplomat aber oben, seiner Sache und Festung gewiß, nahm diese Demonstration sehr gleichgültig auf und verzehrte seinen Schweinebraten vor den Augen der Mutter mit der größten Gemüthlichkeit und einer Art von raffinirten Tranchirkunst. Auf einmal schien’s ihm zu viel zu sein, so daß er etwa die Hälfte seiner Beute übrig ließ und sicher legte, und dann mit der größten Unverschämtheit auf die tobende, wüthende Mutter herabzublicken, so malitiös, daß man hätte meinen sollen, er habe ein Glas in das eine Auge geklemmt. Die alte Sau zog sich endlich widerstrebend zurück, worauf auch Reinicke sich anschickte, in seine Festung Malepertus zurückzukehren.
„Souvenir de Kieff,“ eine Mazurka für Pianoforte, ist die neueste Composition des gefeierten Pianisten Schulhoff, sein Op. 39. Das Stück eignet sich ganz besonders zum gesellschaftlichen Vortrag, indem es den charakteristischen Ausdruck und rhythmischen Reiz der Mazurka mit Feinheit des Geschmacks und einer leichten Brillanz vereinigt. Das keck auftretende Thema muß jeden Mazurkatänzer elektrisch durchzucken; der Mittelsatz bildet in seinen weicheren, gleichsam schwebenden Bewegungen einen guten Contrast, welcher durch einige kokette Läuferguirlanden in das Thema zurückführt, um mit einer rauschenden Coda pompös abzuschließen. Die Technik ist keine schwierige; pikante Accentuationen und Grazie des Vortrags sind hauptsächlich erforderlich zur entsprechenden Wirkung dieser Mazurka, die schnell zu allgemeiner Beliebtheit gelangen wird.
Um mehrfach ab uns ergangenen Anfragen mit einem Male zu begegnen, theilen wir den Abonnenten mit, daß der Titel nebst Inhaltsverzeichniß des Jahrgangs 1854 bereits in der ersten Woche Januar an alle Buchhandlungen und Postämter versandt wurde.
Für diejenigen welche sich die „Gartenlaube 1854“ einbinden lassen, bemerken wir nochmals, daß durch uns höchst geschmackvolle Decken mit Golddruck nach eigens dazu angefertigter Zeichnung zu beziehen sind; wir sind in den Stand gesetzt, dieselben zu dem höchst billigen Preise von 13 Ngr. zu liefern.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: weiblichen