Die Gartenlaube (1856)/Heft 4
[45]
No. 4. | 1856. |
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.
„Herr Baron,“ sagte der Greis, „Ihr Rechtsanwalt hat die
schwierige Angelegenheit zu einem gedeihlichen Ende geführt. Genehmigen
Sie die Punkte, die ich mit ihm zu verabreden gezwungen
war, so kann ich den Willen meiner Tochter mit gutem Gewissen
sanctioniren.“
„Ich genehmige Alles, Alles,“ rief Ludwig, „denn Heiligenstein ist mir ein väterlicher Freund, er besitzt die ausgedehnteste Vollmacht.“
„Und Du, Henriette?“
Sie reichte dem jungen Baron die Hand und trat mit ihm zu dem Vater.
„In Gottes Namen!“ rief der greise Oberst. „Und Du, alter Freund,“ fügte er gerührt hinzu, indem er zum Himmel emporblickte, „gieb wie ich deinen Segen zu einer Verbindung, die unabhängig von allen äußern Einflüssen geschlossen ist. Mein ältestes Kind ward ein Opfer der Verhältnisse, ich hege die frohe Zuversicht, daß meine Henriette in der Wahl ihres Herzens glücklich sein wird!“
Gerührt kehrten Alle in das Zimmer des Obersten von Eppstein zurück. Hier erzählte Ludwig die Scene mit den Erichsheim’s. Die drei Männer hielten eine kurze Berathung. Es ward beschlossen, daß Ludwig der Freifrau am nächsten Morgen einen Besuch abstatten und bei dieser Gelegenheit die Geschäfte seines künftigen Schwiegervaters ordnen sollte. Nach Tische unternahmen die Liebenden eine Landparthie, und der Oberst und Heiligenstein begleiteten sie. Ludwig stand auf dem Gipfel seines Glücks – als er am Abend schied, trug er den Verlobungsring Henriette’s am Finger.
Am folgenden Tage begab sich Ludwig zu der Freifrau von Erichsheim. Die alte Dame war überrascht, aber sie empfing den Besuch stolz und mit kalter Artigkeit,
„Sie wollen meinen Sohn sprechen?“ sagte sie.
„Zunächst bitte ich die gnädige Frau um eine kurze Unterredung.“
„Mich, Herr Baron? Zählen Sie auf eine Vermittlung des Ehrenhandels mit meinem Sohne, so muß ich im Voraus bitten, mich zu verschonen, denn – –“
„Verzeihung, gnädige Frau, ich bin gewohnt, meine Ehrenhändel selbst auszufechten; mein gegenwärtiger Besuch hat einen andern Zweck, er betrifft eine Geschäftssache.“
Nachdem die Dame dem jungen Baron einen Stuhl angedeutet, ließ sie sich mit der Würde einer Königin auf dem Sopha nieder. Ungezwungen nahm Ludwig ihr gegenüber seinen Platz.
„Gnädige Frau,“ begann er, „Sie haben diesen Morgen dem Obersten von Eppstein das Kapital gekündigt, das Sie auf seinem Gute Nienstedt stehen haben. Dieses Kapital ist Ihnen nicht nur durch die erste Hypothek genannten Gutes gesichert, Sie besitzen über dieselbe Summe auch noch einen Wechsel.“
„Ah, das ist es!“ flüsterte höhnend die Freifrau.
„Ja, das ist es, Madame !“
„So sind Sie der Negociant des Herrn Obersten?“
„Ich bitte, nehmen Sie mich als solchen.“
„Nun gut, so sagen Sie ihm, daß ich nach acht Tagen zunächst von dem Rechte Gebrauch machen würde, das mir der Wechsel giebt. Noch heute,wird mein Rechtsanwalt Auftrag erhalten – –“
„Ersparen Sie sich diese Mühe, gnädige Frau; ich komme im Auftrage des Herrn Obersten, um den Wechsel, sofort einzulösen. Dieses Portefeuille enthält die volle Summe in guten Staatspapieren.“
Der Baron holte ein Taschenbuch hervor und behielt es in der Hand. Fast bestürzt sah es die Freifrau an.
„Dieser Umstand würde das Geschäft allerdings vereinfachen,“ sagte sie mit einem verlegenen Lächeln. Demnach würde ich meinem Rechtsanwalt nur Auftrag zu geben haben, das Kapital gegen die Papiere einzutauschen.“
„Und wenn sich die gnädige Frau auf der Stelle diesem Geschäfte unterzöge?“
„Dies ist unmöglich, da ich die betreffenden Papiere nicht bei mir führe. Aber zählen Sie darauf, in acht Tagen wird das Geschäft beendet sein. Wo hat sich mein Geschäftsträger einzufinden?“
„Auf dem Gute Nienstedt.“
Ludwig verbarg sein Portefeuille und erhob sich. Die Freifrau verließ ebenfalls ihren Platz. Man grüßte sich gegenseitig sehr artig, und der Besuch entfernte sich. Frau von Erichsheim war in der Mitte des Zimmers stehen geblieben.
„Verdammt,“ zischte sie, „so wäre mir das letzte Mittel entrungen, mit dem ich den alten Schwachkopf meinem Plane geneigt machen konnte! Armer Ignaz, die schöne Henriette ist für Dich verloren. Und wer trägt die Schuld daran? Wer zerstört alle Hoffnungen, alle Aussichten auf einen glücklichen Erfolg? Dieser Abenteurer, dieser spekulirende Baron. Er ist uns ein gefährlicher [46] Gegner, denn er besitzt die mächtige Waffe des Reichthums. Soll ich mich für überwunden erklären, indem ich ihm einfach, die Papiere übersende? Dagegen sträubt sich mein Stolz! Das Geschick des Obersten lag völlig in meiner Hand, es hing von der letzten Bewegung derselben ab, und er wäre ein Bettler gewesen. Bleibt mir denn Nichts, Nichts, um einen letzten Streich zu führen? O, daß dieser Ehrenschein verschwunden ist, er würde jetzt zu einer furchtbaren Waffe in meiner Hand werden.“
Zitternd vor Aufregung sank die bleiche Frau in den Sopha; sie zog ein kleines Medaillon aus dem Busen hervor, in dessen Goldrahmen sich das Portrait eines jungen Mannes zeigte. Mit leuchtenden Blicken betrachtete sie die Züge, als ob sie neue Nahrung für ihren Haß daraus schöpfen, als ob sie ihre Erfindungsgabe dadurch schärfen wollte. Da ließen sich Schritte in dem Vorzimmer vernehmen. Die Freifrau verbarg rasch und zitternd das Medaillon. Ignaz trat ein; er trug ein zusammengelegtes vergilbtes Papier in der Hand.
„Was bringst Du, mein Sohn?“ fragte sie in scheinbarer Ruhe.
„Dieses Papier fand ich in dem Vorzimmer, Mutter. Haben Sie es verloren?“
„Gieb!“ sagte hastig die Mutter.
Ignaz überreichte ihr das Papier, das in den Brüchen bereits durchlöchert war; sie entfaltete es und las.
„Was ist das?“ rief sie in höchster Ueberraschung, nachdem sie die ersten Zeilen gelesen hatte.
Der junge Mann sah seine Mutter an; ihre Züge veränderten sich sichtlich. Die Augen der bleichen Frau vergrößerten sich und die feinen schmalen Lippen zuckten wie im Krampfe, während die magern, mit Ringen geschmückten Finger heftig zitierten. Sie hatte geendet.
„Wo fandest Du das Papier?“ fragte sie.
„In Ihrem Vorzimmerr, Mutter.“
„Wann?“
„Jetzt, Ich habe mir nicht so viel Zeit genommen, es anzusehen.“
„Dann hat er es verloren, und kein Anderer!“ rief die Freifrau, die noch einmal zu lesen begann. „O, das ist ein unschätzbarer Fund,“ fügte sie hinzu, indem sie das Papier mit leuchtenden Augen betrachtete; „er kann zu Entdeckungen führen, die für mich unbezahlbar sind. Aber wir müssen Vorsicht anwenden, denn wir haben es mit einem schlauen Gegner zu thun. Wohlan, mein Herr, jetzt gebe ich die Hoffnung nicht auf, der Kampf mag von Neuem, aber heftiger als zuvor beginnen.“
„Mutter,“ fragte verwundert der junge Mann, „von wem sprechen Sie?“
„Von wem ich spreche, mein Sohn? Von meinem, von Deinem Feinde, von dem Baron von Nienstedt.“
„Ich werde ihn heute noch zum Duelle fordern, er soll seine Insolenz büßen.“
Die Freifrau blieb stehen und sah ihren Sohn an; sie schien zu überlegen.
„Nein,“ sagte sie nach einer kurzen Pause, „das Duell wird nicht stattfinden. Ignaz, ich verbiete Dir, Dich mit dem Baron zu schlagen. Ich weiß, Du bist ein geschickter Fechter und ein geübter Schütze, Du wirst als Sieger aus dem Kampfe zurückkehren; aber was haben wir damit gewonnen? Der Baron allein hat eine Strafe erhalten, und der Oberst, dessen Schwachheit uns die größte Beleidigung zufügt, geht frei aus. Dieses Papier setzt mich in den Stand, eine empfindlichere Rache zu üben, eine Rache, die alle unsere Feinde zugleich trifft, selbst die kokette Henriette nicht ausgenommen. Vertraue mir, mein Sohn, Deine Angelegenheit ist ja auch die meinige. Du hast dem Baron eine nähere Erklärung zugesagt?“
„Zu heute.“
„Gut; setze Dich und schreibe, was ich Dir diktiren werde.“
Zitternd vor Aufregung drängte sie den jungen Mann zu dem Schreibtische. Mit einem krampfhaften Beben legte sie ihren Arm um seinen Nacken, sah ihn mit einem unbeschreiblichen Blicke voll Schmerz und Bitterkeit an, und flüsterte:
„Auch Du mußt darunter leiden, mein Sohn; aber fasse Dich, unsere Rache wird eine vollständige sein. Frage mich nicht, ich kann Dir jetzt keine Aufklärung geben, ich muß den Schleier noch einige Zeit über der Vergangenheit ruhen lassen – die Zeit ist nicht fern, wo Du mich begreifen wirst. Folge mir blindlings und schreibe!“
Der Sohn ergriff die Feder, und die Mutter dictirte:
„Herr Baron! Ernste Rücksichten veranlassen mich, eine Sache zu ignoriren, die mir eigentlich stets hätte fremd bleiben sollen. Es ist mir lieb, daß der Plan meiner Mutter auf die bekannte Weise vereitelt wurde, denn wenn ich mich fügte, so geschah es aus kindlichem Gehorsam, mein Herz gab mir keine Veranlassung dazu. Da Sie ein Mann von Ehre sind, überlasse ich Ihrem eigenen Gefühle die Schritte, die zu unternehmen erforderlich, um die Kränkung einer Dame wieder gut zu machen. Dies ist der Wille meiner Mutter, und ich füge mich ihm als gehorsamer Sohn.“
Trotz aller Protestationen des jungen Mannes ward der Brief versiegelt und abgeschickt. Als Antwort darauf erhielt die Freifrau eine einfache Entschuldigung Ludwigs und die Anzeige des Obersten, daß seine Tochter Henriette mit dem Baron Ludwig von Nienstedt verlobt sei.
„Mutter, darin liegt eine neue Beleidigung!“ sagte Ignaz, nachdem er die Zeilen gelesen.
„Sie entgeht mir nicht,“ antwortete bitter lächelnd die Freifrau. „Mögen sie Beleidigung auf Beleidigung häufen – der Tag der Abrechnung bleibt nicht aus. So habe ich es gewollt; man soll an meine Niederlage glauben, damit ich einst desto furchtbarer mich erheben kann, Gieb Befehl, daß man packe, diese Nacht reisen wir ab.“
Um Mitternacht verließen die Erichsheim’s das Bad. Zwei Tage später reiste der Oberst mit seiner Tochter ab. Tags darauf folgten Ludwig und Heiligenstein, sie begaben sich nach dem kleinen Gute des Letztern, das eine Stunde von Nienstedt entfernt lag. Die Frau des Polizeicommissars hatte den Auftrag erhalten, ihr ganzes Haus zum Empfange der jungen Gatten für das nächste Jahr vorzubereiten.
Der Herbst und der Winter waren verflossen. Ludwig wohnte mit seiner jungen Gattin auf Nienstedt, und Alles schien sich zu vereinigen, um sein Glück zu einem vollständigen und dauernden zu machen. Henriette liebte ihn mit der innigsten Zärtlichkeit, und der greise Oberst, der frei aufathmete, nachdem er das lästige Joch der Erichsheim’s abgeschüttelt, lebte wieder auf bei dem Glücke seines Kindes, Aber die Erinnerung an seine älteste Tochter trübte den Sonnenschein, der den Winter seines Lebens mit einem milden Lichte übergoß, und sein Schmerz über das unglückliche Loos derselben war um so größer, da es nicht in seiner Macht stand, der armen Gattin eines leichtsinnigen und gemüthlosen Mannes hülfreich die Hand zu bieten. Durch den Bruch mit der Freifrau waren alle Beziehungen zu der Familie der Erichsheim’s aufgehoben, und die Nachrichten, die man zufällig erhielt, brachten wenig Beruhigung.
Heiligenstein war im vollen Sinne des Wortes ein Hausfreund auf Nienstedt, man zog den erfahrenen Mann bei jeder Gelegenheit zu Rathe und Nichts ward ohne seine Beistimmung unternommen. Ludwig verwandte einen Theil seines großen Vermögens dazu, seinem väterlichen Gute den alten Glanz wieder zu verleihen, und als der Frühling erschien, entfaltete sich in allen Theilen der weiten Besitzung ein reges Leben. Der benachbarte Adel näherte sich den jungen Leuten, und Ludwig ward nicht nur als der reiche Baron geachtet, man schätzte ihn auch seines vortrefflichen Charakters wegen, und wünschte dem alten Obersten Glück zu einem solchen Schwiegersohne.
Die Reise in das Bad ward durch einen neuen Glücksumstand verhindert. Henriette schenkte ihrem Gatten einen Sohn, Heiligenstein hob ihn aus der Taufe, und der Täufling empfing den Namen seines Pathen, Friedrich. Die zärtliche Liebe der beiden Gatten, die sich mit jedem Tage der Ehe zu vergrößern schien, erregte die allgemeine Bewunderung, und wenn auch einige eifersüchtige und neidische Frauen hier und da boshafte Bemerkungen darüber machten, so wagte es doch Niemand, dem jungen Baron die Vergangenheit zum Vorwurfe zu machen, Ludwig und Henriette hatten sich einer aufrichtigen Liebe und Achtung zu erfreuen, vielleicht deshalb, weil es keinen erhabenern Anblick giebt, als glückliche Menschen. Beide lebten sich selbst und ihrer Familie, ohne sich gerade von der Welt zurückzuziehen. Ludwig empfing von Zeit zu Zeit eine große Gesellschaft in seiner prachtvollen Wohnung, denn gab er [47] dem stillen Familienleben auch den Vorzug vor den Freuden der Welt, so war er doch der richtigen Ansicht, daß eine Familie früher oder später ihrer bedarf. Und dann sah er mit Stolz, wie man seiner reizenden Gattin huldigte, die an Schönheit und Liebenswürdigkeit alle Damen überstrahlte.
Es war gegen Ende des Sommers. Ein heiterer Septemberabend hatte sich auf die herrliche Landschaft herabgesenkt, und die Ruhe der Nacht begann sich über der Besitzung auszubreiten. Ludwig stand mit seiner Gattin an der Wiege des kleinen Friedrich. Die Freude über den reizenden Knaben, der ruhig schlafend in den weißen Kissen lag, durchbebte die Herzen der Aeltern. Innig umschlungen standen sie da und lauschten auf das leise Athmen des kleinen Schläfers.
„Ludwig,“ flüsterte Henriette, „ist unser Kind nicht ein Engel?“
Er schloß sie in seine Arme und flüsterte zurück:
„Dem Himmel können nur Engel entsteigen, und Du bist mein Himmel, Henriette, meine Vorsehung, mein Leben!“
Sie lehnte ihr Gesichtchen, das in diesem Augenblicke von einer überirdischen Schönheit zu sein schien, an seine Wange. Ludwig fühlte, wie ihr Herz an dem seinigen klopfte„ wie der würzige Hauch ihres Mundes sein Gesicht fächelte.
„O, könnte ich Dir Alles sein, was Du soeben ausgesprochen!“ rief sie leise. „Ich lebe ja nur für Dich und für unser Kind. Nun,“ fügte sie mit einem Lächeln unter Thränen hinzu, „ich werde mich wenigstens bemühen, durch Liebe und Ergebenheit Dein Glück zu fördern. Bleibt das Resultat hinter meinen Bemühungen zurück, so habe Nachsicht, Ludwig – –“
Er schloß ihr durch einen leidenschaftlichen Kuß den kleinen, blühenden Mund.
„Henrtette,“ rief er dann, „sprich nicht weiter, Du tödtest mich!“
Sie hing sich an seinen Hals; er umschlang sie mit beiden Armen und trug sie zu dem Sopha. Nachdem er sie langsam auf das schwellende Polster gesetzt, ließ er sich zu ihren Füßen nieder, ergriff ihre Hände und sah zärtlich zu ihr empor.
„Bist Du nun ganz glücklich, Ludwig?“ fragte sie leise.
„Ich bin es, und daß ich es bin, danke ich Dir. Ich wiederhole es, Henriette, mein Reichthum wäre mir ohne Dich Nichts gewesen, und gern würde ich ihn hingegeben haben, wenn ich mir dadurch Deinen Besitz hätte erkaufen müssen.“
„O mein Freund, Du kommst schon wieder auf Annahmen, wie einst in der Laube, als die Würfel über unser Schicksal geworfen wurden. Vertrauen wir, wie bisher, dem Sterne unserer Liebe und wahren wir uns das Glück für die Zukunft in der eigenen Brust. Du bist gut, Du bist großmüthig, Ludwig, unaere Freunde achten Dich und suchen Dich auf – bedürfen wir noch einer Bürgschaft für unser Glück und das unseres Kindes? Die Vorsehung allein kann uns dessen berauben, was wir besitzen. Sieh’, Ludwig, Du sagtest mir, daß ich für Dich das schönste Weib auf der Erde sei – ich glaube Dir, mein lieber Freund, ja ich glaube Dir, weil es mich glücklich macht, denn Du wirst aufrichtig und wahr von dem schönsten Weibe der Erde geliebt. Und ich bin stolz auf diese Liebe, ich halte mich bestimmt, nur dieses eine Gefühl zu empfinden. Sieh’ dorthin,“ fügte sie hinzu, indem sie auf die Wiege blickte, „dort schlummert unsere Zukunft, und können wir leugnen, daß sie noch große und reiche Schätze birgt?“
Sie strich sein dunkles Haar zurück, und drückte einen langen Kuß auf seine Stirn. Nach einer halben Stunde traten sie noch einmal zu der Wiege und flüsterten mit dem kleinen Schäfer, als ob er die an ihn gerichteten Worte verstände. Dann verließ der Baron seine junge Gattin, nachdem er sie zärtlich geküßt.
„Henriette hat Recht,“ rief er aus, als er allein auf seinem Zimmer war; „ich bin der glücklichste Mensch auf dieser Erde, und es ist thöricht, mir durch abgeschmackte Annahnmen das Leben zu verbittern. Auf meiner Seele haftet kein Vorwurf, ich kann getrost zum Hinnnel emporblicken, und Gott wird mich schützen!“
Er stand im Begriffe, Bob, seinen braunen Kammerdiener zu rufen, als sich auf dem Pflaster im Hofe Hufschläge vernehmen ließen. Es war nicht weit mehr von zehn Uhr, wer konnte so spät noch einen Besuch abstatten? Ludwig trat rasch zum Fenster und öffnete es. Da hörte er Heiligenstein’s Stimme, die nach dem Gutsherrn fragte. Ludwig’s hatte sich ein leichter Schrecken bemächtigt, aber die Stimme des Freundes beruhigte ihn wieder. Er schloß das Fenster und eilte auf den Corridor hinaus. Heiligenstein, mit Staub und Schweiß bedeckt, trat ihm entgegen. Arm in Arm gingen die beiden Männer in das Zimmer zurück.
„Sie kommen spät, Freund, und in einer Aufregung, die mich auf wichtige Nachrichten schließen läßt,“ sagte Ludwig in einer Befangenheit, die Heiligenstein nicht entging. „Was bringen Sie?“
Heiligenstein legte Hut und Reitpeitsche ab. Der Baron erschrak über die Exaltation, die sich in den Zügen des Freundes aussprach, des Freundes, der stets nur in ruhiger Heiterkeit sich ihm genähert hatte.
„Sind wir ungestört?“ fragte ängstlich der Edelmann.
„Warum? Warum?“
„Tragen Sie Sorge, mein Freund, daß uns der Oberst und Ihre Gattin nicht überraschen, ich habe Ihnen allein wichtige Eröffnungen zu machen.“
„Mir allein?“ fragte Ludwig, indem er erbleichte.
Heiligenstein schob den Riegel vor die Thür, ergriff die Kerze und führte den Baron in das angrenzende Schlafgemach. Hier ließen sich Beide auf einem kleinen Sopha nieder.
„Ludwig,“ begann der Edelmann, „ich bin Ihr Freund, Ihr väterlicher Freund, und daß meine Freundschaft eine wahre, eine aufrichtige ist, glaube ich nicht nur bereits bewiesen zu haben, ich werde es auch jetzt noch darthun, denn ich schätze und liebe Sie. Aber sind auch Sie stets wahr und offen gegen mich gewesen? Haben Sie mir Nichts aus Ihrer Vergangenheit verschwiegen? Bei dem großen Gotte, Ludwig, der Sie so wunderbar geführt hat, die Zeit ist gekommen, wo Sie jede Falte Ihres Herzens öffnen müssen, wenn Sie nicht ein namenloses Unglück allen denen zuziehen wollen, die Ihnen nahe stehen und Sie lieben.“
Der Baron hatte mit Mühe seine Fassung wiedererlangt. Heiligenstein faßte ihn scharf in’s Auge; unwillkürlich zuckte er zusammen, als er den innern Kampf des Barons gewahrte, der sich in seinen bleichen Zügen abspiegelte.
„Sie sprechen so ernst und feierlich,“ sagte Ludwig, „als ob es sich um ein Verbrechen handelte.“
„O, die Sache ist so ernst, mein armer Freund, daß ich Sie bitten muß, anzunehmen, es handelt sich um ein Verbrechen.“
Ludwig ergriff die Hand des Edelmanns.
„Heiligenstein,“ sagte er mit bewegter Stimme, „Sie sind mein Freund, Sie kennen mich, und können mich eines Verbrechens für fähig halten? Anstatt mich zu vertheidigen, wenn Neid und Feindschaft ihre Arme nach mir ausstrecken, kränken Sie mich durch einen furchtbaren Verdacht. Mein Gewissen ist frei von jedem Vorwurfe, und ich schwöre zu Gott, dem ich mein unendliches, überschwengliches Glück verdanke, daß ich wissentlich keinem Menschen in der Welt ein Unrecht zugefügt habe. Mein Vermögen verdanke ich meinem Muthe und meiner Thätigkeit; kein Seufzer, keine Thräne beeinträchtigt mir den ruhigen Besitz desselben.“
„O, mein Gott,“ unterbrach ihn Heiligenstein, „ich wollte Sie nicht kränken! Es ward mir schwer, die Einleitung zu dieser Unterredung zu treffen, die ich Ihnen als Freund nicht erlassen kann. Ludwig, ich glaube Sie genug vorbereitet zu haben – lesen Sie selbst, und erlassen Sie mir jede weitere Erklärung. Diesen Brief brachte mir vor einer Stunde ein Courier aus der Residenz; er kommt von einem Verwandten, der einen hohen Posten bei dem Criminalgerichtshofe bekleidet. Lesen Sie, und Sie werden mein Benehmen erklärlich finden und entschuldigen.“
Der Baron entfaltete das Papier und las:
„Mein lieber Vetter! Ihre Beziehungen zu der Familie Nienstedt sind durch die Rückkehr des jungen Barons freundschaftlicher geworden, als je. Ich weiß, daß jeder Schlag, der jene trifft, auch Sie berührt, denn Sie betrachten sich als ein Glied derselben, um das Andenken an Ihre verstorbene Braut zu ehren. Es ist betrübend, eine geachtete Familie plötzlich am Rande des Abgrundes zu sehen, und ich halte es für Pflicht, Sie von einer Denunciation in Kenntniß zu setzen, die auch Sie in den Criminalprozeß verwickeln kann, der dem jungen Baron von Nienstedt droht. Sie erinnern sich, daß dem Freiherrn von Erichsheim kurz vor seinem Tode, also vor sechzehn Jahren, bedeutende Werthpapiere entwendet wurden, und daß alle Nachforschungen kein Resultat ergaben. Vor acht Tagen erschien der Rechtsanwalt der Wittwe von Erichsheim und reichte eins von den Papieren ein, die um jene Zeit dem Freiherrn entwendet wurden. Zwar hat es weiter keinen Werth, aber es ist von der Hand des verstorbenen Freiherrn geschrieben und befindet sich mit auf der Liste, die der Beraubte auf [48] seinem Sterbebette gefertigt hat. Dieses Papier nun hat der junge Baron von Nienstedt in dem Vorzimmer der Freifrau von Erichsheim verloren. Das Gericht lehnte die Untersuchung ab, da der Beweis ungenügend war, aber vorgestern lieferte man neue Beweise, die unumstößlich sind und das Einschreiten des Gerichts erfordern. Die vor Zeiten erfolgte heimliche Entfernung des jungen Barons vermehrt den Verdacht, und man vermuthet, daß jene entwendeten Papiere den Grund zu seinem enormen Vermögen gelegt haben. Hat Bosheit eine Anklage erhoben, oder erwacht die rächende Nemesis – die Untersuchung wird es lehren, Suchen Sie sich zu wahren, eine Deputation des Gerichts ist bereits abgegangen.“
Einen Augenblick saß Ludwig und starrte den Freund mit großen Augen an; es schien, als ob er das Furchtbare dieser Anklage nicht erfassen könnte. Dann sprang er plötzlich auf, eilte zu einem Secretär, und riß mit bebenden Händen ein geheimes Fach auf. In demselben Momente stieß er einen durchdringenden Schrei aus.
„Was ist das? Was ist das? Gerechter Gott, man hat mich beraubt!“
Unter krampfhaftem Zittern sank er auf einem Stuhle nieder, während seine starren Blicke nach dem leeren Kasten gerichtet blieben.
Heiligenstein war zur Bildsäule erstarrt, er konnte weder eine Bewegung ausführen noch ein Wort äußern. Bot Ludwig selbst in dieser Verfassung nicht den unumstößlichen Beweis seiner Schuld? Der brave, großmüthige Mann, den Alle liebten und achteten, war plötzlich von der Höhe seines Glücks herabgesunken, es streckten Schmach und Schande ihre furchtbaren Arme nach ihm aus. Aber nicht er allein stand an dem jähen Rande dieses scheußlichen Abgrundes, auch Henriette und der greise Oberst mußten mit ihm hinabstürzen. Eine fürchterliche Minute verfloß. Heiligenstein hatte nicht den Muth, an die gräßlichen Folgen zu denken, die dieses Vergehen nach sich ziehen mußte. Aber Ludwig gewann zuerst die Fassung wieder; er erhob sich und suchte noch einmal in dem Secretär. Dann sagte er kalt und mit tonloser Stimme:
„Man hat mich bestohlen, um mich zu verderben! Mein Glück war ja zu groß, als daß es ohne Anfechtung bleiben konnte!“
„Ludwig, so sind Sie wirklich im Besitze dieser verhängnißvollen Papiere gewesen?“ fragte Heiligenstein.
„Man hatte sie mir anvertraut, ich habe sie bewahrt, ohne ihre Bedeutung zu kennen.“
„Wer, wer hat sie Ihnen anvertraut? O, zögern Sie nicht, den Mann zu nennen, Sie werfen einen furchtbaren Verdacht von sich ab!“
„Ich kann, ich darf ihn nicht nennen,“ antwortete fest der Baron. „Es binden mich Rücksichten, die ich nie im Leben außer Acht lassen darf.“
„Unglücklicher, Unglücklicher!“ rief Heiligenstein, als er die furchtbare Ruhe des jungen Mannes sah. „Haben Sie nicht ernstere, wichtigere Rücksichten zu nehmen? Sie sind Gatte und Vater!“
Ludwig zuckte krampfhaft zusammen, sein Gesicht ward leichenblaß. Plötzlich raffte er sich zusammnen und warf sich an die Brust des Freundes.
„Ludwig,“ begann Heiligenstein gerührt, „ein furchtbares Schicksal ereilt Sie, denn Sie sollen als Mann ein Vergehen büßen, dessen Sie sich als unbesonnener, übermüthiger Jüngling schuldig gemacht. Der Blick des Freundes erfaßt vollkommen die Lage der Dinge, und er beurtheilt Sie mit der Milde, auf die Sie durch Ihre jüngste Vergangenheit gerechte Ansprüche haben. Aber die Gesetze urtheilen nicht wie der Freund, sie lassen die Großmuth nicht gelten, mit der Sie eine Jugendsünde vergessen machen wollten. Ludwig, bekennen Sie mir offen, was geschehen, verhehlen Sie mir Nichts, denn nur in diesem Falle kann ich mit Ihnen die Mittel berathen, die zur Abwehr des Unglücks nöthig sind. Ich fürchte nicht, mich zu Ihrem Mitwisser, und dadurch vielleicht auch zu Ihrem Mitschuldigen zu machen, denn ich erachte es für Pflicht, die Ehre der Nienstedt’s zu retten. Sie sind der Bruder meiner Adelheid, und was ich Ihnen thue, thue ich ihr. In diesem Vorsatze bestärkt mich die Ueberzeugung, daß die Erichsheim’s nur von einer niedern Rache geleitet werden; man richtet die Schläge auf Sie, um den braven Obersten und Henrietten zu treffen. Ludwig, Sie schweigen immer noch? Denken Sie an Ihre Gattin, denken Sie an Ihr Kind!“
„Meine Gattin! Mein Kind!“ rief der junge Mann verzweiflungsvoll.
„Zögern Sie nicht, theilen Sie mir Alles mit, es könnte morgen schon zu spät sein.“
Der Baron ergriff die Hand Heiligenstein’s und sagte feierlich:
„Ich habe Ihnen nur zu bekennen, daß auf meiner Seele kein Vorwurf lastet. Halten Sie mein Schweigen nicht für Mangel an Vertrauen, ich kann, ich darf Nichts mehr sagen, glauben Sie mir, ich darf nicht, weil Henriette meine Gattin ist.“
„Und mit dieser einfachen Behauptung Ihrer Unschuld glauben Sie den Verdacht zu entkräften? Sie bekennen, daß Sie in dem Besitze der Papiere gewesen –“
„Ich habe es bekannt?“ rief der Baron auffahrend.
Heiligenstein deutete auf den leeren Kasten des Secretärs.
„Dort suchten Sie in fieberhafter Angst!“ sagte er.
Ludwig schob den Kasten zu und schloß heftig den Secretär.
„Dann habe ich es nur Ihnen, hören Sie, nur Ihnen bekannt! O, Sie sind mein Freund,“ fügte er zitternd und mit wirren Blicken hinzu, „Sie werden mich nicht verrathen! Meine Feinde haben einen unsicheren Weg betreten, sie haben nicht bedacht, daß sie durch einen Diebstahl sich in den Besitz der Papiere gesetzt, die mich verderben sollen. Ich weiß nichts von den Papieren, ich kenne sie nicht, ich habe sie nie gesehen! Wollen Sie mein Glück, Heiligenstein, so verschweigen Sie diese Unterredung; es muß jeder Verdacht an meinem Stande, an der Achtung, die ich genieße, zerschellen.“
Den größten Theil der Nacht brachten die Freunde im Gespräche zu. Der Baron gerieht in eine Geistesverfassung, die Heiligenstein erzittern machte. Bald saß er ruhig und in sich gekehrt auf dem Sopha, bald durchsuchte er die Kästen seines Schreibtisches und seines Secretärs, bald wollte er Bob und die übrigen Diener rufen, um ein Verhör anzustellen. Heiligenstein, der selbst, rathlos war, verhinderte Alles, was einen neuen Mitwisser herbeiziehen konnte. Gegen morgen ward Ludwig von einem heftigen Fieber ergriffen; seine Kräfte waren erschöpft, er erlag dem Kampfe, der sich in seinem Innern erhoben. Heiligenstein rief den Kammerdiener, der im Vorzimmer auf einem Stuhle saß und schlief.
„Dein Herr ist krank,“ sagte er, „bringe ihn zu Bett!“
Der Mulatte entkleidete den Baron und brachte ihn zu Bett. Heiligenstein ging in dem Zimmer auf und ab. Da die Thür des Schlafgemachs nur angelehnt war, konnte er folgendes Gespräch hören, das Herr und Diener führten.
„Bob,“ sagte Ludwig leise, dessen Stimme vor Fieberfrost bebte, „hast Du mich verrathen? Hast Du das Geheimniß ausgeplaudert, das Du mit Dir in das Grab zu nehmen geschworen?“
„Herr, wie kommen Sie auf diese Vermuthung?“ rief Bob.
„O, sagen Sie mir, was geschehen ist!“
„Man hat mir wichtige Papiere entwendet, die Papiere Deines frühern Herrn. Du warst stets in meiner Nähe – hegst Du keinen Verdacht?“
„Nein, Herr!“
„Bob, Du kennst mich, glaubst Du, daß ich ein Verbrechen begehen könne?“
„Herr, wer wagt es, Sie zu beschuldigen?“ rief auffahrend der Mulatte.
„Leise, leise, mein Freund, es darf uns Niemand hören! Die Papiere, die mir gestohlen sind, klagen mich an. Sie beweisen, daß der Besitzer derselben ein Verbrecher ist. Du weißt, daß ich Feinde habe, und diese benutzen die Papiere, um mich zu verderben.“
„Beruhigen Sie sich, lieber Herr, noch bin ich da, um Ihnen als Zeuge zu dienen. Ich weiß, daß Sie nicht –“
„Um Gottes willen, sprich dieses Wort nicht aus!“ rief hastig der Baron. „Bob, denke an Deinen Schwur!“
Nach einer Pause flüsterte der Baron: „Laß mich ein wenig ruhen; gehe, wache im Hause und benachrichtige mich von Allem, was vorgeht.“
„Es ist mit tausend Schrecken, was jetzt Alles erfunden wird,“ sagte einmal vor etwa zwanzig Jahren ein alter sächsischer Bauer zu mir. Und er hatte noch kein Sterbenswörtchen von Eisenbahn, Dampfschiff, elektrischen Telegraphen, Nähe- und Mähemaschinen vernommen, geschweige von der Kunst, welche den Sonnenstrahl zum Maler und Kupferstecher macht, von der wohlfeilen Kunst, Wasser mit Wasser zu kochen, mit Wasser unmittelbar zu heizen und zu beleuchten und aus Wasser unmittelbar die volle, ruhige Lichtgewalt der Sonne darzustellen; wie ich es neulich mit Staunen bei dem Schlesier Franz Puls in London leibhaftig sah[1] kein Sterbenswörtchen von all’ den elektrischen, galvanischen, galvanoplastischen, mikro- und teleskopischen, chemischen, physikalischen, mechanischen Erfindungen und Entdeckungen, welche alle 64 oder mehr Elemente und die ganze Menschheit in fieberhafter Aufregung erhalten, und stoßen und stacheln, immer noch mehr zu erfinden, Erfundenes zu verbessern und auszubeuten. Was würde der alte sächsische Bauer jetzt sagen? Wahrscheinlich gar nichts. Verstand und Zunge blieben ihm stockstill stehen vor zehntausend, vor hunderttausend Schrecken. Ging es mir, Mitgliede der westlichen Civilisation in der Welthauptstadt London, neulich doch beinahe selbst nicht besser, als ich zum ersten Male von der Eisenbahn durch die Luft hörte, welche in den Regierungs-Kriegs-Docks zu Woolwich ihr Wesen treiben sollte. Von Luftschlössern hatte ich wohl gehört und dergleichen früher auch selbst in beträchtlicher Anzahl und Pracht mit Stallung und Wagenremise für meine Privatequipage gebaut, aber dergleichen Jugend-Architectur ist von so ätherischem Material, daß sie in der Luft sehr gut hält, so lange sie von jugendlicher Phantasie und wangenrothen Hoffnungen gestützt und getragen wird.
„Aerial Railway,“ Lufteisenbahn, las ich. Eisenbahn von Luft oder durch die Luft? Fliegende Luftballons, Flugmaschinen, Ikarus’ von Eisen, beschwingte Ungeheuer paffend und schnarchend durch die Luft sausend, Eisenschienen durch die Luft gelegt ohne Unterlage - oder wie? Lufteisenbahn! Wie sieht das Ding aus? Die muß ich sehen, koste es, was es wolle.
Es kostete viel, denn die englische Regierung thut schrecklich geheim mit ihrer Diplomatie von Eisen und „flüssigem Feuer“ in Woolwich, aber ich fand doch endlich durch Fürsprache und eine Kette von Empfehlungen Einlaß in diese meilengroße, seltsame, entsetzliche Kriegswerkstatt mit Gebirgen und Straßen von Eisenbarren, runden, spitzigen, dreieckigen, konischen Kanonen- und Flintenkugeln, Heerden und Armeen von Bomben, Kanonen, Mörsern, Bestandtheilen von zweihundert neuen, eisernen Kanonenbooten, Dreihundertpfündern von Mörserbomben, die mit mehr als hundert Pfund Pulver gefüllt über eine deutsche Meile weit fliegen sollen, ehe sie fallen und platzen, Bomben in Bomben, deren letztere mit einem neuen „flüssigen Feuer“ gefüllt eine ganze Festung schneller in Brand stecken sollen, ehe es mir gelingt, eine „kohlende" Cigarre rings herum anzuzünden, mit mehr als 9000 Arbeitern, Mechanikern, Schmieden, Chemikern u. s. w., die hier täglich mit vieltausend Pferdekraft des Dampfes und mechanischer Hebel (ohne die Soldaten und Offiziere) arbeiten. Es war ein schauerlich-nässender, nebeliger, kurzer Tag, und wir wurden außerdem mißtrauisch von Ort zu Ort gehetzt; als sollten wir nichts ordentlich ansehen und der tiefen Kriegsweisheit in die Karten gucken. Bei diesem Natur- und Diplomatennebel! Ungegründetes Mißtrauen, wenigstens was mich betrifft. Mir Kurzsichtigem sind alle Eindrücke wieder zu einem dicken Chaos von Nebel verschwommen, blos die Lufteisenbahn nicht, die man uns länger sehen und vor unsern Augen operiren ließ, wobei sie ein englischer Künstler sofort mit allem Zubehör der Umgebung zeichnete, worauf sie in Holz geschnitten ward, wie wir sie hier sehen. Ich glaube, das Ding wird uns nun mit einem Blicke klar. Nichts Einfacheres [50] und Simpleres als diese Lufteisenbahn. Wenn Einer an einem schief herabgespannten Stricke herunterrutscht, hat er das Modell und die Praxis der Lufteisenbahn sofort beisammen. Simpel, aber doch und just deshalb sehr praktisch und von wichtiger Bedeutung. Man braucht jetzt nicht mehr, wo’s aus andern Gründen nicht nöthig und nützlich ist, Berge zu durchbrechen, Tiefen auszufüllen, Brücken über Flüsse zu bauen. Man führt die Lufteisenbahn sofort nach den Gesetzen der Gravitation und der schiefen Ebene darüber hinweg, läßt sich, wenn’s weiter gehen soll, auf der nächsten Station, wo die schiefe Ebene alle wird, sofort wieder in die Höhe Hebeln, und schnurrt dann den nächsten Lustberg am Schnürchen herunter u. s. w.
In Woolwich rutscht man, wie Figura zeigt, mit einer Last von zwanzig Tonnen sogar bergauf – herunter. Der große Wagebalken nämlich, an dessen beiden Enden die Eisenbahnschnuren von geflochtenem Eisendraht angebracht sind, kann je mit einer Hälfte höher gezogen werden, als die gegenüberliegende Anhöhe mit ihrem entsprechenden, herabgesenkten Wagebalken. Die Last rutscht also in einer Rolle vom Thale aus den Berg herauf – hinunter. An der nächsten Station angelangt, rollt sie in einen Apparat, durch welchen sie sofort auf die nächste, höhere Schnur gehoben wird, so daß sie wieder bergauf hinunter laufen, und so am Ende bis auf die höchste Höhe der sächsischen Schweiz immer bergab hinaufsteigen und dabei Thäler und Flüsse ohne Mühe überspringen könnte. Das Schöne der Erfindung, des französischen Ingenieurs M. Balan, besteht gerade darin, daß man im Bergaufsteigen alle Vortheile des Herabsteigens genießen kann und doch sicher in die Höhe kommt.
Die Lufteisenbahn ist direkte, leibliche Tochter der Krimnoth, zwischen deren Bergen, Felsengeklippe, Schluchten und Schlammen so viele tausend Menschenleben, Lebensmittel, Kanonen, Pferde und millionenfache Werthe stecken blieben, weil man mit allen Wundern der Mechanik nicht hindurch und darüber hinwegkommen konnte. Es ist aber sofort klar, daß die Erfindung auch für alle Operationen und Locomotionen in bergigen, schluchtigen, morastischen, von Wasser und Strömen behinderten Gegenden von der größten Wichtigkeit sein, und diese unendlich erleichtern und wohlfeilern muß.
Man hat gefunden, daß die Lufteisenbahn überall in beliebiger Länge gezogen werden kann, wo die Entfernung der einzelnen Stationen nicht über 400 Yards ausgedehnt zu werden braucht, so daß sich also schon ziemlich breite Flüsse und Thäler durch die Luft überbrücken und in Lasten und Ladungen von je 400 bis 450 Centner durchlaufen lassen und zwar in beiden Richtungen, da man mit den beweglichen Stationsbalken die schiefen Ebenen bald nach der einen, bald nach der andern Seite herab senken kann. Notabene, hat man auch bereits angefangen, innerhalb der luftigen Schienen Kupferdrähte einzuflechten, womit man sofort einen elektrischen Telegraphen hin und her correspondiren lassen kann.
Der Apparat in Woolwich ist zunächst noch eine einfache Station, auf welcher man vor meinen Augen große Bausteine für Batterien, Kisten und Kugeln, riesige Bomben, Baumaterialien aller Art spielend hin und hergleiten ließ. Also handgreifliche Demonstration, daß man ohne Plack und Qual, ohne Pferde- und Dampfkraft Personen und Sachen vielcentnerweise eben so leicht und leichter blos vom Gesetze der Schwere durch die Lust spediren kann, wie jetzt mit Kosten und Gefahren vermittelst Pferde- und Dampfkraft. Das Gesetz der Schwere kostet gar nichts, wie die Natur denn überhaupt Alles umsonst giebt. Jede andere Art zu reisen, und sei es die wohlfeilste, vermittelst der „Gebrüder Beenecke,“ ist ziemlich kostspielig, wie man mit Erstaunen erfahren würde, wenn man berechnete, wie viel Kraft ein Mensch schon confirmirt, nur um gemächlich von Berlin nach Schöneberg oder von Leipzig nach Eutritzsch zu spazieren.
Für den Furchtsamen und mathematisch Uneingeweihten, der sich jetzt schon vornimmt, auf der künftigen Luftrutschbahn nicht mitrutschen zu wollen, weil etwa die Leute an jedem ablaufenden Ende der schiefen Ebene unsanft mit den Nasen zusammenstoßen müßten, bemerken wir noch, daß die biegsamen Verbindungstaue, an denen man hinabrutscht, nicht genau eine schiefe Ebene bilden, sondern so construirt sind, daß sie sich am Ende wieder so viel erheben, um das Gesetz der beschleunigten Geschwindigkeit beim Falle so zu neutralisiren, daß die herabrollende Last nur eben bergauf so weit getrieben wird, um sich vom nächsten Balken wieder zur nächsten Station in die Höhe hebeln zu lassen, daß also der ganze Apparat eine genaue, angewandte Mathematik ist mit wissenschaftlicher Berechnung aller mitspielenden Gesetze. Also nur immer gleich frisch mit hinein in den ersten Lufteisenbahnzug, so bald es losgeht. Und ich sollte meinen, es wäre keine schlechte Speculation, irgendwo vor der Stadt draußen eine solche Luftrutschbahn zunächst zum Vergnügen der Leute zurecht zu machen, 1 Sgr. pro Rutsch und Person, Kinder die Hälfte, im Abonnement viel billiger.
Nr. 2. Acht Tage im altenburger Lande.
(Schluß.)
Sollen wir noch das nun folgende, wahrhaft homerische Gastmahl – das letzte Epitheton in Bezug auf die Massenhaftigkeit der Gerichte gebraucht – diese Menge Schüsseln und Pfannen voller Gänse, Enten, Karpfen, Schinken, Hasen, Kalbs- und Schöpskeulen, diese Ströme von Bier, rothem und weißen Branntwein, schildern? Diese Pyramiden von Asch- oder Sternkuchen? Sollen wir von den Freuden des Tages sprechen, von dem „Rummelpuff,“ diesem grotesken Tanz, der jetzt nur noch in der Tradition, in der Erinnerung lebt, dessen Charakter aber man vielleicht schon aus dem Namen errathen kann? Die Feder bebt zurück vor solcher Aufgabe.
Drei Tage ging es so fort unter Saus und Braus, am dritten Tage aber, als der Neumond in vergangener Nacht am Himmel gestanden, nahm die hübsche, junge Frau Abschied von ihren Aeltern, ein großer hamburger Wagen mit Blumen und Kränzen geschmückt und mit den Hochzeitsgeschenken beladen, fuhr vor, und hinauf kletterte die junge Frau, sich oben ehrbarlich und züchtig neben das nußbraune Spinnrad und den Flachsrecken – den alten klassischen Symbolen der Häuslichkeit – setzend.
So feiert der altenburgische Bauer seine Hochzeiten. Wir betonen absichtlich das Wort: Bauer. Denn auch diese ländliche Bevölkerung hat ihre Rangunterschiede, und ein Fremder, der auf einem altenburger Jahrmarkt vielleicht alle diese Männer in altenburgischer Bauerntracht und diese Frauen und Mädchen in ihren kurzen, bunten, faltigen Röcken, bunten Kopftüchern, Brustlatz und weißen Strümpfen für Angehörige ein und derselben Klasse halten würde – wäre in einem gewaltigen Irrthum befangen. – Wie die alte Bevölkerung Attika’s ihre drei Klassen, ihre Eupatriden, Geomoren und Demiurgen, wie Rom seine Classes und Centuriones hatte, um nicht von den Unterschieden der germanischen Völker zu sprechen, so hat auch diese altenburgische Bauernschaft ihre verschiedenen Abstufungen oder Kasten. Zuerst kommen die Bauern χατ έξοχήν die Bauern genannt, die Bauern oder Anspanner, auf sie folgen die Gärtner oder Hand-, auch Kuhbauern genannt, und zuletzt schließt sich an diese beiden die Klasse der Häusler, auch schlechthin die „Kleinen“ genannt. Den Kern der Bevölkerung aber bildet die erste Klasse, die der Bauern oder Anspanner, die den letzten Namen davon führen, daß sie zur Bewirthschaftung ihrer Felder neben dem gewöhnlichen Zugvieh an Rindern auch und insbesondere Pferde benutzen, nach deren Zahl – die wieder von der Größe des Grundbesitzes, von der Menge der zu einem Gut gehörigen Hufen oder Acker abhängig – die Anspanner wieder in Zwei-, Drei-, Vier-, Fünf-, auch wohl Sechsspänner theilt. Diese Bauern oder Anspanner sind es, von deren Reichthum und Behäbigkeit, deren hohem Spiel, insbesondere dem sogenannten „Scatspiel,“ dessen Vaterland Altenburg sein soll, von deren Festlichkeiten, wie eine oben geschildert worden, sich die Leute im Land umher wunderbare Dinge erzählen. Manches davon mag wohl übertrieben sein, indessen ist auch viel Wahres darunter. Wohlhabend sind diese Anspanner fast alle, und daß Viele von ihnen, die mit dem großen Kober von geflochtenem Stroh über [51] dem grünen Tuchspenzer zum Wochenmarkt nach „Almerg“ (Altenburg) gehen, wohl schwerlich mit manchem Rittergutsbesitzer tauschen, der in eleganter Chaise fährt, ist gewiß. Die Bauern wissen das aber auch, und deshalb sehen sie auch darauf, daß Grund und Boden, der den Hauptbestandtheill ihres Reichthums bildet, zusammenbleibt und nicht „verzettelt“ wird. Ein Bauers- oder Anspannersohn oder eine Tochter aus einem solchen Gut wird daher auch selten eine Mesalliance schließen, das heißt, ein Mädchen oder einen Burschen aus der Klasse der „Kleinen,“ der Häusler, heirathen; sie freien meistens untereinander, so daß Besitz zu Besitz kömmt. –
So fließt das Leben des altenburger Bauers ruhig und behaglich dahin, und auf ihn vor Allem konnte man jene Worte des Horaz: Beatus ille, qui procul negotiis paterna rura bobus exercet suis (Glücklich derjenige, der fern von den Staatsgeschäften seine heimathlichen Fluren mit seinen Stieren pflügt) anwenden. Neigt sich endlich seine Lebensbahn abwärts, bleichen sich seine Haare, werden die Glieder matt und schlaff, dann sieht er sich nach einem Nachfolger in der Wirthschaft um, und gewöhnlich – doch nicht immer – ist es der jüngste Sohn, dem er das Anwesen übergiebt, während er für sich und die alternde Gattin nur eine Leibzucht, wie es das gemeine deutsche Recht nennt, oder einen Auszug, wie es hier heißt, behält. Die Extreme berühren sich, Freud’ und Leid liegen im Leben oft nur wenige Stunden aus einander, und oft ist kaum der Jubel der Festtage verhallt und schon mischen sich in den verklingenden Freudenlärm die Seufzer und Klagen der Trauer.
Es war wenige Tage nach jener eben geschilderten Hochzeit, als in dem Dorfe, in dem wir weilten, ein junges, hübsches Mädchen, die schöne Marie oder „schüne Mareige,“ wie die Leute sagten, starb. Auf der Hochzeit hatte sie noch lustig mitgetanzt und gescherzt und gelacht hatte sie wie die Anderen, vielleicht so gar noch etwas übermüthiger – und nun war sie plötzlich gestorben, mit einem Mal „war es über sie gekommen,“ und in wenig Stunden war sie gesund und munter und todt und kalt. Die Leute meinten, sie wäre immer so vollblütig gewesen und es müßte wohl ein „Herzschlag“ sie getroffen haben. Am Begräbnißtag hatte es den ganzen Morgen geregnet, und erst um Mittag brach die Herbstsonne durch das graue, trübe Gewölk. – Zugleich tönte das Sterbegeläute von dem Kirchthurm, und die Leidtragenden fingen an sich in dem Hause zu versammeln. In der Oberstube stand der offene Sarg zwischen Kränzen und Blumenstöcken, und darin lag in ihrem Sonntagsmieder, das buntseidene Tuch um das dunkelblonde Haar geschlungen, eine Citrone mit schwarzen Stecknadeln in der Hand, die schöne „Mareige,“ bleich wie eine Lilie und kalt wie Marmor. – Während die Angehörigen und Freunde die weinenden Aeltern trösteten, nahte sich unter Vortragen des Kreuzes mit dem Heilandsbild und unter dem Singen eines Chorals die Schuljugend, den Schulmeister und Pfarrer an ihrer Spitze. – Vor dem Gehöfte stellte sie sich auf, und als das Lied geendet und die Leiche herunter vor die Hausthür getragen worden war, stieg der Pfarrer auf die „Häufte,“ wie man die Erhöhung vor dem Hause nennt, und hielt eine kurze Rede an die Leidtragenden, in welcher er den Aeltern Trost zusprach und den Anwesenden für ihre Theilnahme dankte. Dann wurde der Sarg zugeschraubt und unter Gesang und Glockengeläute bewegte sich der Zug, während zur Rechten und Linken der Bahre junge Mädchen – die Freundinnen der Verstorbenen – mit Kränzen und Blumenstöcken gingen, nach dem Friedhof. Beim Eintritt in die Kirche setzten die Träger die Bahre zur Erde; es wurde gesungen, gebetet und der Segen gesprochen, wobei – es ist dies eine alte, hergebrachte Sitte, wie alle diese Gebräuche – die nächsten Anverwandten der Verstorbenen sich dicht zusammen auf eine Bank setzten, nicht mit sangen, sondern das Gesicht auf die Kirchenstände niederlegten. Die Männer darunter behielten auch – während die Uebrigen das Haupt entblößten – während des ganzen Gottesdienstes und selbst beim Segensspruch die Hütchen auf dem Kopf. Früher trugen die die Leiche begleitenden Frauen besondere schwarze Trauermäntel und Schleier, doch ist diese Tracht jetzt so ziemlich überall verschwunden und die Frauen gehen in ihrer gewöhnlichen Tracht, nur daß diese bei solcher Gelegenheit von schwarzem Trauerkattun ist und die bunten, grellen Farben wegfallen. – Unter Absingen eines Grabliedes wurde der Sarg in’s Grab gesenkt, drei Hände voll Erde darauf geworfen, ein Vaterunser gebetet – und dann ging es wieder in’s Trauerhaus, wo eine Trauermahlzeit die traurige Feierlichkeit beschloß.
Doch hinweg mit den trüben Bildern! Wir sprachen oben von dem Spiel der Bauern. – Manches, was man sich davon erzählt, gehört in’s Reich der Fabel oder doch wenigstens, wenn es überhaupt vorgekommen, zu den seltenen Fällen, so z. B. daß die Bauern unter sich um Laubthaler nach der Elle, vierzehn Stück auf die Elle gerechnet, spielen sollten, indessen hoch gespielt wird, und daß beim allgeinemen „Landfressen,“ wie da zu Lande die Kirmse genannt wird, Scat den Point zu einem Zwanzigkreuzer gespielt wird – das ist keine.
Da dies Spiel außerhalb Sachsens und Thüringens wenig bekannt sein wird, so wollen wir für die dieses Spiels unkundigen Leser nur so viel bemerken, daß dies ein ziemlich hoher Satz ist, und Einer, falls er Unglück hat oder sonst ungeschickt spielt – das Spiel ist nämlich kein Glücksspiel im strengen Sinn des Worts, sondern beruht mit auf Combinationen der Spieler – wohl ein paar hundert Thaler den Abend verspielen kann. So leidenschaftlich die Bauern aber auch dies Spiel lieben, so ruhig, so unverwüstlich gelassen sind sie im Fall sie verlieren, und mit einem guten oder schlechten Witzwort trösten sie sich oder Andere.
Wir sahen einst in Baden-Baden einen französischen Chevalier am Rouge et Noir, der, nachdem er im Ganzen vielleicht dreihundert Franken verloren, so außer sich gerieth, daß er seine Manschetten mit den Zähnen abbiß, sich die Haare zerraufte und endlich unter fortwährenden Ausbrüchen von Wuth und Aerger davon lief – und dann sahen wir wieder zu einem Volksfest, zu einem Vogelschießen in einer thüringischen Stadt einen altenburger Bauer in einer Spielbude eine Stunde lang Speciesthaler um Speciesthaler verlieren, so daß er zuletzt immer tiefer in die weiten Taschen der bauschigen Hosen greifen mußte. Endlich – es mochte vielleicht der achtzigste Speciesthaler sein, den die gefräßige, habsüchtige Harke des Spielers eingezogen, schienen die Thaler entweder ein Ende zu nehmen oder der Bauer war des Hineingreifens in die Tasche überdrüssig, denn mit einem Male brachte er ein kleines, ledernes, schmutziges Schnürbeutelchen hervor, und es auf den grünen Tisch legend, sprach er: „Gält’s uder gält’s nich?“ (Gilt es oder gilt es nicht?) Der Spieler, der nicht wußte, was in dem Beutelchen war, zögerte anfangs, den Satz anzunehmen und wollte wenigstens wissen, was oder wieviel in dem Beutel wäre, der Bauer aber wiederholte hartnäckig die obige Frage. „Nun meinetwegen, so soll es gelten,“ sagte endlich von der Begierde besiegt der Spieler. – Die Kugel drehte sich und – der Bauer hatte dieses Mal gewonnen. Gelassen löste er nun die Schnüre seines Beutelchens und zählte dem erbleichenden Spieler vierzig neue, unbeschnittene Dukaten vor, die den Einsatz gebildet hatten. Verzweiflungsvoll zahlte der Spieler den Gewinn aus, der Bauer aber strich ihn ruhig ein, wünschte dem Croupier „gute Verrichtung,“ und alle weiteren Versprechungen und Lockungen zu bleiben, waren umsonst – er ging.
Doch der gegebene Raum nöthigt uns hier die Skizze zu schließen, und nur eine kleine historische Notiz sei noch gestattet.
Die altenburger Bauern sind nicht germanischer Abstammung, sondern gehören zu den Sorben-Wenden, welche einst die Länder bis zur Saale inne hatten. Deutsche Ansiedler und vor Allem die Errichtung deutscher Markgrafschaften drängten diesen slawischen Völkerstamm immer weiter zurück, und nur die auf iz, itzsch u. s. w. endenden Namen von Ortschaften zeigen, daß in diesen Gegenden slavische Völker gehaust. Während so das Germanenthum das slavische Element sich überall unterwürfig machte oder da, wo dieses nicht nachgab, vernichtete, und während überall die Besiegten in den Siegern aufgingen, das heißt, sich vollständig germanisirten – wir sprechen jetzt natürlich von den Gegenden an der Saale und Pleiße – erhielt sich trotz aller Anfechtungen im Pleißengau, das heißt, in demselben Bezirk, den die altenburger Bauern noch heute bewohnen, ein Rest von Sorben-Wenden, und wie diese in so vielen Dingen ihren alten Sitten und Gebräuchen treu geblieben, wie viele von ihren deutschen Nachbarn sie unterscheidende nationale Gewohnheiten sie sich erhalten haben – das versuchten wir in vorstehender Skizze zu schildern.
[52]Für Millionen von Menschen ist das Brot ein unentbehrlicher Theil der alltäglichen Nahrung; es rivalisirt an Nahrungswerth mit der Milch und ist ganz besonders dadurch ausgezeichnet, daß es von unserm Magen stets ohne Widerstreben angenommen wird. An ein gutes Brot knüpfen sich jedoch viele und wesentliche Bedingungen, die theils von der Reinheit und Beschaffenheit des Mehles, theils von der Art und Weise der Brotbereitung abhängen, und oftmals werden wirklich elende Fabrikate als „Brot" ausgeboten. In Anbetracht der großen Wichtigkeit dieses Gegenstandes für das alltägliche Leben hege ich die Ueberzeugung, daß mich die Leser der traulichen Gartenlaube bei kurzer Beachtung desselben begleiten werden.
Das Brot wird aus Mehlsorten bereitet, die man aus den Samen der Getreidepflanzen oder Cerealien, den Haupterzeugnissen des Landmanns gewinnt. Die Cerealien sind Pflanzen aus der Familie der Gräser mit langem, dünnem Halme, der an einigen verdickten Stellen, den sogenannten Knoten des Halmes, von langen zugespizten Blättern umfaßt wird, und an seiner Spitze viele in einer Aehre oder Rispe zusammenstehende unscheinbare Blüthen trägt, denen die schmückenden Blumenblätter fehlen, und die zu den kleinen, länglich runden oder walzenförmigen Samenkörnern reifen. Von einem gewissen Instinkte geleitet, haben die Menschen schon seit undenklichen Zeiten den nährenden Reichthum dieser Samen erkannt, und sobald ein Volk einer ruhigeren Lebensweise und mit dieser der Civilisation zuzustreben begann, vertauschte es zunächst die Waffe mit dem Pfluge und pflanzte in das durchfurchte Erdreich die wogenden Gräser mit ihren goldenen Aehren. Mit Recht wird daher der Ackerbau als die Seele der Industrie und der Gewerbe, als ein Segen des Friedens betrachtet; mit Recht wird er als unentbehrlich für die Menschheit geschildert; denn die Sorge um das tägliche Brot ist in materieller Beziehung die größte, den Menschen tyrannisirende Fessel.
Die wichtigsten Getreidearten sind: Weizen, Roggen oder Korn, Gerste, Hafer, Mais oder Welschkorn und Reis; doch ist nur das Mehl aus den Samen des Weizens und Roggens ganz geeignet zur Brotbereitung; während das Mehl der Gerste, des Hafers, Maises und Reises zwar, wie auch das Mehl der Hülsenfrüchte (Bohnen, Erbsen, Linsen), des Buchweizens und anderer Pflanzen, sehr oft dem Weizen und Kornmehl beigemischt wird, doch für sich allein kein wahres Brot zu geben vermag.
Die erste Zubereitung der ausgedroschenen Getreidekörner erfolgt in den Mühlen, wo dieselben theils von den äußeren Hüllen oder Hülsen, der sogenannten Kleie befreit, theils gröber zu Gries oder feiner zu Mehl gemahlen werden. Die Mühlen werden durch Wasser, Wind oder jedoch nur selten durch Dampf in Bewegung gesetzt; denn die sogenannten Dampfmühlen oder Kunstmühlen sind meistens nur Wassermühlen von neuerer Construction. Vergleichen wir verschiedene Mühlen, z. B. alte und neue miteinander, so bemerken wir mit Erstaunen, wie weit es der menschliche Scharfsinn auch hier gebracht hat. In den Mühlen von neuester Construction wird das Getreide gereinigt, zerquetscht (geschroten), enthülst, gemahlen, das Mehl nach seiner Feinheit sortirt und in Säcke gefüllt, ohne daß es von menschlichen Händen berührt zu werden braucht. Ein gewaltiges Rad vom Wasser gedreht, bewegt das ganze reinliche Werk, und das Gehör wird nicht mehr durch das unerträglihe Klappern beleidigt; wir hören nur ein dumpfes Rollen der unaufhörlich sich drehenden Räder. Eine ausführliche Beschreibung einer Mühle von neuester Construction geben wir hier nicht, weil uns dies zu sehr von unserem Hauptgegenstande ablenken würde. Nur das Vorzüglichste mag kurz hervorgehoben werden.
Auch in den neuesten Mühlen wird das Getreide zwischen zwei, sich mit ihrer rauhen Oberfläche gegeneinander drehenden Mühlsteinen gemahlen; doch geschieht das Zerquetschen oder Schroten in manchen Mühlen mittelst gegen einander laufenden Walzen, zwischen welchen man die Getreidekörner durchtreten läßt. Ist das Getreide durch einmaliges Behandeln zwischen den Mühlsteinen oder Walzen geschroten, so wird es mit Hülfe des Luftzuges kräftiger Ventilatoren enthülst, indem hierbei die leichte Kleie von dem schwereren Griese weggeblasen wird. Der enthülste Gries fällt hierauf wieder von Neuem zwischen zwei Mühlsteine und wird von diesen in Mehl verwandelt. Das gebildete Mehl wird von eigenthümlichen Taschenapparaten (kleinen an einem um Rollen sich drehenden Bande ohne Ende befestigten Täschchen von Blech), sogenannten Elevatoren aufgenommen, in ein oberes Stockwerk gehoben und in das höher stehende Ende eines hohlen, etwas nach abwärts geneigten, sich drehenden Cylinders von Seidengaze ausgeschüttet. Während der ersten Umdrehung des Cylinders fällt zunächst das feinste Mehl durch die Poren der Gaze in einen Kanal, an dessen Ende es von einem Sacke aufgenommen wird. Zugleich rutscht das im Cylinder gebliebene Mehl weiter nach abwärts, und bei einer neuen Umdrehung geht wieder ein Theil desselben, der aber gröber ist, durch, fällt in einen zweiten Kanal, und von diesem in einen zweiten Sack. Das Mehl im Cylinder rutscht wieder weiter; es geht noch gröberes Mehl durch, welches durch einen dritten Kanal in einem dritten Sacke aufgefangen wird etc. Hat sich ein Sack gefüllt, so wird er zugebunden und ein neuer leerer an dem Kanale befestigt. Das Mehl aber, welches zu grob war, um durch die Poren der Gaze dringen zu können, fällt wieder aus dem niedriger liegenden anderen Ende des Cylinders durch einen Kanal zwischen zwei Mühlsteine, um von diesen feiner gemahlen zu werden. Wenige Menschen reichen hin, um dieses schöne Werk zu reguliren.
Das Mahlen der Getreidekörner hat den Zweck, die Masse des Kornes fein zu vertheilen und die unverdauliche, aus Holzsubstanz bestehende äußerste Umhüllung der Körner, die Kleie, zu entfernen. Diese Aufgabe wird von den Kunstmühlen neuester Konstruktion in überraschender Weise gelöst, obschon noch einige Verbesserungen in mehrfacher Hinsicht wünschenswerth sind. Um nämlich den Werth eines Mehles beurtheilen zu können, müssen wir auf die Hauptbestandtheile des Getreides und auf die Art und Weise, wie diese in dem Getreidekorne abgelagert sind, Rücksicht nehmen. Wir finden dann, daß das sogenannte feinste Mehl, also das, was sich am feinsten anfühlt, nicht immer das nahrhafteste und zur Brotbereitung vorzüglichste ist, sondern daß das gröbere, welches später durch die Gaze des Cylinders fällt, ein nährenderes schmackhafteres Brot liefert. – Die Hauptbestandtheile des Getreides sind:
1.Stickstoffhaltige organische Verbindungen, sogenannte blutbildende Nahrungsmittel in einer Menge von 10-20 Procent. Diese sind in höchst complicirter Weise aus den sechs Elementen Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff, Sauerstoff, Schwefel und Phosphor (die beiden letzten nur in ganz geringer Menge) zusammengesetzt, können als Nahrungsmittel nicht entbehrt werden, da sie zur Bildung des Blutes dienen. Wir unterscheiden vorzüglich drei dieser Stoffe im Getreide, nämlich Pflanzeneiweiß oder Albumin, ist dem Eiweiße der Eier fast gleich und findet sich theils in einem in Wasser löslichen, theils in einem unlöslichen coagulirten Zustande; Pflanzenfibrin, ist dem Faserstoff des Fleisches ähnlich, in Wasser und Weingeist unauflöslich; und Pflanzenleim, ist dem Käsestoff der Milch ähnlich, in Wasser nicht, aber in Weingeist auflöslich. Pflanzenfibrin und Pflanzenleim bleiben gemeinschaftlich als sogenannter Kleber zurück, wenn das Getreidemehl, vorzüglich Weizenmehl, in ein leinenes Tuch gebunden und in diesem, unter reinem Wasser so lange ausgeknetet wird, bis keine weißen Körnchen (Stärkekügelchen) mehr durch die Poren des Tuches dringen. Der im Tuche zurückgebliebene Kleber ist eine sehr zähe, elastische, stark anklebende Masse; er behält das Wasser so stark zurück, daß er sich nur schwierig zu einer harten, durchscheinenden, hornartigen Masse, die im Wasser wieder aufquillt, trocknen läßt. Der Kleber ist die Ursache, daß das Getreidemehl beim Kneten mit Wasser einen zähen Teig bilden kann, daher kömmt es, daß das Mehl von Getreidearten, die nur wenig Kleber enthalten, wie z. B. das Reismehl, Maismehl, Hafermehl, keinen so guten Teig giebt, wie das Weizen- und Roggenmehl, die reicher an Kleber sind.
2. Stickstofffreie organische Verbindungen, sogenannte Respirationsmittel, in einer Menge von 70-80 Procent. Diese sind weniger complicirt aus den drei Elementen: Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff zusamenengesetzt, können als Nahrungsmittel [53] ebenfalls nicht entbehrt werden, dienen jedoch nicht zur Blutbereitung, sondern indem sie im Körper einer Art von Verbrennung unterliegen, zur Hervorbringung der Körperwärme. Wir können vier solche Stoffe im Getreide auffinden; nämlich Stärkemehl oder Amylum, ist der Hauptbestandtheil der Getreidekörner, indem es sich zu 60-70 Procent darin findet. Es erscheint in sehr kleinen, weißen; festen, kugelförmigen oder ovalen Körnchen, die in kaltem Wasser zu Boden sinken (Satzmehl), ohne sich darin aufzulösen; in heißem Wasser dagegen sehr stark aufquellen und damit den dicken Stärkekleister bilden; Gummi oder Dextrin, ist im Wasser sehr leicht auflöslich und findet sich nur zu 2-4 Procent in den Getreidekörnern; Holzsubstanz oder Cellulose, ist in Wasser völlig unlöslich, unverdaulich und bildet 5-7 Procent der Getreidekörner; und fettes Oel, gleicht dem Olivenöle; findet sich aber nur zu 1½-4 Procent; nur die Maiskörner enthalten 8-10 Procent fettige Bestandtheile, und unterscheiden sich durch ihren Fettreichthum von allen andern Getreidearten.
3. Mineralische Verbindungen, meistens Salze, sogenannte Aschenbestandtheile (da sie beim Verbrennen des Getreides als Asche zurückbleiben), in einer Menge von 1-4 Procent. Diese sind sämmtlich Substanzen, welche auch der thierische Körper zu seinem Bestehen, namentlich zur Bildung der Knochen braucht.
4. Wasser, ist in den Getreidekörnern zu 12-15 Procent enthalten; dasselbe entweicht selbst beim Erwärmen des Mehles nur theilweise; ist daher mit den verschiedenen Bestandtheilen desselben chemisch verbunden.
Diese Bestandtheile zusammen genügen; um den menschlichen Körper gesund und kräftig zu erhalten. Das Getreide nimmt somit unter den Nahrungsmitteln den ersten Rang mit ein.
Nicht weniger bemerkenswerth ist die Art und Weise, wie die eben genannten Stoffe im Getreidekorn abgelagert sind. Ein mikroskopischer Blick auf ein durchschnittenes Getreidekorn überzeugt uns von dem regelmäßigen Bau desselben. Wir bemerken sogleich, daß das Korn aus zwei Haupttheilen besteht; aus einem mehligen Kerne, der fast nur Stärkekügelchen enthält und aus der äußeren Hülle. Diese besteht nach Außen hin aus unverdaulicher Holzsubstanz, nach dem mehligen Kerne hin aus mit Kleber gefüllten Zellen. Der nahrhafteste Theil des Kornes, der Kleber, ist daher vorzüglich in einer besonderen Lage zwischen dem Mehlkerne und der äußern Hülle abgelagert, hängt aber sowohl mit dem Kerne als mit der Hülle innig zusammen. Wird das Getreide gemahlen, so bleibt ein Theil des Klebers an der Hülle sitzen, wird mit dieser als Kleie getrennt, und nur ein Theil vermischt sich mit dem Kerne zum nahrhaften Mehle. Dieser Verlust ist um so empfindlicher, da die Nahrhaftigkeit des Mehles, die Tauglichkeit desselben zur Brotbereitung, hauptsächlich von seinem Klebergehalte abhängt. Die Kleie geht für den Menschen verloren; denn nur in wenigen Gegenden wird sie mit dem Mehle zu Brot (Pumpernickel) gebacken; gewöhnlich als Viehfutter verwendet. So ausgezeichnet auch die Einrichtung der Kunstmühlen ist, so bleibt doch den Müllern noch die Aufgabe zur Lösung, die äußerste Hülle des Getreidekornes so rein abzutrennen, daß keine nährenden Theile mehr daran hängen bleiben. Das Verhältniß ist schon viel günstiger geworden; denn früher verlor man mit der Kleie ungefähr 30 Procent, jetzt verliert man noch etwa 9-15 Procent an nährenden Theilen; daher steht zu hoffen, daß die fortschreitende Zeit diesen Mangel gänzlich zu heben vermöge.
Die verschiedene Beschaffenheit des Mehles hängt also nicht allein von der Güte des Getreides, sondern namentlich auch von der beim Mahlen befolgten Methode ab. Das feinste Mehl ist zwar sehr weiß und weich, allein es enthält hauptsächlich nur Stärkekügelchen; das gröbere Mehl ist nicht so rein weiß, fühlt sich rauher an, ist aber gewöhnlich reicher an Kleber und daher nahrhafter, enthält auch etwas mehr von dem in dem Getreide enthaltenen Oel. Grauweiß wird das Mehl, wenn zugleich ein Theil der Kleie mit gemahlen wurde. Hat man das Getreide vor dem Mahlen mit Wasser befeuchtet, was früher allgemein geschah, so kann man zwar mit weicheren Mühlsteinen arbeiten, auch trennt sich die Kleie leichter ab, allein das Mehl erleidet schon während des Mahlens eine Veränderung, indem ein Theil des darin vorkommenden Gummi in Zucker übergeht und beim Aufbewahren wird es leicht klumpig, mulsterig und zuletzt unbrauchbar. Die trockenen Getreidekörner sind schwerer zerreiblich, erfordern härtere Mühlsteine, aber liefern ein sehr haltbares Mehl.
Natürlich hängt die Eigenthümlichkeit eines Mehles zunächst von der Getreideart ab, aus welcher es gewonnen wurde. Das Weizenmehl erhält man aus den Samen mehrerer Arten der Pflanzengattung Triticum (Triticum vulgare, gemeiner Weizen - Triticum turgidum, englischer Weizen - Triticum polonicum, polnischer Weizen - Triticum Spelta, Dinkel - Triticum monococcum, einkörniger Weizen etc.). Es ist durch seine weiße Farbe ausgezeichnet. Wird es in ein leinenes Tuch eingebunden und unter Wasser ausgeknetet, so läßt es eine bedeutende Menge eines sehr zähen; elastischen, an anderen Körpern fest anhaftenden Klebers in dem Tuche zurück. Verdorbenes Weizenmehl giebt bei gleicher Behandlung einen leicht zerreiblichen schleimigen oder wässerigen Kleber und ist daher leicht zu erkennen. – Das Roggen- oder Kornmehl wird aus den Samen der Kornfrucht, Secale cereale, erhalten. Es ist grau bis graubraun gefärbt, steht an nährendem Werthe dem Weizenmehle ziemlich gleich, hinterläßt aber beim Auskneten unter Wasser keinen so zähen Kleber, sondern läßt sich fast ganz durch die Poren eines Tuches drücken, was darauf zu beruhen scheint, daß es weniger Pflanzenfibrin enthält. Mit Wasser bildet es einen weniger zähen Teig als das Weizenmehl. – Das Gerstenmehl erhält man aus den Samen mehrerer Arten der Pflanzengattung Hordeum (Hordeum vulgare, gemeine Gerste – Hordeum distichum, zweizeilige Gerste – Hordeum hexastichon, sechszeilige Gerste). Es ist ziemlich weiß, enthält zwar eine nicht unbedeutende, doch zur Zeit noch nicht genauer ermittelte Menge von stickstoffhaltigen Bestandtheilen, welche sich aber mit den Stärkemehlkügelchen im Wasser zertheilen, sich daher nicht als Kleber abscheiden lassen. Es bildet mit Wasser keinen sehr zusammenhängenden Teig, kann daher für sich allein nicht zu richtigem Brote gebacken werden, wird aber in einigen Gegenden Deutschlands dem Roggenmehle beigemischt und verbacken. Die Hauptverwendung wird die Gerste stets in der Bierbrauerei und Branntweinbrennerei finden; auch geben die enthülsten Gerstenkörner das unter dem Namen Gräupchen allbekannte, vortrefflihe Gemüse; dagegen ist die Benutzung des Gerstenmehles zur Brotbäckerei nicht zu empfehlen. – Das Hafermehl gewinnt man aus den Samen mehrerer Arten der Pflanzengattung Avena (Avena sativa, gemeiner Hafer – Avena orientalis, türkischer Hafer – Avena nuda, nackter Hafer etc.). Es ist gelblich weiß, sehr reich an stickftoffhaltigen blutbildenden Bestandtheilen (enthülster Hafer, die sogenannte Hafergrütze enthält gegen 18 Procent) und ziemlich reich an Fett. Mit Wasser bildet es aber keinen richtigen Teig, weil sein stickstoffhaltiger Körper sich nicht als Kleber ausscheiden läßt, sondern sich im Wasser größtentheils auflöst, und ähnliche Eigenschaften, wie der in der Milch enthaltene Käsestoff zeigt. Es kann daher für sich zu keinem schmackhaften Brote verbacken werden, wird jedoch in mehreren Ländern, z. B. in Schottland dem Roggen- und Weizenmehl beigemischt und verbacken. Der Hafer ist jedenfalls ein ausgezeichnetes Nahrungsmittel; nur ist es besser, ihn in anderer Form zu genießen, z. B, als Hafergrütze; denn das Haferbrot kann den an ein gutes Brot zu stellenden Anforderungen nicht entsprechen. – Das Maismehl oder Welschkorn erhält man aus den Samen des schönen schilfartigen Grases Zea Mays. Es ist gewöhnlich ziemlich grobkörnig, gelb, und giebt mit Wasser einen wenig zusammenhängenden Teig; eignet sich daher ebenfalls nicht zur Brotbäckerei. Es ist sehr nahrhaft; enthält viel stickftoffhaltige Bestandtheile und Fett, und wird besonders im südlichen Europa mit Wasser zu einem ziemlich festen Kuchen (Polenta) oder zu einem Brei gekocht genossen. – Das Reismehl wird aus den Samen der Oryza sativa erhalten. Es ist sehr schön weiß, enthält aber nur wenig stickstoffhaltige Bestandtheile, hat daher einen viel geringeren Nahrungswerth, bildet mit Wasser keinen rechten Teig, und kann daher, wenigstens für sich allein nicht zu Brot gebacken werden. Die Reiskörner werden am häufigsten im ungemahlenen Zustande mit Wasser, Fleischbrühe oder Milch gekocht, als Gemüse genossen.
Hieraus ergiebt sich, daß mit Vortheil nur das Weizenmehl und das Roggenmehl zum Brotbacken verwendet werden können, während die anderen Getreidearten besser auf andere Weise benutzt werden. Aus dem Weizenmehle erhält man das ausgezeichnet schön aussehende Weißbrot. Dasselbe hat im frischgebackenen [54] Zustande einen sehr angenehmen Geschmack, ist lecker und feucht, wird aber schon nach wenigen Tagenhart, trocken und fast geschmacklos; dennoch besticht sein schönes Aussehen so, daß es in vielen Ländern, besonders in England, Frankreich, Griechenland, zum Theil auch im südlichen Deutschland und der Schweiz, doch hier meist nur in den Städten, fast ausschließlich genossen wird. In der Schweiz wird sehr viel Weißbrot aus den sogenannten Dinkelkernen oder dem Spelz (Triticium Spelta) gebacken. Das Brot des ächten Weizens ist zwar schmackhafter, erfordert aber mehr Arbeit; während der Teig aus Dinkelmehl besser aufgeht und ein schöner aussehendes Brot giebt. – Aus dem Roggenmehle erhält man das dunkler aussehende sogenannte Schwarzbrot. Dieses besitzt aber, wenn es gut gebacken ist, einen angenehmeren, kräftigeren Geschmack, verbreitet ein anziehendes Brotaroma, ist locker und bleibt viel länger feucht und wohlschmeckend als das Weizenbrot. Es ist daher fast in ganz Deutschland und der Schweiz das Brot des Landmanns, der weniger häufig bäckt; im nördlichen Deutschland wird sogar fast nur Schwarzbrot genossen, und die Menschen, die von Jugend auf an den Genuß dieses Brotes gewöhnt sind, finden das Weißbrot fade schmeckend, und können sich nur schwer daran gewöhnen. Ueber Geschmacksempfindungen läßt sich nicht streiten.
Das Getreidemehl schmeckt bekanntlich im rohen Zustande weder angenehm, noch ist es leicht verdaulich; denn es ballt sich im Magen zu schweren Klumpen zusammen. Es muß daher erst auf irgend eine Weise zubereitet werden, damit es dem Gaumen behaglicher, dem Magen verdaulicher werde. Seine wichtigste und schon seit Jahrtausenden übliche Zubereitung ist nun unzweifelhaft: seine Verwandlung in Brot, die
Von diesem Gewerbe hängt das Wohl oder Wehe unzähligen Menschen fast ganz oder doch in hohem Grade ab. Man sollte daher glauben, daß ihm von allen Seiten die größte Beachtung zu Theil werde; denn wer wird nicht lieber ein reinlich bereitetes, wohlschmeckendes, leicht verdauliches und nahrhaftes Brot essen, anstatt eines solchen, welches gerade die entgegengesetzten Eigenschaften besitzt? Und doch befinden wir uns hier im Irrthum; denn kein einziges Gewerbe ist von den Fortschritten der Wissenschaft und Technik so unberührt geblieben, hat uralte Gebräuche so unverändert beibehalten, wie die Brotbäckerei. Selbst in den Städten, wo das Volk, empört über das schlechte und theuere Brot, die Bäcker plünderte und ihre Häuser zerstörte, blieb dennoch Alles beim Alten. Nur an wenigen Orten in Deutschland sind bis jetzt ernstliche Anstalten getroffen worden, um endlich zeitgemäße Verbesserungen in der Brotbäckerei einzuführen. Solche rühmlichst anzuerkennende Bestrebungen stehen aber leider nur sehr vereinzelt da; haben allerdings oft nicht einmal die genügende Beachtung des Publikums gefunden, sondern sind im Gegentheile von diesem mit einem gewissen Mißtrauen betrachtet worden, Es ist kaum glaublich, daß die meisten Backöfen der heutigen Zeit ganz genau so gebaut sind, wie die, welche man schon vor circa 2000 Jahren benutzte, und welche man z. B. beim Ausgraben von Pompeji gefunden hat, der berühmten Stadt, die im Jahre 79 nach Christi Geburt von einem Aschenregen des Vesuvs bedeckt wurde. Seit jener Zeit sind die Lebensverhältnisse ganz andere geworden. Getreide, Brennstoffe, Arbeitskräfte, sind sämmtlich im Werthe gestiegen. Damals wurde eine Vergeudung an Material oder Arbeitskräften, Zeit etc. nicht bemerkt, jetzt wird dieselbe zur drückenden Last. Damals wußte man das Brot nicht anders herzustellen, jetzt geben uns Wissenschaft und Technik zweckmäßigere Methoden und Einrichtungen an die Hand, um das unentbehrlichste Nahrungsmittel billiger und besser zu bereiten. Allein die Menschen verlassen sehr häufig ihre alt herkömmlichen Gebräuche nicht eher, als bis sie durch Roth und Elend dazu gezwungen werden. So weit scheint es auch hier kommen zu müssen. Viele Menschen sind schon jetzt gezwungen, dem Brotgenusse ganz oder theilweise zu entsagen, weil sie nicht im Stande sind, sich Brot zu kaufen, Es ist daher an der Zeit, das Gewerbe der Brotbäckerei aus seinem Schlendrian aufzurütteln und in demselben mögliche Veränderungen und Verbesserungen der allgemeinsten Berücksichtigung dringend zu empfehlen. Der Preis des Getreides selbst ist allerdings ein sehr hoher und bedingt theilweise den hohen Brotpreis; doch könnte trotzdem ein billigeres und ein besseres Brot hergestellt werden. Die hierbei einzuschlagenden Wege sind zweierlei; sie betreffen theils eine bessere technische Einrichtung der Bäckereien oder die Errichtung von Gemeindebäckereien, theils eine zweckmäßigere chemische Beratbeitung des Mehles zu Brot. Beide Wege mögen hier kurz in Erwägung gezogen werden.
das jetzige Hauptquartier der türkischen Armee in Kleinasien, die Hauptstadt Armeniens, einst eines blühenden Reiches, jetzt einer Ruine, wie die alte Hauptstadt selbst, Erzerum, erhebt sich, von Außen gesehen, in malerischer Schönheit aus einer Ebene an den Ufern des Kara, eines westlichen Zweiges vom Euphrat, etwa 20 geographische Meilen südöstlich von Trebisond, der nächsten Hafenstadt. Kars ist von Erzerum etwa 17 deutsche Meilen in nordöstlicher Richtung entlegen. Die große malerische Ebene Erzerums, allseitig von Bergen und Naturmalerei umgeben, erstreckt sich sechs deutsche Meilen lang bei einer Durchschnittsbreite von drei bis fünf Meilen. Man sagt, es würde der nächste Angriffspunkt der Russen werden, so daß man ein besonderes Interesse fühlen mag, sich die Stadt näher anzusehen.
Die Straßen sind, wie fast alle im muhamedanischen Osten, enge, schmutzig und zu Allem fähig, nur nicht zum Passiren mit gewichsten Stiefeln. Im Winter werden sie zu Sammelplätzen von Schnee, Eis und Kehricht, so daß man von diesen Eis- und Schneebergen in die versteckten und manchmal ganz verschneiten Wohnungen hinuntersteigen, auch zuweilen stürzen und so mit der Thür in’s Haus fallen muß. Im Frühlinge läuft die Sündfluth durch die Straßen, im Sommer eine Sahara des Staubes nach der andern, im Herbst Sündfluth und Staubfluth abwechselnd, dazwischen auch Menschen, aber verhältnißmäßig wenige gegen die eigentliche Hauptbevölkerung, welche aus großen, zottigen, grausamen, unersättlich gefräßigen, freien und gleichen brüderlichen Hunden besteht, den Straßenfegern und Abdeckern des ganzen Ostens, der ohne diese Wohlthäter längst schon früher verfault wäre.
Der Engländer Charles Duncan, der den türkischen Feldzug in Kleinasien mitmacht, giebt folgende Schilderung von Erzerum (Januar 1855):
„Es war ein schöner Tag, der fast alle Bevölkerung auf die Straßen rief, obgleich dieselben mit Schnee- und Schmutzgebirgen erfüllt waren. Hier der finstere, feine Kurde mit dem ewigen Ziegenfell malerisch um die Schultern geworfen, im Geschäftstone mit dem spärlich bedeckten, dünnen, zitternden Araber über die Aussichten auf Plünderung in diesem Kriege debattirend; dort persische Kaufleute mit gefärbten Bärten, spitzigen Lammfellkappen und spitzigen Zungen über die Profite bei diesen Kriegspreisen schnatternd, Räuber von Lasistan, persische Handelsleute bewachend und Pläne schmiedend, wie sie dieselben auf dem Wege nach Trebisond überfallen könnten, sieche, wankende Soldaten aus dem Hospitale, um zwischen Thier-Kadavern und Küchenabfällen, um welche sich Hunde bissen, etwas frische Luft zu schnappen.“
Er schließt seine Skizze mit der Versicherung, daß Erzerum der schmutzigste Ort der ganzen Türkei sei, verbessert sich aber später mit der Erklärung, daß dieser Preis der Festung Kars gebühre, Erzerum, früher einmal mit 200,000, jetzt kaum mit 50,000 Einwohnern, fristet im Ganzen nur noch eine kärgliche Existenz von einem schläfrigen Transitohandel zwischen Trebisond und dem Innern Kleinasiens. Früher blühte es durch die Spedition zwischen Persien und Konstantinopel. Von der ehemaligen Herrlichkeit der Stadt trauern nur noch einige spärliche Ruinen in den jetzigen Verfall empor.
Das ist ein kleines Bild des Ortes, wo jetzt Selim Pascha [55]
wahrscheinlich verzweifelte Anstrengungen macht, dem Schicksale von Kars, dem er Beistand verweigerte, zu begegnen, wenn nicht der durch alle Zeitungen laufende Friede den armen Ort vor jeder weitern Behelligung rettet. Wenn nicht, so ist zu fürchten, daß nun auch ihn die Hülfe, die er von Außen erwartet, im Stiche lassen werde, wie denn der Krieg im Allgemeinen sich in dem Zwecke zu vereinigen scheint, so viel Türkei als möglich zu expropriiren und neue Eigenthümer zu placiren.
Ida Pfeiffer unter den Kannibalen.
Die zweite Reise dieser heroischen Dame um die Erde liegt in einer englischen ersten Ausgabe vor uns. Das Buch einer Deutschen muß also aus dem Englischen, als dem Originale, in die Muttersprache der Verfasserin übersetzt werden, wenn’s nicht schon geschehen.[2] Es wird in diesem Falle nichts schaden, denn ihre zweite Reise wird in jeder Sprache eben so originell erscheinen, wie ihre erste. Nichts Merkwürdigeres in der ganzen, reichen Reiseliteratur, als diese doppelten Heldenthaten einer einzelnen wehrlosen Dame um die Erde herum, und zwar in Gegenden und Wildnisse hinein, in welche sich bis jetzt der tapferste Mann mit Waffen und Gefährten nicht hineinwagte. War sie wirklich so wehrlos und unbeschützt? Nein, sie trug den ächten Waffenrock, die ächten Ritterwaffen mit sich, in sich: den Muth einer reinen, edeln Menschlichkeit, die Zutraulichkeit eines kindlichen Gemüths, das Vertrauen in den innern, edeln Kern auch der wildesten Menschenfresser, Sympathie für allerlei menschliche Zustände, kurz, ein mysteriöses Etwas von ächter Humanität, das sich kaum theoretisch beschreiben läßt und man aus ihrem Buche heraus- und zusammenlesen muß. Wir wollen ihr sofort unter die leibhaftigen Menschenfresser von Borneo und Sumatra folgen. Allerdings bekam sie in Sarawak, dem Regierungssitze des englischen Consuls Brooke, der sich so ziemlich zum vollständigen Obersultan über alle Sultaneien der Insel Borneo gemacht hat, Empfehlungs- und Schutzbriefe, aber diese reichten lange nicht so weit, als ihr beispielloser Muth. Beim Sultan von Singtang wurde sie ziemlich in europäischer Manier wie eine Prinzessin behandelt und konnte sogar ordentlich mit Messern und Gabeln essen, ihren eigenen nämlich, die sich der Sultan heimlich von ihrem Diener hatte zustecken lassen, um sie ganz in civilisirtem Style zu bewirthen, aber diese feinen Rücksichten hörten bald auf, zumal als sie auf Sumatra über die holländischen Besitzungen hinaus in’s Innere drang, und zwar zu den Battakern, die kurz vorher ein paar Missionäre leibhaftig aufgefressen hatten. Man rieth ihr deshalb sehr dringend und ernstlich ab, aber der merkwürdige Genius unserer Heldin ließ ihr keine Ruhe, ließ keine Furcht in ihr aufkommen. So wandert sie getrosten Muthes in das erste Menschenfresserdorf hinein und weiß sich sofort die Achtung und Protection des Sultans der Battaker, Hali Bonars, zu erwerben, und zwar, wie wir für die, welche unsere Heldin nicht kennen, bemerken, nicht durch ihre Jugend und Schönheit, da sie aus ihren Jahren und ihrem alten Wittwenthume selbst kein Geheimniß macht. Hali Bonar läßt auf ihr Gesuch Nationaltänze aufführen, deren Schilderung wir von ihren eigenen Worten übersetzen.
„Den Schwertertanz fand ich zu meinem Erstaunen ganz gleich mit dem der Dyaks auf Borneo; auch der Messertanz und Kampftanz hatten viele Aehnlichkeit; aber der originellste, wildeste und lebhafteste war der sogenannte Teufelstanz. Die Tänze wurden alle von männlichen Individuen aufgeführt, mit Ausnahme eines einzigen, an welchem ein Weib Theil nahm, aber nur mit seltsamen Gesticulationen, mit Kriechen auf dem Boden, während die Männer um sie herum tanzten. Dabei fixirten Männer und Weib ihre Augen stets auf den Boden. Ich hatte nun alle ihre Tanzkünste gesehen bis auf einen, den, welchen sie um einen Menschen, ehe er gefressen wird, aufführen. Sie weigerten sich anfangs, diesen aufzuführen (doch jedenfalls aus angeborner Scham, dem bloßen Anblicke eines gebildeten Menschengesichts gegenüber), gaben aber endlich meinen Bitten nach. Statt des Menschen banden sie einen Klotz an einen Pfahl und setzten ihm eine Strohmütze auf. Die Tänzer begannen nun damit, ihre Füße so hoch zu schleudern, als es ihnen irgend möglich war, und schleuderten dabei ihre Messer in der ausdrucksvollsten Weise gegen das imaginäre Schlachtopfer. Endlich gab ihm Einer den wirklichen ersten Stich, dem die Andern alle schnell folgten. Sie schlugen den Kopf (d. h. in diesem Falle die Strohmütze) vom Rumpfe und legten ihn auf eine Matte mit großer Sorgfalt, um das imaginäre Blut nicht zu vergießen. Jetzt tanzten sie mit wildem Freudengeschrei um denselben herum. Einige hoben den Kopf auf und brachten ihn an ihre Lippen mit den deutlichsten Zeichen, wie schön ihnen das abgeleckte Blut schmecke. Andere warfen sich auf den Boden, um mit der schrecklichsten Wahrheit das ausgeflossene, geronnene [56] Blut aufzulecken oder die Finger hineinzustecken und dann mit dem größten Appetite abzulutschen. Dies geschah Alles mit dem Ausdrucke des größten Entzückens. Der vorwaltende Ausdruck ihrer Physiognomien war einer der Freude, nicht der Grausamkeit. Es war freilich blos Darstellung, die Wirklichkeit möchte doch ganz anders ausgesehen haben. Spiel, das es war, konnte ich mich doch einigen Schauderns nicht erwehren, als ich daran dachte, daß ich ganz in der Gewalt dieser wilden Kannibalen war. Ich konnte mich lange dieses peinlichen Eindrucks nicht erwehren, und selbst im Schlafe umgrinsten mich diese entsetzlichen Bilder.“
Zwölf Meilen weiter wäre sie doch trotz der Anwesenheit Hali Bonars beinahe geschlachtet und verzehrt worden, aber es ist komisch und charakteristisch, wie sie doch ihre Haut rettete: „Weiter im Thale hinabsteigend, warnte mich Hali Bonar, durchaus nicht von ihm wegzugehen, sondern stets dicht hinter ihm zu bleiben. An der Spitze unserer Procession gingen sechs mit Speeren bewaffnete Männer, dann kam er, hinter ihm ich und mein Führer, dahinter mancherlei Volkes aus Dörfern, die wir berührt hatten. Vor der ersten Utta (Ansiedelung), der wir uns jetzt näherten, schien man meiner Weiterreise stark opponiren zu wollen. Es war ruchbar geworden, daß ich käme, und vor jedem Orte standen Männer mit Lanzen und Parangs, meine Annäherung zu verhindern. Hali Bonar überredete sie endlich, mich passiren zu lassen. Aber an einem andern Orte stellten sich die Sachen bedenklicher. Mehr als achtzig Bewaffnete versperrten uns den Weg. Die Speerträger hatten mich plötzlich umringt und schossen schreckliche, wilde Blicke auf mich. Starke robuste Gestalten, volle sechs Fuß hoch, schreckliche Aufregung in ihren Mienen, mit weiten, ungeheuern Mäulern, hervorstehenden Zähnen darin, so daß sie den Kinnbacken wilder Bestien glichen. Sie schrillten und heulten um mich herum, und wären mir solche Scenen nicht schon familiär gewesen, ich würde geglaubt haben, mein letztes Stündlein sei gekommen. Aber ich verlor meine Geistesgegenwart nicht. Ich setzte mich auf einen Stein und bemühte mich, so ruhig und zuversichtlich als möglich auszusehen. Aber jetzt traten einige Rajah’s dicht an mich heran mit drohenden Blicken und Gesticulationen, die deutlich sagten, daß sie mich fressen würden, wenn ich nicht sofort umkehre. Sie richteten ihre Messer gegen meinen Hals und schnappten mit den Zähnen nach meinem Arm und kauten und knirschten dann, als hätten sie schon den Mund voll von meinem Fleisch. Ich hatte natürlich etwas der Art von den Battakern erwartet, und deshalb etwas von ihrer Sprache studirt, um erst ein Wort mit ihnen reden zu können. Konnte ich ihnen etwas Amüsantes sagen, sie zu lachen machen, so hatte ich viel gewonnen, das wußte ich; denn Wilde sind wie Kinder, und die größte Kleinigkeit kann sie zu Freunden machen. So stand ich auf, patschte dem Wildesten auf die Schulter in einer ganz freundschaftlichen Manier, und sagte lächelnd in einem Jargon halb Battakenisch, halb Malaiisch: „Na, ihr denkt doch nicht daran, ein Weib zu tödten und zu essen, zumal ein solches, wie ich bin? Ich muß sehr hart und zähe sein.“ Glücklicherweise mußten sie über diese Wendung in meinem fremdartigen Accente und meine Gestikulationen dazu lachen. Auch mein furchtloses Zutrauen machte einen guten Eindruck. Sie reichten mir ihre Hände, der Kreis von Speermännern öffnete sich und glücklich über diese überstandene Gefahr kam ich sicher in einem Orte, genannt Tugala, an, wo mich der Rajah in sein Haus aufnahm.“
Auf Borneo lernt sie andere Spielarten des antropophagischen Kannibalismus in den Stämmen der Dyaks und Alfora’s kennen. Lassen wir sie die Hauptliebe der Dyaks selbst schildern: „Ich hatte hier gleich das Vergnügen, ein paar Siegestrophäen, nämlich zwei frisch abgeschnittene Köpfe, zu sehen. Bei andern Stämmen fehlten diese auch nicht, aber diese trocknen die Köpfe aus zu bloßen Schädeln. Die bei den Dyaks waren noch frisch und nur etwas von Rauch geschwärzt, das Fleisch halb getrocknet, Lippen und Ohren zusammengeschrumpft mit weit und breit fletschenden Zähnen, ein scheußlicher Anblick. Die Köpfe waren noch mit Haar bedeckt, der eine hatte sogar die Augen offen. Die Dyaks nahmen diese Köpfe aus ihren Säcken, um sie mir mit großer Freundlichkeit zu zeigen. Es war ein Anblick, den ich nie vergessen werde. Sie spieen in die Gesichter dieser Köpfe, wobei sich ihre sonst ruhigen und friedlichen Mienen zu einem furchtbar wilden Ausdruck verzerrten. Knaben schlugen in diese Gesichter und spieen aus. Ich schauderte, konnte aber nicht umhin, zu fragen, ob wir gebildeten Europäer wirklich besser handeln, als diese ekelhaften Kannibalen? Ist nicht jede Seite unserer Geschichte mit Verrath und Blut gefüllt? Die Dyaks sammeln einzelne Köpfe in ihren „Bailers“, armseligen Hütten, gleichsam ihren Museen und National-Galerien. Bei uns könnten statt armseliger Hütten weite Hallen und prächtige Schlösser mit den Köpfen Derer gefüllt werden, die dem Ehrgeize und der Selbstsucht der mächtigen Bewohner derselben geopfert wurden. Die Dyaks tödten ihre Feinde, aber quälen sie nicht, wie wir. Wie viele Tausende wurden langsam in Kerkern und verbannt in giftigen Klimaten umgebracht?“ (Die Verfasserin führt dies noch weiter aus.) „In einigen Reisebüchern finde ich, die Dyaks liebten es, ihren angebeteten Schönen abgeschnittene Menschenköpfe als Zeichen ihrer Zärtlichkeit zu Füßen zu legen, aber ein Holländer leugnet dies, und ich gebe ihm Recht, denn Menschenköpfe sind nicht immer so leicht zu haben. Aber die Jagd auf Menschenköpfe ist allerdings sehr Mode und wurzelt in einem besondern Aberglauben. Wenn z. B. ein Rajah krank wird oder verreist, pflegt man seinem Stamme nach der Genesung oder Rückkehr einen Menschenkopf zu schenken. Ein solcher Kopf muß um jeden Preis geschafft werden. Mehrere Dyaks gehen dann auf die Menschenkopfjagd, d. h. sie legen sich in sechs Fuß hohes Gras oder unter Blätter, mit denen sie sich sorgfältig zudecken und liegen, bis ein Opfer naht. Sie schießen es dann zuerst mit einem vergifteten Pfeil, springen dann auf dasselbe und hauen den Kopf glatt mit einem Schlage ab, mit einer Geschicklichkeit, die auf besondere Uebung schließen läßt. Der Stamm, welchem auf diese Weise ein Kopf abhanden gekommen, fängt dann sofort Krieg an, der nur mit einem oder mehreren gewonnenen Köpfen endet. (Sehr idyllisch gegen unsere civilisirten Kriege!) Der gewonnene Kopf wird dann mit Jubel und Gesang triumphirend nach Hause gebracht und unter die Nationalschätze aufgenommen. Es folgen Festlichkeiten von der Dauer eines ganzen Monats. Die Dyaks sind große Liebhaber von Köpfen, und machen nach der Reisernte mit Malaien oft große Jagden darnach.“ – Noch größer ist diese noble Passion bei den Alfora’s, welche sich besondere Gebäude, „Bailers“, halten, um Menschenköpfe darin zu sammeln. Kehrt ein Jäger glücklich mit einer solchen Beute zurück, kommt ihm das ganze Dorf triumphirend entgegen. Der frische Kopf wird Kindern über zehn Jahren gegeben, welche von da an das Privilegium haben, das Blut daraus zu saugen. Hierauf wird der Kopf leicht geröstet und feierlich in dem Bailer aufgehangen. Die Bailers sind die Museen der Alfora’s. Wir nehmen die Produkte von Köpfen in unsere Museen auf, die Alfora’s, deren Köpfe nichts produciren, deren Hirn und Geist verschlossen und verwildert ist, sammeln die Köpfe selbst in ihren Kunstkammern. Es ist ein ästhetischer, ein Kulturtrieb vielleicht, in der furchtbarsten „naturwüchsigen“ Weise, welche uns Alle auffordern sollte, ihnen den hohen Werth der Menschenköpfe in kultivirter Manier beizubringen, wenn wir selbst Alle genau wüßten und beherzigten, was sie auf jeder Schulter, auch der am Schwersten belasteten, wirklich werth sind.“
Blätter und Blüthen.
Aus dem londoner Verkehr. Auf den Trottoirs von London wird man nicht selten einen elegant gekleideten, freundlich aussehenden Herrn bemerken, den man seinem Aeußern und seinen Manieren nach etwa für einen Edelmann aus der Umgegend halten könnte, und dessen größtes Vergnügen es zu sein scheint, das Schaufenster irgend eines Ladens durchzumustern. Von tausend Menschen werden vielleicht 999 ihn für einen müßigen Pflastertreter halten, und erst der Tausendste mag wissen, welche Bewandtniß es mit ihm hat. Der charmante Herr geht keineswegs müßig, denn er geht ja seinem Berufe nach. Er ist ein von der kaufmännischen Industrie angestellter Lockvogel, ein Waarenanschauer, oder wenn Sie wollen, Anstauner (gazer). Nur in seltenen Fällen werden seine Dienste von einer einzigen Firma in Beschlag genommen, es sei denn, daß dieselbe mehrere Läden in verschiedenen Stadttheilen hätte. In der Regel thun sich mehrere Geschäftsleute, deren Geschäfte und Interessen nicht concurriren, zur Anstellung eines Anstauners zusammen. Durch gemeinschaftliche Naturalbeiträge staffiren sie ihren Mann nach der besten Mode aus; ein Hutmacher bekleidet sein Haupt, ein Schneider seine Glieder; ein Schuhmacher versieht ihn mit einem Paar der feinsten Stiefeln; er führt ein feines Rohr mit goldenem Knopf und zu Zeiten einen ausgesuchten Regenschirm, ebenfalls von den betreffenden Fabrikanten geliefert; ein Putzhändler versieht ihn mit Halsbinde und Schnupftuch von untadeligem Schnitt und Muster, während ein Juwelier eine goldene Uhr, einen brillanten Ring und eine feine Lorgnette für ihn ausfindig macht. So ausgestattet, geht er an seine Arbeit, wenn das Wetter irgend günstig zu bleiben verspricht. Da wandelt er nun von dem Laden eines seiner Patrone zu dem eines andern, pflanzt sich vor dem Schaufenster auf, und mustert mit anscheinend großem Interesse und besonderem Wohlgefallen die ausgelegten Sachen durch. Dabei handhabt er seine goldene Lorgnette mit aristokratischer Grazie, klopft spielend mit dem glänzenden Rohrstock an den feinen Modestiefel, läßt irgend einen einsilbigen Ausruf des Lobes oder der Bewunderung entschlüpfen, und wenn sich etwa zehn Gimpel versammelt haben, um die erstaunliche Billigkeit und Schönheit der Waaren bewundern zu helfen, platzt er in den Laden, giebt in lautem vornehm befehlendem Tone einen Auftrag auf ein Dutzend solcher Artikel, welche der Kaufmann gerade losschlagen möchte, verlangt, daß dieselben noch vor Dunkelwerden da und da hingesandt werden, giebt seine Karte ab und wird vom Kaufmann mit vielen Bücklingen zum Laden hinaus begleitet. Nun setzt er seinen Auftrag fort, um in einem andern Laden dieselbe Scene aufzuführen. Bei dem Schneider spricht er zur fashionablen Stunde vor, wenn derselbe gerade mit Kunden beschäftigt ist. Hier giebt er gemessenen Auftrag zu ein paar Oberröcken, einem Paletot oder dergl.
„Sie haben ja mein Maß – es hat nicht so große Eile – in acht Tagen etwa.“ Dann setzt er seinen Stab weiter, vielleicht zum Juwelier. Hat er im Laufe des Tages sein müheloses Geschäft besorgt, so begiebt er sich vor Dunkelwerden in seine schäbige Wohnung und legt sorgfältig sein Prunkzeug ab. Nachgehends macht er vielleicht den Spanner, d. h. Aufpasser an einer der Spielhöhlen in St. Jamesstreet, oder den Ceremonienmeister in einem der zahlreichen Casinos, welche sich zu nächtlichen Thorheiten und Schwelgereien öffnen.
Der tägliche Gehalt des Anstauners variirt zwischen 2½ und 3½ Schilling, je nach seiner Figur und dem Grade seiner Dreistigkeit, und er erachtet dies für einen um so leichtern und angenehmern Verdienst, da er das Vergnügen obendrein hat, sich während der Geschäftsstunden für einen ausgemachten in jeder Hinsicht vollkommenen Gentleman halten zu dürfen.
- ↑ Darüber ein andermal genauer, wenn die Patentirungen u. s. w. in Ordnung sind und wir diesen vom Himmel gestohlenen Prometheusfunken durch Abbildung anschaulich machen können.
- ↑ Der geehrte Einsender irrt. Die Reise der Frau Ida Pfeiffer ist in einer Originalausgabe noch einige Tage früher als die englische bei Gerold in Wien erschienen. D. Redakt.