Die Gartenlaube (1858)/Heft 30

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1858
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[425]

No. 30. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Der erste Fall im neuen Amte.
Vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“
(Fortsetzung.)


Ich setzte das Verhör fort.

„Hat er hier Verbrechen begangen?“ fragte ich.

„Ich habe gerade nicht davon gehört; aber dem Menschen ist Alles zuzutrauen.“

„Ich hörte, er habe Zuchthausstrafe zu befürchten, wenn er nach Preußen zurückkomme.“

„Das ist wohl möglich.“

„Seit wie lange steht Ihre Nichte mit dem Burschen in Verbindung?“

„Sie ist jetzt achtzehn Jahre alt; also seit vier Jahren.“

„Halten Sie auch das Mädchen für fähig, ein Verbrechen zu begehen?“

„Der schlechte Mensch kann sie leicht ganz verdorben haben.“

Er hatte mir die Antwort schnell gegeben, wie die früheren. Auf einmal mochte er ihre Schwere fühlen.

„Das heißt, –“ wollte er einlenken, aber er vollendete nicht und schwieg.

„Nun?“ fragte ich.

Eine große, sichtbare Angst hatte sich seiner bemächtigt.

„Herr Criminaldirector,“ fragte er, und er hatte kaum den Muth, zu sprechen – „Sie denken doch wegen der Vergiftung nicht an das Mädchen?“

„Wenn das nun der Fall wäre?“

„Großer Gott, großer Gott!“

Er mußte das Gesicht mit beiden Händen bedecken.

Er glaubte daran. Er hielt das Mädchen für fähig, einen Giftmord zu verüben, ihre eigene Tante, ihre Wohlthäterin zu vergiften.

„Sie sind mir noch Ihre Antwort schuldig,“ sagte ich.

Er entblößte sein Gesicht; es war leichenblaß.

„Herr Director, ich kann Ihnen die Antwort nicht geben. Sie ist das Kind meines Bruders. Aber wenn es wahr wäre, nein, ich überlebte das Unglück und die Schande nicht.“

Ich hatte noch eine Frage an ihn:

„Ist Ihnen das Testament Ihrer Schwester bekannt?“

Sein Schmerz fuhr von Neuem auf.

„O, mein Gott, sie hatte ja darin dem unglücklichen Geschöpfe fünfhundert Thaler vermacht.“

„Wußte das Mädchen das?“

„Gewiß, gewiß.“

Ich entließ den Mann, den der furchtbarste Schmerz immer heftiger ergriff.

Ich wußte jetzt für den Augenblick genug, leider genug.

Wie tief, wie fest begründet mußte bei dieser Angst, bei diesem Erschrecken, bei diesem Schmerze die Ueberzeugung des Mannes von dem schlechten Charakter und von der Schuld des Mädchens sein!

War sie denn wirklich eine Verbrecherin, eine Mörderin, das frische, fröhliche Kind?

Ich mußte jetzt mit ihrer Vernehmung verfahren; ich konnte es nur mit schwerem Herzen, eine große Angst ergriff mich. Fand ich sie schuldig – und wie sehr mußte ich das jetzt fürchten? – in welches entsetzliche moralische Elend sah ich dann hinein! Den fröhlichen Sinn des Mädchens hatte ich selbst kennen gelernt; auch ihre herzliche, tiefe, innige Liebe; und vier Jahre lang schon hatte diese innige Liebe in ihrem Herzen geblüht und allen Drohungen und Stürmen, die sie ersticken wollten, widerstanden. Und dennoch eine Mörderin! Noch so jung und schon eine Mörderin! Wenn auch nur von einem schlechten Menschen verführt, immer eine Mörderin, die mit kaltem Blute, mit teuflischer Hinterlist das Leben eines Menschen, ihrer nächsten Anverwandten, ihrer zweiten Mutter, hatte vernichten können! War es denn möglich?

Und auch der Gedanke ergriff mich mit Schrecken, daß das junge, frische Leben dem Henker verfallen sei, daß ich selbst sie diesem überliefern sollte.

Sie trat in das Verhörzimmer. Es war wirklich das hübsche Kind aus dem hannoverschen Walde. Ich mußte mich doppelt zusammennehmen, um mich nicht zu verrathen, daß ich sie schon kannte. Sie hatte mich damals nicht gesehen. Sie hatte sich sehr verändert; es war keine Spur mehr von jenem heiteren, fröhlichen, neckischen Wesen an ihr zu bemerken.

Hatten diese – wie von vielem Weinen – erschlafft herabhängenden Lippen damals so herzhaft den jungen Mann küssen können? Hatten sie so fröhlich gesungen: „Zufriedenheit ist mein Vergnügen!“? Hatten sie so schelmisch gerufen: „Spitzbube, Du bist es!“? Und hatten diese rothen, verschwollenen Augen damals so glücklich gelacht, als sie dem Burschen zurief: „Ich kratze Dir die Augen aus!“?

Sie war sehr verändert. Aber konnte diese Veränderung nicht eben Folge und Zeichen einer tiefen, schmerzlichen Trauer um den Verlust einer theuren Verwandten sein, die früher von ihr verkannt und gekränkt war und über deren Kränkung sie noch vorgestern in meiner Gegenwart so aufrichtige Reue ausgesprochen hatte? Und in ihrem noch immer frisch blühenden, hübschen Gesichte mochte [426] sich noch so starker Schmerz, noch so tiefe Trauer zeigen, von der Spannung, von der Angst, von dem unruhigen, ängstlichen Lauern eines Verbrechers fand ich keine Spur darin. Sie mußte zugleich eine vollendete Heuchlerin sein, wenn sie eine Verbrecherin war, eine so vollkommene Heuchlerin, wie nach meinen bisherigen Erfahrungen nur eine langjährige Schule des Lasters und des Verbrechens sie bilden konnte.

Nein, rief es in mir, und wenn auch ihre nächsten Verwandten es ihr zutrauen und sie anklagen, und wenn auch der Mensch, an den sie seit Jahren gefesselt ist, ein unerhört frecher Verbrecher wäre, und wenn auch ihr Verhältniß zu ihm das verbrecherischste wäre, die Mörderin ist sie nicht, kann sie nicht sein.

Ich begann mit mildem Ernste das Verhör mit ihr. Sie that sich Gewalt an, ihren Schmerz zurückzudrängen; sie antwortete mir klar, bestimmt, ruhig.

„Sie sind vorgestern Abend hier angekommen?“

„Ja, mit meinem Oheim Mahler. Es war schon in der Nacht.“

„Wo waren Sie bis dahin gewesen?“

„Bei Verwandten an der hannoverschen Grenze.“

„Warum kamen Sie hierher?“

„Mein Oheim kam, mich abzuholen.“

„Welchen Grund gab er Ihnen dafür an?“

„Er sagte, meine Tante wünsche es; es thue ihr leid, daß wir in Unfrieden auseinander gegangen seien, ich sei doch ihres Bruders Kind; sie wünsche, mich wieder bei sich zu haben.“

„War Jemand zugegen, als Mahler Ihnen dies sagte?“

„Wir waren ganz allein.“

„Sie waren schon früher im Hause Ihrer Tante gewesen?“

„Sie hatte mich schon als Kind, nach dem Tode meines Vaters, zu sich genommen.“

„Waren Sie wirklich in Unfrieden von ihr geschieden?“

Sie schlug die Augen nieder und weinte.

„Ja, ich war unartig gegen die Tante gewesen, sehr unartig. Und sie hatte mich doch immer so lieb. Als ich fort war, sah ich es ein, und es that mir leid genug. Darum war ich auch gleich bereit, mit meinem Oheim zurückzukehren.“

Nur die Unschuld oder die vollendete Heuchelei konnte so sprechen.

„Sie haben einen Liebhaber?“ fuhr ich, ohne Vorbereitung, im Fragen fort.

Sie wurde glühend roth und sah mich plötzlich unwillkürlich an; aber eben so schnell schlug sie in großer Verwirrung die Augen nieder. Aber die glühende Röthe wich nicht aus ihrem Gesichte. Nur die Verwirrung des Mädchens, des unschuldigen Mädchens beherrschte sie also. Bei einer Verbrecherin wäre der Röthe eine Todesblässe gefolgt, alle ihre Nerven hätten zittern, auffliegen müssen.

Sie mußte mir antworten.

Leise sagte sie: „Ja.“

Aber dann auf einmal erhob sie ihr Gesicht. Sie sah mich mit ihren großen, schwarzen Augen klar an, und mit lauter, fester, stolzer Stimme sagte sie schnell:

„Aber er ist ein braver Mensch, was man Ihnen auch von ihm gesagt hat. Es ist ein Unglück für ihn, daß er nicht nach Preußen zurückkommen darf; er ist kein Verbrecher, glauben Sie es mir.“

Das war wieder der schöne, zuversichtliche Muth, den sie in jenem hannoverschen Walde gezeigt hatte.

„Warum darf er nicht nach Preußen zurückkommen?“ fragte ich sie.

„Er hat sich leider unter die hannoverschen Schleichhändler begeben, die nach Preußen herüberschmuggeln. Sie verdienen viel Geld und er meinte, wir kämen um so eher zum Heirathen; darum litt ich es. Aber hätte ich Alles vorher gewußt, so hätte ich es nicht gelitten.“

„Was wußten Sie nicht vorher?“

„Daß in Preußen so schwere Strafen darauf stehen. Und dann auch –“

„Und dann?“

„Sie haben ihn in Verdacht, daß er dabei gewesen sei, als vor einem Vierteljahre ein Grenzbeamter von den Schmugglern erschlagen ist; aber es ist nicht wahr.“

„Wie wissen Sie das?“

„Er hat es mir selbst gesagt.“

Es war mir nicht möglich, den schönen Glauben des Mädchens auch nur durch eine Frage des leisesten Zweifels zu stören. War sie wirklich eine verdorbene, verbrecherische Heuchlerin, dieser Schein der reinsten Unschuld hatte etwas Zauberhaftes für mich. Ich konnte ihn mir selber nicht zerstören.

Ich richtete eine andere Frage an sie.

„Ist Ihr Verhältniß zu dem jungen Menschen Ihren Verwandten bekannt?“

„Ja,“ sagte sie mit ihrer vollen Offenheit. „Daher kam auch jener Unfriede mit meiner Tante. Sie sagten, der Fritz sei ein schlechter Mensch und ich solle von ihm lassen. Aber er machte nur lustige, mitunter tolle Streiche, die er freilich wohl hätte lassen sollen; schlechte Streiche hat er aber nie gemacht, und er hat das bravste Herz von der Welt.“

Ich mußte ihr doch noch näher treten.

„Haben Sie vorgestern Abschied von ihm genommen?“

„Ja.“

„Sagte er Ihnen dabei nicht etwas Besonderes?“

„Ich wüßte nicht.“

„Besinnen Sie sich.“

„Ich wüßte gewiß nicht.“

Sie sprach immer mit allen Zeichen vollster Aufrichtigkeit.

„Aber, als Sie im Walde bei ihm waren, sagte er auf ein mal zu Ihnen die Worte: Gretchen, ich habe da einen Gedanken!“

Sie sah mich verwundert an, auch mit einem kleinen Schreck; etwa wie einen Menschen, von dem man unerwartet etwas sieht, das man für Zauberei halten möchte. Ein böses Gewissen war es nicht, was in ihr erschrak.

Sie vergaß in ihrer Verwunderung das Antworten.

„Sprach er nicht jene Worte?“ fragte ich.

Sie wurde traurig.

„Gewiß sprach er sie, der arme Fritz.“

„Und welchen Gedanken hatte er?“

„Er meinte, wenn ich hier wäre, so sollte ich meine Verwandten bitten, daß wir uns heirathen dürften, und meine Tante, daß sie uns ein kleines Capital geben möchte, um uns drüben im Hannoverschen Land zu kaufen. Meine Tante hatte Vermögen, sie hätte es wohl gekonnt.“

Sie sprach auch das Alles offen und frei; ihre Trauer erschien so natürlich.

Auf einmal sah sie mich wieder verwundert, fragend an. Meine Zauberkünste fielen ihr wieder ein; sie mußte jetzt darüber im Klaren sein

„Aber woher wissen Sie, daß der Fritz jene Worte zu mir gesprochen hat?“

„Ich weiß es.“

„Wir waren doch ganz allein.“

Hätte ich noch einen Zweifel an ihrer Unschuld haben können, diese Worte der höchsten Unbefangenheit hätten ihn mir genommen.

Als vorsichtiger Inquirent durfte ich ihr dennoch diese Frage nicht beantworten. Ich mußte in meinem Verhöre fortfahren.

„Wissen Sie, daß Ihre verstorbene Tante ein Testament gemacht hat?“

„O ja. Sie hat mir darin fünfhundert Thaler vermacht. Mit dem Gelde hätten wir uns ja eben das Land kaufen können.“

Und Mahler hatte insinuiren wollen, sie habe, um das Geld zu erben, den Mord verübt!

Ich fragte sie nach der Krankheit und dem Tode ihrer Tante. Sie antwortete auch hier mit der bisherigen Offenheit und Bestimmtheit.

„Wir fanden meine Tante schon krank, als wir ankamen; sie lag im Bette und hatte Erbrechen. Sie hatte auch schon früher oft daran gelitten. Am Morgen ließ sie Rhabarber holen; als sie den aber genommen hatte, wurde es schlimmer mit ihr. Ich war den ganzen Tag bei ihr, um sie zu pflegen; sie freute sich sehr darüber und versprach daher auch, wenn sie wieder besser werde, für mich zu sorgen und auch mit ihrem Bruder für mich zu sprechen. Auch die Frau Kühl war da. Diese blieb die Nacht bei ihr, als ich um neun Uhr Abends zu Bette ging. Ich war müde von der Reise in der vorigen Nacht. Aber schon gegen Mitternacht weckte mich die Frau Kühl: die arme Tante war gestorben.“

Ich richtete specielle Fragen an sie.

„War die Frau Kühl immer bei der Kranken?“

„Nicht immer; sie mußte ein paar Mal nach Hause gehen.“

[427] „Wer blieb dann bei der Kranken?“

„Ich“

„Sie allein?“

„Ich allein.“

„Genoß Ihre Tante in ihrer Krankheit etwas?“

„Das Rhabarberpulver.“

„Wer reichte es ihr?“

„Der Oheim. Aber er hatte es mir gegeben, um es einzurühren.“

„Das hatten Sie gethan?“

„Ja.“

„Haben Sie gesehen, wie Ihr Oheim der Tante das Pulver gab und sie es einnahm?“

„Nein. Ich war unterdeß mit dem Dienstmädchen beschäftigt, die Stube zu reinigen.“

„Warum hatte Ihr Oheim Ihnen die Zubereitung des Pulvers übertragen?“

„Das weiß ich nicht. Er bat mich darum; ich hatte gerade nichts zu thun.“

„Was genoß Ihre Tante mehr?“

„Soviel ich weiß, nur des Mittags etwas Suppe und des Abends eine Tasse Kaffee.“

„Wer gab ihr die Suppe?“

„Der Oheim.“

„Und den Kaffee?“

„Auch der Oheim. Aber ich hatte ihn einschenken und Milch hinzugießen müssen.“

„Trank sie ihn mit Zucker?“

„Den that der Oheim hinein.“

„Sahen Sie das?“

„Ich sah, wie er ein Stück aus der Zuckerschale nahm, die auf dem Tische stand.“

„Und dann?“

„Er muß es in die Tasse geworfen haben; gesehen habe ich es nicht. Aber wo sollte er es gelassen haben? Ich sah ihn auch mit dem Löffel in der Tasse rühren. Dann reichte er sie ihr und sie trank.“

„That der Genuß der Suppe und des Kaffee ihr wohl?“

„Sie konnte Beides nicht bei sich behalten und mußte sich immer von Neuem danach erbrechen.“

Ich war mit meinen Fragen zu Ende und mit mir im Klaren. Sie war nicht die Mörderin; jede ihrer Mimen vom Anfange des Verhörs bis zum Ende bewies es mir; jedes Wort, jedes Zugeständniß, bis zu dem letzten, der offenen, freiwilligen Erklärung, daß sie das Pulver eingerührt, den Kaffee und die Milch eingeschenkt habe.

Ich hatte nicht einmal mehr die Wahl zwischen Unschuld und vollendeter Heuchelei. So konnte, nach meinem Dafürhalten, auch die vollendetste Heuchlerin sich nicht benehmen.

Dennoch mußte ich ihr vorhalten, was ihr Oheim gegen sie insinuirt, denuncirt hatte; auf meine Physiognomik allein durfte ich mich nicht verlassen; sie konnte trotzdem schuldig sein. Nichts mehr als jener plötzliche, unerwartete Vorhalt, in einem Augenblicke, in dem sie die völlig Unschuldige, Sichere spielte, sich für völlig sicher hielt, konnte, wenn sie schuldig war, geeignet sein, zum Verräther ihrer Schuld zu werden.

„Ihre Tante,“ hob ich an, zwar etwas langsamer sprechend, als bisher, aber ohne besonderen Nachdruck und ohne sie irgend scharf zu fixiren; nur nachdem ich geendigt hatte, ließ ich mein Auge fest und durchdringend auf ihr ruhen; „Ihre Tante ist an Gift gestorben und Ihr Oheim gibt an, daß Sie sie vergiftet hätten.“

Die ruhig gesprochenen Worte machten in der That einen überraschenden Eindruck auf sie. Sie zuckte heftig auf; dann zitterte ihr ganzer Körper; aus ihrem Gesichte war alles Blut getreten; ihre Lippen waren blau geworden; ihre Augen starrten mich an. Sie wollte sprechen und vermochte es nicht; sie war in einem entsetzlichen Zustande. Ich fürchtete einen Schlag-, einen Krampfanfall. Aber sie konnte sich aufrecht halten.

Die Veränderung war plötzlich, mit unglaublicher Schnelligkeit erfolgt. Sie versetzte mich in Besorgniß; ich machte mir Vorwürfe, daß ich einen so heftigen, ich mußte mir sagen, so rohen Angriff auf das jugendliche Geschöpf gemacht hatte; ich hätte für meinen Zweck milder verfahren können.

Sie erholte sich nur sehr langsam. Als das convulsivische Zittern aufgehört hatte, bekam sie die Sprache wieder.

„Das ist abscheulich!“ rief sie. „Mein eigener Oheim!“

Weiter sagte sie nichts; aber ein Strom von Thränen folgte ihren Worten. Sie war unschuldig; sie hatte auch die letzte Probe bestanden.

Zeigte mir jene plötzliche, furchtbare Veränderung auch die Heftigkeit ihres Charakters an, von der auch ihr Oheim Kopp gesprochen hatte, eine Mörderin war sie nicht; gerade diese Heftigkeit legte Bürgschaft dafür ein. Ich ließ sie sich setzen, sich völlig erholen und ausruhen. Sie saß noch eine halbe Minute stumm; dann sah sie mit ihren dunklen Augen mich bittend, ängstlich bittend an.

„Sie haben ihm doch nicht geglaubt?“ fragte sie.

Die Frage war so unschuldig, so kindlich unschuldig. Wäre ich nicht ihr Inquirent gewesen, ich hätte sie an mein Herz drücken und ihr zurufen mögen: Nein, Du gutes, unschuldiges, schändlich verleumdetes Kind; aber Dir glaube ich. – Aber ich mußte der kalte, ruhige, vorsichtige Criminalrichter bleiben.

„Ich glaube nur den Beweisen, die mir gebracht werden,“ erwiderte ich ihr.

Sie athmete leichter. Sie sagte nichts darauf; aber sie sah mit einer stillen Befriedigung vor sich hin, als wenn sie sagen wollte: Was ich nicht gethan habe, wie wollte man das beweisen können?

Ich richtete noch ein paar Fragen an sie.

„Wußten Sie, daß Ihre Tante vergiftet ist?“

„Ich erfuhr es von den Nachbarn, als ich heute Abend nach Hause zurückkehrte.“

„Hatten Sie Verdacht auf Jemanden?“

„Ich habe an keinen Menschen in der Welt denken können.“

„Auch jetzt nicht?“

„Nein, auch jetzt nicht.“

„Auch nicht an ihren Oheim?“

Sie erschrak bei dieser Frage. Sie sann ein paar Secunden nach; dann sagte sie hastig, heftig abwehrend:

„Nein, nein!“

„Sie haben mir nichts weiter zu sagen?“

„Nein. Aber halten Sie auch nicht meinen Oheim für den Thäter.“

„Sie können gehen,“ sagte ich zu ihr.

„Nach Hause?“ fragte sie in einem Tone, als wenn sie einen, allerdings nur leichten Zweifel habe.

„Nach Hause.“

Sie ging. Sie war nicht überrascht, verwundert, denn sie ging ruhig. Aber desto überraschter und verwunderter sah mich der Criminalactuarius an, der mir das Protokoll führte.

Ich muß hier einige Worte über ihn sagen. Er war ein Mann in den mittleren Jahren, mit einem intelligenten Gesichte. Ich hatte ihn in den wenigen Stunden, die ich ihn kannte, zu erkennen geglaubt, und ich überzeugte mich später bald, daß ich mich nicht in ihm geirrt hatte. Er gehörte zu jenen klaren und praktischen Menschen, die zu ihrem Glücke nicht, wie der große Haufe, studirt, also ihren klaren Verstand und praktischen Sinn nicht durch gelehrte Brocken beeinträchtigt haben. Er hatte aber auch andererseits, indem er gar nicht studirt hatte, seinen Geist und Sinn durch das Aufnehmen der wahren Wissenschaft in sich nicht läutern, nicht auf eine höhere Stufe erheben können. So hatte er zwar stets eine richtige Einsicht in die Bestimmungen des Gesetzes und in die Bedürfnisse der Praxis. Aber beides nur für gewöhnliche Fälle. Ungewöhnliche Ereignisse lagen außerhalb seines Verständnisses des Gesetzes wie des Herkommens, des Gebrauches, der Praxis. Durch seine Stellung unter Vorgesetzten, denen er geistig so sehr überlegen war, hatte zudem sein Urtheil für ihn selbst, wenn auch nicht die Eigenschaft der Untrüglichkeit, doch die der Richtigen, bis man ihm überzeugend das Gegentheil beweisen werde, gewonnen. Er war dabei zu klug und zu sehr Mitglied der preußischen Bureaukratie, um jemals anmaßend oder nur im geringsten beschwerlich zu werden.

Er sah mich verwundert an, und sagte nichts. Aber ich las in seinen Augen deutlich: Was ist denn das? Diese Person läßt er ohne Weiteres gehen, läßt er frei, die geradezu des Verbrechens bezichtigt ist, bei deren Eintreten in das Haus plötzlich Gift in dem Hause war, die den Tod mitbrachte, unter deren Augen das Gift genossen sein muß, die sogar nach ihrem eigenen Geständnisse zweimal [428] den Trank gemischt hat, in welchem fast unzweifelhaft das Gift enthalten war! Diese Person läßt er frei, weil sie ein ehrliches Gesicht machen, weil sie in etwas anderer Weise, wie gewöhnliche Spitzbuben, ihre Unschuld versichern, weil sie allerdings recht hübsch weinen kann! Nun, ich bin neugierig, wie das enden wird. Ich fürchte, ich fürchte, mit diesem neuen Herrn Director haben wir nicht viel gewonnen.

Der Mann sollte freilich noch mehr erstaunen. Sollte er auch Recht haben?

Ich hatte schon gleich nach der Vernehmung des Fleischers Kopp einen Criminalbeamten ausgesandt, die Louise Schmid herbeizuholen, jenes frühere Mahler’sche Dienstmädchen, auf das die Frau Mahler eifersüchtig gewesen, von dem aber trotzdem, und trotz dem noch immer bei Kopp vorhandenen Verdachte, nichts bekannt war, daß Mahler irgend ein Verständniß mit ihr unterhalte. Es lag nichts, gar nichts Thatsächliches gegen sie vor. Ich konnte mir das nicht verhehlen, aber eine Stimme rief mir zu: sie ist, wenn nicht selbst eine Mitschuldige, die Ursache des verübten Verbrechens; durch sie wird auch das Verbrechen an den Tag kommen. Diese Ahnung wurde immer lebendiger in mir. Ich mußte daher das Mädchen vernehmen. Und nicht blos sie. Voraussichtlich, sollte ihre Aussage von Erfolg sein, mußte ich sie vorher auf Lügen ertappen. Deshalb hatte ich durch einen zweiten Boten auch ihre beiden Eltern zum Criminalgericht abholen lassen. Zuletzt hatte ich noch etwas Anderes vor.

Alle waren mit voller Schonung nur vorgeladen, um als Auskunftspersonen vernommen zu werden. In der That war es auch so. Beiden Gerichtsboten hatte ich die möglichste Vorsicht empfohlen. Mahler durfte nicht erfahren, daß irgend Jemand von der Schmid’schen Familie am Gerichte erscheine; die zuerst abgeholte Tochter durfte von dem Erscheinen ihrer Eltern nichts wissen.

Ich vernahm zuerst das Mädchen. Es war wirklich eine hübsche, beinahe schöne Person; eine schlanke und doch runde, weiche Gestalt; ein feines Gesicht, große, tiefblaue Augen, mit dem Ausdrucke der bescheidensten, stillsten Sanftmuth.

Ich wurde beinahe irre an meiner innern Stimme. Aber ich sah ein, wie verführerisch dieses Mädchen sein konnte. Eine Mitschuldige brauchte sie ja darum nicht zu sein. Sie erschien mit ihrem ganzen sanften Wesen in dem Verhörzimmer. Sie sah mich mit ihren schönen, dunkelblauen Augen klar, ruhig erwartend an.

„Sie kennen den Fleischer Mahler?“ fragte ich.

Sie antwortete mit der Ruhe ihrer äußern Erscheinung:

„Ja, ich habe bei ihm gedient.“

„Wie lange?“

„Ein halbes Jahr lang.“

„Warum verließen Sie den Dienst?“

„Die Frau konnte mich nicht recht leiden,“

„Was hatte sie gegen Sie?“

„Sie that mir Unrecht.“

„Sprechen Sie aus, was es war.“

Das Mädchen wurde roth, sie schlug die Augen nieder. Es war eine natürliche Scham, die sich so verrieth. Auch ihr Zögern, mit der Wahrheit herauszukommen, sprach für sie. Nicht minder die Art, wie sie zuletzt damit herauskam.

„Sie hatte ihren Mann und mich in Verdacht mit einander. Aber ich versichere Sie, Herr Director, die Frau hatte Unrecht.“

„Haben Sie, seitdem Sie den Dienst verlassen, Mahler wieder gesehen?“

„Auf der Straße.“

„Haben Sie mit ihm gesprochen?“

„Im Vorbeigehen.“

„Sonst nicht?“

„Ich kann mich nicht besinnen.“

„Hat er Sie nie in Ihrem Hause besucht?“

„Nein.“

Sie sah mich außerordentlich klar und unbefangen bei der Antwort an. Sie konnte indeß bei dieser einen Hintergedanken haben.

„Er war auch nie in Ihrem Hause?“

„Ich sage Ihnen ja, er hat mich nie besucht.“

„Sein Besuch könnte Ihren Eltern gegolten haben?“

„Er war nie in unserm Hause.“

Ich endete das kurze Verhör mit ihr. Sie hatte mit einer Bestimmtheit, die später keine Ausrede zuließ, abgeleugnet, Mahler anders, als auf der Straße, namentlich in ihrem Hause, gesehen zu haben. Das genügte mir für meinen Zweck vorläufig vollkommen.

Ihr Vater mußte eintreten. Es war ein Mensch von gemeinem, aber entschlossenem Aeußern. Etwas von einem Trunkenbolde glaubte man ihm ansehen zu müssen. Wenn er schon vor der Abholung mit seiner Tochter sich verabredet hatte, so war auf Widersprüche bei ihm nicht zu rechnen. Und in der kleinen Stadt hatte die Kunde von dem Verbrechen und dem gerichtlichen Einschreiten schon seit Stunden sich wie ein Lauffeuer verbreitet. Schuldbewußte mußten also bereits die genauesten Verabredungen getroffen haben.

Der Mann wollte den Fleischer Mahler nur von Ansehen kennen, und in seinem Hause nie gesehen haben.

Ich vernahm die Frau, eine lauernde, verschmitzte Person. Sie machte einen noch schlechteren Eindruck, als ihr Mann. Ihre Aussage stimmte völlig mit denen des Mannes und der Tochter überein.

Bis jetzt hatte ich für die Bestätigung meiner Ahnung noch nichts gewonnen. Das Mädchen hatte sich völlig so unschuldig und unbefangen gezeigt, wie Gretchen Kopp. Was konnte sie dafür, wenn ihre Eltern gemein aussahen? Was galt dies überhaupt für die Untersuchung?

Aehnliche Bemerkungen las ich wieder in dem Gesichte meines Actuarius, dem es nicht hatte entgehen können, welches Gewicht ich auf die Vernehmung der Familie Schmid legte.

Ich ließ die drei Personen sogleich nach Beendigung ihres Verhörs nach Hause gehen. Der Actuarius schien das wieder nicht begreifen zu können. Es war allerdings gegen die gewöhnliche Praxis. Noch weniger begreiflich war ihm das gleich Folgende.

Ich ließ den Fleischer Mahler wieder vorführen.

„Bei Ihnen hat vor nicht langer Zeit eine Louise Schmid gedient?“

Ein erdfahler Schein flog plötzlich durch sein Gesicht, und wenn auch der ganze übrige Mann fest und eisern stand, sein Auge zitterte.

War ich doch auf dem rechten Wege?

„Ja,“ antwortete er, und es kostete ihm Anstrengung, um nur zu dem einzigen kleinen Worte Luft zu gewinnen.

Ja, ich war auf dem rechten Wege; ich mußte es sein. Auch in dem still, zwar überrascht, aber befriedigt vor sich hin nickenden Gesichte des Actuarius las ich es. Ich hatte jetzt nur noch wenige Fragen an den Menschen, fast nur dieselben, die ich an das Mädchen gerichtet hatte.

„Haben Sie die Louise Schmid seit ihrer Entfernung aus Ihrem Hause wieder gesehen?“

„Zuweilen auf der Straße.“

„Auch gesprochen?“

„Es ist möglich, im Vorbeigehen.“

„Haben Sie sie in ihrem Hause besucht?“

„Nein.“

„Waren Sie niemals in ihrem Hause?“

„Niemals.“

Fast Wort für Wort die Antworten des Mädchens und mit völliger Ruhe und Bestimmtheit abgegeben; jenes Erschrecken hatte nur den kürzesten Augenblick gedauert. Aber ich war zufrieden; ich hatte jetzt die Fäden des Verbrechens und mußte sie nur noch zusammenknüpfen.

Mein Plan, schon gleich, als der Fleischer Kopp die Louise Schmid erwähnt hatte und ich darauf durch die Vernehmung der Gretchen Kopp die Ueberzeugung gewonnen zu haben glaubte, daß dieses Kind unschuldig sei, mein Plan, schon damals rasch entstanden, hatte während der letzteren Vernehmungen sich immer mehr entwickelt und bis in seine Einzelnheiten ausgebildet.

„Sie können nach Hause gehen,“ sagte ich zu dem Fleischer Mahler.

Er verließ das Verhörzimmer, ohne ein Wort zu sagen, ohne nur eine Miene zu verziehen. Aber mein Actuarius war außer sich gerathen. Es ist kein Zweifel, mit dem sind wir aus dem Regen unter die Traufe gerathen, sagte sein Gesicht.

Der brave, pflichtgetreue Beamte aber mußte noch mehr thun.

[429]
Die Weichselbrücke bei Dirschau.


Ein Wunderwerk der Baukunst, ein herrliches Zeugniß dafür, wie Großes Menschengeist und Menschenkraft zu schaffen vermag, ist die Weichselbrücke bei dem westpreußischen Städtchen Dirschau. Als nach vielfachem Deliberiren der Bau der Ostbahn, jenes großen Schienenweges, welcher die Metropole Preußens mit der entlegensten Provinz dieser Monarchie, Ostpreußen, verbindet, endlich fest beschlossen worden, da drängte sich die Frage in den Vordergrund und gab zu den ernstesten Erwägungen Veranlassung: „Wie kommen wir über die Weichsel?“

Diese durchschneidet nämlich die Provinz Preußen in ihrer ganzen Breite von Süden nach Norden, von der polnischen Grenze bis zum baltischen Meere. Eine Ueberbrückung der Weichsel erwies sich als unumgänglich nothwendig, weil die von einem nicht überbrückten Strome durchschnittene Eisenbahn einer durchschnittenen Pulsader geglichen haben würde. Gleichwohl stellten dieser Ueberbrückung – zumal an dem Punkte, wo die Bahn an den Strom anlief – sich so viele und große Schwierigkeiten entgegen, daß Laien wie Sachverständige in Menge an der Möglichkeit verzweifelten. Woher diese Zweifel? Die eigenthümliche Beschaffenheit der Weichsel begründete sie.

Die Weichselbrücke bei Dirschau.

Die Weichsel ist zwar nicht einer der größten Ströme Europa’s (sie steht in dieser Hinsicht nicht blos der Donau, dem Rhein und der Mehrzahl der russischen Hauptflüsse nach, sondern selbst der Elbe, indem der Lauf dieser 155, der der Weichsel aber nur 140 Meilen Länge beträgt), wohl aber der gefährlichste und am schwersten zu passirende. Fließt ein Strom von Norden nach Süden, wie beispielsweise die meisten schwedischen Flüsse, dann rollt sich im Frühlinge die Eisdecke, ganz von selber auf: die Wärme verzehrt Scholle auf Scholle, die Wasser fließen allmählich ab, der Eisgang geht ohne Gefahr für die Uferbewohner vorüber. Die Weichsel aber richtet ihren Lauf vom Süden nach dem Norden. Wenn in jenem die Frühlingssonne die Eisdecke und den Schnee plötzlich schmilzt, zerbrechen die herbeikommenden Wasser die Eisschollen und wälzen sie nicht etwa einem Meere oder einer See, sondern den nördlicheren Niederungen zu, die noch in völliger Winterruhe, von schneeiger Fessel gekettet, daliegen.

Dieses nun macht den Eisgang der Weichsel so gefährlich. Die im Strome treibenden Eisschollen häufen sich, wenn ihnen noch zu festes Eis sich entgegenstemmt, zu Bergen an, stopfen sich bis auf den Grund so fest und dicht, daß nur wenig Wasser hindurch fließen kann und der Fluß also von den Stopfungen ungemein anschwillt. Häufig wird nun wohl durch den Druck des Wassers das Hemmniß fortgeschoben und somit die Passage frei. Aber nicht selten auch tritt das Gegentheil ein. Dann wälzen sich die noch compact gebliebenen Eismassen und das aufgestaute Wasser gegen den Damm welcher die meist noch unter dem Weichselspiegel liegenden Niederungen schützt; dieser weicht und mit furchtbarer Gewalt stürzt der Strom in das niedriger liegende Land und reißt Alles mit sich, was ihm im Wege steht, dessen Loos dann Vernichtung, Graus und Schrecken ist. Häuser, Scheuern und Brücken werden zerstört, hier Aecker ausgewühlt, dort angeschwemmt, und über die ganze Landschaft wälzen sich, oft in Meilen-Breite, sechs, acht, zehn, ja noch mehr Fuß tief die Wogen hin und verwüsten Alles. Der Schaden, den ein solcher Durchbruch (in Westpreußen gewöhnlich „Grundbruch“ genannt) verursacht, ist sehr bedeutend. Außer den enormen Kosten der Zudämmung, den verwüsteten Gebäuden und Vorräthen, der verloren gegangenen Ernte, wird auch noch das (meist sehr fruchtbare) Land, welches dem Durchbruche zunächst liegt, mehrere Fuß hoch mit Sand bedeckt und so für lange Jahre hin uneinträglich gemacht.

Solch’ ein unbändiger und verheerender Strom nun ist die Weichsel. Daß demnach seine Ueberbrückung äußerst schwierig, liegt auf der Hand; doppelt schwierig aber unter den gegebenen Umständen, weil nämlich aus mercantilen und strategischen Rücksichten die Route über Dirschau und Marienburg gewählt wurde und gewählt werden mußte, und also nicht blos eine Ueberbrückung des Hauptarmes [430] der Weichsel (bei Dirschau), sondern auch eine solche ihres Nebenarmes, der Nogat (bei Marienburg), nöthig wurde.

Die nächste Frage war: „Was für eine Art von Brücke soll gewählt werden?“ Eine hölzerne – unter den vorliegenden Umständen und bei der Wohlfeilheit des Holzes in Westpreußen weitaus die billigste – würde dem Drange der Eisschollen auch nicht einen Winter über Widerstand geleistet haben; eine gemauerte wegen der vielen Pfeiler, die sie erforderte, den Strom zu sehr eingeengt, die Passage zur Uebergebühr beschränkt und im Winter die gefährlichsten Eisstopfungen herbeigeführt haben. Eine Drahtbrücke, wie sie nun in Vorschlag gebracht wurde, würde allerdings diese Hindernisse nicht hervorgebracht haben; aber Drahtbrücken eignen sich ihres steten Schwankens, ihrer leichten Durchbiegung, ihrer Unsicherheit wegen durchaus nicht für Eisenbahnen; so blieb also nur die Wahl zwischen der Röhren- und der ihr verwandten Gitterbrücke. Man entschied sich für die letztere, als die genialere Construction. Was aber ihre Herstellung so wesentlich erschwerte, das war die enorme Länge, welche sie erforderte. Sie mußte nämlich nicht etwa blos über den hier 1260 Fuß breiten Strom geführt, sondern es mußte auch noch der Raum zwischen dem Höhenzuge von Dirschau und dem Damme des linken Flußufers überbrückt werden; Alles in Allem eine Strecke von 2668 Fuß.

Dies ist nun auch, aber nur unter Anwendung der großartigsten Mittel, nach Besiegung unendlicher Schwierigkeiten, geschehen; Schwierigkeiten, welche anfänglich unüberwindlich erschienen. Der fette Boden verlangte mühsame Vorarbeiten für die Grundlegung der Pfeiler, und die Gemalt des Stromes, welcher namentlich zur Zeit des Eisganges mit Ungestüm zwischen den hohen Uferdämmen dahin schießt, machte es wieder nothwendig, ihm so wenig Pfeiler als möglich entgegenzustellen. So mußten denn die Pfeiler so kolossale Dimensionen annehmen, wie sie gegenwärtig darbieten: 80 Fuß in der Länge, 32 in der Breite. Solcher Riesenpfeiler sind im Ganzen sieben, von denen die an den beiden Enden die Landpfeiler, die anderen fünf die Strompfeiler heißen. Interessant ist die Art und Weise, wie die Strompfeiler gebaut sind. An der Stelle, wo ein solcher zu stehen kommen sollte, schlug man in der Größe und Grundform desselben eine Pfahlwand, welche durch Einrammen mittelst einer kolossalen Dampframme in eine möglichst große Tiefe versenkt wurde, während man den seit Jahrtausenden aufgeschwemmten Triebsand so weit als möglich herauszuschaffen suchte. In diese mit Wasser ausgefüllte Grube wurde demnächst ein Pfahlrost geschlagen und darauf eine eigenthümliche cementartige Mischung, Béton genannt, geschüttet, welche im Wasser vollständig zu Stein verhärtet. Auf diese, mehrere Fuß hohe Grundlage schüttete man längs der Pfahlwand einen Fangdamm bis über den Spiegel des Flusses, worauf das Wasser aus der Baugrube ausgepumpt und das Mauerwerk der Pfeiler aufgeführt werden konnte, zu welchem man vortreffliche, auf’s Sorgfältigste bearbeitete, granitne Steinquadern und Formsteine verwendete. Da, wo sich der eigentliche Wogenschwall und das Eis zu brechen hat, wählte man als Material spröde Basaltlava. Im Innern der Pfeiler sind theilweise Sandsteine von der porta Westphalica, meistens aber Ziegelsteine verwendet worden, welche in ungeheuerer Menge in der zu diesem Behufe eigens beim Dorfe Kniebau (unfern Dirschau) errichteten großen Ziegelbrennerei geformt und gebrannt wurden. Von der Großartigkeit dieser Pfeiler kann man sich einen Begriff machen, wenn man erfährt, daß zu ihnen allein in dem einen Baujahre 1856 3,478,000 Stück Ziegel, 14,240 Tonnen Béton und 1600 Schachtruthen (das ist soviel als 230,400 Kubikfuß), Formsteine verbraucht wurden.

So viel vom Baue der Pfeiler. Gehen wir nun zum zweiten Haupttheile der Brücke, zum Gitterwerke, über.

Der Ueberbau der Weichselbrücke besteht aus drei Theilen, deren jeder in einem Ganzen über zwei Brückenöffnungen reicht, mithin auf drei Pfeilern ruht. Die 37 F. 2 Z. hohen durchbrochenen Wände von Eisen, welche 20 Fuß „im Lichten“ von einander entfernt sind, bilden die Träger der Brücke. Ihrer Länge nach sind sie von verschiedener Stärke; der Widerstand, den sie dem Verbiegen entgegenstellen, ist, von je 6 zu 6 F. der Länge, der Wirkung des eigenen Gewichts der Brücke und der größten denkbaren Belastung überall angemessen bestimmt. Die Stäbe der Gitterwände haben verschiedene Querschnitte; die stärksten sind 5 Z. breit und 1 Z. stark, die schwächsten 4 Z. breit und nur 1/2 Z. stark. Sie überkreuzen sich unter rechten Winkeln von je 2 zu 2 Fuß der Gitterlänge und Höhe. Mit ihren Enden greifen sie über die verticalen Platten des unteren und oberen horizontalen Rahmens so lang hinüber, daß sie die zur größeren Befestigung dienenden Bolzen (die heiß eingetrieben und vernietet wurden) in einer ihrer Stärke entsprechenden Anzahl aufnehmen konnten. Die Haupttragfähigkeit der Gitter basirt in den „Gürtungen“ (den oberen und unteren Balken), während die dazwischen befindlichen Gitterwände nicht nur den oberen gegen den unteren Rahmen vollständig unveränderlich erhalten, sondern auch, je weiter sie von der Mitte entfernt sind, desto mehr selbst mittragen. Die Stärke der Gürtungen sowohl als der Gitterwände ist, den statischen Proportionen nach, verschieden und nach der Mitte des Trägers bedeutend zunehmend.

Der ganze Brücken-Ueberbau ruht unverschieblich nur auf der Mitte des ersten, dritten und fünften Pfeilers; alle anderen Punkte der mittleren und Endauflager sind für das Spiel der Längen-Aenderung mit Rollen versehen, welche zwischen geebneten gußeisernen Platten sich bewegen. Diese Längen-Aenderung, welche durch den Wechsel der Temperatur hervorgebracht wird, ist genau nach physikalischen Gesetzen berechnet, äußert sich an sechs Stellen der Brückenbahn und fordert einen fünf Zoll breiten Spielraum. Dieser wird innerhalb des Schienengleises mit Auszugsschienen, in den beiden Fuhrwerksbahnen zur Rechten und Linken desselben mit Bohlen, in den Fußgänger-Passagen aber – als solche dient eine an der Außenseite der Gitter zu beiden Seiten angebrachte Gallerie von 3 F. Breite, ein luftiger, Schwindel erregender Gang! – mit dünnen Eisenplatten stets überdeckt gehalten.

Für die seitliche Haltung des eisernen Ueberbaues auf den Pfeilern sind die Brückenthürme bestimmt, welche der Brücke vornehmlich das grandiose Aussehen verleihen und mit ihrem Mauerwerk, bis auf den geringen Spielraum für die Ausdehnung des Eisenwerks bei erhöhter Lufttemperatur, dicht an den eisernen Ueberbau schließen.

Die Höhe der Pfeiler vom untern Absatz (d. h. etwa vom Niveau des niedrigsten Wasserstandes an gerechnet) beträgt 35 Fuß; der höchste bis jetzt vorgekommene Wasserstand bleibt immer noch 12 bis 13 Fuß unter der Brücke. Sieht man die Gitter von der Seite her aus einiger Entfernung, so ist es schwer, das Durchbrochene, Lauben- und Spitzenartige des Baues zu erkennen. Ganz anders, wenn man die Brücke selbst betritt, und nun unter dem Gitterwerke dahinschreitet. Die imposante Höhe der Gitter (sie beträgt ja fast 40 Fuß!), welche über dem mächtigen Strome zu schweben scheinen; der eigenthümliche, hellklingende Luftzug, der durch die Gitter streicht; der Blick in die weite, nur am äußersten Horizonte durch Höhenzüge schwach begrenzte Ferne; der schöpferische Gedanke, der aus dem Werke redet; das Alles erzeugt einen Eindruck, der erhebend und überwältigend wirkt, ähnlich demjenigen, der uns ergreift, wenn wir das Schiff eines gothischen Domes durchschreiten und der Fuß zögernd nur die Quadern des Estrichs betritt, während die Blicke forschend und bewundernd zu den ihnen kaum erreichbaren Spitzbogen der Decke schweifen. Wie Geisterlispeln säuselt der Luftzug durch die hohen Münsterräume; heilige Schauer ergreifen uns, Bilder aus den längst entschwundenen Tagen, wo dieser Dom entstand, tauchen vor unserem inneren Auge auf: da dringt, die hehren Räume mit magischem Lichte übergießend, ein Strahl der Sonne durch die buntgemalten Scheiben der hohen Spitzbogenfenster und führt uns freundlich zur Gegenwart zurück.

Aehnlicher Art sind die Betrachtungen und Gefühle, welche uns ergreifen, wenn wir auf dieser Brücke stehen, den Blick in die Ferne gleiten lassen, und dabei Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft dieses Riesenbaues erwägen. Jetzt steht das Werk als ein vollendetes vor unserem Auge. Der Reisende, der im glänzenden Waggon durch diese luftige Halle rollt, wird wohl kaum in einem unter hundert Fällen daran denken, daß zwölf Jahre (fünf der Vorarbeiten, sieben des eigentlichen Baues) erforderlich waren, dies Wunderwerk zu schaffen; wird weder der Gedankenarbeit in den Köpfen der kühnen Techniker, die es schufen, noch der tausend Handlanger sich erinnern, die, wenn sie auch nur Steine auf Steine legten, nur Eisen zum Eisen schweißten, dennoch dazu beitrugen, daß das Gedachte ins Leben trat und unsere Zeit und Deutschland ein Bauwerk erhielt, welches sich den kühnsten, herrlichsten baulichen Schöpfungen aller Zeiten und Länder dreist zur Seite [431] stellen darf. Glatt, schmuck und wie geleckt[1] fleht jetzt das Ganze vor uns, wie ein Soldat auf der Parade, und von all’ den gewaltigen Vorrichtungen, welche die Hauptarbeit erforderte – von all’ diesen Schuppen, Scheunen, Schienenhaufen, Werkstätten, Dampfmaschinen und Barracken, von all’ dem bunten und doch arbeitsamen, chaotisch ausschauenden und doch geordneten Treiben, das einst auf dieser Stätte wogte – ist kaum eine Spur noch übrig! Und doch ist gerade das Werden das Interessanteste, denn es ist das Leben; hinter dem Gewordenen, Fertigen lauert, wie ein blasses, unabwendbares Fatum, die Vernichtung. Auch die Weichselbrücke wird ihr zum Raube werden, denn sie ist ja das sichere Loos alles Irdischen; aber Jahrhunderte werden vergehen, ehe diese Katastrophe eintritt, Jahrhunderte lang wird sie das Staunen und die Bewunderung der Welt erregen; denn was so laut und eindringlich aus diesen gigantischen Eisenstäben, diesen kolossalen Pfeilermauern zur Jetzt- wie zur Nachwelt spricht, das ist die allbezwingende, an Alles sich wagende, vor Nichts zurückbebende Menschenkraft; ist jener Geist, der aus den egyptischen Pyramiden und den Werken der stolzen Roma spricht; jener Geist der Gottähnlichkeit im Menschen: der Geist des Ewigen in der Endlichkeit. Und so wird denn auch Dirschau’s Weichselbrücke ein ewiges Werk sein; denn seine Kunde wird dann noch leben, wenn vielleicht nach einem Jahrtausend kaum noch die verwitterten Trümmer des letzten Pfeilers aus dem Strome ragen![2]

G. J.


Mutterpflichten und Muttersünden.
Von einem Lehrer und Erzieher.
Muttersünden.


Wenn das Muttergefühl mit seinem ersten Entzücken den weiblichen Busen durchbebt, dann erheben sich wohl in jedem Mutterherzen heiße Wünsche für des Kindes Glück, Ahnungen von dem, was die Mutter sein kann, sein soll, und fromme Entschließungen, was die Mutter dem Kinde sein und werden will. Ein Bild malt sie sich aus voll Lust und Liebe. – Das ist das Werk der Natur, o würde nur ein Theil von diesen Phantasien Wirklichkeit! Allein Gewohnheit schwächt die Freude ab. Bald das tägliche Geschäft der thätigen Hausfrau, bald die Ansprüche des geselligen Lebens, die Convenienzen und die zerstreuenden Genüsse desselben verwischen jenen ersten Eindruck einiger heiligen Momente, entfremden die Mutter den Kindern, und dann ist das bedauernswerthe Verhältniß erreicht, welches leider zur Zeit immer mehr „modern“ zu werden und zum bon ton zu gehören scheint.

Nachdem die jungen Mädchen aus den Töchterschulen oder Töchterpensionaten entlassen sind, in welchen sie mit wenigen Ausnahmen einzig und allein für das „Erscheinen“ zugestutzt werden, so geht von Stund an ihr und ihrer eitlen Mütter Streben vornehmlich dahin, „Effect zu machen“ und zu „erobern.“ Zu dem Ende muß ihre „Erziehung“ hin und wieder noch „vollendet“ werden. Piano spielen und Singen, Tanzen und Malen, Unterhaltung führen, Putzen und Coquettiren sind unvermeidliche Kenntnisse und Fertigkeiten. Wehe dem Mädchen, dem sie fehlen! Ihr Loos ist Verachtung aller ihrer Schwestern. In minder anspruchsvollen Kreisen muß das erwachsene Mädchen eine Zeit lang „den Haushalt erlernen.“ Wie und wo aber wird das junge Weib für den Mutterberuf vorbereitet? – Unvorbereitet und mit Werth und Wesen dieser natürlichsten aller weiblichen Berufspflichten unbekannt, treten die meisten in den Ehestand, und glücklich sind noch die Kinder zu schätzen, deren Mutter sich durch ihr natürliches Gefühl leiten läßt. – Wir wollen nicht weiblichen Berufsanstalten („Universitäten“) das Wort reden, sie sind gefährlich. Aber für eine unabweisbare Pflicht müssen wir es erklären, daß das Mädchen sich auf den Mutterberuf vorbereite. Die Familie, das deutsche Haus, der Kinderkreis, die Kinderstube sind die geeignetsten Stätten, wo unter Aufsicht und Leitung einer gebildeten und verständigen Mutter das Mädchen sich vorbereiten kann, und einer solchen Mutter Lehre und Beispiel muß die reichen natürlichen Anlagen des Weibes zu duftigen Blüthen entfalten. – Auch unter den Erziehungsschriften gibt es Bücher, die im zugänglichen Gewände das Mädchen vorzubereiten vermögen, einige unter ihnen aus weiblicher Feder. – Wie selbst die Schule schon diesen weiblichen Beruf nicht unbeachtet lassen darf, hoffen wir später darzuthun. – Wenn aber Männer von wissenschaftlicher Bildung und pädagogischem Takte Vorlesungen hielten, und die Zeitschriften ihre Spalten diesem Gegenstande mehr öffneten, so wären auch damit mindestens Anregungen gegeben.

Eine an Genuß und Vergnügen gewöhnte Mutter, die schon seit ihrem zwölften Jahre die „Dame“ gespielt, alle Moden mit durchgemacht, von allen Freudenbechern genascht, thés dansants und Bälle besucht und die Huldigungen (pour ainsi dire) der Männerwelt empfangen hat; eine solche Mutter ist für die höchste und natürlichste Freude des Weibes, für die Mutterfreude verdorben. Mag sie eine solche bei Gelegenheiten affectiren, es ist rein äußerer Schein, wie Alles, was man an ihr sieht. Die tiefe, innige, beseligende, zum höchsten Opfer begeisternde Mutterfreude, Mutterliebe – wie sie jedem fühlenden Wesen der Natur eigen ist – kennt sie nicht, als aus Romanen; sie ist ihr eben auch nur romantisch; wirklich, selbst empfunden wird sie nicht. – Tritt sie in die Kinderstube hinein, da blüht ihr nur Verdruß statt Freude. Das Geräusch, das fröhliche Tummeln, das Weinen und das Jauchzen können ihre „zarten Nerven nicht vertragen“ und ihre Roben-Crinoline und eine ganze Reihe von Putzsachen können das Nahen der Kinder eben so wenig vertragen. Wenn die Aerzte dann klagen über Verwahrlosung der Körpers, so haben wir Erzieher noch weit mehr über geistige und sittliche Verwahrlosung zu klagen.

Wärterinnen und Dienstboten werden so oft mißachtet; ihr Betragen, ihre Sittlichkeit, ihre mangelhafte Bildung so sehr gerügt. Schränke, Keller und Cassen sind sorgfältig vor ihnen verschlossen. Die Kinder aber, den köstlichsten Schatz der Eltern, vertraut man ihnen unbedenklich an. – – Wir erachten es für unerläßliche Pflicht jeder Mutter, sich ihren Kindern ganz zu weihen, einen Theil ihrer Vergnügungen und Genüsse ihnen zu opfern, unter ihnen ihren Thron aufzuschlagen, ihre kleinen Freuden und Leiden zu theilen, die Eindrücke zu überwachen, welche die jungen Seelen empfangen, und mit ängstlicher Sorgfalt alle, auch die kleinsten Regungen ihres seelischen Lebens zu beobachten. Das Vertrauen und die ungeheuchelte Liebe der Kinder wird sie belohnen, jeder dazu verwandte Tag ihr höhere Befriedigung gewähren, als ein Tag des rauschendsten Genusses.

Die meisten Eltern und viele Erzieher wollen mit Worten erziehen. Sie ertheilen Befehle und Verhaltungsregeln, sie predigen und moralisiren, sie warnen, drohen und strafen fast ausschließlich mit Worten, mit Phrasen. Das ist eine traurige Täuschung. Erziehen heißt handeln. Die Thaten des Erziehers vollbringen die Erziehung und durch sie erhalten seine Worte erst Werth und Bedeutung. Wir müssen mehrfach hierauf zurückkommen.

Die erziehende Mutter verlangt Resignation Die Kinder sollen sich etwas versagen können. Sehr schön! Sie befiehlt, sie [432] überredet, sie schildert, sie warnt, sie droht und züchtigt endlich: vergeblich! zur freien Entsagung des Genusses kommen sie nicht, denn die Mutter vermag sich selbst nichts zu versagen, und das wissen die Kleinen besser, als die Mutter, die nicht auf sich Acht hat. Sobald sie aber die Mutter ohne Rumor und freudig Opfer bringen sehen, lassen sie sich leicht und willig daran gewöhnen und ein einziges Wort der leisen Anerkennung wiegt jener tausend auf.

So lange die Mutter sich nicht scheut, die Kleinen im Scherz und Ernst zu täuschen, oder den Vater oder Andere, werden alle moralischen Predigten und die härtesten Strafen das Kind nicht zur Offenheit, zur Wahrheit führen. Die Reinlichkeit und Ordnung, die Pünktlichkeit, die Vorsicht und Bedachtsamkeit, Bescheidenheit und Anstand in Benehmen und Sprache muß das Kind der Mutter absehen können (natürlich auch anderen Personen, mit denen es in Berührung kommt), wenn dasselbe sie lernen, lieben und üben soll. – Darum achtet die verständige Mutter (wie auch jeder Erzieher) auf sich selbst mit der größten Sorgfalt und führt die Kinder mitten in die Sache hinein, benutzt die Gelegenheiten ihres kleinen Kreises, um sie zu gewöhnen, und erspart sich Verdruß und alle vergeblichen Redensarten und Scheltworte.

„Ich erziehe meine Kinder mit der größten Strenge,“ rühmt jene Mutter von sich. Nehmen wir doch diese mütterliche „Strenge“ ein wenig näher in Augenschein! – Die Kleinen haben sich unter den Augen der Mutter eine Zeitlang beschäftigt, plötzlich ist es die strenge Mutter überdrüssig und die Ruthe verschafft ihr Ruhe. – Wirklich, diese Strenge ist eine sehr sonderbare. Dasselbe, was viele Male erlaubt ist, zieht den Kindern Strafe zu. Die Kinder folgen bewußtlos ihren Neigungen, kein freundliches Leiten, kein Ablenken ihrer Thätigkeit auf ein anderes Gebiet, kein Blick, kein Wink der Mißbilligung, keine Frage nach der Ursache – das Alles ist ja keine Strenge. Sobald die Mutter irgend eine Unbequemlichkeit von ihrem Treiben empfindet, Heftigkeit, Zürnen, Scheltworte und Strafe! – Strafen ist kein Erziehen! – Die Strafe ist das letzte und folglich das seltenste Erziehungsmittel, kein Mittel, um des Erziehers Verdruß austoben zu lassen. Züchtigung ist nur dann am Platze, wenn das Kind mit Bewußtsein das Unrechte thut.

Miene, Wesen und Verhalten der Mutter muß gleichmäßig ruhig, heiter, freundlich sein. Es muß dem glatten Spiegel eines ruhigen See’s gleichen, aus dessen Grunde stets nur die Sonne der Liebe wiederstrahlt. Heftiges Zürnen und Schelten, lieblose und unästhetische Ausdrücke, lautes, lärmendes Gebühren und nie endendes „Klapsen“ ist keine Strenge, ist kein Erziehen. Es ist ein völlig zweckloses, unvernünftiges und seiner traurigen Einflüsse – auf die Mutter selbst, sowie auf die Kinder – halber durch nichts zu entschuldigendes Verhalten. Der wirklichen Strenge aber ist ebenfalls die Mutter nicht zu entbinden. Sie ist aber auch nichts Anderes, als das unerschütterliche Festhalten an dem einmal ausgesprochenen Willen, mit anderen Worten, Consequenz. Damit dies möglich werde, muß solcher Willensausdruck möglichst selten vorkommen, ein freundlicher Wunsch oder Wink der Mutter und, im besten Falle, das in den Kindern selber erregte freie Gefühl für’s Rechte und Schöne muß in den meisten Fällen genügen. Eine große Anzahl von Gesetzen kann der Erzieher selbst nicht, geschweige die Kinder behalten. Ferner muß der Ausdruck des Willens wohl überlegt sein, nicht eine augenblickliche Laune, die uns nöthigt, selbst ihn wieder aufzuheben, weil kein Kind ihn ausführen kann oder mag.

Ein solcher Ernst und solche Strenge schließt die Freundlichkeit nicht aus, dieselbe bleibt vielmehr die Alles beherrschende Gebieterin.

Mutterliebe ist vielleicht die edelste und stärkste Empfindung, deren ein Menschenherz fähig ist. Mütterliche Zärtlichkeit rührt jeden Menschen. Hochachtung und tiefe Verehrung daher diesen Genien der Menschheit! Allein was Mütter manches Mal mit diesem Namen belegen, das verdient sie nicht. – Welche Gewalt üben oftmals Kinder über die Mutter aus – oft durch Verstellung! – Sie weinen schmerzlich, sie stellen sich ungebehrdig, sie schmollen oder toben oder schmeicheln, warum? – Weil sie die schwachen Seiten der Mutter genau kennen, und sie greifen sie so geschickt an, daß sie in der Regel ihren Willen durchsetzen und recht verzogene und noch dazu verschlagene Kinder werden. Es ist unvergleichliche Schwäche, wenn die Mutter sich durch jedes Weinen rühren läßt, keinen Wunsch verweigern, keine Bitte abschlagen, keinen Befehl durchsetzen, kann; und strömte ihr Herz gleich über von zärtlicher Besorgniß, und wäre es ihr heißester Wunsch, ihr ganzes Streben, ihnen eine gute Mutter zu sein: sie könnte es nicht sein. Die Mutter bedarf neben der Seelenruhe auch der Seelenstärke für ihren Beruf.

Kennen die verehrten Leserinnen den Schmerz der Mutter über ungerathene Kinder, die Thräne, die vom Auge rinnt und in’s Gewissen den Vorwurf der Selbstverschuldung brennt, das von Aerger und Kummer gebleichte Haar und das von Kindern gebrochene Herz? – Sie sind nur zu häufig zu finden!

Kennen dieselben den Stolz, die Wonne der Mutter am Arme des edlen, des dankbar ihre Hand verehrenden Kindes, die Thräne der glücklichsten Rührung, die sie erquickt, im Auge? – Sie sind nicht allzuhäufig zu finden! – Dann kennen sie auch Strafe und Lohn!




Von den schwarzen Bergen.
I.
Die Bucht von Klek und die Ausschiffung der türkischen Truppen.
Von einem österreichischen Marineofficier.


Dalmatien ist ein wenig gekanntes Land und die Bucht von Klek, welche neuerdings bei Gelegenheit der Landung der türkischen Truppen so oft in der Presse genannt worden ist, ein noch weniger gekannter Theil dieses doch recht interessanten Küstenstriches des adriatischen Golfes. Im südlichen Dalmatien, wenige Stunden von den Mündungen der Narenta, des größten Stromes der westlichen Türkei, entfernt, erstrecken sich die Grenzen des osmanischen Reiches bis an die Gestade der Adria mitten in österreichisches Gebiet hinein und türkische Lande umgeben die blos in ihrem nördlichen Theile zu Oesterreich gehörenden Gewässer der dort befindlichen Bucht von Klek.

So interessant, romantisch, voll herrlicher Partien und üppiger Vegetation das nahe Sumpfthal der Narentamündungen sich zeigt, so öde, wüst und einförmig ist die Gegend um Klek. Dort eine reizende Landschaft, hier nichts als kahle, schroffe Berge, nur hier und da niedriges, verkrüppeltes Gebüsch oder Olivenbäume mit ihrem monotonen Grün. – Einige wenige, ärmliche Hütten, am Ausgange einer Thalenge gelegen, der einzigen in der Umgegend, die etwas Ackerland zwischen dem ringsumher liegenden zackigen Gestein und eine größere Olivenpflanzung aufzuweisen hat, bewohnt von armen Hirten, deren Ziegen und Schafe das wenige Grün noch mehr am Gedeihen hindern, deren einziger Erwerb eine glückliche Olivenernte, Fischfang und vielleicht etwas Tabakschmuggel ist, dies ist der Ort Klek im oberen österreichischen Theile der Bucht. Am Ausgange dieser Thalenge steigt das Gebirge steil hinan; – eine kahle Felswand, auf deren First ein Kirchlein, wieder einige Hütten, ein Fleck mühsam bebauter Erde, dann abermals Fels, Gerölle, Gestein!

Unten am Gestade, am äußersten Ende der Bucht, steht neben der Ruine eines alten verfallenen Thurmes ein kleines Wachthaus, da weht auch täglich von Sonnenauf- bis Untergang der türkische Halbmond, bezeugend, daß man sich auf Grund und Boden Sr. Großherrlichkeit des Sultans befindet. Einige Albanesen bewohnen dieses Gebäude und halten die Grenzwache. – Dort verflacht sich die Gebirgskette, bildet ein längliches Thal, macht einen stumpfen Winkel und erstreckt sich dann, im Berge Klek sich noch einmal steil erhebend, gegenüber dem Festlande in eine niedrige, schmale, fast ganz unbewohnte Landzunge abfallend, gegen NW bis auf sechs Seemeilen in die See hinaus.

Dadurch wird eine vollkommen geschützte, von allen Seiten geschlossene Bucht mit gutem Ankergrund in ihrer ganzen beträchtlichen Ausdehnung gebildet, ein prächtiger Hafen für eine ganze [433] Flotte, für jede Zahl und Gattung von Schiffen. Dalmatien hat viele solche von der Natur geschlossene, gut gedeckte Buchten und Baien, aber nächst den Bocche di Cattaro ist sicherlich die Bucht von Klek eine der vorzüglichsten. Doch da die Landzunge und ein Theil des diese Gewässer einschließenden Festlandes türkisches Gebiet mitten in österreichischen Landen und See sind, so hat man die ganze Bucht für ein Mare clausum erklärt: keiner Nation Schiffe dürfen dort einlaufen oder ankern, nicht einmal den Fischerbarken ist der Aufenthalt im Innern desselben gestaltet. Die See ist daher ganz unbelebt und öde, kein Kiel durchfurcht die Wellen, kein Fischer zieht hier seine Netze, ruhig und unbesorgt leben hier die Bewohner des Meeres vor den Nachstellungen der Menschen.

Thal von Klek. Oesterreichisches Gebiet. Grenze. Neum. Lucia. Gevan Bahri. Peïki Zaffer. Achilles mit den Booten. Türkische Landzunge.
Die Bucht von Klek, nach der Originalzeichnung eines österreichischen Marineofficiers.

Sowie die See also öde, verlassen und ruhig ist, so sind es auch die unwirthlichen Gestade, die sie einschließen. Es ist wirklich eine traurige, einförmige Einöde, doppelt traurig, doppelt einförmig für die jungen, lebensfrohen Officiere des dort stationirten österreichischen Kriegsdampfers, der, in der Nähe des Ortes Klek geankert, die Bestimmung hat, die Regeln dieses Mare clausum aufrecht zu erhalten, daher sie sich immer darnach sehnen, daß irgend ein Ereigniß eine Abwechselung in ihr hier sehr monotones Seemannsleben bringen möchte, – Begierig wurden daher die Nachrichten über die Aufstände der Raja’s in der Herzegowina gelesen. Schon lange spukte es in den verschiedensten Journalen davon, wie die Montenegriner, dieses unruhige Bergvolk, nicht mehr Platz hatten in ihren Höhlen und Felsen, wie sie oft räuberisch in türkisches Gebiet einfielen und auch die Raja’s zum Aufstande gegen deren Oberherrn, den Sultan, aufstachelten. – Jedes Zeitungsblatt beinahe brachte neue Erzählungen von frischen, frechen Gräuelthaten der übermüthigen Montenegriner und allgemein verlautete das Gerücht von einem energischen Auftreten der Türken gegen diese Uebergriffe, namentlich wurde eine Landung türkischer Truppen in Klek erwartet.

Es kamen bereits bestimmte Nachrichten, daß für diese Landung eine besondere Ausnahme gemacht und die Erlaubniß zum Einlaufen der Schiffe in die für alle Nationen geschlossene Bucht gegeben werden solle, und daß mehrere Schiffe größerer Gattung die Truppen von Constantinopel hierherführen, ausschiffen und das österreichische Wachschiff dabei interveniren sollte. Die Landung einer größeren Truppenabtheilung aber war für Klek so ungewöhnlich, so unerhört, daß man, obwohl die Nachrichten schon bestimmt und zuverlässig waren, noch immer nichts recht glauben wollte.

Indessen wurde es lebendiger, interessanter in der Bucht. Der österreichische Dampfer St. Lucia war auch angekommen, um bei der Landung gegenwärtig zu sein. Man disputirte und politisirte fortwährend über die Türken und Montenegro. Vom südöstlichsten Theile der Bucht, dort, wo der Wachtthurm liegt, gegen Neum hinauf, wurde eine soi disant-Straße von den türkischen Unterthanen hergestellt, d. h. das Gestrüpp wurde hier und da, wo es gar zu dicht war, abgehauen und einige Steine bei Seite geschafft, ein miserabler Weg. Ein Matrose wurde an der äußersten Spitze der Landzunge, an der sogenannten Santa turca, mit einer Flagge als Ausluger aufgestellt, um die zu erwartenden Schiffe zu signalisiren. Boote fuhren mehrere Male des Tages in die See hinaus, beim Wachtthurme brannte allabendlich ein mächtiges Feuer: Alles wegen der Türken.

Im türkischen Orte Neum zeigte sich auch schon reges Leben. Ganze Heerden von Maulthieren wurden aus dem Innern des Landes zum [434] Transport der Bagage und Lebensmittel zusammengetrieben und der Pascha von Mostar mit einem kleinen Gefolge war dort angekommen. Den Mann mußte man sich ansehen, wie er mit seiner türkischen Gemächlichkeit in diesen elenden Behausungen sich eingerichtet hatte. Vielleicht konnte man auch einiges Neue von ihm erfahren. Es wurde ihm daher eine Visite abgestattet. Er hatte sich auch hier, so gut als es eben ging, mit allem Comfort, d. h. auf orientalische Manier, umgeben. – In dem besten Hause, aber auch nur einer Hütte, wurde ein Gemach ganz mit Teppichen und geflochtenen Strohmatten belegt, an den Wänden einige Polster statt Divans ausgebreitet, eine immer Kaffee siedende Küche eingerichtet und das Meublement war besorgt. Der Pascha selbst war ein corpulenter, gemüthlicher Mann, der blos türkisch sprach und auf den Kissen hingekauert den ganzen Tag seinen Tschibuk schmauchte. – Merkwürdig waren die kleinen Füße an den dicken Beinen, sie hätten keinem unserer Dandies Schande gemacht, und wundern mußte man sich, wenn man daran dachte, wie diese Figur mit ihrem Embonpoint und ihrer Unbeholfenheit die Reise von Mostar hierher auf diesen elenden Wegen gemacht hatte. – Von der Ankunft der Truppen wußte auch er nichts Bestimmtes.

Mehr als drei Wochen waren schon seit diesen Vorbereitungen verflossen, und noch schien es nicht Wahrheit werden zu wollen. Entweder ging man in Constantinopel mit gewöhnlicher muselmännischer Saumseligkeit zu Werke oder die Schiffe hatten auf der See übles Wetter, welches sie am Weiterkommen hinderte.

In Klek gab man sich schon den verschiedensten Vermuthungen hin, da schwenkte eines schönen Morgens, es war am 23. März dieses Jahres, der an der Spitze der türkischen Landzunge auslugende Matrose die Flagge zum Signal: die türkischen Schiffe in Sicht. Bald darauf sah man auch von Klek aus diese das äußerste Vorgebirge passiren.

Langsam und vorsichtig bewegte sich der mächtige Körper des Schraubenlinienschiffs Peïki Zaffer mit 94 Kanonen (ein Zweidecker) und die Schraubenfregatte Gevan Bahri mit 38 Kanonen, beide Fahrzeuge gepfropft voll Truppen, den ihnen fremden Gewässern der Bucht von Klek zu. Vom Dampfer Lucia wurde ihnen ein Boot mit einem Officier entgegengeschickt und lootste sie in das Innere der Bucht auf ihren Ankerplatz.

Die österreichischen Dampfer hatten unterdeß geheizt, kamen bald nachgesteuert und legten sich in der Nähe der türkischen Schiffe vor Anker. – Unverzüglich begann die Ausschiffung der Truppen, die vom Deck herab und aus allen Kanonenpforten sich die fremden unwirthlichen Gestade des Landungsplatzes neugierig betrachteten.

Was für ein reges Leben und Treiben brachte dies in die sonst so öde, ruhige Bucht! Früher nichts, als das kleine österreichische Wachtschiff Achilles, ganz verborgen in einer kleinen Valle (Einbuchtung) im nördlichen Theile der Bucht vor Anker liegend, keine Barke, kein Fischerboot, am Lande einige Bauern, mühsam die wenige Erde zwischen den Steinen auflockernd und Hirten, ihre Schafe und Ziegen weidend! – Und jetzt: ein gewaltiges Linienschiff, eine Fregatte, zwei Dampfer, nebst einer Unzahl immer ab- und zufahrender Boote, und die Gestade, die Hügel und Berge ringsum belebt, wie Ameisenhaufen, von der Menge der gelandeten Truppen. Welch’ ein fremder, sonderbarer Anblick für die ruhigen, eingezogenen Bewohner der Umgegend und auch für die des „Achilles.“ Man glaubte sich gar nicht mehr in Klek, sondern dachte eher eine Scene des Krieges im Orient mit dessen großartigen Truppenlandungen hier dargestellt zu sehen. Man fühlte, daß Klek, die verborgene, einsame Bucht, eine wichtige Station geworden sei.

Um die Landung der von der Seereise ermüdeten Truppen – im Ganzen 3600 Mann Nizams (d. i. reguläres Militair) nebst Feldgeräthe, einer Batterie von Gebirgshaubitzen, Munition und den Pferden des Generals – schneller bewerkstelligen zu können, als dies mit Booten hätte der Fall sein können, weil die türkischen Schiffe beinahe in Mitte der Bucht, weit vom eigentlichen Landungsplatze entfernt lagen, so ersuchte der Obercommandant der Expedition Kadri Pascha[3] um Beihülfe des österreichischen Dampfers Achilles. – Dieser heizte sofort, begann alsbald zu dampfen und legte sich in die Nähe des Linienschiffs, von wo man fort und fort die schwer bepackten, ermüdeten Soldaten so dicht als möglich in die Boote lud, welche dann vom „Achilles“ in Schlepp genommen und zum Landungsplatze geführt wurden. Kaum waren die Boote geleert, so wurden sie zum Schiffe zurückbugsirt, um wieder neue Ladung einzunehmen. Auf diese Weise wurde die Ausschiffung den ganzen Tag fortgesetzt und ging sehr schnell von statten.

In der Nähe des Landungsplatzes, an dazu möglichst geeigneten Punkten, wurden in aller Eile sofort zwei Bivouacs aufgeschlagen, um die von der ungewohnten Seereise und von dem schlechten Wetter sehr erschöpften Truppen einigermaßen zu restauriren, bevor sie den Marsch durch die unwirthlichen Gegenden in der Richtung nach Trebigne gegen die Grenze von Montenegro antreten sollten. Der steinige Boden wurde, so gut es ging, geebnet, das Gesträuche abgehauen und dann die Zelte ausgespannt; alsbald stieg auch der Rauch von einer Menge von Wachfeuern zum Himmel empor, denn die Luft war noch empfindlich kalt.

Die Soldaten hatten ein ziemlich gutes Aussehen, freilich hatte das enge Beisammenleben auf der neuntägigen Seereise nicht gut auf sie gewirkt, sie waren auch nicht besonders rein und nett, aber doch so ziemlich egal und in mancher Beziehung praktisch adjustirt, so z. B. halten sie eine Art von Gamaschen aus Schaffellen, die bis unter das Knie reichten und den Fuß vollkommen schützten, gewiß für diese steinigen Gegenden sehr zweckmäßig. – Sie trugen blaue Röcke und Hosen, einen blaßgrauen Mantel aus sehr dickem Stoffe und als Kopfbedeckung den türkischen Feß. Die Bewaffnung war durchgehends mit langen Kapselgewehren. Nur ihre voluminösen Tornister waren zu schwer geladen, denn außer Mantel, Reserveschuhen u. s. w. war noch eine Kotze und ein kupferner Kochkessel daran geschnallt, welches die Last für den Marsch durch dieses Gestein und besonders auf die Dauer etwas zu unbequem und schwierig machte. Trotzdem krochen sie doch wohlgemuth, obwohl langsam, weiter.

Zur großen Befriedigung Kadri Pascha’s, der froh war, seine Truppen bald im Lager zu haben, und dem österreichischen Commandanten persönlich hierfür seinen Dank abstattete, setzte man derartig den ganzen Tag die Landung fort. – Bis gegen Nachmittag ging auch Alles glücklich von Statten. Ueber die Hälfte der Mannschaften und ein großer Theil des Gepäcks waren schon in den Bivouacs untergebracht. Es war drei Uhr vorüber, der Achilles wartete beim Linienschiff auf frisch geladene Boote, indeß die näher am Lande liegende Fregatte Gevan Bahri ihre Truppen zum Theil auch selbst mit Hülfe ihrer Boote ausschiffte. Da erscholl plötzlich Hülferuf. Eines der Boote, welches, wahrscheinlich zu voll geladen, von der Fregatte gegen das Land zu sich entfernte, schlug plötzlich um, und Alles versank in die Tiefe. – Noch weiß man nicht die eigentliche Ursache, ob das Boot leck, ungeschickt geleitet oder zu voll geladen war. Die See war nur wenig bewegt.

Kaum aber hörte man das verworrene Geschrei in dem untern Theile der Bucht und den Tumult, der dabei und unter den in der Nähe des Unfalls am Lande anwesenden Leuten entstand, so hatte sich schon im Nu ein Boot mit kräftigen Matrosen behende bemannt und, von einem Officier geleitet, vom Achilles entfernt, und eilte pfeilschnell dem Unglücksplatze zu. Indeß obwohl es das erste zur Stelle war, und ihm bald eine Menge anderer Boote folgten, so gelang es doch nur, drei Menschenleben den Fluthen zu entreißen. Mit Theilnahme und Bedauern waren alle Fernröhre, Aller Blicke auf jene Gegend gerichtet, doch blieben die fortgesetzten ferneren Versuche durchgehends erfolglos. Die See wollte ihre Opfer behalten.[4] Die Leute waren zu schwer bepackt, um sich retten zu, können. Man sprach von 20 Mann, die ertrunken sein sollen.

Andern Tages bis Sonnenuntergang waren beide Schiffe von ihrer Ladung entblößt, und alle 3600 Mann ausgeschifft. Gegen Abend brachte man noch Pferde, Munition und die Gebirgshaubitzen an’s Land, wo es jetzt noch lebhafter und reger herging, um alle diese verschiedenen Gegenstände weiter zu schaffen. Von den Truppen hatte sich schon ein Theil in Marsch gesetzt, um den Uebrigen mehr Platz in den dürftigen Bivouacs zu machen.

Den folgenden Tag, nachdem die Landung beendet wir, hatten die Officiere der österreichischen Dampfer Zeit und Muße, die inneren Räumlichkeiten und Einrichtungen der türkischen Schiffe zu betrachten. Eine Gesellschaft, die von dem zwei Stunden entfernten Orte Stagno angekommen war, um sich das Linienschiff als ein für sie noch nie dagewesenes Schauspiel anzusehen, [435] bot um so mehr die beste Gelegenheit, als sich einige recht hübsche Mädchen unter derselben befanden, die zwar begierig waren, das Schiff und die Türken zu sehen, aber vor letzteren gar zu große Angst hatten. Nach einigen Aufmunterungen der österreichischen Officiere, erstiegen sie alsbald die hohe Fallreepstreppe, und betraten mit verwunderten Augen das geräumige Deck. Der türkische Commandant empfing auch Alle recht zuvorkommend, nahm besonders die Damen, welche er genau musterte, freundlich auf, und befahl sofort einem sehr schmutzigen Officier, der aber einige Medaillen auf seiner Brust trug, die Gesellschaft im Schiffe herumzuführen.

Obwohl die große Anzahl der Truppen, die in den Batterien, im Deck und in den untern Räumen eng zusammengedrängt war, und die weite Reise in schlechtem Wetter einige Entschuldigungsgründe sind, so hätten die Fahrzeuge, besonders in den untern vollkommen dunklen Räumen etwas reiner, jedenfalls aber ordentlicher sein können. Aber da war Alles schmutzig und unordentlich, nirgends ein rechtes Zusammengreifen, wie es besonders auf einem Kriegsschiffe sein soll; und wie das Schiff, so die Matrosen. – Freilich war es der Tag nach der Landung und unmittelbar vor der Abreise. Man putzte, fegte und malte zwar überall herum, doch sah es noch schmierig genug aus. Ein Fahrzeug in allen seinen Theilen rein und ordentlich zu halten, ist eben keine leichte Sache, und die Türken werden wohl noch einige Zeit brauchen, bevor sie die ihrigen mit denen fremder Nationen vergleichen können.

Nachdem man sich das Schiff zur Befriedigung der neugierigen Mädchen genugsam angesehen, und Treppen auf. Treppen ab gestiegen war, ließ der freundliche Commandant in seiner geräumigen Cajüte den bei einem Besuche bei einem Türken unausbleiblichen schwarzen Kaffee serviren, und Tschibuks, mit gutem Tabak gestopft und mit kostbaren Ambraspitzen, wurden herumgereicht. Die Cajüte war reinlicher als das Schiff, aber mit keiner besondern Eleganz und ohne Geschmack eingerichtet. An den Wänden bunt gemalte Verse aus dem Koran in goldenen Rahmen, ringsum Divans und echte Smyrnateppiche auf dem Boden.

Nachdem der Kaffee getrunken, die Tschibuks geschmaucht und Jedem zum Abschiede die Hand gereicht worden war, verließ man das Schiff. Am Morgen des 26. mit Tagesanbruch lichteten beide Fahrzeuge die Anker und steuerten mit der Lucia aus der Bucht. Und der Achilles? Blieb da und begab sich wieder an seinen gewöhnlichen Ankerplatz im obern Theile der Bucht!

Ruhig, still und öde wurde es wieder hier, wo noch wenige Stunden vorher so reges Leben geherrscht hatte. Die Officiere des Achilles langweilten sich wieder, wie schon viele Monate vorher. Nichts zeigte mehr von den geschilderten Vorfällen, als ein Theil des türkischen Lagers am südlichen Ende der Bucht, wo einige wenige Kranke zurückgeblieben waren. Die Truppen hatten sich bereits in der Richtung gegen Gradacz und Trebigne in Marsch gesetzt.

Es kehrte die vorige Ruhe und der vorige Friede, höchstens durch das Geschrei der Seemöven unterbrochen, wieder über die Gewässer der Bucht, bis neuerdings in den ersten Tagen des April die Fregatte Feizi Bahri mit dem Gouverneur von Bosnien, Kiani Pascha und mit dem türkischen Commissair für diese Provinz, Kemal Effendi, am Bord, und dann später am 9. Mai wieder das Linienschiff Peïki Zaffer und der Seetransportdampfer Silistria, abermals mit 3500 Mann Landungstruppen unter Hassan Pascha, hier anlangten. Seit dieser letzten Ausschiffung aber scheint die Bucht an Wichtigkeit nicht mehr verlieren zu wollen, und von Tag zu Tag hört man neue, aber doch verschiedene Gerüchte von ernsten, blutigen Vorgängen an den türkischen Grenzen von Montenegro, und wieder spricht man von neuen bedeutenden Truppenmassen, die hier ausgeschifft werden sollen. Hoffentlich kann ich Ihnen in den nächsten Tagen Interessantes mittheilen.





Blätter und Blüthen.



Aus meiner Pilgertasche. Von Freiherrn v. Biedenfeld. Nr. 2. Herr von Senkenberg, der von seinem kleinen Gute bei Pforzheim oft in mein väterliches“ Haus kam und durch seine Frau mit uns in ferner Verwandtschaft stand, hatte mich für einige Tage nach Baden-Baden mitgenommen, wo damals zu dem jetzigen Glanz und Rumor noch gar viel fehlte. Ich war regierender Tertianer und wurde von drei Leidenschaften beherrscht: Vögel schießen und Schmetterlinge schonend fangen, daß mein Vater solche ganz naturgetreu malen konnte; Flöte spielen auf dem schönen Instrumente, welches Kammermusikus Ehrhardt in Karlsruhe für meine einzige linke Hand erfunden und gemacht hatte, und in irgend einem einsamen Winkel Schiller’s, Hölty’s, Salis’, Matthison’s Gedichte mit wahrer Andacht lesen. Ich liebte das einsame Herumstreichen, gewöhnlich ausgerüstet mit Allem zu abwechselnder Pflege dieser drei Passionen. Der alte Waidmann hatte meiner Schießlust ein würdiges Ziel angewiesen: ein dichtes anmuthiges Hölzchen am Abhange des Schloßberges, worin eine ganze Familie von Dorndrehern (Lanius minor) hauste und mit Vertilgung aller kleinen Sänger des Waldes drohte. Die Jagdlust gegen diese Wütheriche spiegelte sich in lebendigen und bilderreichen Träumen, erweckte mich vor Tagesanbruch, trieb mich unwiderstehlich hinaus. Die Jagd fiel äußerst glänzend aus: nach einigen Stunden des Rennens, Schießens, Laufens hatte ich drei der Mörder in der Tasche und fühlte mich unendlich glücklich in allerlei wachenden Träumen, Ich lehnte die Flinte an eine Eiche, ließ mich daneben auf einer Rasenbank nieder, blies „Freut euch des Lebens“ und „Guter Mond, du gehst so stille“ auf meiner Flöte, vertiefte mich alsdann in Schiller’s Gedichte und schlummerte am Ende der Götter Griechenlands selig ein.

Plötzlich weckte mich eine rauhe Stimme aus den süßesten Träumen, erschrocken fuhr ich empor, verstand noch halb im Dusel die Worte: „Aha, Herr Wilddieb, haben wir Dich!“ und vor mir stand in grauer Pikesche und mit grauer Mütze ein wohlbeleibter, stattlicher Mann von Mittelgröße, dessen Auge aus dem runden Gesicht auf mich herab wetterleuchtete, während seine Rechte mein Gewehr erfaßt hatte. Unwillkürlich fuhr ich danach, es ihm zu entreißen, aber er zog es rasch zurück und grollte:

„Damit ist’s nichts, junger Herr, Wilddieben nimmt man ihre Gewehre.“

„Ich bin kein Wilddieb, ich habe nur ein paar Dorndreher geschossen.“

„Dorndreher? Was ist denn das für ein Wild?“

„Da liegen sie ja, sehen Sie selbst,“

Beim Anblick der kleinen Vögel schnurrte er mich noch zorniger an:

„Wie, Bösewicht! Wir danken dem lieben Gott, daß er uns den Busch mit Singvögeln bevölkert hat, und Du läufst herum, die lieben Thierchen zu morden.“

„Die Dorndreher sind ja keine Singvögel –“

„Was sind sie denn anders?“

„Raubvögel, welche unsere kleinen Singvögel fressen, wenn man nicht sie selbst vertilgt. Da sagte mir nun der alte Förster, ich sollte früh Morgens hierher gehen und die Dorndreherbrut wegschießen, also darf man mir meine Flinte nicht nehmen.“

„Da hast Du sie wieder, ich wollte Dich nur erschrecken. Der alte Förster ist ein kluger Mann und Du scheinst ein braver Junge zu sein Aber wem gehörst Du?“

Ich nannte ihm meinen Namen.

„Dein Vater ist also der Major und Kammerherr in Karlsruhe?“

„Ja!“

„Das ist mir lieb, wir sind recht gute Freunde. Aber sage mir, wo steckt denn der Bursche, der Dir die Flinte ladet?“

„Ich lade sie selbst.“

„Du ladest sie selbst, armer Junge? Mit einem Arme?[5] Nun, das laß mich einmal sehen.“

Nicht auszudrücken vermag ich, wie wunderbar sich indessen seine Blicke, seine Züge, seine Stimme verändert hatten. Unaussprechlich rührend klang das „armer Junge!“ zwischen den Worten des heitern Wohlwollens hervor, sein Auge ruhte so wehmüthig und liebevoll aus mir, sogar die flachen silbernen Ohrringe, welche mir anfangs so seltsam vorgekommen, erhöhten nun den eigenthümlichen Eindruck dieser herzgewinnenden Erscheinung, – Mechanisch lud ich das Gewehr, wie gewöhnlich, sehr schnell. Er sah mir eifrig zu.

„Sehr gut! Und wie machst Du es mit dem Schießen?“

Ich zeigte ihm auch diese einfache Manipulation.

„Wer hat Dir das Alles gelehrt?“

„Niemand, ich habe es von selbst so gelernt.“

„Merkwürdig! Und dabei wollen die gelehrten Herren dem Menschen den Instinct absprechen. Hast Du, außer Deinen Dorndrehern, auch schon anderes Wild geschossen?“

„Ja, Hasen und Hühner und Wachteln.“

„Du bist ein ganzer Kerl! Aber,“ fuhr er lachend fort, „was thust Du denn mit der Flöte hier? Wartest Du auf einen Cameraden, der Dir was vorblasen soll, wenn Du da in dem Buche studirst?“

„Ich blase mir selbst etwas vor, es klingt so hübsch in den Büschen und Bäumen.“

„Du selbst, mit einer Hand?“

Er wendete und betrachtete die Flöte nach allen Seiten mit tiefem Sinnen, schüttelte zweifelnd mit dem Kopfe und reichte mir die Flöte mit den Worten:

„Seltsam! So etwas muß man selbst sehen, wenn man es glauben soll. Thu’ mir den Gefallen und blase mir eins, was Dir gerade einfällt.“

Mir fiel das „Blühe, liebes Veilchen“ ein und ich blies es mit der vollsten mir angeborenen Wärme. Er schien ebenfalls von dieser einfachen Melodie tief ergriffen zu sein, nahm mich am Kopfe, küßte mich auf die Stirn und sagte herzlichst:

„Nun, ein Veilchen bist Du eben nicht, aber blühe so fort, Du glücklicher Junge!“ Von der Rührung sich aufraffend, fuhr er hastig fort:

„Du Tausendkünstler, wie geht es denn mit dem Schreiben?“

[436] „Es geht sehr leicht; aber das kann ich Ihnen hier nicht zeigen, ich habe nichts zum Schreiben bei mir.“

„Mir geht’s auch so; nun, kommt Zeit, kommt Rath. Ich muß jetzt ohnehin wieder nach Hause, sonst glauben am Ende meine Leute, ich sei verloren gegangen. Wie lange bleibst Du noch hier?“

„Bis heute Nachmittag, da nimmt mich Herr von Senkenberg wieder mit nach Karlsruhe.“

„Heute schon? Hm, da sehen wir uns ein anderes Mal wieder. Apropos, bringst Du denn Deinen Schwestern von hier etwas mit?“

„Dazu hat mir der Vater kein Geld gegeben.“

„Alle Hagel, das ist garstig von dem Vater So nimm Geld von mir und kaufe Deinen Schwestern etwas recht Hübsches.“

Dabei hatte er aus der Westentasche eine Portion Geld geholt und reichte mir es freundlich hin Verlegen schob ich die Hand auf den Rücken, erröthete über und über, es verdroß mich, daß der fremde Mann mir Geld anbot. Lachend holte er meine Hand vom Rücken hervor, drückte mir das Geld hinein und sprach:

„Brauchst nicht krebsroth zu werden, von mir kannst Du das Geld schon annehmen; sage Deinem Vater nur, der König Max von Baiern habe Dir’s gegeben und lasse ihn schön grüßen. Glückliche Reise!“

Ich stand eine gute Weile ganz verblüfft und regungslos in dem ehrfurchtsvollen Schrecken, diesem munteren, liebevollen König Max, von dem mein Vater mir so viel erzählt hatte, so ungenirt gegenüber gewesen zu sein. Endlich packte ich meine sieben Sachen zusammen, ging verdutzt nach Hause und erzählte dem guten Herrn von Senkenberg, was mir im Wäldchen widerfahren. Er tröstete mich mit den Worten:

„Dem König Max gegenüber braucht’s kein Katzenbuckeln, er gibt sich natürlich, wie er ist, und liebt auch Offenheit und Natürlichkeit im Umgange mit Anderen. Der König hat in ihm den Menschen nicht verdrängt, sondern veredelt, und Anderen Freude machen ist seine größte Freude.“

König Max vergaß mich nicht. Als er wieder in unser Land kam, ließ er mich rufen: ich mußte bei ihm schreiben, Federn schneiden, Bleistifte spitzen, besonders aber belustigte er sich daran, wie ich mit Hülfe der fünf Finger und der Zähne mir die Halsbinde umlegte, wollte es nachmachen und brachte es nicht zu Stande und schilderte bei der Tafel sehr jovial seine königliche Unbehülflichkeit gegenüber dem Raffinement meines Instinctes, der mir alle Dinge leicht machte.

Lebhaftest ergötzte er sich über die Schilderungen einiger Carricaturen von Lehrergestalten am Lyceum und über die lustigen, freilich eigentlich betrübenden, Vorfälle zwischen ihnen und den ausgelassenen Schülern, deren manche heutzutage, dem Himmel sei Dank, für durchaus unmöglich gelten würden.

Später sah ich den freundlichsten aller Könige niemals wieder; aber trennen kann ich mich von ihm nicht ohne die Erzählung eines Zuges seines königlichen Hanges, in heiterer Weise Freude zu machen, zu überraschen.

Mein Vater war für ernstere und tiefere Studien geboren, jedoch in der Pagerie zum Officier damaligen Zuschnittes und zum Hofcavalier erzogen, auch bald Officier, aber dabei nicht reicher, geworden. Dieser oft so verhängnißreiche Widerspruch zwischen Natur und Erziehung brachte bei ihm keine unglücklichen Folgen, Den Müßiggang als einen der ärgsten Menschenfeinde fassend und stets vom Bedürfniß irgend einer geistigen Anregung gedrängt, beschäftigte er sich in allen dienstfreien Stunden mit Zeichnen und Malen nach der Natur, mit Vogel- und Blumenzucht, mit dem Studium von Werken über Physik und Chemie, was ihn oft trostlos stimmte, weil er Manches darin nicht verstand. Im Dämmerstündchen erfrischte er sich mit seiner Violine und später las er der arbeitenden Frau und Schwiegermutter irgend einen Roman vor, häufig erst, wenn er uns Kinder beseitigt hatte, weil er uns kein Romanzeug in den Kopf setzen wollte. Auswärts bestand sein einziges Vergnügen in der kleinen Jagd mit dem Hühnerhunde. Bei dem Allen kamen denn mitunter harmlose Schrollen und Seltsamkeiten zum Vorscheine.

So hatte er sich einmal in den Kopf gesetzt, durch Erziehung und Macht der Gewohnheit die Natur der Insectenfresser überwältigen und sie mit pur vegetabilischer Nahrung fortbringen zu können, worüber seine schönen Grasmücken, Nachtigallen u. s. w. eingingen. Ein anderes Mal verfiel er auf den Gedanken, die heterogensten Vögelgattungen zur Vermischung zu bringen, woraus ihm nur Aergerniß erwuchs. Das Abstehen des Ultramarins an seiner vortrefflich gemalten Schmetterlingssammlung brachte ihn auf den lustigen Gedanken, sich selbst echten Ultramarin zu bereiten, und zwar aus Silber. Er studirte hiernach eifrigst einige Schriften über Ultramarinbereitung, versah sich mit den nöthigen Utensilien und Ingredienzien und verwendete dabei eine Portion der alten silbernen Löffel, welche gelegentlich durch neue ersetzt werden sollten.

Meine vortreffliche Mutter, welcher das männliche Rumoren in der Küche, der Geruch von Scheide- und Königswasser schon ein Gräuel gewesen, hatte sich völlig entsetzt über eine so abenteuerliche Anwendung der Silberlöffel, und darüber bei ihren vertrautesten Freundinnen sich ausgelassen. Diese hatten es wieder bei Hofe erzählt, und König Max hatte sich die lustige Geschichte auf seine Weise ad notam genommen. Am andern Tage sendete er meinem Vater ohne alle weitere Bemerkung als „zum Ultramarinmachen!“ ein Dutzend silberner Löffel in schönem Etui und 12 Flaschen Champagner, statt der gewöhnlichen Etikette mit der Aufschrift „echtes Königswasser“ versehen; zugleich aber meiner Mutter eine mächtige Portion des kleinen Zuckerbackwerks, welches in Karlsruhe „Geduldstäfelchen“ genannt wird.




Vor sechsunddreißig Jahren. An einem heitern Sommertage des Jahres 1822 ritt ein junger Mann im blauen, weiten, blousenartigen Rock, eine rothe Mütze auf dem langen dunklen Haar, ein hellfarbiges Tuch schärpenartig umgegürtet, so daß der ganze Anzug ein etwas phantastisches Ansehen gewann, durch das Städtchen Neustadt an der Orla, den Weg nach Jena entlang.

Der sehr dunkle Teint des Jünglings zu dem Blau und Roth seiner Kleidung erhöhte das Fremdartige der Erscheinung. Nachlässig, mit etwas vorgebeugter kosakischer Haltung, saß er auf dem Jenaischen Klepper. So trabte er dahin, dem schönen Saalthale zu.

Seht dem Jünglinge nur einmal näher in das Auge, das dunkle, mit wie reinem, tiefem Glanze es um sich und vor sich hinschweift! Welche Bilder und Träume mögen das schwärmerische Gemüth bewegen, das aus diesem Auge, aus dieser ganzen Erscheinung spricht!

So viel ist gewiß, an Kirchen- oder Rechtsgeschichte so wenig, als an trockene Philosopheme denkt der blaue Reitersmann. Anderes bewegt seine Seele, was kein Katheder lehrt, was aus unbekannten Himmelsräumen sich herabsenkt in die warme, junge, offene Menschenbrust.

Zu Michaelis 1822 bezog auch ich die Universität Jena.

Kaum hatten die Vorlesungen seit einigen Wochen begonnen, und Professor Konopak mochte am ersten Viertelhundert Paragraphen seiner Institutionen dociren, da ward durch Verbot des Singens auf Markt und Straßen Jena’s jene Erregung veranlaßt, welche den hoffnungsvollen Auszug nach Kahla unter Sang und Klang zur Folge hatte, und mit dem trostlosen Wiedereinzug in Jena ohne Sang und Klang endete. Aber es waren immerhin prächtige, zügel- und fessellose, echt burschikose Tage, die zwischen dem fröhlichen Anfange und tristen Ende inne lagen.

Die Hauptepisode bildete der am 24. oder 25. October 1822 erfolgte Auszug der sämmtlichen Studenten nach dem drei Stunden entfernten altenburgischen Städtchen Kahla, dieser Auszug mit seinen Berathungen, Deputationen, seinem Singen, seinem Trinken und Lieben. Die Studentenallmacht träumte von Bedingungen, unter denen die Rückkehr nach Jena erfolgen solle. An der Spitze dieser Bedingungen stand die Aufhebung des Singverbotes. Daß diese Bedingung nicht in Erfüllung ging, das ganze Stück Revolutionsgeschichte vielmehr mit einem Nachspiel akademischer Strafen schloß, versteht sich gleichsam von selbst.

Das freiwillige Exilleben in Kahla war aber, namentlich in den ersten Tagen, ein höchst ergötzliches, und wird Allen unvergessen sein, die daran Theil hatten.

Auf der Saalbrücke bei Kahla, wo von der Stadt aus links die Leuchtenburg mit ihrer herrlichen Aussicht auf und ihrem Jammer und Verbrechen in ihren Mauern sich erhebt, traf ich mit demselben jungen Manne zusammen, den ich im Sommer vorher durch Neustadt hatte reiten sehen auf dem Jenaischen Klepper. Er war kaum mittelgroß, trug noch immer den weiten blauen Rock, die rothe Mütze, und aus dem dunkeln Antlitz leuchtete das Auge so innig, so freundlich und gutmüthig.

Wir kamen in’s Gespräch mit einander. Wir sprachen, was man als Jenaischer Student bei solchen ersten Bekanntschaften zu sprechen pflegte: „Woher? Wie der Name? Was studiren? Wie lange in Jena?“ u. s. w.

Der Blaue war schon Brandfuchs oder gar junger Bursch, ich noch grasser Fuchs, er achtzehn, ich siebenzehn Jahre alt. Nach ungefähr einer Viertelstunde schieden wir mit derbem Händedruck, wie das damals Sitte war.

Die Strömungen des Studentenlebens rissen uns auseinander, so daß ich mich nicht entsinne, mit dem jungen Manne, der einen eigenthümlich wohlthuenden Eindruck auf mich gemacht hatte, wieder in Berührung gekommen zu sein.

Jahre vergingen, da fand ich den Namen, den mir damals das herzige Menschenkind auf der Kahlaischen Saalbrücke genannt hatte, in der Dichterwelt genannt und gefeiert. Er hatte den Lebenslauf des Studenten Anselmus in Hoffmann’s Mährchen vom goldenen Topf richtig durchgemacht, war auf der glückseligen Insel Atlantis angelangt, und lebte dort das göttliche Leben über der Welt Alltäglichkeit, wie man es eben nur auf besagter Insel Atlantis leben kann.

Wieder sind Jahre auf Jahre vergangen, und auf dem Schmerzenslager ruht der Körper, der die reine, schöne Dichterseele umfesselt hält. Noch brechen ihre Strahlen durch die Schmerzensnacht, die sich um das edle Leben gelagert bat, noch schweift die Erinnerung aus der traurigen Gegenwart zurück in die glückliche Vergangenheit.

Wird bei der Kunde von dem Jenaischen Jubelfest, das aus weiten Kreisen die einstigen Musensöhne von Jena wieder dort versammelt, auch Deine Erinnerung wieder zurückschweifen in die versunkene Jugendwelt? Wirst Du der Zeit gedenken, wo Dir noch glücklich und sorglos das freie, frische Dichterherz unter dem schlichten blauen Rocke schlug, und die rothe Mütze noch statt des Lorbeerzweiges das Haupt Dir schmückte? Wirst Du der Zeit gedenken, Du edler, unglücklicher und doch glücklicher Julius Mosen? am Ende.


Bei Ernst Keil in Leipzig erschien und ist durch alle Buchhandlungen zu beziehen:

Ludwig Heros,
Die deutschen Giftpflanzen.
Mit 36 Abbildungen. – Preis 12 Sgr.

Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Das schmucke, frische Aussehen rührt namentlich auch von dem rothen Oelanstrich des ganzen Gitterwerks her, durch welchen das Eisen zugleich vor dem Rosten geschützt wird, während wieder das sämmtliche Holzwerk der Brücke zur besseren Conservirung mit Kupfervitriol getränkt ist und die Eisenbahngestänge mit Eisenblech beschlagen sind, um einen Brand zu verhüten, der etwa durch das Herausfallen von Cokes aus den über die Brücke sausenden Locomotiven entstehen könnte.
  2. Zum Schluß dieses Artikels sei noch angeführt, daß, so neu auch die Erfindung und Anwendung der Gitterbrücken ist – die beiden auf der Ostbahn (die Dirschauer und die kleinere bei Marienburg) angelegten sind bis jetzt noch die einzigen im preußischen Staate, und dürften auch im übrigen Deutschland nur wenig Colleginnen haben – man doch bereits die Erfahrung gemacht hat, daß sie sich durch Sicherheit beim Gebrauche und verhältnißmäßige Billigkeit der Herstellung vor den gewöhnlichen Brücken vortheilhaft auszeichnen. Aus diesem Grunde hat das königlich preußische Ministerium des Handels und der öffentlichen Arbeiten – in dessen Hand die Leitung der Staatseisenbahnen und die Oberaufsicht über die Privatbahnen dieses Landes liegt – denn auch kürzlich sich dahin entschieden, in der Regel für diejenigen Fälle, wo bei Anlage gewöhnlicher Brücken die Errichtung eines oder mehrerer Strompfeiler erforderlich wäre, Gitterbrücken, sowohl bei dem Neubau von Eisenbahnen als auch bei dem Umbau von Brücken auf schon bestehenden Bahnen, anzuwenden. Dieser Vorgang des das größte Eisenbahnnetz habenden deutschen Staates dürfte auch anderwärts in Deutschland baldige Nachahmung finden.      D. Verf.
  3. Vielen Gerüchten zufolge soll dieser General in dem jüngst bei Grabows zwischen den Türken und Montenegrinern abgehaltenen mörderischen Treffen den Heldentod gestorben sein, nachdem er gesehen, daß für seine Truppen keine Rettung mehr möglich sei.
  4. Erst drei Wochen nach diesem Unfalle fischte man einige Leichen auf.
  5. Herr v. Biedenfeld hat nur einen Arm. D. Redact.