Die Gartenlaube (1855)/Heft 5
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No. 5. | 1855. |
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Es war noch früh am Tage im kühlen Octobermond und doch standen schon viele Verkäufer auf dem großen Marktplatz der reichen mächtigen Handelsstadt Brügge. Nun rede ich aber nicht von dem heutigen Brügge, das so still und ernst in dem blühenden Garten Belgiens steht wie eine zerbrochene Statue, ich meine jene berühmte Stadt des 14. Jahrhunderts, jenen hellfunkelnden Edelstein der Provinz Westflandern, nach dessen Besitz es damals gar manchen hohen Herrn nicht wenig gelüstete. Von den reichen Wochenmärkten der damaligen Zeit weiß auch das heutige Brügge nichts. Ungeheure Wagen voll des köstlichsten Gemüses standen dicht neben einander in langen Reihen, herrliches Obst war massenhaft aufgehäuft, weiterhin hatte man breite Tische aufgestellt mit Blumen von allen Farben, und endlich waren lange Tafeln zu sehen mit Körben und Käfigen voll Geflügel aller Sorten und Bergen von frischen Eiern. – Einzelne Mägde in weißen anliegenden Hauben und blendenden knapp übergesteckten Brusttüchern schritten mit ihren saubern Körben daher, prüften und handelten mit den derben Bauern. Hier und da trippelte auch schon eine sorgliche Hausfrau herbei, das Beste zu wählen und die Vorräthe zu mustern. Ernste Männergestalten in großen Halskrausen und Ehrenketten und schwarzen Talaren wandelten dem Rathhause zu, Mädchenblumen in langen faltigen Gewändern, den Rosenkranz in den Händen, schwebten gesenkten Blicks vorüber, – denn die Glocken der hohen Liebfrauenkirche und der Jerusalemerkapelle läuteten zur Frühmette, und dazwischen rief, hell wie eine Kinderstimme, das Glöckchen des St. Johannishospitals die frommen Nonnen zur Andacht.
Vor dem letzten Platze an einer der langen Tafeln lehnte ein Knabe von etwa vierzehn Jahren, ein Korb voll wohlgemästeter Gänse gehörte ihm. Der junge Gesell stand aber neben den schnatternden unruhigen Thieren wie einer der träumt, das feine blasse Gesicht war sehr ernst und die großen dunkeln Augen schauten weit – weit weg. – Wohin? das wußte er wohl selbst nicht. – – Seitwärts von ihm saß auf einer umgestürzten Tonne sein Vater, die kurze Pfeife im Munde, ein großer Bauer aus dem Dorfe Damm. Man nannte ihn nur „der lange Hans von Damm.“ Bei ihm kaufte man immer gute Waare, er ließ aber um keinen Deut mit sich feilschen, man mußte willig zahlen was er forderte, und das war auch nie zu viel, meinten alle Leute, nur die reiche Frau Vandermer meinte es nicht und zankte sich an jedem Markttage mit dem langen Hans herum. Eben kam sie herangewackelt, die dicke Goldschmidtswittwe, in dem großblumigen Damastkleide und der pelzbesetzten weiten Contusche, in der seidnen Kaputze, aus der ein weißer Haubenstreif und ein rothes mürrisches Gesicht hervorsahen. Ihre fetten Hände steckten in einem großen Muff, und die hinter ihr hertrabende Magd trug den Korb und nickte schon von Weitem schlau lächelnd dem dammer Bauern zu. – „Mafraw" trat heran, besah und befühlte eine Gans, wog sie in der Hand, drehte sie um und um, hielt sie in’s Licht und in den Schatten, kehrte fast jede einzelne Feder um und fragte endlich mit scharfer Stimme nach dem Gebot. Kaum hatte sie’s aber vernommen, als sie in gewohnter Weise losfuhr, schier außer sich gerieth und das schöne Thier mager und krank nannte. Der lange Hans wurde gar grob. „Mafraw" erwiederte herzhaft jede derbe Rede und kreischte gewaltig. Da blieb denn bald Der bald Jener stehen, wo Einer steht, da kommen Andere dazu, es sammelten sich allmälig viele Leute um das zankende Paar – die geizige Frau Vandermer war ja in der ganzen Stadt bekannt. – Plötzlich schrie aber die junge Magd ganz hell auf: „Ach, da ist ja das leibhaftige Conterfey von Mafraw!" – Man hörte verwundert, drängte sich dichter zusammen, machte lange Hälse, – ein Gemurmel erhob sich – dann aber brach ein Lachsturm aus, so gewaltig, so unaufhaltsam, daß noch mehr Menschen herbeigelaufen kamen und selbst die Verkäufer ihre Plätze verließen und schrien und jubelten. – „Mafraw" allein stand mit geballten Fäusten und schäumend vor Wuth in Mitte der allgemeinen Freude und überschüttete mit Scheltworten den Urheber des Auflaufs, den hübschen Knaben. – Der hatte nämlich während des Gezänks mit einem Stückchen Kohle auf die letzte Ecke der Tischplatte die ganze Gruppe in rohen Umrissen aufgezeichnet und den Kopf und die Haltung der Alten so treu, so sprechend, oder vielmehr so keifend wiedergegeben, daß niemand dies Conterfey ohne Heiterkeit anzublicken vermochte. „Mafraw" wollte zwar zu wiederholten Malen darauf losfahren, um die Striche zu verwischen, aber hundert Arme streckten sich aus, die Zeichnung zu schützen. Eben als der Tumult am heftigsten war, schritt ein hoher, mild blickender Mann langsam über den Marktplatz. Er trug einen braunen Sammetüberwurf reich mit Pelz verbrämt und ein schwarzes Barett auf den lang herniederwallenden hellen, schon silberschimmernden Haaren. Junge Männer in ähnlicher Tracht gaben ihm mit dem Ausdruck höchster Ehrfurcht das Geleite. Ein Flüstern durchlief die Menge als er nahte.
„Was geschieht hier“ fragte er sanft. Man machte ihm sogleich Platz und er trat an den Tisch. Da stürzte aber der Knabe vor, warf sich dem Fremden zu Füßen und rief:
[58] „Ach, edler Meister van Eyk[1], seht mein schlechtes Werk nicht an!“
Aber der hochberühmte Maler hatte sich über die Zeichnung gebeugt und betrachtete sie lange und aufmerksam. Dann wandte er sich zu dem aufgeregten Knaben, der aufgesprungen war und mit glühenden Wangen neben ihm stand, und fragte ernst:
„Wie heißt Du?“
„Hans Hemmling [2].“
„Hans Hemmling – willst Du mein Schüler werden?"
Da rang sich ein wilder Schrei des Entzückens aus der jungen Brust, mit überströmenden Augen rief der Knabe fast krampfhaft:
„ja – ja – ich will!"
Die Stimme brach ihm aber, er faßte des Meisters Hände und drückte sie fest an sein laut klopfendes Herz.
Der alte Bauer nahm seinen breitgeränderten Hut langsam ab und sagte:
„Nun habe ich ihn doch untergebracht, den Taugenichts, Dank Euch, Meister van Eyk! Hans hat von Euch geträumt Tag und Nacht und mir dabei Wände und Tische geschwärzt. Bei Euch wird er gut thun! – Aber, Hans, bedanke Dich zuerst bei Mafraw Vandermer."
Die aber war fortgerannt und van Eyk ging auch langsam weiter, die Leute verliefen sich, der lange Hans verkaufte seine Gänse, der braunlockige Gesell allein stand bewegungslos mit gefalteten Händen da und wiederholte sich immer und immer wieder die Zauberworte:
„Hans Hemmling, willst Du mein Schüler werden?"
Die Zeit floß sanft weiter. – Hans Hemmling wohnte im Hause des Meisters Johannes van Eyk und war der fleißigste und geschickteste aller seiner Schüler. Der große Maler stand damals auf der Höhe seines Ruhmes. Er war erst seit wenigen Jahren von Gent zurückgekehrt nach Brügge, in ersterer Stadt hatte er in Verein mit seinem Bruder Hubertus und seiner Schwester Margarethe, dieser hohen Künstlerin, eine Kapelle in der Johanniskirche gemalt. Der Tod zerriß grausam den schönsten Geschwisterbund, Hubertus erkrankte kurz nach Beginne des Altarblattes und starb, und die edle Jungfrau, Margarethe, folgte ihm nach wenigen Monden. – Den tiefen Kummer des Ueberlebenden linderte nur die heilige Kunst, die ja zu allen Zeiten ein unversiegbarer Trostquell für alle Schmerzen der Erde gewesen. Er lebte fortan nur schaffend und lehrend in Brügge, aber nur einer kleinen Anzahl von Schülern wurde die Segnung seiner Unterweisung zu Theil. Unter ihnen wurde Hans Hemmling gar bald van Eyk’s Liebling. Sein wunderbares Talent zur Miniaturmalerei entzückte den Meister. Der Jüngling machte riesenhafte Fortschritte und bald kannte man seinen Namen, und vornehme Kunstfreunde ließen sich die Blätter ihrer auf Pergament geschriebenen Gebetbücher von ihm verzieren. Endlich wurde es gar Mode, eine Blume oder Arabeske, eine Landschaft oder eine Heiligengestalt von Hans Hemmling gemalt zu besitzen, und weltliche wie geistliche Fürsten ließen sich ganze Gebetbücher von ihm ausmalen und bezahlten ihm was er verlangte. Bescheiden nahm der junge Maler solche Auszeichnung hin, mit erhöhter Dankbarkeit sich seinem weisen und gütigen Lehrer zuwendend.
Da begab es sich eines Tages, als der Jüngling in der Liebfrauenkirche kniete, daß dicht neben ihm ein junges Mägdlein sich betend niederwarf. Das Malerauge verfolgte mit Wohlgefallen die reinen Linien des kindlichen Profils, die weiche demüthige Neigung des Hauptes, die schönen Formen des Nackens und der Arme – und mit der inbrünstigen Andacht war’s für diesmal vorbei. Hans Hemmling stand auf als das Mägdlein sich erhob, wandelte hinter ihr her aus der Kirche, folgte ihr durch viele Straßen wie im Traume und blieb mit ihr vor einem kleinen Hause stehen. Als sie den schweren Klopfer der Thür niederfallen ließ, – da erst hob sie den Kopf und schaute voll und gerade in Hans Hemmling’s Gesicht. Es waren zwei blaue engelliebe Augen, die dem jungen Maler tief, tief in’s Herz schauten. Und da blieben sie stehen wie zwei helle Sterne und strahlten ihn an Tag und Nacht im Wachen und Traume. In alle Engelsköpfchen, die fortan Hans Hemmling malte, stahlen sich diese Augen – die Ruhe seines Herzens war nun dahin für ewig. – Wohl zu hundert Malen ging er an ihrem Hause vorüber ohne mehr zu gewahren als die Spitze der schwarzsammetenen Haube, die das Mägdelein trug und ein Stückchen ihrer schweren blonden Flechten. – Aber erste Liebe ist genügsam wie ein Kind, die unscheinbarsten Dinge beglücken sie: – Die Spur des zarten Fußes im Sande, der Saum des Gewandes, eine Bewegung der Hand, ein Seufzer, ein Blick, ein Erröthen, ein Lächeln – das war so von Uralters her und wird immer so sein. – An den Sonntagen nun sahen sich der Jüngling und das schöne Mädchen aber gewißlich, – und eines Tages grüßten sie sich, und dann gab Hans Hemmling dem lieblichen Frauenbilde eine Strecke Weges das Geleit, und endlich redeten sie wenige Worte miteinander – Beide Anfangs so scheu und kindlich-zaghaft. – Nach und nach wurden sie muthiger und redeten länger, und so vernahm er von ihr, daß sie das einzige Töchterlein einer gichtkranken Wittwe sei, und die heftige und strenge Mutter ihr keinen andern Ausgang gestatte, als den zur sonntäglichen Messe. Sie müsse einsam leben Tag für Tag, sagte sie, und sähe gar selten ein menschlich Angesicht. – Und leise weinte sie als sie so sprach. – O, wie da des jungen Malers Herz litt bei ihren Thränen. Er sah die schönste der Rosen unbewundert verblühen, welken – sterben – und er faßte zur Stelle den Plan, um die Geliebte zu werben bei der strengen Mutter. Würde sie ihm ihr holdselig Töchterlein anverloben, so wollte er sich seinem Lehrer und Freunde entdecken, und der müßte helfen und rathen – meine er. – Davon sagte er aber der Geliebten nicht ein einziges Wort.
Und als etwa ein halber Mond vergangen und der Frühling eben die Augen aufschlug – da stand Hans Hemmling eines Sonntags Nachmittag vor dem wohlbekannten Hause und klopfte. Eine alte Magd öffnete und fragte nach seinem Begehr. Da fiel’s ihm urplötzlich schwer auf die Seele, daß er nicht einmal den Namen des Mädchens wisse, das er zum Weibe begehren wollte, und er erröthete heiß und gab unverständliche Antwort. Die Schwerhörige aber führte ihn durch das saubere kleine Vorhaus, die schmale teppichbelegte Treppe hinaus, klinkte eine Thüre auf und der junge Maler stand in einem gar zierlichen Gemach. Die holzgetäfelten Wände glänzten, auch das künstliche Schnitzwerk an den hohne Sesseln und die Messingknaufe und das Geländer am Kamin. Am blanken Fenster standen Scherben mit Tulipanen und Hyacinthen, und die Mädchenblume stand davor und erblaßte und fuhr mit der Hand nach dem wild pochenden Herzen, als sie den Geliebten erkannte. Am Kamin aber saß eine alte dicke Frau in großblumiger, bauschiger Damastrobe und weißer steifer Haube. – Hans Hemmling trat verwirrt näher, legte gesenkten Blicks der Alten ein Päcklein auf den Schooß und sagte leise:
„Hier habe ich Euer holdseliges Töchterlein conterfeyt, ich schenke es Euch – aber gebt mir dafür das lebende Kind zum Weibe!“
Die Frau erhob sich erstaunt – beugte sich vor – schrie laut auf – und ließ das wunderfeine gemalte getreue Bildniß des Mädchens auf den Boden fallen. – Entsetzt schlug jetzt der Maler die Hände vor sein Antlitz – er hatte Mafraw Vandermer erkannt. Zitternd vor Wuth trat sie ihm näher und eine Fluth von Zornreden strömte von ihren Lippen. Weinend stürzte die Tochter zu ihr hin.
„O, Schande über Dich und Deinen Buhlen, Ursula,“ schrie sie gellend, „hast immer geredet von einem sittsamen Jüngling, hast mir erzählt von seinen sanften Augen und seinem edlen Wesen – und bringst mir den – den da in’s Haus! weißt Du, wer der ist? ’S ist jener verwegene Bauerjunge, der vor vier Jahren Deine ehrbare Mutter auf öffentlichem Markte vor allen Leuten beschimpft! – Nun will er auch Dich beschimpfen, der Farbenkleckser, der Pinselmann und freit um Dich. – Aber das soll ihm doch nicht glücken. Ursula ist zu gut für eines dammer Bauern Magd, und Ursula folgt keinem Manne, der einst ihre Mutter so schnöde verhöhnt! Ich sage Euch, sie wird nicht, sie darf nicht! – Und wenn sie diese Worte vergessen sollte, so wird mein Fluch sie aus dem Grabe noch treffen. – Da seht – seht – wie viel Eure Kunst mir werth ist!“
Sie nahm die feine Holzplatte, auf deren dunkelm Grunde [59] leuchtend wie ein Engelbild die Gestalt des Mägdleins sich abhob im braunen faltigen Gewande, den Rosenkranz in den Händen, den Blick gesenkt und das Goldhaar gelöst – und warf sie in das Feuer, wo sie prasselnd aufloderte und verging.
Da zuckte der Jüngling auf – warf stolz das Haupt empor, stürzte auf die Geliebte zu, umfaßte sie verzweifelt wie zum ewigen Scheiden, küßte ihre bleichen Wangen – und stürmte fort zum Hause hinaus.
Hans Hemmling kehrt nicht in das Haus seines geliebten Lehrers zurück – man sah ihn seit jenem Tage nicht mehr in Brügge, er war und blieb verschwunden, umsonst forschte Johannes van Eyk in tiefer Trauer nach seinem Liebling. Niemand vermochte Kunde von dem Jüngling zu geben, und der große Meister beweinte ihn als einen Todten.
Die Zeit eilte weiter. Trübe wilde Jahre kamen, Jahre voll Kampf und Zwietracht, Noth und Krieg. Karl der Kühne zog mit ungeheurer Heeresmacht gegen die Schweizer, die Schlacht bei Murten wurde geschlagen, eine Schreckensscene verdrängte die andere, bis endlich nach der unglücklichen Schlacht von Nancy 1477 den 6. Januar der blutige Vorhang fiel. – Die Schaaren des Fürsten wurden geschlagen und zerstreut, kranke, krüppelhafte Gestalten irrten nun mitten im härtesten Winter von Land zu Land. – Da wankte auch an einem stürmischen Abend ein gebeugter lumpenumhüllter Krieger durch das Thor von Brügge. Aber nur wenige Schritte trugen ihn noch seine Füße, von Hunger und Kälte erschöpft, stürzte er ohnmächtig zusammen. Gutmüthige Bürger hoben ihn auf und schleppten ihn in das naheliegende St. Johannishospital zu den barmherzigen Schwestern. Sanfte Hände nahmen ihn in Empfang, sanfte Augen schauten ihn an. Als man ihn aber in den großen Krankensaal brachte, sank eine der unermüdlichsten jener stillen Gestalten, die dienstthuende Schwester Ursula plötzlich bewußtlos zusammen. Nach einem geheimen Gespräch mit der Oberin hatte man ihr jedoch nachher die Pflege des Schwerkranken allein übertragen. Ja krank – sehr krank war der Fremde, viele Tage lang lag er ohne Besinnung, dann kam eine Periode heftigster Seelen- und Körperschmerzen, wo er wild aufschrie und sein Leben verwünschte; aber da sprach eine wunderliebe Stimme besänftigend ihm zu, und ein bleiches müdes Angesicht neigte sich mit zärtlichem Lächeln über ihn. Und dann redete er von blauen Engelsaugen, nannte längst verschollene Namen, und hielt Zwiegespräch mit dem todten Meister van Eyk und der schönen Ursula Vandermer. Als aber endlich des Kranken Sinn klar geworden, da feierten zwei Menschenherzen eine jener seligen Minuten, an denen die lieben Engel im Himmel ihr Freude haben. – Hans Hemmling und die getreue Ursula erkannten sich wieder. – Wohl waren sie Beide alt geworden, aber ihre Herzen waren jung geblieben, und aus beider Augen schaute noch die Jugendliebe wie ein Stück Frühling. Und diese Liebe that jetzt noch größere Wunder als damals: der Kranke erstarkte von Tag zu Tage und konnte bald wieder sich aufrichten von seinem Schmerzenslager. Da verlangte er Pergament, Farben und Pinsel und malte in wunderfeiner Weise auf matten Goldgrund ein Blatt für das Gebetbuch seiner frommen Pflegerin. Vögel und Blumen, Arabesken und liebliche Engelsköpfe waren sinnig mit einander verflochten und verwebt, und die Farbenpracht der zarten Malerei war zauberhaft. Das Blatt ging von Hand zu Hand, wanderte von einem zu dem andern, zu Hoch und Niedrig und mit frohem Staunen, mit dankbarer Freude erkannten die Bewohner Brügge’s an der Art der kunstvollen Malerei ihren unvergeßlichen, vielbetrauerten Hans Hemmling wieder. Da gab es großen Jubel, man drängte sich danach, ihn zu sehen, die angesehensten Bürger boten ihm eine Freistatt an in ihrem Hause, vielfache Bestellungen zu größeren und kleineren Malereien kamen für den berühmten Meister. Der aber lehnte alles ab und blieb im St. Johannishospital, allwo er seines Herzens erste heiße Liebe, um deretwillen er sich in das wüste Kriegerleben gestürzt, wiedergefunden. Aus Dankbarkeit für das friedvolle Asyl der Geliebten, in das sie sich noch vor dem Tode der Mutter geflüchtet – schmückte er die heiligste Reliquie des Klosters, den Kasten, der die Gebeine der heiligen Ursula enthielt, mit vierzehn der prachtvollsten Miniaturgemälde. Jene Ursula war der Sage nach eine junge wunderschöne Prinzessin, die mit zehntausend edeln Jungfrauen nach Köln zog, um daselbst den Märtyrertod zu Ehren ihrer heiligen Religion unter dem wilden Christenverfolger Maximian zu erleiden.
Der Reliquienkasten der Heiligen, der die Form einer kleinen Kirch, sogenannten Basilika hat, ist noch heutigen Tages der Stolz Brügge’s und durch die Hemmling’schen Malereien eines der hochberühmtesten Kunstwerke. Johanna Schoppenhauer in ihrem Werke: Johann van Eyk und seine Nachfolger, schildert diese Gemälde als ein Weltwunder von Schönheit und Farbenpracht und mit vollem Recht. Alle Bilder beziehen sich auf die Geschichte der Heiligen, und eines der Giebelfelder trägt ihr Bildniß. Engelhaft schön und hoch erscheint sie da in ihrem ausgebreiteten Mantel die fromme Königstochter, reizendes Weib und Heilige zugleich. Ihre Augen aber gleichen jenen blauen, sanft schimmernden Sternen, deren Licht nun einmal alle Schöpfungen des Meisters verklärte. Das zweite Giebelfeld zeigt die hehre Himmelskönigin Maria mit dem göttlichen Kinde. Ihr zu Füßen kniet eine schlanke, demüthige Nonnengestalt, es ist Ursula, die Jugendgeliebte, ein bleiches, vergeistigtes Angesicht, auf dessen Wangen schon die weißen Rosenknospen himmlischen Friedens stehen. Und die Engel pflückten sie bald, diese Rosen. – Ursula’s stilles Leben erlosch, nachdem ihr langes demüthiges Hoffen Erfüllung gefunden und sie den Geliebten noch einmal gesehen. Die Ausschmückung des Ursulakastens war noch ihre letzte Freude, mit hohem Entzücken verfolgte sie jeden Pinselstrich, und als sie so schwach wurde, daß sie sich nicht mehr aufzurichten vermochte von ihrem Lager, malte Hemmling in ihrem Krankenzimmer. Das letzte der vier Medaillons, in welchen vier liebreizende Engel mit Saitenspiel die Heilige feiern, war vollendet, da hauchte die frömmste aller Schwestern, die sanfte, stille Ursula ihre reine liebende Seele aus.
Den tiefgebeugten Meister Hemmling litt es aber ferner nicht mehr in Brügge, er vollendete nur noch die beiden begonnenen Altarbilder für die Klosterkirche und zog dann, lebensmüde, nach Löwen. Hier lebte er mehrere Jahre wie ein Einsiedler und malte jene kostbaren größeren und kleineren Bilder, die man leider nur einzeln zerstreut in wenigen öffentlichen Gallerien und meistens in Privatsammlungen findet. Als im Jahre 1494 der junge Philipp von Spanien bei seiner Huldigung als Herzog von Brabant auch nach Löwen kam, hörte er von der großen Kunst des menschenscheuen Meisters und suchte ihn auf. Entzückt von seinen Werken, bat Philipp den Maler, ihn nach Spanien zu begleiten, und Hemmling ließ sich auch nach langem Sträuben wirklich entführen. – Dort aber in dem Lande der Granatbäume und Pinien, unter dem glühenden Himmel Hispaniens trieb ihn unendliches Heimweh und sein müdes Herz in das Karthäuserkloster von Miraflores. – Er fand dort Frieden. – Sein Grab liegt mitten unter den Ruhestätten der stummen Brüder des ernsten Ordens, und die hohen Oelbäume des Klostergartens rauschen dem Fremdling sanfte Wiegenlieder aus der fernen Heimath.[WS 1]
Die preußische Regierung hat in neuester Zeit beim deutschen Bundestage auf Aufhebung der Spielbanken angetragen. Bereits im Jahre 1845 wurde darüber verhandelt, die Beschlußfassung aber blieb dem Jahre 1849 vorbehalten. – Die Zeiten ändern sich! Executionstruppen rückten damals in Homburg ein, die Schließung zu vollziehen, und jetzt spielt man schon seit langer Zeit wieder in verdoppeltem Maßstabe. – Ich will mich nicht im Allgemeinen über das Verdammenswerthe dieser Spielhölle ergehen, sondern nach meinem Reisetagebuche einfach erzählen, was ich an Ort und Stelle sah und hörte.
Auf einer Reise in die Rheingegenden besuchte ich auch Homburg. Eine liebe Familie, bei der ich durch einen Freund eingeführt [60] wurde, wußte mich längere Zeit zu fesseln, als ich ursprünglich in meinem Reiseplane bestimmt hatte, und mit großer Freude gedenke ich noch heute der schönen Tage, die ich am Fuße der lieblichen Gebirgskette des Taunus verlebte. Am Morgen erging ich mich in den schönen Anlagen am Elisabethbrunnen, des Nachmittags wurde zu Wagen, zu Pferde oder zu Fuß eine größere Excursion in die reizende Umgegend unternommen und der Abend führte mich in das Kurhaus. Seine Säle sind mit fürstlicher Eleganz ausgestattet. Herrliche Fresken und geschmackvolle Bildhauerwerke von münchner Künstlern, Verzierungen von Gold und Marmor, schön ornamentirte Säulen, kostbare Wand- und Kronleuchter treten dem Beschauer mit würdevoller Anmuth entgegen, und suchen sich in das beste Licht zu stellen. Gleichwohl ließ mich das Alles so kalt. Es durchschauerte mich ein Frösteln und es war mir nicht anders, als sähe ich an den blitzenden Marmorfelsen der Wände helle Thränen und als hörte ich überall bange Seufzer und dumpfes Klagen.
Ich trat in den Spielsaal ein. Am Roulette wurde flott gearbeitet. Die Croupiers in eleganten Fracks, mit großen Manschetten und einer Menge Ringen angethan, suchen durch äußern Glanz zu ersetzen, was ihnen an innerem Gehalte abgeht. Als Friseurs, Kellner oder Lohndiener aus Frankreich herüber gekommen, helfen sie sich jetzt mit der Krücke besser durch die Welt, als früher mit Brenneisen oder Serviette. Vor ihnen glitzert helles Gold und neues Silber aufgethürmt in wohlgeordneten Schichten, und wie sich um den großen Lockvogel eine ganze Schaar kleiner Waldvögel drängt, so umringen die goldenen Thürme die glänzenden Goldstücke und bescheidenen Gulden des spielenden Publikums und die Meisten – bleiben auf der Leimruthe sitzen. Mehr als vierzig Personen betheiligen sich heute am Spiele, gleichwohl herrschte eine beinahe lautlose Stille, die nur durch das Rollen der verhängnißvollen Kugel oder durch das Klingen der Münzen unterbrochen wurde. Herren und Damen von allen Altersstufen und von den verschiedenartigsten europäischen Nationenen brachten ihre Tribute. Ein englischer Lord, Spieler von Profession, saß ernst und verschlossen in der Nähe der Croupiers. Mit ungetheiltester Aufmerksamkeit verfolgte er jede ihrer Manipulatioen, aber seine Gesichtszüge zeigten eine gleiche marmorne Unbeweglichkeit, mochte er hundert Louisd’ors verlieren oder eine ebenso große Summe gewinnen. Ihm gegenüber stand sein Gegenstück, ein beweglicher junger Franzose. Sein blasses Gesicht überflog bei jedem entscheidenden Momente eine fieberhafte Röthe, die zusammengekniffenen Lippen zuckten, sein kleines, stechendes Auge irrte unstät auf dem grünen Tische umher. Er spielte mit entschiedenem Unglück. Er verdoppelte, er verdreifachte seinen Satz, er versuchte alle Felder, alle Ziffern, nirgends aber war ihm seine Göttin hold. Endlich eine kurze Pause – eine stumme Frage an sich selbst – ein kühner Griff und – er setzte seine letzte Summe, zweihundert Louisd’ors, auf das betrügliche grüne Tuch. Einen Augenblick darauf waren sie der Krücke des kalten Croupier verfallen, und er selbst verließ, ohne auch nur der geringsten Theilnahme sich getrösten zu könen, die Hölle, um vielleicht in eine andere … Doch hinweg mit solchen Bildern.
Ein neuer Gast ersetzt die verlassene Stelle. Ein Handwerksbursch, ein Schneider seines Zeichens, war von dem Glanze der prächtigen Säle gelockt, mit schnellem Schritte in dem Spielsaale eingedrungen. Die goldbordirten Portiers, die sonst nur dem anständig Gekleideten den Eintritt gestatten, hatte er durch sein sicheres, ungenirtes Auftreten zur völligen Passivität gebracht und er behauptete jetzt seinen Platz wie irgend einer. Das Spiel schien ihm zu gefallen. Mit gemächlicher Ruhe überblickte er das Schlachtfeld, und endlich überkam ihm die Lust, selbst mit zu kämpfen.
„Was kost’s, wenn man halt mitthun will?“ ging er gemüthlich fragend seinen Nachbar an.
„Einen Gulden!“ lautete dessen halb verächtliche, halb schelmische Antwort.
„A Gulden, das ist halt a viel Geld,“ brummte er leise vor sich hin, „müssen’s aber doch a mal versuche“ – und damit griff er in die Tasche, zog einen langen baumwollenen Beutel heraus und zählte für sich in aller Seelenruhe, ohne nur im Geringsten auf die neben ihm stehende feine Welt zu achten: „1 Kreuzer und 2 Kreuzer thut 3 Kreuzer und 4 Kreuzer thut 7 Kreuzer“ – und so zählte er eine schwere Hand voll zusammengefochtener Kupfermünzen, bis er 60 Kreuzer zusammengebracht hatte. Mit einem Heldenblicke warf er diese seine Kerntruppen auf das Feld mit der größten der geschriebenen Zahlen, auf Nr. 36 und rieb sich dann, selig schmunzelnd, die erleichterten Hände. Das Echo des gewaltigen Niederschlags war ein lautes Lachen und Kichern der versammelten Menge und die servilen Kreaturen mit den Krücken lachten mit. Dann warf einer der Croupiers das schwarze Kupfer auf die Seite und setzte dafür einen blanken, schönen Gulden. Die Kugel rollte und – zwei Secunden später glänzten auf der glücklichen Nummer des Schneiders neben dem seinigen noch 36 nagelneue Silberstücke. Alles blickte das Glückskind an, Jeder meinte jetzt in seinen Gesichtszügen den Affekt der Freude am Sichersten studiren zu können; doch sein Antlitz blieb unbewegt und mit höchst gelassener Ruhe erwiederte er die auf ihn gerichteten Blicke. Viele Felder wurden unterdessen von Neuem besetzt, die Croupiers riefen ihr: „le jeu est fait!“ – und eben sollte das neue Rennen beginnen: da erbarmte sich noch zur rechten Zeit ein getreuer Nachbar des mit seinem Glücke unbekbannten Schneiders, indem er ihm in’s Ohr raunte: „Da laßt’s doch nicht stehen, es geht Euch ja wieder verloren, das Geld ist Euer!“ Aber das letzte Wort hören und seine gewonnenen Gulden und dazu alle nur erreichbaren hier und da aufgepflanzten Geldstücke in den Hut hineinschieben, – das war Alles Werk nur eines Augenblicks und ebenso schnell sprang er spornstreichs zum Saale hinaus. Die ganze Versammlung blickte versteinert nach der Thür, unter welcher er verschwand und Niemand dachte daran, ihm nachzueilen und ihm seinen Irrthum begreiflich zu machen. Das Unerwartete der Scene hatte Augen und Füße zum Stillstehen gebracht und das allgemeine Gelächter, das dem Schweigen der Ueberraschung folgte, bewies deutlich genug, daß die betreffenden Spieler mit ihren paar Gulden, die in des Schneiders Hut herabgerollt waren, das Komische der Situation sehr gern bezahlten. Doch die wahrhafte Herzensfreude ist an einer Spielbank von nicht langer Dauer. Die Gesichtszüge der Spieler fanden sich recht bald wieder in ihre richtigen Verhältnisse und zeigten die Glut der Leidenschaft oder das Eis kalter Berechnung.
Am Auffälligsten erschien mir jetzt eine französische Marquise. Ihr Alter suchte sie hinter den rothen Bändern des geschmackvollen Häubchens zu verbergen, weniger wollte es ihr gelingen, die Gefühle zu verheimlichen, die die verschienen Chancen des Spiels in ihr hervorriefen, und das Lächerlichste war jedenfalls die Art und Weise, mit der sie diese den Croupiers gegenüber äußert. Gewann sie, dann blickte sie unter freundlichem Zunicken mit dem süßesten Lächeln auf den Lenker der glückbringenden Kugel, verlor sie aber, dann ruhte ein Auge mit zwanzig Ahnen, ein Blick der zermalmenden Verachtung auf der bekrückten Kellnerseele. In dieser letzten Haltung war sie heute nur zu häufig zu bewundern; denn sie theilte das Schicksal ihres unglücklichen Landsmanns, dem man bereits die Taschen völlig geleert hatte.
„Die arme Marquise!“ sagte mir mein Freund heimlich in’s Ohr, „sie verliert heute ihren letzten Bedienten. Beim Beginne der Saison traf sie in glänzender Equipage, mit zwei Gesellschafterinnen, drei Dienern und diversem weiblichen niederen Dienstpersonale in Homburg ein, bis jetzt hat sie von allem Dem nicht weiter als einen alten Diener, und ich wette darauf, sie bekommt morgen von der Spielbaenk ihre zehn Louisd’ors Reisegeld, um, wenn auch sehr erleichtert, doch wenigstens ungehindert ihr Vaterland erreichen zu können.“
Ich war des Treibens müde und veranlaßte daher meinen Begleiter, den Spielsaal zu verlassen.
„Nur einige Augenblicke verweilen Sie noch!“ flüsterte mir dieser zu, „soeben kommt ein unglückliches Opfer dieser Hölle, dessen Anblick mich stets mit Trauer und Wehmuth erfüllt. Das Weitere erzähle ich Ihnen draußen in freier, frischer Luft.“ Dabei lenkte er meine Aufmerksamkeit auf eine Persönlichkeit, die mir Zeit meines Lebens unvergeßlich sein wird. Ich erblickte einen langen, hagern Mann in dem mittleren Lebensalter. Sein Gesicht war bleich, die Augen starrten ohne Ausdruck und unbeweglich nach den goldenen und silbernen Bergen auf dem Spieltische, seine Haltung war gedrückt, fast gebrochen. Mit dem Anstriche der Gewohnheit zog er einen Gulden aus der Tasche und setzte ihn auf noir. die Kugel lief und – der Gulden gehörte der Bank. Ohne auch nur im Geringsten einen Zug des Aergers oder des Hohns oder irgend eines andern Gefühls durch seine Mienen zu erkennen zu [61]
geben, wandte sich der Räthselhafte der Thüre zu. Wir, mein Begleiter und ich, thaten das Gleiche.
„Dieser Mann, der soeben den Spielsaal verließ,“ erzählte mir jetzt mein führender Freund, „ist von Hause aus ein ehrbarer Handwerker. Er arbeitete in einem benachbarten Landstädtchen mit Glück und Geschick und erfreute sich eines ziemlichen Wohlstandes. Ein braves Weib und drei liebe Kinder theilten mit ihm in anspruchsloser Weise den Segen seines Fleißes. An einem Sommersonntage ging er mit den Seinen nach Homburg, und an diesem Tage legte er im Glücke den Grund zu seinem jetzigen namenlosen Elende. Die Geschichte ist kurz. Er ging in den Kursaal, um dem Spiele zuzusehen, versuchte selbst auch einen Gulden, gewann in beinahe beispielloser Weise und kehrte am Abende mit einer beträchtlichen Summe voll Jubel und Freude in sein bescheidenes Städtchen zurück. Sie errathen selbst, daß ihn der nächste Sonntag von Neuem zum grünen Tische führte, und es ging ihm auch diesmal so sehr nach Wunsche, daß er meinte, er habe nun die Schrift seines Schicksalbuchs verstanden. Er spielte jetzt auch in den Wochentagen, und in kurzer Zeit war er ein Mann von 60,000 Gulden. Sein noch wachender Engel führte ihn zu sich selbst zurück. Er ließ jetzt ab vom Spiele, kaufte sich ein Haus, betrieb sein Gewerbe im größeren Umfange und verlebte ein glückliches und segensreiches Jahr. Wie es aber den Meisten ergeht, die sich einmal einer Leidenschaft ergeben haben, so erging es auch ihm. Die Leidenschaft erwachte von Neuem, und wie vom Schlummer gekräftigt, erfaßte sie ihm mit doppelter Stärke. Er spielte wieder und von jetzt an mit ebenso entschiedenem Unglücke, als der früher glücklich gewesen war. Er verlor sein Haus, sein Vermögen, damit seinen Credit, und was das Schlimmste war, seine sittliche Kraft und seinen Verstand. Die Menschen haßte er, und gegen die Seinigen, die er ehedem von ganzer Seele liebte, wurde er Tyrann. Sein Weib lebt jetzt getrennt von ihm, die Kinder gehören der Mutter, er selbst aber wendete sich in eine benachbarte große Stadt, um unbemerkter zu bleiben. Hier arbeitet er nun für spärlichen Tagelohn vom frühen Morgen bis zum spätesten Abend, ißt trocknes Brot und wohnt unter dem kalten Dache in [62] einer elenden Kammer. Muß er doch jede Woche noch zwei blanke Gulden zurücklegen!“
„Für Weib und Kinder?“ – unberbrach ich meinen Erzähler.
„O, wenn es dazu geschähe, dann könnte er noch gerettet werden! Doch schon lange denkt er nicht mehr an die verlassenen Seinen. Ein böser Traum hat ihn gelehrt, daß ihm sein Glück auf schwarzem Grunde blühe. Jeden Sonntag und jeden Donnerstag erscheint er daher, ermattet von Entbehrung, matter noch durch den dreistündigen Weg, im Kreise der Spieler und wirft gewohnheitsmäßig seine Gulden auf noir. Verliert er ihn, dann geht er, wie Sie ihn gesehen, augenblicklich davon, um seinen beschwerlichen Rückweg anzutreten; gewinnt er aber, dann läßt er das Gewonnene und den Einsatz stehen und treibt dies so lange, bis die Teufelskrücke des Croupiers das Feld ihm räumt. Der Blödsinnige lebt des irren Wahns, daß er auf diese Weise sicher einmal seine 60,000 Gulden wieder gewinnen werde.“
Unterdeß hatten wir mein Gasthaus erreicht. Ich ging in den Speisesaal zum Soupé und überblickte im Geiste noch einmal das eben Gesehene und Gehörte. Am Längsten verweilte meine Seele bei dem unglücklichen Irren, der jetzt in dunkler Nacht seiner öden Kammer zuschritt, und ich hätte vielleicht noch lange mir sein Bild vorgehalten und noch lange seiner Sorgen und Mühen um die zwei Gulden gedacht, die er nächste Woche als Sold der Leidenschaft einzeln wieder hierher bringen muß – hätte mich nicht plötzlich das Knallen der Champagnerpfropfe zu mir selbst geführt. Beamte der Spielbank ergötzten sich beim schäumenden Nectar, sich erfreuend ihres Glücks und süß hinträumend in bacchantischer Lust. Nur einen Traum verstanden sie nicht oder wollten ihn nicht verstehen: den Traum vom Glück auf schwarzem Grunde.
„Der traurige Zustand der türkischen Armee in Asien, bei welcher ich, wie Ihnen bekannt, gleich vielen andern Europäern Dienste nehmen wollte, schreibt uns ein junger Freund, den die Kriegslust nach dem Orient getrieben, verleidete mir den Aufenthalt im Hauptquartiere gar bald, und Sie werden sich darum nicht wundern, wenn Sie erfahren, daß ich meinen Wanderstab weitersetzte, ebensowenig, daß hier, in dem sagen- und alterthümerreichen Lande die Lust an meine Lieblingsstudien neu erwachte. Bekanntlich soll hier die erste Stadt der Welt gebaut worden sein, und zwar von Noah. Die Armenier nennen sie Nachitschiwan (das erste Niedersteigen oder Landungsplatz), und Noah bauete sie mit seinen Kindern, nachdem sie die Arche auf dem Ararat verlassen hatten. Auch Eriwan, Aguri u. a. Städte versetzt die Ländersage in die Zeit Noah’s zurück.
Ich reißte zuerst von Kars[WS 2] nach dem schönen See von Wan zu, der so groß sein mag wie das Marmor-Meer und zwei Inseln umspült, auf denen große armenische Klöster gebaut sind. Der Weg zieht sich lange an dem blauen kleinen Meere hin, das leider nicht von Schiffen und Böten belebt ist wie in alter Zeit. Die Gegend ist so schön, daß ich den Reisenden vor mir beistimme, welche sie für die schönste in Asien erklären. Die Stadt Wan selbst liegt in einer großen Ebene, welche mit Dörfern und Gärten überstreut ist und an zwei Seiten von imposanten Bergen begrenzt wird, auf die man eine unbeschränkte Aussicht hat. Eine sehr merkwürdige Erscheinung ist der kahle Felsen, der dicht neben der Stadt Wan mitten aus der Ebene schroff und allein emporsteigt, so daß man ihn für einen Bau von Menschenhand halten könnte, zu den ihn die Sage auch machen will.
Die große Königin Semiramis von Ninive soll ihn durch ihre Tausende von Sclaven haben aufbauen lassen. Das ist nun zwar sicherlich nicht der Fall; das Andenken an Semiramis hat sich aber in diesen Gegenden bis zum heutigen Tage erhalten, und unwahrscheinlich ist es nicht, daß sie das Castell auf dem Felsen, so wie die Stadt bauen ließ. Der größte Geschichtschreiber der Armenier, der gelehrte Moses von Chorew, spricht sehr ausführlich von der Anwesenheit jener berühmtesten Herrscherin des Alterthums in Armenien, von dem Entzücken, in das sie bei dem Anblicke des reizenden Landes gerathen, von den großartigen Bauten, die sie da ausführen ließ, namentlich von ihrem Palaste auf dem Felsen und den Sälen, Niederlagen von Schätzen, Gallerien u. s. w., in dem harten Gestein. „An allen Wänden des Felsens ließ sie Inschriften eingraben, um ihr Andenken für die Zukunft zu bewahren,“ bemerkt er zum Schluß.
Diese Inschriften in Keilschrift sind noch heute erhalten, es ist aber sehr beschwerlich und gefährlich zu denselben zu gelangen. Unser unglücklicher Landsmann Schütz, der 1827 da war, wagte es, auf den Resten der Treppe, die sonst auf den Gipfel des Berges führte, hinaufzusteigen und die Inschriften zu copiren. Man muß an Ort und Stelle sein, um beurtheilen zu können, wie heroisch sein Unternehmen war, denn die Reste der Treppe sind schmal und bröckelich, die Felsenwand aber ist so steil und glatt, daß an ein Anhalten daran nicht zu denken ist, und die Inschriften befinden sich in einer Höhe von vielleicht hundert Fuß.
Die Citadelle, welche den Gipfel des Berges krönt, gewährt eine der herrlichsten Aussichten, war aber bis ganz vor Kurzem in dem traurigsten Zustande; erst in der neuesten Zeit hat man Einiges für sie gethan. Leider fehlt es ganz an Wasser oben, das auf dem Wege an der Nordseite des Berges hinaufgetragen werden muß. Bis vor den Ausbruch des jetzigen Krieges bestand die Besatzung aus einem alten Türken, welcher Niemanden ohne spezielle Erlaubnis des Paschas hineinläßt und die Vertheidigungsmittel waren einige alte Kanonen auf zerbrochenen Lafetten. Dieser alte Vertheidiger der Citadelle hatte indeß den Auftrag, von Zeit zu Zeit eine der Kanonen zu laden und über die Stadt hin lozuschießen, damit die Bewohner derselben in dem Wahne erhalten würden, es befände sich eine furchtbare Geschützmacht da oben.
Ich sende Ihnen eine Bleistiftzeichnung dieser merkwürdigen Festung, die Sie vielleicht noch durch eine bessere in irgend einem englischen oder russischen Reisewerke befindliche Abbildung verbessern können. Morgen denke ich den Ararat zu besteigen und sämmtliche Merkwürdigkeiten des noch so unbebauten Armeniens zu besuchen. Auch an „Reisebildern“ für Ihre Leser wird es nicht fehlen, ich müßte den Räubern oder Russen in die Hände fallen und das Leben oder die Freiheit verlieren.“
Ueberbevölkerung! Massenarmuth! Pauperismus! so heißt das furchtbare Gespenst, dessen Alpdruck auf der modernen Gesellschaft lastet, das sich an die Fersen der vorwärtseilenden Civilisation heftet, und auf ihr stolzes Triumphgeschrei mit Jammertönen antwortet, das dem Menschenfreunde die Freude an den Fortschritten menschlichen Erfindungsgeistes, an den Siegen menschlicher Kunst über die lebenszerstörenden Kräfte der Natur, an dem blühenden Emporwachsen neuer Geschlechter vergällt durch den Gedanken, daß fast jeder dieser Fortschritte eine Menge fleißiger Hände außer Thätigkeit setzt und zahlreiche Familien ihres gewohnten Erwerbes beraubt, daß die längere Lebensdauer, welche der Mensch der Natur abringt, den sich immer dichter zusammendrängenden Existenzen mehr und mehr die Stätte ihres Daseins und die Gelegenheiten ihres Fortkommens verengt, und daß von [63] den rasch nachwachsenden Generationen ein immer größerer Theil nur dazu bestimmt scheint, zu erproben, wie weit die Fähigkeit der menschlichen Natur reiche, zu entbehren, zu darben und zu leiden.
Solche oder ähnliche Klagen über das, angeblich in fortwährendem Wachsthum begriffene Mißverhältniß der Bevölkerungszahl zu den vorhandenen Nahrungs- und Erwerbsmitteln, über die daraus hervorgehende Massenarmuth und ihre schrecklichen physischen und moralischen Folgen vernimmt man heutzutage häufig nicht blos aus dem Munde derer, welche geflissentlich darauf ausgehen, durch solche Schilderungen die Gemüther für ihre Ideen einer allgemeinen Gesellschaftsreform empfänglicher zu machen und die dringliche Nothwendigkeit derartiger Reformen zu beweisen, sondern auch von Solchen, die kein derartiges Parteiinteresse, vielmehr nur das allgemeine Gefühl der Menschlichkeit oder die Sorge um die Zukunft der Gesellschaft leitet. Es geht indeß mit dieser, wie mit den meisten Behauptungen so allgemeiner und unbestimmter Art: sie werden aufgestellt, für wahr gehalten, nachgesprochen und fortgepflanzt, ohne daß man sich die Mühe nimmt, ihre Nichtigkeit zu prüfen. Weil man die, unleugbar vorhandene, und nicht selten gräßliche Noth in der Gegenwart vor Augen sieht, so vergißt man, ganz nur von diesem Bilde erfüllt, zu forschen, ob es denn früher anders gewesen, und weil man dicht neben jener Noth – allerdings ein tiefschmerzlicher Contrast Wohlstand und Luxus, die Kinder der fortschreitenden Kultur der materiellen Interessen, der Industrie und des Handels erblickt, so meint man, diese dafür verantwortlich machen zu müssen, daß, während Einzelne im Ueberflusse schweben, Andere darben, und vergißt dabei ganz, daß zu einer Zeit, wo diese materiellen und industriellen Interessen noch in ihren Anfängen waren und zum Theil ganz brach lagen, es an ähnlichen, ja an noch schroffern Contrasten zwischen Arm und Reich, zwischen Wohlleben und Dürftigkeit nicht fehlte.
Aber, wird vielleicht Mancher einreden, was hilft es, zu erforschen, ob diese jetzt auf uns lastende Massenarmuth auch schon früher dagewesen, oder nicht? Wird das Uebel dadurch gelindert, daß wir nachweisen, es sei kein neues, sondern ein sehr altes? Oder kann es den Nothleidenden in der Gegenwart einen Trost gewähren, wenn sie erfahren, daß vor ihnen schon andere Geschlechter ebenso gelitten und gedarbt haben?
Und dennoch ist eine solche Untersuchung von großem, nicht blos wissenschaftlichem, sondern auch praktischem Werthe. Wenn wir durch sie zu der Ueberzeugung gelangen, daß Noth und Elend früher, bei einer viel dünneren Bevölkerung unsres Vaterlandes, ebenso groß, ja zum Theil größer gewesen, als heut, wo wir an vermeintlicher Uebervölkerung leiden, so werden wir weniger besorgt das fortschreitende Wachsthum der Bevölkerung wahrnehmen, und nicht so leicht Rathschlägen Gehör geben, welche, eben aus einer falschen oder doch übertriebenen Angst vor den Folgen eines solchen Wachsthums, darauf hinarbeiten, dasselbe durch künstliche Maßregeln zu beschränken. Wenn wir erfahren, daß zu den Zeiten eines strenggeschlossenen Gewerbebetriebes die Klagen über Nahrungsmangel und erdrückende Concurrenz nicht weniger häufig und oft begründeter waren, als jetzt bei größerer Freiheit der Gewerbe, so werden wir nicht allzu vorschnell dem Geschrei nach Wiedereinführung jenes beschränkten Zustandes unser Ohr leihen. Wenn der Arbeiter den Beweis durch Zahlen geliefert erhält, daß die Einführung des Maschinenwesens und der großen geschlossenen Etablissements seine Lage nicht verschlimmert, vielmehr verbessert hat, so wird er nicht auf den für ihn selbst wie für die Civilisation gleich unheilvollen Gedanken verfallen, diese Maschinen zerstören und an deren Stelle wieder die Handarbeit setzen zu wollen. Und so glauben wir denn nichts Ueberflüssiges zu thun, wenn wir den Versuch wagen, durch eine Gegenüberstellung der heutigen mit den ehemaligen Erwerbs- und Nahrungsverhältnissen, zunächst in unserm Vaterlande Deutschland jene Klagen über die, angeblich durch die Fortschritte der materiellen Kultur und den beschleunigten Bevölkerungszuwachs herbeigeführte Noth und Armuth auf ihr rechtes Maß zurückzuführen.
Zu dem Ende suchen wir zunächst uns ein Bild von dem Verbrauch der gewöhnlichsten Lebensbedürfnisse in einer früheren Zeit im Vergleich zu der jetzigen zu machen. Sollte sich dabei ergeben, daß sowohl der Verbrauch der ersten Nothwendigkeiten des Lebens, als der Genuß gewisser zu dessen Annehmlichkeit gehörenden Gegenstände trotz der vermehrten Bevölkerung nicht ab-, sondern zugenommen habe, so würde dies ein erfreulicher Beweis dafür sein, daß die Kultur in ihrer Richtung auf die Beschaffung der Bedürfnisse für die menschliche Gesellschaft mit der Zunahme der Bevölkerung nicht blos Schritt gehalten, sondern dieselbe sogar überflügelt und gleichsam der Natur den Rang abgewonnen habe. Und so ist es in der That, wie die nachfolgenden Thatsachen beweisen, die wir den freilich nur dürftigen statistischen Quellen jener früheren Zeiten entnehmen. Fangen wir bei dem ersten und wichtigsten Lebensbedürfniß, dem Brotgetreide an, so müssen wir annehmen, daß im Allgemeinen die Erzeugung desselben in Deutschland seit etwa hundert Jahren sehr bedeutend zugenommen habe, indem damals der Gesammtertrag der einheimischen Getreideproduktion nach ziemlich glaubwürdigen Berechnungen kaum mehr als den eigenen Bedarf der Bevölkerung deckte, höchstens einen geringen Ueberschuß zum Verkauf in’s Ausland darbot, wogegen jetzt nicht allein eine um ohngefähr die Hälfte stärkere Bevölkerung davon ernährt, sondern auch ein ziemlich beträchtliches Quantum nach außen abgesetzt wird. Nach den höchsten Schätzungen der damaligen Zeit (die aber von gewichtigen Statistikern stark in Zweifel gezogen werden) hätte Deutschland in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts eine Kornausfuhr von etwa zehn Millionen Thalern gehabt. Heutzutage beträgt die Mehrausfuhr an Getreide nur allein im Zollverein einige 20 Millionen Thaler; die des ganzen Deutschlands ohne Oesterreich ward von dem bekannten Statistiker, Freiherrn von Reden, im Jahre 1845 auf 6 Millionen Scheffel Weizen, 6 Millionen Scheffel Korn, 1 Million Scheffel Gerste und 6 Millionen Scheffel Hafer veranschlagt, was einen Geldwerth von mindestens 30–40 Millionen Thalern repräsentirt.
Indeß, dieser Beweis der gestiegenen Mehrausfuhr von Getreide genügt allein für unsern Zweck noch nicht; denn es könnte ja sein, daß nur um deswillen jetzt mehr ausgeführt würde als früher, weil das Preisverhältniß des Getreides im Auslande ein günstigeres wäre, als im Inlande, mit andern Worten, weil die inländische Bevölkerung zu wenig Mittel besäße, um ein größeres Quantum von dem lm Inlande erbauten Getreide kaufen zu können, daher, trotz des vorhandenen Ueberflusses, sich doch nur dürftig zu nähren vermöchte. Allein auch dieser Einwand wird verstummen müssen, wenn sich zeigt, daß der Verbrauch der inländischen Bevölkerung, nach Köpfen gerechnet, wenn nicht gestiegen, doch auch nicht gesunken ist, wo sich dann nothwendig der Schluß ergiebt, daß die vermehrte Bevölkerung in Bezug auf dieses erste Lebensbedürfniß sich mindestens nicht schlechter befinde, als die frühere, dünnere. Und auch dieser Beweis läßt sich führen. Abgesehen von den Berechnungen einzelner Statistiker der neueren Zeit, welche eine bedeutende Vermehrung des Verbrauchs von Getreide in Deutschland annehmen, liegen uns die, jedenfalls sehr sorgfältigen und auf Glaubwürdigkeit in hohem Grade Anspruch machenden Ermittelungen des statistischen Büreaus in Berlin über die Verzehrung von Brotkorn in den letzten fünfzig Jahren vor, und diese ergeben, daß in den Jahren 1806, 1831, 1842 und 1849 gleichmäßig vier Scheffel Korn auf den Kopf kamen. Hiernach ist klar, daß die vermehrte Ausfuhr von Getreide in der Gegenwart ein wirklicher Ueberschuß ist, herrührend von einer bessern Bebauung und Fruchtbarmachung des Bodens, so daß also schon bei dem gegenwärtigen Stande dieser Kultur nöthigenfalls selbst eine noch größere Menschenmenge ausreichend ernährt werden könnte. Daß wirklich die Benutzung des Bodens zur Gewinnung von Lebensmitteln sowohl Ausdehnung als ihrer innern Vollkommenheit nach in höchst erfreulichem Grade zugenommen hat, zeigt nicht nur ein Blick auf die in den letzten 50 bis 60 Jahren allerwärts vorgenommenen Verbesserungen. Gemeinheitstheilungen, Zusammenlegungen von Grundstücken, vervollkommnete Betriebsmittel und rationellere Arten der Bewirthschaftung, sondern es liegen auch darüber einzelne unzweideutige Angaben vor. So z. B. ward im Kurhessischen bei der im Jahre 1764 vorgenommenem Katastrirung der Rohertrag eines Ackers bester Qualität zu 281/2 Metze berechnet, während man ihn jetzt auf mindestens 41 Metzen, d. i. ungefähr noch einhalb Mal so viel veranschlagt.
Ein zweites wichtiges Lebensbedürfniß ist das Fleisch. Dessen Verbrauch hat sich in den letzten 50 Jahren (nach den oben angeführten zuverlässigen Ermittelungen) von 33 Pfund per Kopf auf 40 Pfund, also um beinahe 23 Prozent, gehoben.
Wir dürfen dabei nicht außer Acht lassen, daß auch noch [64] manche ganz neue Nahrungsmittel, die früher theils gar nicht, theils nur wenig in Gebrauch waren, während der letzten hundert Jahre mehr und mehr in Aufnahme gekommen sind und gegenwärtig einen ziemlich bedeutenden Antheil zu dem Gesammtverbrauch von Lebensmitteln liefern. Dahin zählen wir namentlich die Kartoffel, die bis zum siebenjährigen Kriege ein kaum nennenswerthes Quantum der Verzehrung in Deutschland bildeten, seit der großen Hungersnoth der siebenziger Jahre aber in immer größeren Mengen angebaut ward und dermalen mindestens das Doppelte des Getreideverbrauchs beträgt. Mag immerhin dieses Nahrungsmittel vom diätetischen Standpunkte aus, namentlich als alleiniges oder vorwiegendes, gegründeten Bedenken unterliegen, so muß man doch sagen: ein minder gutes Nahrungsmittel ist immer besser, als gar keines, und die Kartoffel hat wenigstens das Verdienst, in Jahren des Getreidemangels uns vor förmlicher Hungersnoth zu schützen, wie solche in frühern Zeiten beim Mißrathen der Brotfrucht regelmäßig und oft in furchtbarster Gestalt auftrat. Und, wie sehr auch zu wünschen wäre, daß unsere Bevölkerung statt der 9 bis 10 Scheffel Kartoffeln, welche man auf den Kopf rechnet, und deren Nahrungsstoff etwa 2 Scheffeln Getreide gleichgestellt wird, lieber 2 Scheffel Getreide mehr verzehrte, so darf man doch nicht vergessen, daß, wie schon angeführt, der Verbrauch an Getreide noch mindestens ebenso groß ist, als solcher, so daß jene Masse Kartoffeln einen reinen Zuwachs an Nahrungsmitteln darstellt.
Wir gehen über von den nothwendigen Lebensbedürfnissen zu den angenehmen Lebensgenüssen. An Kaffee kamen noch gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts nicht mehr als 1 oder höchstens 11/2 Pfund auf den Kopf, und zwar in den Gegenden, wo dieses Getränk schon am Meisten üblich war und am Wenigsten durch die Concurrenz des Wein- und Biertrinkens zurückgedrängt ward. Heut zu Tage rechnet man im ganzen Zollverein, einschließlich der Bier und Wein trinkenden Länder, 21/2 Pfund auf den Kopf. In Preußen hat sich der Kaffeeverbrauch seit 1806 von 2/3 auf mindestens 4 Pfund gesteigert. Der des Thees betrug im vorigen Jahrhundert kaum 1/5 Loth auf den Kopf, gegenwärtig beträgt er wenigstens 1/2 Loth, freilich immer noch eine Kleinigkeit gegen das, was in England verbraucht wird, wo, um dies beiläufig zu erwähnen, schon zu Ende des vorigen Jahrhunderts 31 Millionen Pfund Thee eingeführt wurden, etwa tausend mal so viel, als zu Anfange desselben Jahrhunderts. An Zucker verbrauchte man in Deutschland vor etwa 70 Jahren ungefähr 11/2 Pfund per Kopf, d. h. den dritten Theil des gegenwärtigen Bedarfs. Auch die Weinconsumtion hat sich bedeutend gesteigert. in Preußen z. B. von 3/4 Quart (1806) auf 2 bis 21/2 Quart (1849). Vom Taback, den ein so großer Theil unserer Bevölkerung zu den Unentbehrlichkeiten des Lebens rechnet, wird gegenwärtig mindestens dreimal so viel als früher verbraucht.
Ueberaus groß ist die Steigerung des Verbrauchs derjenigen Bekleidungsstoffe, deren Benutzung sich vorzugsweise auf alle Klassen der Bevölkerung erstreckt. So ist der Geldwerth, den der Einzelne durchschnittlich für Leder ausgiebt, binnen 50 Jahren von 12 auf 27 Silbergroschen gestiegen, und während von baumwollenen Zeuchen zu Anfang dieses Jahrhunderts nur erst 3/4 Elle auf den Kopf kam, hat sich dieser Verbrauch bis auf 16 Ellen, also um mehr als das Zwanzigfache, gesteigert. Da nun auch die übrigen Kleidungsstoffe in ihrem Verbrauche nicht abgenommen, sondern, wenn schon weniger bedeutend, ebenfalls zugenommen haben (Tuch von 5/8 Elle auf 1 Elle, Leinwand von 4 auf 5 Ellen, Seide von 1/4 auf 2/3 Elle), so ist jene Thatsache jedenfalls ein erfreuliches Anzeichen dafür, daß die zahlreichste Klasse der Bevölkerung, die sogenannte arbeitende Klasse, sich gegenwärtig mehr als früher in den Stand gesetzt sieht, solche Stoffe zu kaufen und zu tragen.
Wenn schon dieses eine Beispiel darauf hinweist, daß die allgemeine Steigerung des Verbrauchs nothwendiger und angenehmer Lebensbedürfnisse keineswegs etwa blos den höheren Klassen zu Gute gekommen ist, sondern daß auch die untern ihren verhältnißmäßigen Antheil daran haben, so lässt sich dieser Beweis dafür auch noch auf andrem Wege directer und überzeugender führen. Obschon nämlich durch die vermehrte Bevölkerung einestheils das Angebot der Arbeit gestiegen, anderntheils die Nachfrage nach den nothwendigen Lebensbedürfnissen erhöht ist, so ergiebt sich dennoch bei einer unbefangenen, sorgfältigen Vergleichung des Ehemals und des Jetzt, daß das Verhältniß zwischen den Arbeitslöhnen und den Preisen der hauptsächlichsten Bedürfnisse der Arbeiter im Allgemeinen eher ein günstigeres als ungünstigeres geworden ist. Wir wählen, um dies zu erweisen, ein naheliegendes Beispiel. Ein Tagearbeiter in Leipzig erhielt vor ohngefähr hundert Jahren taxmäßig 5 Neugroschen den Tag; dafür konnte er sich nach den damaligen Marktpreisen folgende Quantitäten der ersten Lebensbedürfnisse kaufen: 2/3 Kanne Butter, 1/2 Schock Eier, 2 Pfund Rind- oder Schöpsfleisch, 31/2-4 Pfund Kalb- oder Schweinefleisch, 105/12 Pfund Kernbrot, 1/20 Klafter weiches Holz. Gegenwärtig bekommt ein hiesiger Handarbeiter mindesten 10, sehr häufig 15 Neugroschen den Tag. Selbst bei den hohen dermaligen Preisen aller Lebensmittel erhält er für den erstern dieser Lohnsätze 1/2 – 2/3 Kanne Butter, 1/2 – 2/3 Schock Eier, 21/2 – 31/3 Pfund Rind- oder Schöpsfleisch, 4 Pfund Kalbfleisch, 12/3 – 2 Pfund Schweinefleisch, 10 – 11 Pfund Kernbrot, 1/14 – 1/18 Klafter weiches Holz. Schon bei diesem geringsten der heutigen Lohnsätze steht sich also der Arbeiter wenigstens ebenso gut, wie sein College vor hundert Jahren bei dem höchsten Tagelohn, das er erhalten konnte; denn, wir müssen dies hinzusetzen, der Arbeitslohn war damals nicht blos hier in Leipzig, sondern wohl allerwärts von Obrigkeit wegen streng festgesetzt und durfte selbst von den Arbeitgebern bei Strafe nicht überschritten werden. Nehmen wir nun aber vollends den, bei weitem häufiger vorkommenden höheren Tagelohn von 15 Neugroschen, so stellt sich heraus, daß der Arbeiter dafür fast durchweg entweder um die Hälfte mehr von den ersten Lebensmitteln, im Vergleich zu früher, verzehren oder sich etwas erübrigen kann. Daneben kommt noch in Betracht, daß andere Lebensbedürfnisse, wie namentlich alle Bekleidungsstoffe und überhaupt alle durch die menschliche Arbeit erzeugten Gegenstände, ganz bedeutend gegen früher billiger geworden sind, und daher auch, wie wir schon sahen, in ungleich größeren Mengen von der arbeitenden Klasse verbraucht werden. Das Verhältniß der Löhne in anderen Arbeitszweigen früher und jetzt haben wir hereits an einer andern Stelle (Nr. 32 des vorigen Jahrgangs) angedeutet. Auf eine Klasse der Arbeiter müssen wir noch etwas näher eingehen, weil man in der Regel annimmt, daß gerade diese Klasse durch den starken Bevölkerungszuwachs und das dadurch herbeigeführte massenhafte Angebot von Arbeitskräften vorzugsweise in ihrem Erwerbe bedrückt und in Dürftigkeit versetzt worden sei. Wir meinen die Arbeiter in der sogenannten Manufactur- oder Fabrikindustrie. Daß man hier nur zu häufig das allertraurigste Mißverhältniß zwischen Erwerb und Lebensbedarf, ja nicht selten die bare Unmöglichkeit antrifft, mit dem Ertrage des angestrengtesten Fleißes auch nur irgendwie auskömmlich und menschenwürdig zu leben, ist leider eine nicht abzuleugnende Thatsache. Nur täusche man sich darüber nicht, daß der Zustand dieser Bevölkerungsklasse auch in früheren Zeiten keineswegs ein besserer und zufriedenstellenderer war. Im Gegentheil müssen wir, der Wahrheit gemäß und auf Grund gewissenhafter geschichtlicher Forschungen bekennen, daß, wenn auch einzelne heruntergekommene oder durch besondere Conjuncturen gedrückte Gewerbszweige heutzutage ihren Arbeitern einen so kargen Verdienst abwerfen, als nur je früher vorgekommen sein mag (aber doch auch keinen kargeren), dagegen im allgemeinen Durchschnitt und nach der Mehrzahl der Gewerbe gerechnet, der heutige Arbeiterstand auch in der Fabrikindustrie, trotz seiner ungeheuern Vermehrung, sich dennoch eher besser als schlechter denn ehemals befindet. Es gab im vorigen Jahrhundert ganze Arbeitszweige (und noch dazu in größeren Städten), wo der Arbeiter im günstigsten Falle 2-3 Neugroschen den Tag, im ungünstigsten nur 1/2, ja 1/3 Silbergroschen verdiente, andere, wo der Allerfleißigste sich mit 8-10 Neugroschen in der Woche begnügen musste. Das ist freilich leidiger Trost für unsere armen schlesischen Weber und unsere sich kümmerlich nährenden erzgebirgischen Spitzenklöpplerinnen. Der Durchschnittsverdienst eines Spinners vor etwa 80 Jahren betrug 2/3 – 5/6 Thaler die Woche, und eine Familie von drei erwachsenen Personen konnte zusammen 2 – 21/2 Thaler erarbeiten. Heutzutage, wo das Spinnen fabrikmäßig, in geschlossenen Etablissements, betrieben wird, kann sich ein männlicher Arbeiter, je nach seiner Geschicklichkeit, von 21/6 Thaler bis zu 7 Thaler die Woche verdienen (im Mittel also wenigstens 3 Thaler), eine weibliche Arbeiterin 1 Thaler, so dass der Gesammtverdienst einer Familie von drei Personen auf’s Mindeste zwischen 4 und 5 Thalern beträgt, [65] aber auch bis zu 9 oder 10 Thalern ansteigen kann. Zieht man nun in Betracht, daß der Werth des Geldes gegen damals (im Vergleich zu den Preisen der andern Waaren) um etwa 50 p.Ct. gesunken ist, so erscheinen dennoch jene Lohnverhältnisse in der Gegenwart als die günstigeren. Dabei kommt noch wesentlich in Anrechnung, daß damals, wo diese Gewerbe im Hause betrieben wurden, der Arbeiter selbst für Licht, Feuer und Arbeitswerkzeuge zu sorgen hatte, während er jetzt alles dies in der Fabrik umsonst erhält.
Auch in den Handwerken hat man oft mit Unrecht die Folgen der Ueberbevölkerung angeklagt, als ob diese die Gewerbe übersetzt und so den Verdienst der einzelnen Gewerbtreibenden geschmälert hätte. Es liegen uns interessante statistische Vergleichungen über diese Verhältnisse vor, welche bis in den Anfang des 17. Jahrh. zurückgehen und das überraschende Ergebniß liefern, daß die Zahl der Gewerbsmeister im Verhältniß zu der Gesammteinwohnerzahl, während dieser langen Zeit theils sich gleich geblieben ist, theils sogar günstiger für die betreffenden Gewerbtreibenden geworden ist. So z. B. kamen in Kassel 1605 auf einen Schuhmacher 95 Menschen, auf einen Schneider 122, auf einen Schreiner 300; 1852 endlich auf einen Schuhmacher 119, auf einen Schneider 164, auf einen Schreiner 273. Noch weit günstiger gestaltete sich im Fortgange der Zeiten dieses Verhältniß für das Gewerbe der Bäcker und Fleischer. 1605 rechnete man in Kassel auf einen Bäcker 86 Personen, 1819 dagegen 334, 1852 aber gar 584; die durchschnittliche Zahl der Abnehmer auf einen Fleischer war 1605 ebenda 140, 1852 aber 525. Aehnliche Erscheinungen finden wir überall, wo nicht besondere Umstände, wie der fabrikmäßig eingerichtete Betrieb eines Gewerbes oder die Ausbreitung desselben über einen größern Kreis außerhalb des eigentlichen Betriebsortes einen überwiegenden Einfluß geübt haben.
Noch manche andre Thatsachen können wir anführen, aber es genügt wohl an den beigebrachten, um uns die Ueberzeugung zu verschaffen, daß die theilweise herrschende Noth und Dürftigkeit keineswegs etwa durch die neuesten Fortschritte unsrer Kultur und Industrie geschaffen, sondern lange vor diesen vorhanden gewesen, daß sie auch nicht im Verhältniß zu dem rascheren Wachsthum der Bevölkerung gewachsen, sondern hinter diesem zurückgeblieben, ja zum Theil trotz desselben geringer geworden ist. Wollen wir damit das vielfach vorhandene Mißverhältniß zwischen der Bevölkerungszahl und den zu Gebote stehenden Erwerbs- und Nahrungsmitteln leugnen? Keineswegs! Oder wollen wir denen widersprechen, welche eine theilweise Ableitung dieses Bevölkerungsüberschusses im Wege der Auswanderung, für wünschenswerth erklären? Ebensowenig! Nur warnen wollen wir, daß man sich nicht übertriebenen und oft unbegründeten Besorgnissen in Betreff der zunehmenden Bevölkerung hingebe, oder wohl gar, durch solche veranlaßt, der modernen Kultur und ihren rastlosen Fortschritten einen ebenso thörichten als erfolglosen Krieg erkläre.
Jahrhunderte und Jahrtausende lang sind die Menschen, und selbst Gelehrte und Naturkundige, über und durch allerlei Schmutz gegangen, ohne zu ahnen, daß sie damit eins der edelsten Metalle mit Füßen treten. Die Stiefelwichser, welche für einen halben Silbergroschen und oft noch billiger Schuhe und Stiefeln abbürsten und wichsen, haben vielleicht dreimal so viel Geld von den Stiefeln in alle Winde gebürstet, als sie dort verdienten. Die Sache ist, daß nicht nur, wie der Engländer sagt, „Zeit Geld ist,“ sondern auch in Thon und Lehm Viergroschenstückchen und Thaler ziemlich dicht neben einander wohnen. Die Chemiker wußten zwar schon lange, daß in Thon ein Metall steckt, Alum oder Aluminum genannt, und Alumina einen der Hauptbestandtheile der Erde bilden. Humphry Davy, der berühmte englische Physiker, erkannte in Alumina, was im Allgemeinen blos ein gelehrter Name für „Thon“ war, ein metallisches Oxyd, d. h. einen elementarischen Stoff, ein Metall, durch Sauerstoff chemisch verändert, verrostetes Metall, das man, befreit von Sauerstoff und in seiner elementarischen Reinheit dargestellt, Aluminum nennt. Doch sah man dieses neue Metall, obgleich es wie ein reicher Vetter des Silbers aussieht, lange über die Achsel an. Erst als Delville, der geniale französische Chemiker, eine Art Industrie daraus machte, dieses neue Silber (nicht Neusilber) im Großen aus seiner schmutzigen Knechtsgestalt zu erlösen, und Wöhler, der deutsche Chemiker, ebenfalls[4] auf eigne Manier aus Thonklumpen den reinen Adel des Metalles hervorwusch; erst als die Naturkundigen aller drei Kulturvölker gemeinsam zeigten, daß, wie nicht Alles Gold ist, was glänzt, das Edelste und Werthvollste auch im unscheinbarsten Lehmschutte wohnen kann, erst dann fingen die Gelehrten und Naturfreunde an, sich ein Licht über dieses neue Metall aufgehen zu lassen und sich zu „aluminiren.“ Nun zeigte man unlängst gar in der Akademie der Wissenschaften zu Paris ganze Barren dieses edeln Metalls, daraus geschlagene Medaillen von mehreren Zollen Durchmesser (in der Regierungs-Münze geprägt) und andere Formen und Massen davon, alle nach der Delville’schen Methode, die ungemein leicht und wohlfeil sein soll, aus gemeinem Thon chemisch herausgeschieden. Den technischen Proceß dieses Ausscheidens können wir hier nicht klar machen, denn dazu gehören wirkliche Experimente; wir erwähnen nur, daß Delville den Thon mit gewöhnlichem Kochsalz in einem Porcellangefäße bis zu einer hohen Temperatur erhitzt, wodurch das metallische Aluminum sich vom Sauerstoff trennt und zunächst in einer kochsalzartigen Masse erscheint, die durch die Reaction einer Säure sich vollends reinigt und das Metall in kleinen weißen Kügelchen vollkommen rein zum Vorschein bringt. Dieses Metall ist so weiß wie Silber und eben so hämmer- als dehnbar. Doch zeigt es größern Widerstand und nähert sich mehr der Hartnäckigkeit des Eisens. Durch kaltes Hämmern wird es noch härter, doch in großer Glühhitze gewinnt es seine Dehnbarkeit und Nachgiebigkeit dauernd wieder, d. h. auch nach dem Erkalten. Sein Schmelzpunkt weicht von dem des Silbers etwas ab, es ist ein guter Wärmeleiter und kann der Luft ausgesetzt werden, ohne daß so leicht Oxydation (d. h. Rosten durch Verbindung mit Sauerstoff) sichtbar wird. Letzterer Umstand ist die eigentliche Probe des Edeln. Je mehr ein Metall dem Alles zerstörenden (und Alles belebenden) Sauerstoffe widersteht, desto edler ist es.
„Jeder,“ sagt Delville, „wird leicht einsehen, wie ein Metall weiß und unveränderlich, wie Silber, das durch gewöhnlichen Gebrauch im Leben seinen Glanz nicht verliert, hämmerbar, dehnbar und zähe mit der besondern Eigenschaft, daß es zugleich leichter ist als Glas und in unerschöpflichen Massen überall gewonnen werden kann, von der ungeheuersten Wichtigkeit für Industrie und Kunst werden muß, sobald man gelernt hat, es leicht und wohlfeil darzustellen. Ich habe Grund zu hoffen, daß dies möglich und ausführbar ist, denn Chlor-Aluminum läßt sich sehr leicht in hoher Temperatur durch die gemeinsten Metalle zersetzen. Experimente dieser Art, die ich jetzt im Großen ausführen werde, müssen bald alle bisher noch übrig gebliebenen Zweifel beseitigen.“
Die Zweifel sind gelöst, denn die Metallbarren, welche er schon vorigen August der Akademie der Wissenschaften vorlegte, nahmen in ächter edelmetallischer Solidität deren Stelle ein. Allerdings kommt es immer noch auf genaue Berechnung und Vergleichung der Auslagen und Arbeiten mit den Ergebnissen an. Und dann muß die Menschheit auch erst allmälig daran gewöhnt werden, denn im Allgemeinen ist sie gegen neue Erfindungen und deren praktische Anwendung immer noch nicht viel besser, als die Bauern, die Friedrich der Große mit dem Krückstocke zwingen mußte, Kartoffeln zu stecken.
Ebenfalls von großer Wichtigkeit ist der neue Zwillingsbruder des Aluminums, das Silicium, das bisher eine Rarität der Chemiker war. Delville fand, daß Silicium gewöhnlich in Aluminum stecke, wie etwa Mangan in Eisen, oder vielmehr, daß Silicium und Aluminum zusammen eine Art Graphit bilden, d. h. daß sich diese Verbindung zum reinen Metalle eben so verhalte, wie der Stoff, aus dem man Bleistifte macht, zum reinen Kohlenstoffe.
[66] Ob sich das Silicium (d. h. das metallische Element, welches dem Kiesel zu Grunde liegt) praktisch von Wichtigkeit zeigen werde, hängt von weiteren Untersuchungen und Experimenten ab.
Aluminum aber allein scheint nichts weniger als einer der mächtigsten Revolutionairs für große Heere der Industrieen und Künste werden zu wollen. Viel Thonarten enthalten 25 Procent reine Schwester des Silbers: Aluminum. Wo giebt es eine Grenze für deren Production? Funkeln nicht in den zukünftigen Küchen unserer kleinen Töchter die groben, zerbrechlichen Töpfe und Tiegel und Schüsseln als reines, solides Aluminum-Silber? Wie glücklich werden sie als Frauen sein, da sie sich nicht mehr alle Tage über „zertöpferte“ Geschirre ärgern müssen! Und was wird die Chemie dem neuen Freunde veranken? Aluminum ersetzt nämlich in vieler Beziehung das jetzt in der Chemie unentbehrliche Platin. In manchen chemischen Fabriken kosten allein die Platingefäße 8–10,000 Thaler. Das unentbehrliche Platin kommt jetzt meistens aus Rußland. Die Auferstehung des Aluminums aus der Lehmgrube kann für dasselbe eine empfindlichere Niederlage werden, als der Fall Sebastopols, zumal da, wie die Conjuncturen der Diplomaten jetzt stehen, die „westliche Civilisation“ absichtlich auf Gewinn für dies „Civilisation“ verzichten zu wollen scheint. –
Und die Folgen für die socialen Verhältnisse aus der versilberten Lehmhütte? Je nun, wenn die Leute in der ärmsten Hütte auch mit silbernen Gabeln ihr Fleisch in den Mund spediren, wird Niemand mehr wünschen, mit silbernen Pantoffeln geboren zu sein. Hat doch schon die Galvanoplastik den soliden Silberschrank der Reichen in Mißcredit gebracht. Wie kann der solid Besilberte Jedem beweisen, daß seine Leuchter und Löffel nicht blos durch galvanische Electricität überzogen wurden? Wie glänzt die Welt in der Zukunft! Jetzt welche Masse von Dingen, Decorationen und allerhand schönen Sachen, welche bald rosten! Wird man sich künftig nicht Alles von gereinigtem Thon, von unrostbarem Aluminum anschaffen und vielleicht ganze Häuser davon bauen können? Und zu guter Letzt kann sich nicht Jeder noch nach dem Tode verdient machen? Wir wissen, daß unser Leib wieder zu Erde wird. Im Falle wir nun sterben, ohne Silber und Gold zu hinterlassen, könnte man arme Verwandte zu Universalerben der Viergroschenstückchen machen, die Chemiker aus unsern irdischen Ueberresten herausschneiden möchten.
Im Ernste ist Aluminum kein Spaß mehr. Vor 50 Jahren war es auch ein Problem und eine Neuigkeit, Soda aus Seewasser zu gewinnen; jetzt producirt man sie zu Hunderttausenden von Centnern daraus. Sieht es aber von vorn herein nicht viel großartiger, kulturgeschichtlicher, lebensfreudiger aus, Silber aus dem Thone unter unsern Füßen zu ziehen, wofür man sich kaum eine Grenze der „Tragweite“ denken kann?
Man hat in allen Feldzügen grausige Scenen gesehen, dem Zug der Verbündeten in die Krim war aber das Ungeheuerlichste vorbehalten. Mitten im Schlamm, Wasser und Blut war eine Armee nahe daran, des leidigen Hungertodes zu sterben; für die eingerissenen Krankheiten waren keine Aerzte zur Behandlung und keine Medicamente da; für die Pferde weder Hafer noch Heu, die armen Thiere schleppten ihre Reiter nur mühsam fort und oft stürzten sie unter ihnen zusammen, um nicht wieder aufzustehen. Die sonst so kräftige Mannschaft schlich in abgehärmten Gestalten umher, kaum daß sich die Wachen auf den Füßen halten. Wer möchte die einzelnen Jammerscenen alle beschreiben, die im Laufe der letzten Monate sich ereigneten?
Neuerer Zeit soll das etwas anders geworden sein. Warme Kleider, hinreichende Kost, gutes Unterkommen, für Kranke Medicin, auch neue Mannschaft, die Leben in’s Lager bringt; statt der ausgehungerten Herumschleicher sieht man wieder die straffen Grenadiere, welche in diesem Zustand gegen den Feind zu führen eine wahre Lust sein muß. England will seine schwer heimgesuchte Krim-Armee wenigstens nachträglich zu entschädigen suchen. Auf das Elend soll der Comfort folgen, wobei sogar die Lektüre nicht vergessen worden ist und unter Anderm die übersetzten Dorfgeschichten unsers Landsmanns Auerbach den Grenadieren in 200 Exemplaren geboten werden. Die hölzernen Häuser, welche gleichzeitig aus England mit anlangten, und den trefflichsten Schutz gegen alle Unbilden des Wetters gewähren, werden den Belagerern wahrscheinlich willkommener sein, als die gesandten Bibliotheken.
In unserer Zeit wird schnell vergessen und so wird binnen Kurzem kaum noch Jemand von den Leiden der englischen Armee in der Krim sprechen. Man hat die Todten in Löcher von vier bis sechs Fuß gescharrt, und schreitet nun über sie hin. Allein ein Schrei erhebt sich doch noch! Man fragt, wie konnte die Armee in jenen Zustand gerathen? Und die Antwort lautet: durch die Nachlässigkeit und Unfähigkeit der Offiziere, zumal der mit dem Verpflegungswesen Betrauten. Bekanntlich werden aber in England alle Offiziersstellen gekauft, meist von den jüngeren Söhnen aristokratischer Familien, so daß das ganze Heer von lauter Aristokraten befehligt wird. Diese klagt nun die öffentliche Meinung in England an, daß sie durch ihre Unfähigkeit Tausende von Engländern dem Tode überlieferten, abgesehen von all den Fehlern, die sie sich seit Eröffnung des Feldzugs zu Schulden kommen ließen. Die Alleinbefähigung der englischen Aristokraten zum Commandiren ist durch diese Vorgänge ernstlich erschüttert worden, und die Regierung wird hier jedenfalls zu einer durchgreifenden Reform schreiten müssen, wie sie die englische Armee überhaupt bedarf.
Ob wir im Verlauf der Dinge noch mehr als Sebastopol und einige Küstenstädte von der Krim zu sehen bekommen, steht sehr dahin. Es würde dies nur der Fall sein, wenn die Verbündeten den General Menzikoff in offener Feldschlacht entschieden schlügen, wo sich dann ein Theil des Innern der Krim aufthun würde.
Dann vielleicht hätten wir Gelegenheit, nähere Bekanntschaft mit den Tartaren zu machen, und uns in Baktschisarai etwas genauer umzusehen. Baktschisarai ist die einzige Stadt in der Krim, welche ihren tartarischen Charakter bewahrt hat. Die große Straße, welche sich durch die ganze Stadt hinzieht, erregt dadurch unsere Aufmerksamkeit, daß sie ganz mit Buden und Werkstätten bedeckt ist. Hier wird die tartarische Industrie noch ganz so betrieben wie vor Jahrhunderten und keine Mode hat an dem alten Herkommen gerüttelt. Ordinäre Töpferwaaren, grobe Messer, Maroquinarbeiten der verschiedensten Art, Pantoffeln, Sättel, Gürtel, Geldbeutel, dies sind die Waaren, welche die Buden füllen, in denen der Kaufmann nach Art der Schneider sitzt.
In diesen Werkstätten macht man Stellmacherarbeit, daneben werden Ochsen beschlagen, gegenüber wird Baumwolle gesponnen. Weiterhin bohrt ein Drechsler mit vieler Geduld die langen Tabakspfeifenröhre von Kirschbaum und Jasmin aus, die im Orient so geschätzt werden. Die Barbierstube fehlt ebenfalls nicht, und es ist der Barbier in der Regel eine wichtige Person, zugleich Dichter und Politiker, der mit der großen Brille auf der Nase ein sehr gravitätisches Aussehen hat. Endlich stoßen wir auf die Buden der Pastetenbäcker und Fleischer, die hier einen sehr wichtigen Rang einnehmen. Die getreue Abbildung einer Fleischerbude, wie sie diesem Artikel beigegeben ist, wird unsern Lesern einen kleinen Begriff von dem Treiben in der langen Straße von Baktschisarai geben.
Eine solche Fleischbude bringt den angenehmsten Effekt hervor; die Schinken oben und die übrigen Fleischstücke können nicht schöner geordnet sein, Alles in Reih und Glied. Der Eigenthümer dieser Leckerbissen sitzt gewöhnlich mit übereinandergeschlagenen Füßen unter seinem Schinkenhimmel, und erwartet, die lange Pfeife im Munde und die schwarze Schaffellmütze bis über die Ohren gezogen, mit unerschütterlicher Ruhe, daß die Käufer sich einfinden sollen. Die Tartaren sind Alle von einem Schlage. An ihrem Wuchse ist nichts auszusetzen, blaue Augen und Adlernasen sind allgemein; die Kühnheit ist ihnen angeboren, wie hinwiederum der Verstand ihr ganzes Wesen beherrscht. Von Natur sind sie faul, wie alle Orientalen, aber faul mit Genuß, doch können sie, wenn es nöthig ist, die härtesten und mühsamsten Anstrengungen ertragen.
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Unsere Fleischbude zeigt uns deren Besitzer in plastischer Ruhe. Seine ganze Beschäftigung besteht meist darin, daß er den Rauch aus seiner Pfeife stößt; kaum daß er die Blicke dabei einmal rechts oder links wendet, was schon eine ungeheure Anstrengung erfordert.
Eine Eigenthümlichkeit, die sich übrigens fast in allen orientalischen Staaten findet, sind die Massen von herrenlosen Hunden, welche auch hier die Straße bevölkern, und besonders vor der Fleischerbank von Früh bis in die Nacht sitzen, um irgend einen Wegfall zu erschnappen oder wohl gar einen kühnen Raubanfall auf eine fette Hammelkeule auszuführen. Sie sind eine große Plage des Landes, aber die Tartaren in ihrem unerschütterlichen Phlegma haben sich auch daran gewöhnt und verlieren kein Wort mehr darüber. Faullenzen mit Genuß kann man, wie gesagt, nur von den Türken und Tartaren lernen.
Californische Goldgräber. Eine der neuesten Nummern der in San Francisco erscheinenden Zeitung „The Wide West“ enthält eine treu nach dem Leben entworfene Schilderung der verschiedenen Charaktere und Nationalitäten, aus welchen die dortige Goldgräberbevölkerung zusammengesetzt ist.
Eigentlich zerfallen sämmtliche Goldgräber, welcher Nation sie auch übrigens angehören mögen, in zwei Hauptklassen: in die, welche mit Glück arbeitet und eine reiche Ausbeute vor sich bringt, und in die, welche wenig oder nichts findet, und in der Regel die wenigen Mittel, die sie mit an Ort und Stelle gebracht, noch obendrein zusetzt.
Der dieser letzteren Klasse angehörige unglückliche Goldgräber meint, ganz Californien sei weiter nichts, als ein ungeheurer Humbug, und nach seiner Ansicht ist es mit der Goldgräberei so gut wie aus. Er meint, wenn er im Jahre 1849 herübergekommen wäre, so hätte er noch sein Glück machen können, aber nicht mit der Goldgräberei, sondern als Landwirth, denn damals sei mit schon urbargemachten und angebauten Grundstücken noch ein Schlag zu machen gewesen. Da Californien weiter nichts ist, als Humbug, so würde er gern wieder in sein Vaterland zurückkehren, wenn ihm nicht Vetter Hinz und Kunz schon vor seiner Abreise prophezeit hätten, daß er in Californien kein Glück machen, sondern froh sein werde, wenn er wieder zu ihnen zurückkommen könne. Um keinen Preis möchte er diesen guten Leuten zugestehen, daß sie Recht hatten. Lieber will er verhungern. Davon ist er auch übrigens nicht sehr weit entfernt. Allerdings könnte er für eine der Aktiengesellschaften, welche Goldgräbereien nach ächt bergmännischem System betreiben, um’s Tagelohn arbeiten, aber er liebt die Unabhängigkeit und da er auch einige Rücksicht auf Ausbildung seines Geistes zu nehmen wünscht, so mag er täglich nicht länger arbeiten als acht Stunden. Auch ist es nicht seine Absicht, blos seinen nothdürftigen Lebensunterhalt zu verdienen – das hätte er zu Hause auch gekonnt. Sein Glück wird schon noch blühen, denn Alles in der Welt kommt auf’s Glück an. Schon Mancher hat eben so lange und noch länger als er vergebens gegraben, und doch noch plötzlich einen großen Fund gemacht. Uebrigens würde er dieses Californien, welches schon seine besten Kräfte aufgezehrt hat, gern mit Australien vertauschen, wenn ihm Jemand das dazu nöthige Reisegeld geben wollte. Nach Hause schreibt er selten.
Der glückliche Goldgräber huldigt dagegen ganz anderen Ansichten. Er glaubt nicht an plumpes Glück, sondern meint, daß er die gute Ausbeute, die er gemacht, einzig und allein seinem Fleiße und angebornem Scharfsinn zu verdanken habe und daß Jeder, der nur den guten Willen habe und fleißig sei, es eben so weit bringen könne. Er wird nie müde, nach Hause an seine Freunde zu schreiben, besonders an die, welche ihm von der Auswanderung abriethen. Er ist bereits Mitbesitzer einiger „Stores“ oder Victualienzelte in verschiedenen Theilen der Gräbereien oder „Diggings“ und macht gewöhnlich neue Ankömmlinge, die ihn um seinen Rath fragen, wo sie anfangen sollen, auf jene Lokalitäten aufmerksam. Er ist fest überzeugt, daß er eine Pfanne voll Erde schneller auswaschen und mehr Gold daraus gewinnen kann, als irgend ein anderer Mann in den Diggings. Das Schlafen unter einem Zelte betrachtet er als einen verweichlichenden Luxus. Er bedarf weiter nichts als eine Decke und einen Stein.
Eine dritte Art von Goldgräber ist der Indianer. Dieser ist ein tölpischer Kerl mit schwarzem, zusammenklebendem Haar und einer unfreundlichen abstoßenden Physiognomie. An Kleidern trägt er Alles oder nichts – das heißt, er trägt die Kleider, die er bekommen kann und so viel er deren besitzt. Wenn er Glück gehabt hat, so sieht man ihn vielleicht mit drei bis vier Hemden, Röcken und Hosen übereinander bekleidet. Hat er kein Glück gehabt, so trägt er vielleicht weiter nichts als ein einziges [68] Paar Strümpfe. Was die Seife für einen Nutzen hat, vermag er nicht zu begreifen, und Wasser berührt seine Haut blos, wenn er hinein geht, um zu fischen. Sein Lieblingsgericht besteht aus Eicheln und Heupferden, die er zu einer klebrigen Masse durcheinander quetscht und entweder frisch verzehrt oder zum Gebrauch für den Winter an der Sonne trocknet und aufhebt. Er ist ein Liebhaber des Tanzes, wobei jedoch von einem Ballanzuge so wenig als möglich die Rede ist. Auch das Spiel liebt er, obschon nicht mit Karten oder Würfeln, deren Bedeutung er nicht zu begreifen vermag, sondern nach Art der Kinder, indem er, nachdem er in die eine Hand ein Geldstück genommen, zwei Fäuste macht, und seinem Mitspieler eine davon wählen läßt. Schweinefleisch ißt er nicht, freut sich aber mit seiner ganzen Sippschaft, wenn ein Wallfisch auf den Strand geworfen wird. Wenn er stirbt, so wird seine Leiche verbrannt, und seine Verwandten suchen eine Ehre darin, sich so nahe als möglich in einem Kreise um den Scheiterhaufen zu stellen. Sein trauerndes Weib setzt eine von Pech gefertigte Wittwenhaube auf und trägt dieselbe mehrere Monate.
Ein anderer bemerkenswerther Charakter ist der Chinese. Ueberall, wo Geld zu verdienen ist, verdient es John Chinaman, wie man ihn hier zu nennen pflegt. In Dupontstreet ist er ein Fleischer, in Sacramento ein Kaufmann, in Rincon Point ein Fischer und Fischpökler, in Lagoon eine Waschfrau, und seine Art und Weise, wie er die Wäsche plättet und mangelt, setzt die dortigen Angelsachsen in nicht geringes Erstaunen. Seine Feinde wollen behaupten, daß die ihm übergebene Wäsche sich in seinen Händen sehr leicht in Baumwolle verwandele. Wenn ein Chinese eine Last vom Boden zu heben hat, so ermittelt er erst, ob ein Mann sie zu heben im Stande ist, und wenn dies der Fall ist, so holt er noch drei herbei, um die Arbeit wirklich auszuführen. Alle übrige Arbeit wird nach demselben Maßstabe verrichtet. Um sich das Tragen einer Bürde zu erleichtern, balancirt der Chinese dieselbe an den beiden Enden einer Stange, die er auf der Schulter trägt. Wenn er ein fünfzig Pfund wiegendes Bündel, welches sich nicht theilen läßt, an das eine Ende seiner Stange zu hängen hat, so hängt er dann noch fünfzig Pfund von irgend etwas als Ballast an das andere Ende. John Chinaman entspricht seiner Gestalt und seinem Costüme nach durchaus nicht den Begriffen, die man sich in Europa von dem Anmuthigen oder Schönen zu machen pflegt. Kleine californische Knaben schießen mit Stecknadelbolzen nach ihm, wer ihm auf dem Trottoir begegnet, „römpelt“ ihn und die Hunde schnappen ihm nach den Waden. Niemand ist ihm gut und er hat keine Freunde als seine Landsleute, diese aber kommen ihm stets mit Einmüthigkeit und Energie zu Hülfe. Wenn er vor Gericht steht und ein Alibi braucht, so sind zwanzig Chinesen bereit, zu beweisen und zu beschwören, daß er zur fraglichen Zeit an zwanzig andern Orten war. Wenn John Chinaman einen Einkauf zu machen wünscht, so verfährt er dabei ebenfalls nach einer ihm eigenthümlichen Weise. Er tritt in einen Kaufladen und betrachtet den Gegenstand seines Wunsches mit schweigendem, stumpfem Blicke eine lange Zeit. Der Kaufmann zieht sich ärgerlich in den Hintergrund seines Ladens zurück und macht endlich Miene, den trägen Kunden hinauszustecken. Nun versucht dieser, sich in englischer Sprache verständlich zu machen, fragt nach dem Preise, den man für den Gegenstand verlangt, und bietet sodann ungefähr den zehnten Theil. Sein Gebot wird zurückgewiesen und er entfernt sich; bei dem ersten Besuche aber bietet er niemals mehr. Nach einigen Tagen kommt er wieder, um sein Gebot zu wiederholen und, wenn es nochmals zurückgewiesen wird, zu bewilligen, was der Verkäufer verlangt, Der Chinese lebt sehr mäßig und sparsam, ausgenommen, wenn er Geflügel haben kann; junge Hühner besonders gehen ihm über Alles. Vor mehreren Jahren noch zeichneten sich die Chinesen in San Francisco als Inhaber der wohlfeilsten und besuchtesten Speisehäuser aus. Jetzt sind sie jedoch, namentlich von einigen Deutschen, in dieser Beziehung überflügelt worden.
Ein armer als Goldgräber verunglückter Franzose hatte zuerst den Einfall, als Stiefelputzer aufzutreten und jetzt giebt es deren eine Menge. Vor der Börse in San Francisco bilden sie eine ziemlich lange doppelte Reihe und wer mit schmutzigen Stiefeln zwischen ihnen hindurch geht und kein Kunde ist, muß sich so lange verhöhnen lassen, bis er sich entschließt, von ihren Diensten Gebrauch zu machen. Der erste Stiefelputzer gewährte seinen Kunden die Bequemlichkeit eines hölzernen Schemels. Die Concurrenz führte zum Ankauf eines Lehnstuhls. Hierauf betrat das Kapital den Kampfplatz mit gepolsterten Lehnstühlen und zu den Lehnstühlen gesellten sich Zeitungen. Hier stockte die Erfindung, bis endlich Jemand auf die Idee kam, die Stiefeln in eigens dazu bestimmten Häusern zu putzen. Der in diesen Häusern hängende Tarif ist folgender:
Stiefel zu wichsen, | nicht naß oder geschmiert 25 Cents. |
do. „ „ | naß oder geschmiert . . 50 „ |
Wem dies zu theuer ist, wird ersucht, sich auf den Platz an der Börse zu begeben, wo das Geschäft billiger besorgt wird.
Da ein Cent nach unserm Geld vier Pfennige ist, so ersieht man hieraus, daß in Californien ein Paar Stiefel nicht weniger als 10 bis 20 Neugroschen zu putzen kosten!
Die gepreßten Gemüse. Seit mehrern Jahren schon spielen die in Deutschland noch kaum dem Namen nach bekannten gepreßten Gemüse in England und Frankreich eine wichtige Rolle, und wohl kann man sagen, daß vielleicht ohne diese eigenthümliche Procedur die Verproviantirung einer Armee, wie die der verbündeten Westmächte in der Krim kaum möglich wäre.
Im März des Jahres 1851 stellte Herr Masson, Obergärtner der allgemeinen Gartenbau-Gesellschaft für Frankreich, dem Institute ein kurzes Expose zu, in welchem er sagte, daß nach langen Nachforschungen, die bis auf zehn Jahre zurückreichten, es ihm endlich gelungen sei, ein einfaches Verfahren gefunden zu haben, vegetabilische Substanzen, besonders Gemüse zu trocknen, ohne deren Beschaffenheit zu verändern und sie auf einen äußerst kleinen Umfang zurückzuführen, ohne Benachtheiligung ihres Wohlgeschmacks und ihrer nährenden Eigenschaften.
Dieses Verfahren besteht in einer Austrocknung bei niedriger Temperatur in Trockenöfen, die bis ungefähr 35 Grad erwärmt werden, und in einer sehr starken mit Hülfe der hydraulischen Presse bewerkstelligten Zusammenpressung.
Die erste Operation nimmt den Gemüsen das überflüssige Wasser, welches bei gewissen Vegetabilien, wie Kohl und Rüben, 80 bis 85 Procent ihres Gewichtes im frischen Zustande beträgt. Die zweite Operation vermindert ihren Umfang und giebt ihnen eine dem Tannenholz gleiche Dichtigkeit, wodurch die leichte Aufbewahrung, Lagerung und der Transport erzielt wird, denn in einem Kubikmeter können im äußersten Falle nicht weniger als 25,000 Rationen Gemüse zusammengepreßt werden.
Das erste große Etablissement zum Trocknen der Gemüse erhob sich in Paris, Rue Marbeuf, und beschäftigte in kurzer Zeit mehr als hundert Arbeiter; England säumte nicht, das sinnreiche Verfahren auf seinen Boden zu verpflanzen, und die französische und englische Marine bezogen unausgesetzt bedeutende Verproviantirungen. Anstatt des üblichen Sauerkrauts erhielt nun die Seemannschaft eine gesündere Nahrung, was nicht wenig mit in Anschlag zu bringen war. Zugleich ist durch die Erfindung des Herrn Masson die Verproviantirung von Festungen und Armeen ungemein erleichtert worden, und da sein Verfahren auch auf medizinische Pflanzen anwendbar ist, so entspringt daraus besonders ein neuer großer Vortheil für militärische Ambulancen. Die Erfindung ist leider bis zu diesem Umfange auch in England und Frankreich noch nicht ausgebeutet worden. Die zusammengepreßten Gemüse werden in Tafeln von mäßigem Umfang in geschlagenem Zinn verpackt.
Die gepreßten Gemüse haben eine Zukunft. Wenn erst die Industrie in größerm Maßstabe sich der Sache bemächtigen wird (am Rhein bestehen bereits zwei Fabriken), werden sie auf die Nahrungsverhältnisse des Volks einen wichtigen Einfluß haben. Sie werden auch manche unserer Gewohnheiten ändern, und der Leser lächelt vielleicht, wenn wir ihm prophezeihen, daß eines Tages die Kaufleute, wie jetzt Chocolade, auch Spargel, Spinat, Welschkohl u. s. w. in Tafeln verkaufen werden. Eine Tafel, wie unsere gewöhnlichen Chocoladentafeln sind, gepreßtes Gemüse giebt ein ausreichendes Gericht für fünf Personen.
Schl. in St. Seit vier Wochen haben Sie die Freundlichkeit, uns wöchentlich zwei Mal mit verschiedenen Gedichten zu erfreuen, worunter einige sind, welche nur 55 Verse haben. Wir sind Ihnen sehr dankbar für diese zarte Aufmerksamkeit, bitten aber nunmehr, Ihre Muse und unsere Zeit nicht mehr in Anspruch zu nehmen. Beides sind kostbare Güter, die man ungern ohne Nutzen vergeudet. –
Chr. in M. Beruht jedenfalls auf einem Irrthum. Für Originalartikel zahlen wir niemals unter zwanzig Thaler Honorar pro Bogen, wohl aber mehr. Ihre Andeutungen sind uns deshalb nicht recht verständlich.
A. B. in D. Das ist leichter gesagt als gethan, mein liebes Fräulein! Wir werden uns erlauben, Ihnen ausführlich darüber zu schreiben, obwohl wir eigentlich noch nicht recht wissen, wie Sie Ihre Anfrage verstehen. Ihr Vertrauen ist ein so großes, daß es schwer zu rechtfertigen ist.
H. in P. Bewahren Sie sich diese Welt der Unabhängigkeit. Kinder werden durch ihre Ammen und schwache Menschen von ihren Umgebungen gelenkt. Ein großer unabhängiger Geist schreitet durch die Persönlichkeiten seiner Zeit, wie Moses durch das rothe Meer.
v. W. in W. Ihr brüskes Herabblicken auf die Bestrebungen einzelner Autoren und Ihr gleichzeitiges Pochen auf den Geldbeutel diesen Leuten gegenüber geben ein trauriges Zeichen Ihrer Bildung ab. Sie scheinen zu jener Sorte vornehmer Pinsel zu gehören, welche geniale Köpfe für eine Gattung Vögel halten, die sie füttern und an ihrer Tafel singen lassen können. Nehmen Sie sich wohl in Acht, daß diese Vögel nicht hacken, statt zu singen. Es ist wahr, die Schriftstellerwelt ist eine Aeolsharfe geworden, die ihre Töne meist nach dem Winde richtet, aber noch giebt es viele ehrenvolle Ausnahmen in ihr und diese gehen ihren Weg consequent und unaufhaltsam vorwärts, ohne sich um den Hohn einiger Geldsäcke oder die Verleumdungen neidischer Scribenten zu kümmern. Möglich, daß diese Ausnahmen nicht diejenige Stellung in der Welt einnehmen, welche sie verdienen. Aber was heißt äußere Stellung? Die meisten Menschen bedecken mit dem äußern Zeichen der Ehre den Mangel der innern Ehre.
v. P. in B. Ihre Novelle ist zu lang, als daß die Aufnahme in der Gartenlaube finden könnte. Mehr als vier, höchstens fünf Nummern darf eine Erzählung nicht durchlaufen.
A. K. in G. Folgt mit nächster Gelegenheit retour. In der Anlage gut, in der Ausfuhrung aber noch mangelhaft.
Th. in A. Mit Dank empfangen. Sie lassen uns wohl noch einige Tage Zeit, einen festen Entschluß zu fassen. Just über Amerika haben wir viele und gute Manuscripte liegen.
W. in G. Die Antwort auf Ihr Schreiben vom 6. Januar werden Sie in der letzten Nummer gefunden haben. Ein früherer Abdruck war beim besten Willen nicht möglich.
Ch. b. M. in D. Wenn Sie unsere Zeitschrift aufmerksam gelesen haben, kann es Ihnen nicht entgangen sein, daß derselbe Gegenstand bereits früher in sehr anziehender Weise geschildert ward. Ihr Artikel kann deshalb keine Aufnahme finden.
- ↑ Johann van Eyk, Erfinder der Oelmalerei, der Perspective und Luftmalerei, einer der größten Meister der alten niederländischen Schule.
- ↑ Berühmtester Miniaturmaler der niederländischen Schule, nach Einigen in Damm bei Brügge geboren, nach Andern in Constanz in der Schweiz.
- ↑ Vergl. Jahrgang 1854, Nr. 32, 38, 42, 47, 52.
- ↑ Er war der eigentliche Entdecker des Aluminums in Thon vor bereits 30 Jahren; ein Factum, das von der Akademie der Wissenschaften geleugnet ward.