Die Gartenlaube (1859)/Heft 17
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No. 17. | 1859. |
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Ich setzte mich wieder auf den Stuhl ihm gegenüber, unbefangen, als wenn nichts vorgefallen sei.
„Ich bedaure,“ sagte ich, „daß ich nicht sofort mit der Aufnahme des Testaments fortfahren kann. Wir müssen eine Pause machen.“
„Warum das?“ fragte er.
„Sie wissen selbst, es muß die Feststellung Ihrer Identität vorhergehen.“
„Freilich.“
„Indeß wird hoffentlich der Pater Theodorus bald eintreffen.“
„Der Pater Theodorus?“ fragte er, wie sich verwundernd.
Verstellte er sich oder hatte er vergessen, daß wir vorher über den Pater gesprochen hatten?
„Er soll Sie recognosciren,“ sagte ich.
„Ah so!“
Er besann sich; er hatte sich also nicht verstellt; aber er wurde wieder unruhig. Warum schon zum zweiten Male bei dem Namen? Ein sonderbarer Gedanke schoß mir auf einmal in die Seele.
„Sie sind mit dem Pater bekannt?“ fragte ich den Kranken.
„Er ist seit meinem Hiersein Pfarrer des Dorfes.“
„Sehen Sie ihn oft?“
„Es ist lange her, daß ich ihn nicht sah.“
„Er scheint ein sehr würdiger Mann zu sein?“
Der Kranke wurde unruhiger. – „Sie kennen ihn?“ fragte er mich.
„Ich bin mit ihm hierher gereist.“
In seinem hageren Gesichte zuckte es, in seinen Augen flackerte es plötzlich wieder; der Irrsinn schien in ihm zurückzukehren. War ich mit meinem Gedanken auf dem richtigen Wege?
„Ich war,“ fuhr ich fort, „mit dem Pater in jener Gegend, in welcher im Jahre 1813 die Franzosen von den Kosaken überfallen wurden.“ Er starrte mich mit den unruhig brennenden Augen an, ohne zu antworten. „Der Pater erzählte von dem Gefechte.“
„Er erzählte?“
„Auch, daß die meisten Franzosen hier niedergemacht worden seien.“’
„Ja, ja.“
„Aber nicht Alle.“
„Nein, nicht Alle.“
Seine Augen brannten unruhiger; auch die helle Röthe flog wieder durch sein Gesicht. Er war wieder in dem Zustande jenes Augenblickes, da die Frau Langlet durch ihr plötzliches Vorspringen meine Unterredung mit ihm unterbrochen hatte. Ich knüpfte unmittelbar und wörtlich an ihn an.
„Die den Kosaken entgingen,“ sprach ich weiter, „fanden nachher wohl ein noch traurigeres Loos?“
„So?“ rief er, lauter und mit einem Blicke, als wenn er mich durchbohren wolle.
„Man spricht davon.“
„Wer spricht davon?“
„Sie sind katholisch?“ fragte ich plötzlich.
„Ja,“ antwortete er rasch.
„Und der Pater Theodorus ist Ihr Beichtvater?“
„Was wollen Sie von mir?“ rief er mit einer furchtbaren Anstrengung seiner Brust.
Meine Gedanken waren auf dem richtigen Wege.
„Nichts,“ erwiderte ich ruhig. „Beantworten Sie mir meine Fragen. Namentlich soll es einem jungen Menschen schlecht ergangen sein.“
„Nein, nein, das ist nicht wahr.“
„Wäre es ein Frauenzimmer gewesen?“’
Mir war plötzlich jene Frage des Secretairs an den Pater eingefallen. Der Kranke flog bei dieser Frage auf dem Sopha in die Höhe und wollte ganz von seinem Lager aufspringen, fiel aber kraftlos zurück. Ein paar Augenblicke lag er wie leblos da; das Gesicht bedeckte Todesblässe, die Augen waren geschlossen. Dann durchfuhr seinen Körper auf einmal eine heftige Zuckung; das Sopha, auf dem er lag, bebte. In sein Gesicht trat die fliegende Röthe zurück. Seine Augäpfel rollten unter den geschlossenen Lidern. Er öffnete sie noch nicht wieder. Der Secretair Hommel war so bleich geworden, wie der Kranke. Neugierig war er in diesem Augenblicke nicht, aber entsetzt.
„Herr Assessor, er stirbt,“ flüsterte er mir zu.
„Noch nicht.“
„Aber ein Testament können wir hier nicht mehr machen.“
„Wer weiß?“
Der Kranke schlug die Augen wieder auf; sie waren stier. Er richtete sie auf mich und auf den Secretair, erkannte uns aber nicht.
„Das ist völlige Verrücktheit,“ flüsterte der Secretair wieder. „Ich sagte es ja, hier machen wir kein Testament mehr.“
„Dann haben wir eine andere Aufgabe.“
„Wie?“
„Zu inquiriren.“
[238] „Gegen den Sterbenden?“
Der brave Mann fragte es mit Entsetzen, aber auch mit Mitleiden.
„Es erscheint hart gegenüber dem Sterbenden,“ erwiderte ich ihm; „aber die Gerechtigkeit fordert es für die Lebenden.“
Ich dachte an die alte Frau, an andere Personen. Das Auge des Kranken hatte unterdeß fast alle Gegenstände in dem Zimmer angestiert, die es, ohne daß er seine Lage veränderte, erreichen konnte. Aber der Blick war nicht mehr wild. Der Kranke lag in einem stillen Irrsinne da. Es war hart, was ich jetzt that, aber die Gerechtigkeit forderte es von mir.
„Auch ein Frauenzimmer war in jenem Gefechte gewesen?“ fragte ich den Kranken.
Er horchte auf bei der Frage. Er dachte nach; es war das Nachdenken des Irrsinnes. „In welchem Gefechte?“ fragte er.
„Das im Jahre 1813 in der Nähe des Dorfes stattfand.“
„Ah, ja.“
„Zwischen den Franzosen und Kosaken.“
„Ah ja. Es war eine Französin.“
„Erzählen Sie mir doch von ihr.“
Er lächelte eine Weile mit den irren Augen vor sich hin; dann sagte er: „Es war ein hübsches Ding und noch so jung; es war Schade um sie.“ Er schwieg, still weiter lächelnd.
„Was war Schade?“ fragte ich.
„Ah bah!“
„Sie antworten mir nicht.“
„Fragten Sie mich etwas?“
„Nach der jungen Französin.“
„Ah so!“
„Sie sagten, es sei Schade um sie gewesen?“
„Gewiß, das war es.“
„Was war Schade?“
„Sprach ich davon?“
„Freilich.“
„Ja, ja, dann muß es wohl so sein.“
„Aber was muß so sein?“
„Nun, was ich gesagt habe.“
„Was haben Sie denn gesagt?“
„Nun, Sie wissen es ja.“
Auf diesem Wege war er zu dem, was er hatte sagen wollen, nicht zurückzubringen; ich mußte anders fragen.
„Die junge Französin war dem Kampfplätze entronnen?“
„Das war sie.“
„Ein Frauenzimmer?“
„Eine Dame!“
„Eine Dame?“
„Eine feine Dame!“
„Wie war sie in den Kampf gerathen?“
„Ei, sie hatte ja nicht von seiner Seite weichen wollen.“
„Von wessen Seite?“
„Nun, von der des französischen Commandanten, der in dem Gefechte blieb. Sie war ja seine Geliebte.“
„Wie?“
„Ja, ja, seine Geliebte, nicht seine Frau; die Leute lügen, wenn sie das sagen. Warum hätte sie dann Knabenkleidung getragen?“ Er gerieth beinahe in Eifer, während er dies sprach.
„Sie trug Knabenkleidung?“ fuhr ich mit meinen Fragen fort.
„Gewiß, und sie ließen ihr recht hübsch. Aber –“ Er schwieg wieder, vor sich hin lächelnd.
„Aber?“ fragte ich.
„Aber ich sah gleich, daß sie kein Knabe war.“
„Sie sahen sie also?“
„Gewiß. Sie kam ja zu mir in mein Haus.“
„Sie kam zu Ihnen?“
„Wie ich Ihnen sage.“
„Und was führte sie zu Ihnen?“
„Was sie zu mir führte? Sie genas in meinem Hause von einem Töchterchen.“
„Marianne?“ mußte ich unwillkürlich rufen.
„Ah, Sie kennen sie?“
„Marianne ist die Tochter jener Dame?“
„Wir ließen sie Marianne taufen.“
„Wer ließ sie so taufen?“
„Ich selbst.“
Eine fürchterliche Ahnung ergriff mich. „Und was wurde aus jener Unglücklichen?“
„Aus welcher Unglücklichen?“
„Der Französin, der Mutter Mariannens?“
„Ich sagte es Ihnen ja.“
„Sie haben mir nichts gesagt.“
„Sie haben mir ja vorhin selbst gesagt, es sei Schade um sie gewesen.“
„Ich Ihnen?“
„Besinnen Sie sich nur.“
„Was war denn eigentlich Schade um sie?“
„Nun, daß sie sterben mußte.“
„Sie mußte sterben?“
„Nun ja.“
Es überlief mich kalt. Dem Secretair standen dicke Schweißtropfen auf der Stirn. Der Irre lächelte vergnügt vor sich hin.
Die junge Dame, eine verlassene, unglückliche Fremde, die in der schwersten Stunde ihres Lebens Schutz und Hülfe gesucht hatte, die Mutter jener Marianne, hatte in dem Hause, in dem sie Schutz und Hülfe suchte, sterben müssen! Und der Mann, bei dem sie gestorben war, war seitdem aus einem armen Manne ein reicher Mann geworden! Und er war seit jener Zeit dem Wahnsinne verfallen! Und jenes böse Weib, das seitdem den Wahnsinnigen von aller Welt fern hielt, das auch mich nicht mit ihm hatte allein lassen wollen, war schon damals bei ihm gewesen, allein bei ihm mit der Unglücklichen! Sie hatte mich zu ihm lassen müssen, weil sie ohne sein Testament einen neuen verbrecherischen Zweck nicht erreichen konnte, vielleicht denselben Zweck, der sie schon zu jener Zeit zum Verbrechen geleitet hatte! Ja, mußte ich nicht in einen Abgrund blicken, in dem ein schweres, entsetzliches Verbrechen lag? Und der Irre lag so freundlich lächelnd vor mir. Ich mußte weiter gehen.
„Die fremde Dame war in Ihr Haus gekommen?“ fragte ich.
„Gewiß, in mein Haus.“
„Wer hatte sie zu Ihnen gebracht?“
„Ein Bursche aus dem Dorfe.“
„Sprach sie deutsch?“
„Etwas.“
„Was wollte sie bei Ihnen?“
„Ich sagte es Ihnen ja schon.“
„Was hatte sie dem Burschen gesagt?“
„Sie hatte ihn nach dem Friedensrichter des Ortes gefragt.“
„Und was sagte sie zu Ihnen?“
Er lachte laut auf, als wenn er sich an etwas recht Lustiges erinnere. „Was sagte sie zu Ihnen?“ wiederholte ich.
„Sie wollte auch ihr Testament machen.“
„Ihr Testament?“
„Ich war ja Friedensrichter, und ein Notar war nicht im Dorfe.“
„Machte sie ihr Testament?“
„Ah bah!“
„Sie machte es nicht?“
„Sie hatte keine Zeit dazu.“
„Warum nicht?“
„Nun, sie starb vorher,“ lächelte er zufrieden.
„Wie starb die Arme?“ fragte ich entsetzt.
„Sehr gefaßt,“ antwortete er mit seinem vergnügten Lächeln.
Ein neuer Schauder überlief mich.
„Sie erkannte ihren Tod?“
„Und ergab sich mit wahrhaft christlicher Gesinnung in ihr hartes Schicksal.“
„Sie selbst nennen es ein hartes?“
„Ja, sie war doch noch so jung.“
„Aber warum mußte sie sterben?“
„Warum stirbt der Mensch? Ich muß ja auch sterben. Sterben müssen wir Alle.“
„Ich meine, was die Ursache ihres Todes war?“
„Ich sage Ihnen ja, sie mußte, sterben.“
„Starb sie eines natürlichen Todes?“
„Ah, der Tod ist immer natürlich. Er ist ein Gesetz der Natur.“
„Aber er hat natürliche oder widernatürliche, gewaltsame Ursachen.“
„Auch das ist nicht richtig. Es ist freilich ein sehr gewöhnlicher Irrthum.“ Er lächelte nicht mehr; aber er sah mich mit einem wichtigen Ernste an.
[239] Waren das Phrasen, die er vor seinem Irrsinn sich gebildet und eingeredet hatte, um sein Gewissen zu betäuben, und die er jetzt mechanisch wiederholte?
Ich bekam keine andere Antwort mehr von ihm. Der Irrsinn war vollständig in ihm ausgebildet oder vielmehr vollständig, alle bewußte geistige Thätigkeit lähmend, aufhebend in ihn zurückgekehrt. Ich mußte darauf verzichten, noch etwas von ihm zu erfahren, gerade in dem Augenblicke, als ich das Rechte von ihm erfahren sollte, unmittelbar an der Schwelle des eigentlichen Geheimnisses selbst. War hier wirklich ein Verbrechen begangen? Und welches? Ein Mord? Welches andere? –
Ein Testament hatten wir nicht mehr aufzunehmen. Der Zustand des völligen Irrsinns des Kranken war nicht zu verkennen. An eine vollständige Rückkehr klaren, geistigen Bewußtseins war nicht zu denken. Ein Irrsinniger konnte kein Testament machen. So dachte ich. Das Nächste, was ich amtlich zu thun hatte, war, die bisherigen Vorgänge kurz dem Secrctair zu Protokoll zu dictiren. Was dann weiter zu veranlassen war, ob namentlich Schritte zur Ermittelung eines stattgehabten Verbrechens, und in welcher Weise und gegen wen sie zu richten waren – ich war noch nicht mit mir darüber einig, es fand sich ja später wohl.
Ich dictirte dem Secretair das Protokoll, wie wir den Kranken zuerst in anscheinend gesundem geistigen Zustande angetroffen; wie und welche Bestimmungen über seinen Nachlaß er in diesem Zustande, freilich auch unter jener Einwirkung seiner angeblichen Verwandten, der Frau Langlet, getroffen; wie er dann aber plötzlich Spuren eines Irreseins gezeigt, welches nach und nach, namentlich seit der Entfernung der Frau Langlet aus dem Krankenzimmer, zu einem Zustande unverkennbaren vollkommenen Irrsinns sich ausgebildet habe, so daß von dem Acte der Aufnahme eines Testamentes unbedingt Abstand genommen werden mußte.
Das Protokoll war fertig. Ich hatte es laut dictirt, absichtlich; der Kranke konnte und sollte jedes Wort hören; ich wollte mich überzeugen, welchen Eindruck es auf ihn machen werde. Er hatte nicht einmal zugehört. Sein Ohr hatte kein einziges Wort zu seinem Geiste hingetragen. Er lag mit seinem ausdruckslosen Gesichte, seinem stieren Blicke unbeweglich da. Zuletzt war er, wie aus Schwäche, eingeschlafen.
Was nun weiter? Sollte ich die Spuren eines Verbrechens ferner verfolgen? Ich beschloß: nein. Mein amtlicher Auftrag ging nicht dahin. Zudem lag bis jetzt die Existenz eines Verbrechens nur in meiner individuellen Meinung, allenfalls auch noch in der des Secretairs Hommel. Tatsächlich lag eigentlich noch nichts dafür vor. Endlich, war wirklich ein Verbrechen verübt, es war nicht anzunehmen, daß Spuren desselben, die man seit achtzehn Jahren noch nicht verwischt hatte, über Nacht plötzlich hätten beseitigt werden sollen, und morgen konnte das Gericht Entscheidung treffen.
Ich hatte nur noch Eins zu thun: den Angehörigen des Kranken davon, daß und warum ich ein Testament nicht aufnehmen könne, Mittheilung zu machen. Nächster Angehöriger war der Sohn des Kranken. Doch konnte ich auch die Frau Langlet nicht übergehen, da sie auf alle Fälle in dem Testamente hatte bedacht werden sollen.
Um den Kranken nicht zu stören, wollte ich das Weitere in einem andern Zimmer verhandeln. Ich begab mich mit dem Secretair in das Zimmer nebenan, in das man uns zuerst eingeführt hatte.
Ich zog dort eine Klingelschnur. Augenblicklich erschien die Frau Langlet. Sie mußte sich in nächster Nähe aufgehalten haben. Gehorcht hatte sie indes nicht. Sie sah mich mit mißtrauischer Neugierde an.
„Ist der junge Herr Lohmann zu Hause?“ fragte ich sie.
„Ja.“
„Haben Sie die Güte, ihn zu mir zu bitten und selbst mit ihm zurückzukehren!“
„Sind Sie mit dem Testamente schon fertig?“
„Sie werden es erfahren.“
Sie ging. Nach wenigen Minuten kehrte sie zurück. Ein junger Mann in der Mitte der zwanziger Jahre folgte. Es war ein hübscher Mann mit einem feinen Gesichte. Aber das Gesicht war sehr blaß, und es lag unverkennbar eine tiefe Trauer darin, und sie mußte schon sehr lange darin gelegen haben, alle Züge hatten sich nach ihr geformt und gebildet.
„Sie sind der Sohn des Herrn Lohmann?“ redete ich ihn an.
„Der Kranke ist mein Vater.“
„Er wollte sein Testament errichten. Sie hatten die Eingabe an das Gericht geschrieben?“
„Im Auftrage meines Vaters.“
„Ihr Vater hatte den vollen Gebrauch seiner Vernunft, als er Ihnen den Auftrag gab?“
„Er war vollkommen vernünftig.“
„Aber er litt früher an Geistesabwesenheit?“
„Leider.“
„Mit lichten Augenblicken?“
„Es trat oft ein Wechsel ein.“
„Er ist gegenwärtig ohne alles Bewußtsein; ich habe daher von der Aufnahme seines letzten Willens Abstand nehmen müssen.“
Die Frau Langtet hatte sich mit Anstrengung ruhig gehalten; sie konnte es nicht mehr.
„Sie haben sein Testament nicht aufgenommen?“ rief sie.
„Nein, Madame.“
„Aber er hat Ihnen seinen letzten Willen erklärt, deutlich, bei vollem Verstände; sie müssen ihn zu Protokoll nehmen.“
„Madame, über meine Pflicht habe ich nicht mit Ihnen zu rechten.“
Sie wandte sich an den jungen Mann. „François, auch Du mußt darauf bestehen. Dich hatte Dein Vater zum Erben eingesetzt, zu seinem Universalerben.“
Der junge Mann stand verlegen, unentschlossen da. Ich erkannte in dem Augenblicke sein Verhältniß zu der Frau, überhaupt seine Stellung in dem Hause. Ich mußte unwillkürlich weiter schließen. Er war bescheiden, zurückhaltend, beinahe schüchtern eingetreten. Auch in seinen Antworten, die er mir geben mußte, war er zurückhaltend. Die Gegenwart der Frau, die auch über seinen Vater jene Gewalt ausübte, schien ihn zurückzuhalten. Seine Verlegenheit und Unentschlossenheit der heftigen Aufforderung der Frau gegenüber bestätigten es mir. Dabei merkte man ihm den Widerwillen an, den das gemeine Weib ihm einflößte, dem jungen Menschen mit dem feinen und wahrlich nicht geistlosen Gesichte einflößen mußte. Er mochte sie kaum ansehen. Dazu seine tiefe Trauer, dazu ferner jenes Verlangen der Frau Langlet, daß er ihre blödsinnige Tochter heirathen solle; dazu endlich meine Vermuthung, daß die hübsche Marianne zu ihm gewollt hatte. Mußte das Alles mich nicht wiederholt auf ein Verbrechen hinführen, das dem Weibe, obwohl sie vielleicht selbst Theil daran hatte, diese Gewalt über das ganze Haus gab, von dem auch der Sohn Kenntniß oder doch Ahnung hatte? Die Frau Langlet war wüthend geworden, als der junge Lohmann ihr nicht sogleich gehorchte.
„Sie müssen noch bleiben!“ rief sie mir zu. Dann stürzte sie in das Krankenzimmer.
Im ersten Moment wollte der junge Mann ihr nacheilen; aber er besann sich, er blieb und trat rasch auf mich zu.
„Mein Herr, mein Vater hat Ihnen in der That seinen letzten Willen erklärt?“
„Ja, mein Herr.“
„Vollständig?“
„Vollständig.“
„Und er war völlig bei Vernunft?“
„Damals noch. Ich hatte wenigstens keine Veranlassung, daran zu zweifeln.“
„Sie hatten auch seine Anordnungen zu Protokoll genommen?“
„Ich mußte es.“
Als die Frau Langlet sich entfernte, hatte er sich sichtlich erleichtert gefühlt. Aber ein neuer Druck lastete auf ihm, der einer peinlichen Ungewißheit. Er mußte Gewißheit haben.
„Mein Herr, dürfen Sie mir die Bestimmungen meines Vaters mittheilen?“
„Ich bedauere.“
„Ah, ich kenne sie. Ich soll die Tochter jener Frau heirathen. Ist es nicht so?“
Ich zuckte die Achseln, zum Zeichen, daß ich ihm nichts sagen dürfe. Aber er war seiner Sache gewiß.
„Ist die Bedingung bindend für mich?“
„Mein Herr, ich darf mich auch darüber nicht gegen Sie aussprechen.“
Er wurde beinahe heftig. „Sie kann nicht bindend für mich sein. Sie ist auch nicht sein wahrer, freier Wille. Ich werde mich ihm nie unterwerfen. Ich habe lange genug hier in Abhängigkeit, als Sclave gelebt. Jetzt nicht mehr.“
[240] Er rief es entschlossen. Aber das langjährige Abhängigkeitsverhältniß hatte doch einen festen Charakter in dem jungen Mann nicht aufkommen lassen. Er sah mich wieder ängstlich an.
„Dürfen Sie mir in der That nichts sagen?“
„Nein, mein Herr.“
„O, wenn Sie es dürfen – Sie haben jene Tochter der Frau gesehen, die ich heirathen soll, Sie haben auch – ja, ich muß es Ihnen sagen – Sie haben auch Mariannen kennen gelernt. Ich hatte ihr geschrieben, zu kommen, sich mit mir dem Vater zu Füßen zu werfen; sie ist mit Ihnen gereist; sie hat es mir erzählt, als ich einen Augenblick mit ihr sprechen konnte. O, mein Herr, haben Sie Mitleid mit mir, mit uns. Bin ich an jenen Willen, an den erzwungenen Willen meines Vaters gebunden? Ich frage nicht um meinetwillen, nicht für den elenden Erbtheil – nein, nein – ich will ihn nicht, ich will nichts davon –“
Er stockte plötzlich, erschrocken, als wenn er zuviel gesagt habe. Aber er sah mich fragend, bittend an. Ich überlegte, ob ich ihm antworten dürfe. Ich war im Begriff, ihm eine, wenn auch nicht bestimmte, doch möglich beruhigende Antwort zu ertheilen, als plötzlich die Thür des Krankenzimmers geöffnet wurde. Die Frau Langlet erschien auf der Schwelle; mit triumphirendem Gesichte kam sie zu mir:
„Sie werden doch das Testament aufnehmen, Herr Assessor? Er ist wieder ganz vernünftig.“
„Es ist nicht möglich,“ wollte ich rufen. Ein so plötzlicher, schneller Wechsel von Vernunft und Unvernunft erschien mir in der That unmöglich. Aber der junge Mann neben mir war erblaßt. Er zweifelte nicht an der Wahrheit der Mittheilung, und er mußte seinen Vater und die Frau kennen.
„Stehen dem Weibe Künste der Hölle zu Gebote?“ fragte ich mich. „Was hat sie gemacht?“
Sie fuhr triumphirend, beinahe höhnend fort: „Darf ich bitten, sich wieder in das Krankenzimmer zu bemühen? Ich werde zurückbleiben, ich werde Sie nicht wieder belästigen.“
Sie mußte ihrer Sache sehr gewiß sein. Ich war in hohem Grade gespannt. Der Secretair Hommel konnte auch jetzt nicht wieder neugierig werden. Die Nachricht der Frau schien ihm ein neues Entsetzen eingejagt zu haben. Ich begab mich zu der Thür des Krankenzimmers. Ich mußte zu dem Testator zurückkehren.
„Darf ich Sie begleiten?“ fragte mich der Sohn des Testators.
Er war beinahe leichenblaß geworden; in seinem Gesichte zeigte sich die höchste Angst. Er fragte, er bat mich dringend. Ich konnte es ihm nicht bewilligen; ich durfte nicht zweierlei Recht haben.
„Aber bleiben Sie hier, Sie Beide,“ sagte ich.
Ich ging mit dem Secretair in die Krankenstube. Der Kranke lag ruhig auf dem Sopha, ganz in der Lage, wie ich ihn bei unserem ersten Eintreffen gefunden hatte. Ungefähr wie damals war auch sein Gesicht, völlig blaß, vollkommen ruhig, das halb geöffnete Auge ohne Glanz, aber still; von Geistesverwirrung, von Irr- oder Wahnsinn keine Spur mehr; er war nur vielleicht noch mehr erschöpft, als vorher. Er winkte dem Secretair und mir zu, unsere Plätze wieder einzunehmen.
„Entschuldigen Sie mich, ich war unwohl geworden,“ sagte er dann.
Seine Sprache war sehr schwach und leise, ich mußte mich fast über ihn beugen, um ihn zu verstehen; aber auch sie zeigte volles Bewußtsein an.
„Sie haben sich wieder erholt?“ fragte ich ihn.
„Es geht besser.“
„Und wir könnten in unserem Geschäft fortfahren?“
„Ich bitte darum“
Jedes seiner Worte zeigte Vernunft, Bewußtsein, Er war wieder vernünftig. Welche ungeheuere Kraft stand diesem Manne, oder welche ungeheuere Gewalt über ihn stand jenem Weibe zu Gebote, daß er so schnell und so völlig wieder genesen war? Welches Wunder hatte die Natur gewirkt oder welche Zauberkunst hatte das Weib angewandt? Es wollte mich beinahe ein Entsetzen ergreifen, wie den Secretair. Ich mußte fortfahren, indem ich freilich immer, mehr zweifelnd, als glaubend, auf meiner Hut blieb.
„Darf ich bitten,“ sagte ich, „mir Ihre Bestimmungen anzugeben?“
„Es bleibt völlig bei dem, was ich Ihnen vorhin schon gesagt hatte.“
„Ich muß um eine freie, selbstständige Wiederholung bitten.“
„Mein Sohn wird mein einziger Erbe.“
„Der Name Ihres Sohnes?“
„Louis François Lohmann.“
„Weiter, wenn ich bitten darf.“
„Aber er wird mein alleiniger Erbe nur unter der Bedingung, daß er die Tochter meiner Anverwandtin, der Frau Langlet, heirathet.“
„Der Name dieser Tochter?“
„Adrienne Langlet.“
„Ich bitte, fortzufahren.“
„Unterwirft mein Sohn sich dieser Bedingung nicht, so wird er auf den Pflichttheil eingesetzt und meinen gesammten übrigen Nachlaß erhält die Frau Louise Charlotte Langlet.“
„Wollen Sie Ihrem Sohne eine Frist zur Erfüllung jener Bedingung bestimmen?“
„Seine Trauung mit Adrienne Langlet muß binnen einem halben Jahre nach meinem Tode vollzogen sein.“
„Haben Sie noch sonstige Anordnungen zu treffen?“
„Wird mein Sohn mein alleiniger Erbe, so erhält die Frau Langlet jedenfalls eine jährliche Rente von dreihundert Thalern und den lebenslänglichen Nießbrauch dieses Hauses nebst dessen Zubehör. – Weiter habe ich nichts zu verordnen.“
Genau so waren in allen Stücken vorhin seine Verfügungen gewesen. Er hatte Wort für Wort klar, bestimmt, mit vollem Bewußtsein gesprochen; ich konnte nicht den geringsten Zweifel dagegen aufbringen. Ich wollte mir selbst zürnen, daß ich es nicht konnte. Auch dem Gedanken an einen moralischen Zwang, an die Nachwirkung eines Zwanges von Seite der Frau Langlet auf ihn, konnte ich mit voller Ueberzeugung, geschweige mit rechtlichem Nachhalt, keinen Raum geben. Sollte denn die Bosheit, die Tücke, das Verbrechen siegen?
Ja, auch das Verbrechen! Durch ein Verbrechen – ich konnte nicht daran zweifeln – war einer fremden Waise das Vermögen entrissen, über das jetzt verfügt wurde. Die fremde Waise war Marianne. Der junge Mann, der Sohn des Kranken – kennend oder ahnend das Verbrechen seines Vaters – hatte ihr das Geraubte wieder zuwenden wollen; ihre Herzen hatten sich vielleicht schon lange gefunden. Sein edler Zweck sollte vereitelt, die arme Waise sollte noch einmal beraubt werden. Und ich sollte zu diesem Raube die Hand bieten, ihm den Stempel des Gesetzes, des Rechtes aufdrücken! Das Alles, wenn mir auch noch Einzelnheiten fehlten, lag klar vor mir. Klar, aber dennoch wie ein Labyrinth, aus dem ich keinen Ausweg sah.
Der Testator hatte seinen Willen vollständig, mit vollem Bewußtsein, ohne einen äußeren Zwang, also durchaus vollgültig abgegeben; ich mußte ihn zu Protokoll nehmen. Zwar hatte der Kranke noch kurz vorher in einem Zustande unzweifelhaften Irrsinnes sich befunden. Aber eben so unzweifelhaft war er in diesem Augenblicke seines Verstandes mächtig, und nur darauf kam es nach ausdrücklicher Vorschrift des Gesetzes an. Gelang es mir auch, in anderer Weise, etwa durch ein plötzliches Zurückspringen auf jenes Ereigniß des Jahres 1813, seinen Geist wieder zu verwirren, auf die Gültigkeit des Testamentes konnte das keinen Einfluß haben, für ihn wäre es eine nutzlose Grausamkeit gewesen. Zudem gestattete das Gesetz es mir nicht einmal. Nur noch ein Mittel blieb mir übrig, nämlich auf das Herz des alten Mannes einzuwirken, der am Rande des Grabes lag, auf das Gewissen, das noch vor wenigen Augenblicken so schwer von einen schweren Verbrechen belastet sich gezeigt hatte. Ich hatte schon vorher daran gedacht; zu diesem Zwecke hatte ich auch den jungen Menschen in dem Zimmer nebenan gelassen. Aber bei näherem Nachdenken mußte ich auch dieses Mittel fallen lassen. Den Sohn, gar mit jener beraubten Waise, an das Lager des Kranken führen, es war eine Scene, die einerseits ungerecht gegen die Frau Langtet war, zumal da ich für ein Verbrechen nicht die geringste thatsächliche Gewißheit hatte, und die andererseits geradezu in das Gegentheil von dem, was ich wollte, umschlagen konnte. Störte die Scene das Bewußtsein des Testators wieder, so blieben seine einmal getroffenen Bestimmungen nichtsdestoweniger gültig, und ich hatte jede Hoffnung zu ihrer Abänderung verloren. Hatte ich dies aber nicht auch zu befürchten, wenn ich, ohne eine solche Scene, auf sein Herz und Gewissen einwirken wollte? War mir am Ende auch nur dies gesetzlich erlaubt? Dann hatte ich aber auch gar kein Mittel mehr für den Sohn, für die Waise, für die nur geringste Wiedergutmachung eines Verbrechens, dessen Vorhandensein, trotz alles Mangels an Thatsachen, ich mir einmal [241] nicht aus dem Sinne schlagen konnte. Ich sah die beiden unglücklichen jungen Leute vor mir, ich sah jene kindisch eigensinnige, blödsinnige Adrienne, ich sah den höhnischen, satanischen Triumph des boshaften alten Weibes; und ich sah kein Mittel mehr.
Nur ich kurzsichtiger Mensch sah keins mehr!
Ich dictirte das Testament zum Protokoll, vollständig, nach den Anordnungen des Testators, mit allen Förmlichkeiten des Gesetzes. Ich dictirte es laut; er konnte jedes Wort vernehmen. Er blieb ruhig liegen, ohne eine Miene zu verändern. Ich ließ ihm das Protokoll vorlesen. Er hörte aufmerksam zu. Ich fragte ihn, ob das, was ihm vorgelesen sei, seinen ernstlichen, wohlüberlegten, letzten Willen enthalte.
„Ja!“ antwortete er mit seiner schwachen Stimme, aber fest, sicher.
Ich forderte ihn auf, das Protokoll zu unterschreiben. Er war bereit dazu und vermochte es auch, indem der Secretair und ich ihn aufrichteten und stützten.
Das Testament war in aller Form Rechtens fertig. Der Sohn des Testators war gezwungen, entweder jene Blödsinnige zu heirathen, oder den größten Theil, nach dem Gesetze zwei Drittheile, des Nachlasses seines Vaters der Frau Langlet herauszugeben. Es fehlte zwar an der vollen Rechtsbeständigkeit des Testaments noch ein Umstand, mit dem ich nach dem gewöhnlichen Verfahren hätte beginnen sollen, den ich aber ebensowohl jeden Augenblick nachholen konnte, nämlich die Anerkennung der Person des Testators. Aber an seiner Identität war in keiner Weise zu zweifeln; es handelte sich also nur noch um eine leere, mit der leichtesten Mühe zu erledigende Förmlichkeit.
Ich wollte in das Nebenzimmer gehen, um mich zu erkundigen, ob der Pater Theodorus, der die Anerkennung bewirken solle, bald eintreffen werde. In dem nämlichen Augenblicke hörte ich, wie draußen an die Hausthür geklopft wurde. Der Schlag hallte dumpf durch das Haus, wie jener Schlag, mit dem ich unsere Ankunft angekündigt hatte. Ich blieb erwartend in dem Krankenzimmer. Die Hausthür wurde geöffnet. Gleich darauf trat Jemand in das Zimmer nebenan.
„Guten Abend,“ sagte eine tiefe, aber klare und wohltönende männliche Stimme, Es war die Stimme des Paters Theodorus, Es wurde ihm gedankt. Aber dann hörte ich ihn gleich traurig und bewegt sprechen.
„Armer Franz! Ich lese Alles in Deinem Gesichte. Du erleidest heute einen doppelten Verlust.“
Ich hörte den jungen Mann nur weinen. Gesprochen wurde nicht mehr. Die Frau Langlet ließ Keinem Zeit dazu. Sie öffnete schnell die Thür des Krankenzimmers.
„Wenn es Ihnen gefällig ist, Herr Pater.“
Der Pater Theodorus trat in das Krankenzimmer. Die Frau machte keinen Versuch, ihm zu folgen. Auch der Sohn des Kranken nicht.
Ich hatte den Pater früher nur in der Dunkelheit gesehen, und betrachtete ihn in dem Lichte der Wachskerzen genauer. Er war schon ein sehr alter Mann; aber man konnte kaum einen schöneren Greis sehen. Er hielt seine hohe Gestalt aufrecht, nicht stolz, aber mit der bewußtlosesten, ungezwungensten Würde. Sein Gesicht, edel geformt, wie das Gesicht eines Patriarchen, sprach Milde, Frieden und Offenheit aus; es verkündete die wahre christliche Liebe, es zog zu unwiderstehlichem Vertrauen an. Auch mich. Und mit dem Vertrauen, das in mir dem Manne entgegen schlug, erwachte auf einmal ein anderes, ein höheres Vertrauen in mir. Anfangs unruhig, daß mir das Herz klopfte, dann still, ruhig, wie immer das höhere Vertrauen. Die Erscheinung des würdigen Dieners Gottes weckte das Vertrauen zu den Rathschlüssen Gottes, zu der höheren, ewigen, göttlichen Gerechtigkeit in mir.
Der Pater begrüßte den Secretair und mich schweigend. Dann trat er an das Lager des Kranken. Er sprach auch zu ihm nichts. Er sah ihn nur an. Er sah ihn an mit seinen klaren, blauen Augen voll Milde und Frieden, aber auch voll Ernstes.
Der Kranke hatte bei dem Eintreten des Geistlichen aufgezuckt, nur mit einem fast unmerklichen Bewegen der Augenlider, nur mit dem leisesten Schimmer, der bemerkbar durch das Auge ziehen konnte. Ich hatte dennoch genug gesehen, um eine Ahnung, die schon lange in mir aufgetaucht war, zur Gewißheit erheben zu dürfen. Was ich ferner sah, sollte mir vollends keinen Zweifel lassen. Der Kranke hatte dem Blicke des Geistlichen zu begegnen vermocht, aber nur mit einem gewissen Trotze, wie es schien. Der Blick des Mönchs wurde ernster. Der Kranke konnte ihm nicht mehr begegnen. Er schloß die Augen.
So konnte nur der Beichtvater blicken, der in die tiefste Tiefe der Seele, und in dieser Tiefe ein Verbrechen sah. So konnte diesem Blicke sich nur das Gewissen verschließen, das des schweren Verbrechens sich bewußt war, das einst in furchtbarer Angst dem Beichtvater dieses Verbrechen hatte bekennen müssen, das dann aber und auch noch heute, noch in diesem Augenblick wußte, daß das Geheimniß der Beichte unverletzlich ist, wie das Geheimniß des Grabes. Und so hatte dieses Gewissen sich verschlossen. Der Blick des Geistlichen wurde traurig. Er schüttelte schmerzlich das greise Haupt, Er sprach noch immer nichts. So stand er, unverwandt den Kranken anschauend.
In dem Zimmer herrschte eine tiefe, aber peinliche Stille, eine Todtenstille. Da bog der Mönch seine Kniee; seine hohe Gestalt ließ sich demüthig auf sie nieder. Er faltete die Hände. In die gefalteten Hände stützte er das schmerzlich bewegte Gesicht. So betete er. Er betete still; man hörte keinen Laut seiner Lippen, nicht seinen Athemzug. Die Stille des Zimmers wurde eine feierliche. Er betete lange. Seine Gestalt blieb unbeweglich. Endlich erhob er sein Gesicht. Es war nicht mehr schmerzlich bewegt; aber es war verklärt von dem edelsten, erhabensten, heiligsten Ausdrucke des Vertrauens, des Friedens, der Vergebung, Das verklärte Gesicht hob er zum Himmel empor. Dann kam das erste Wort über seine Lippen.
„Amen,“ sagte er. Das Wort erklang wunderbar ergreifend durch die tiefe, feierliche Stille.
Der Kranke zuckte auf. Er öffnete die Augen, er mußte sie öffnen. Sein Blick fiel in das verklärte, betende Gesicht des Paters. Er schrie laut auf.
„Gott, Gott!“
Dann sah er sich heftig um. Er suchte mich. Er sah mich. Er sah in meiner Hand das Papier, das seinen letzten Willen enthielt.
„Mein Testament!“ rief er. „Geben Sie mir mein Testament.“
Ich reichte es ihm hin. Er zerriß es. Er warf die Stücke von sich.
[242] „Gott!“ rief er dann noch einmal; aber er schrie es nicht, er sprach das Wort aus freier, auf einmal leicht gewordener Brust. Und auch sein Blick war frei und klar, und sein ganzes Wesen war es. Dann richtete er sich auf seinem Lager auf, und indem er sich aufrichtete, sagte er mit fester, klarer Stimme:
„Wie ich jene Schrift zerrissen habe, so widerrufe ich ihren ganzen Inhalt. Ich nehme Sie Alle zu Zeugen. Eines neuen Testaments bedarf es nach dem Gesetze nicht. Aber meinen Sohn wünsche ich noch zu sprechen, ihn und Marianne.“
Der Geistliche ging aus dem Zimmer, und kehrte nach einer halben Minute zurück. An der Hand führte er den Sohn des Kranken und Mariannen. Aber die Beiden kamen zu spät, um den Segen noch zu empfangen, der ihnen hatte ertheilt werden sollen. Die körperlichen und geistigen Anstrengungen der letzten Stunden waren für den Kranken zu erschütternd und ergreifend gewesen. Seine schwachen Kräfte waren erschöpft. In dem Augenblicke, als der Pater mit den jungen Leuten eintrat, sank er verscheidend auf sein Lager zurück. Der Sohn und das Mädchen konnten nur weinend an einem Todtenlager knieen. Zu ihnen ließ sich der Geistliche nieder. „Die Gnade des Himmels ist eine unendliche,“ sprach er. „Herr, Deine Liebe wird sie auch ihm zu Theil werden lassen!“
Die Frau Langlet und ihre Tochter bekamen wir nicht wieder zu Gesichte, als wir das Sterbezimmer und das Haus verließen. Aber nach sechs Monaten hatte ich die Freude, anstatt eines neuen „Testaments des Verrückten“ seinen wahren letzten Willen doch noch zum gerichtlichen Protokoll feststellen zu können, indem ich den Ehevertrag zwischen Herrn Louis François Lohmann und Mamsell Marianne – ihren französischen Namen habe ich vergessen – gerichtlich aufnahm.
Und was im Jahre 1813 geschehen war? Ich weiß es nicht. Ich kann es auch meinen Lesern nicht sagen, wenn ich wahr bleiben will.
Die Frau Langlet habe ich nie wieder gesehen; sie war mit ihrer Tochter nach dem Elsaß zurückgekehrt.
François Lohmann, wenn er etwas wußte – ehrte das Andenken seines Vaters. Der Pater Theodorus war Beichtvater.
Unsere heutige kleine Abbildung zeigt die Trümmerreste des einst mächtigen Palastes der alten Reichsstadt Speier, in welchem auf dem bekannten Reichstage von 1529 der „Taufstein des Protestantismus“ stand. Es ist nicht Aufgabe dieser Zeitschrift, das Für und Wider der kirchlichen Fragen zu besprechen, wir begnügen uns deshalb mit der einfachen Geschichtsdarstellung der Ereignisse, die damals acht Jahre nach dem Reichstage von Worms eintraten und den Protestanten ihren Namen gaben.
Nach mehrfachen fruchtlosen Versuchen, die religiösen Streitigkeiten friedlich zu ordnen, hatte Kaiser Karl V. auf den 3. Februar 1529 einen neuen Reichstag nach Speier berufen, auf welchem man die rechte Lösung des verworrenen Knotens zu finden meinte. Statt des Kaisers und in seinem Namen erschien sein Bruder Ferdinand, König von Ungarn, der aber erst den 5. März mit dreihundert bewaffneten Reitern eintraf und im Rathhofe seine Wohnung nahm. Nach ihm zogen die baierischen Herzöge Friedrich und Wilhelm mit ebenfalls dreihundert Reitern heran, dann die Kurfürsten von Mainz und Trier mit großem Gefolge; am 13. März der Kurfürst von Sachsen, Johann der Beständige, mit den Theologen Melanchthon und Agricola, übrigens ohne Harnisch und Waffen, indem er sich „auf den Landfrieden verlassen“; nach ihm der Kurfürst Ludwig V. von der Pfalz u. A. m. Erst am 18. März rückte Landgraf Philipp von Hessen mit zweihundert Reitern und anderem Gefolge ein.
Am 15. März fand im oberen großen Saale des Retscherpalastes die Eröffnung des Reichstages statt. Die erste Angelegenheit auf der Tagesordnung betraf den Türkenkrieg, welchen man katholischerseits als eine Strafe für die „Religionsirrungen“ ansah und zu dessen glücklicher Beendigung der Kaiser von den deutschen Fürsten Geld und Truppen verlangte. Der zweite und wichtigste Punkt handelte von den Religionsangelegenheiten. Des Kaisers Forderung ging dahin: kein Reichsstand solle seine Landeskirche von Rom lostrennen, keiner innerhalb seines Landes die Reformation einführen, jeder vielmehr dem Reichsoberhaupte unbedingten Gehorsam leisten und zur römischen Kirche zurückkehren. Zur Prüfung dieser kaiserlichen Propositionen wurde am 18. März ein Ausschuß von neunzehn Personen erwählt, in welchem wir aber nur fünf evangelische Stimmen finden, nämlich Kursachsen, Baden, Solms, Straßburg und Nürnberg. Am 24. März beschoß die Mehrheit des Ausschusses folgende Antwort:
1) Wer bisher das Wormser Edict gehalten, solle es auch ferner thun.
2) In den Ländern, wo man bisher Religionsneuerungen eingeführt habe, sollten diese künftig unterbleiben.
3) In eben diesen Ländern solle das Messelesen frei gestattet werden.
4) Kein geistlicher Stand solle seiner obrigkeitlichen Macht, seiner Rente und seiner Güter entsetzt werden dürfen, bei Strafe der Acht und Aberacht.
5) Die Secten, „welche dem Sacrament des wahren Leibes und Blutes widersprechen“ (d. i. Zwingli’s Anhänger), und die Wiedertäufer sollten nirgends geduldet werden.
Um uns kurz zu fassen, übergehen wir die verschiedenen Sitzungen, die noch gehalten wurden und in welchen die genannten Punkte von der Majorität angenommen wurden, während die (evangelische) Minorität ihre Einwilligung zu dem die Religion betreffenden Artikel versagte.
Nachdem es dem Landgrafen Philipp von Hessen gelungen war, einen innigen Bund zwischen den evangelischen Fürsten und den evangelischen Städten zu Stande zu bringen, nahte die entscheidende Stunde heran. Es war der 19. April, an welchem abermals eine Sitzung im Retscher anberaumt war. Jakob Sturm schreibt darüber:
„– Auf solches sind der Churfürst von Sachsen und die Fürsten von Hessen und Anhalt, dazu anderer Fürsten Botschaften, so sich vormals beschwert haben, ausgetreten (d. h. in ein Nebenzimmer gegangen), und sich ein Klein unterredt ihrer Protestation halb. Ist mittlerzeit die Kgl. Majestät und andere Commissarien ausgetreten und ab dem Haus gangen. Haben die Churfürsten und Fürsten zu seiner Kgl. Maj. schicken lassen, und gebeten, Ihre Maj. und Commissarien wollen in der Versammlung verziehen; Ihre Gnaden wollen ihre Beschwerden anzeigen; aber die Kgl. Maj. hat solches nicht wollen thun und angezeiget: Ihr Maj. hab ein Befehl von Kais. Maj., den habe sy ußgericht, daby loß’ er’s bliben. Auf solches sind die Chur- und Fürsten wider in Stub gangen und sich protestirt, den Abschied nicht anzunehmen.“
Die Protestirenden waren: Kurfürst Johann von Sachsen, Markgraf Georg von Brandenburg-Baireuth, die Herzoge Ernst und Franz von Lüneburg, Landgraf Philipp von Hessen, Fürst Wolfgang von Anhalt und die 14 Städte: Straßburg, Nürnberg, Ulm, Constanz, Lindau, Memmingen, Kempten, Nördlingen, Heilbronn, Reutlingen, Isny, St. Gallen, Weißenburg (in Franken) und Windsheim. Die protestirende Erklärung wurde nicht blos mündlich vorgetragen, sondern auch schriftlich „vor Kurfürsten, Fürsten und allen Ständen öffentlich verlesen und überantwort“. Die Evangelischen erklärten darin: „in allen schuldigen und möglichen Dingen“ dem Kaiser Gehorsam zu leisten, aber in Sachen, „die Gottes Ehr’ und unserer Seelen Heil und Seligkeit angehen und betreffen“, nach ihrem Gewissen zu handeln; darum seien sie nicht im Stande, den Reichstagsbeschluß als für sie verbindlich anzuerkennen.
Samstag den 24. April fand die Schlußsitzung statt. König Ferdinand erklärte darin den Majoritätsbeschluß als rechtskräftigen Reichstagsabschied und weigerte sich, den Protest in den Abschied aufzunehmen. Da appellirten denn die Protestanten von Ferdinand an den Kaiser Karl und versammelten sich anderen Tages „in dem kleinen Stüblein in des würdigen Ehren Peter Muterstats, Caplans in der St. Johanns-Kirche zu Speyer, Behausung“, wo sie durch die Notare Salzmann und Stettner das Instrumentum Apellationis [243] auf zwölf Pergamentblättern abfassen ließen. Dieses Actenstück enthält nach einer Einleitung den Protest vom 19. April nebst einer Darstellung der vom 19. bis 24. April stattgehabten Vorfälle und schließt mit den Worten:
„Dem allem nach protestiren, recusiren, provociren, appelliren, suppliciren und berufen wir für uns selbst und unsere Unterthanen … von allen obangezeigten Beschwerden, so uns von Anfang dieses Reichstags bis zu Ende, und mit dem vermeinten Abschied begegnet sein, zu und für (an) die Römische Kaiserliche und Christliche Majestät, unsern allergnädigsten Herrn, und darzu an und für das schierst künftige freie christliche gemeine Concilium … und darzu einem jeden dieser Sachen bequemen unparteiischen und christlichen Richter.“ – Sofort reisten die Stände ab, und der Reichstag hatte sein Ende erreicht. Daß im Jahr 1533 ein vorläufiger Religionsfriede zu Stande kam, welchem 1552 der Vertrag zu Passau und 1555 der Augsburger Religionsfriede folgte, sei hier nur beiläufig erwähnt.
Von den kolossalen Gebäuden des Retschers, in dem der Reichstag abgehalten wurde, stehen jetzt nur noch einige Mauern, wie man wissen will, just diejenigen, die den Saal einschlössen, in dem sich die fürstlichen Herren versammelten. Er ward durch die Nichtswürdigkeit des französischen Generals Montelar zerstört, der bekanntlich Speier im Jahre 1689 ohne allen Zweck und Nutzen muthwillig niederbrennen ließ.
In der Voraussetzung, daß es namentlich den binnenländischen Lesern dieses Aufsatzes erwünscht sein könnte, über Leuchtthürme im Allgemeinen und über den genannten Bremer Leuchtthurm in’s Besondere etwas Genaueres zu erfahren, sei in Nachfolgendem Einiges darüber gesagt.
Wie schon bemerkt, werden Leuchtfeuer an den Meeresküsten oder mitten im Meere an gefährlichen Stellen zunächst deshalb angezündet, um den Seefahrern die nächtlichen Pfade des Meeres weniger zu beleuchten, als anzudeuten. Wie es nur nöthig war, die Tageszeichen verschieden zu gestalten, damit in den unübersehbaren Wasserwüsten der Schiffer den rechten Pfad einschlage, so erforderte die Nacht zu Erreichung dieses Zweckes noch weit größere Vorsicht. Man hat deshalb vor die äußersten Mündungen der Ströme und, wo es nöthig war, auch in dieselben Feuerschiffe gelegt. Die Elbe z. B. besitzt deren drei, von denen das äußerste bei der rothen Tonne, also an der Stelle liegt, wo man annimmt, daß die Elbe sich mit der Nordsee vermählt habe. Diese Feuerschiffe erblickt der Seefahrer entweder gleichzeitig mit dem höher in der Luft sichtbar werdenden Lichte des Leuchtthurmes oder sie treten bald früher, bald später in den Horizont seines Sehkreises. Wie das Licht des oder der Feuerschiffe sich zum Strahlenkerne in der Laterne des Leuchtthurmes stellt, das gibt ihm einen Fingerzeig, nach dem er sich bei Führung des Steuers stets zu richten hat. Oft kommt es vor, daß mehr als ein Leuchtfeuer zugleich in der Ferne sichtbar wird. Dann muß er, vertraut mit den für Seefahrer bestimmten Nachrichten, wissen, wie sich die verschiedenen Lichter im Verhältniß zu ihm, d. h. zu dem von ihm geführten Schiffe, zu stellen haben, wenn er das rechte Fahrwasser nach dem Hafen finden soll, den er anlaufen will.
Damit nun auch hier dem Seemanne sein schwieriger Lebensberuf so weit möglich erleichtert werde, hat man die Lichter auf den Leuchtthürmen verschieden eingerichtet. Es gibt feste, weiße Lichter, die stets einen völlig egalen Schein, gewöhnlich sichtbar auf zwölf, vierzehn, sechzehn, ja bis zwanzig Seemeilen, ausstrahlen, ferner Lichter, die ihre Farbe ändern, wenn der Schiffer beim Ansegeln von dem sichern Fahrwasser um einige Compaßstriche abweicht. Es geht dann gewöhnlich das feste weiße Licht in ein rothglühendes über. Gewahrt der Seemann diese Veränderung, so muß er peilen, die Richtung ändern und dies so lange fortsetzen, bis das rothe Licht dem weißen wieder weicht. Auch hat man sogenannte Drehfeuer, die sich um ihre eigene Achse bewegen und abwechselnd ein weißes, rothes oder auch bläuliches Licht zeigen. Kommen also verschiedene Lichter gleichzeitig bei Nacht in den Gesichtskreis des Seefahrers, so kann er, sei’s aus der Farbe ihres Scheines, sei’s durch die Stellung der Lichter zueinander und zu dem Fahrzeuge, das ihn trägt, immer ganz genau erkennen, wo er sich befindet und welchen Cours er zu steuern hat, um glücklich seinen Bestimmungsort zu erreichen. Ein Wechsellicht ist z. B. das auf der Insel Wangerooge befindliche. Es ist dasselbe so eingerichtet, daß es alle zwei Minuten blitzartig helle, brillant glänzende Strahlen (courtes éclipses) ausströmt, die jedoch nur wenige Secunden sichtbar sind. Der ansegelnde Schiffer gewahrt es gleichzeitig mit dem Lichte des Bremer Leuchtthurmes und dem weiter links sichtbar werdenden Feuer auf dem großen Thurme der Insel Neuwerk in der Mündung der Elbe.
Aus dem Gesagten ersieht man, daß nicht nur die Anlegung der Leuchtthürme, sondern auch deren Erhaltung und namentlich die Pflege des Lichtes auf denselben zu den schwierigsten Geschäften gehört. Der Leuchtthurm soll zuerst den Schiffern ein Zeichen in finsterer oder stürmischer Nacht sein, das ihm von ferne ermuthigend entgegenblinkt und ihm sagt, wo er sich befindet; er soll ihm aber auch, zertrümmern die stürmischen Wogen sein Fahrzeug oder treiben sie es trotz aller Mühe doch auf den Strand, ein bergendes Asyl darbieten. Damit er beiden Zwecken dienen möge, macht er eine ganz eigenthümliche Einrichtung nöthig. Und hier darf wohl der eben erwähnte und eines Besuches werthe Bremer Leuchtthurm als Muster mit aufgestellt werden.
Dieses interessante Bauwerk erhebt sich auf dem „hohen Wege“, wie der Sand an der Mellum genannt wird, an der Stelle der bisherigen Bremer Baake, auf 53°, 42′, 5″ nördlicher Breite und 8°, 14′, 52″ östlicher Länge von Greenwich. Er ist aus Ziegelsteinen, die von einer concaven Steinböschung umgeben sind, durch den Hafenbaudirector in Bremerhaven, J. J. van Ronzelen,[1] erbaut, achteckig und wird in einer Höhe von 34 Fuß über ordinärer Fluth von einer mit eisernem Geländer eingefaßten Terrasse umgeben. Die Erbauung desselben, auf welche hier nicht näher eingegangen werden kann, war mit außergewöhnlichen Schwierigkeiten verbunden, da die Baustelle sich auf einem lockeren Sande mitten im Meere befand und bei jeder Fluth mehr als sechs Fuß hoch vom Wasser überspült ward. Dennoch wurden die unglaublichen Schwierigkeiten in verhältnißmäßig kurzer Zeit glücklich überwunden, und als erst der Grund gelegt und die Mauern bis über ordinäre Fluthhöhe glücklich aufgeführt waren, rückte der Bau seiner Vollendung rasch entgegen.
Die Basis des Grundmauerwerks hat 45 Fuß im Durchmesser, birgt, außer einem geräumigen Keller von 16 Fuß Durchmesser, eine Cisterne, welche 650 Kubikfuß Wasser enthält, und ein parallel mit der Kellerwand laufendes Spargewölbe von 9½ Fuß Höhe und 6 Fuß Breite. Der Eingang zum Thurme besteht aus Werkstücken von belgischen Steinen, die Treppe, welche nach dem Lagerräume führt, aus Sandstein. Die um den Thurm laufende Terrasse hat eine Breite von 4 Fuß und wird von einem gußeisernen Geländer umschlossen. Ueber dieser Terrasse erhebt sich der Thurm in Form einer regelmäßigen achteckigen Pyramide, die in einer Höhe von 93 Fuß abgestumpft ist. Der innere Raum des Thurmes ist rund, sein Durchmesser in der Höhe der Terrasse 16 Fuß, am oberen Ende aber 12 Fuß. Sämmtliche im Thurme befindliche Treppen sind von Sandstein und Freitreppen. Ueber der unteren Terrasse enthält der Thurm fünf verschiedene Etagen, dabei einen Kirchenraum mit Sparheerd etc. Das obere Krongesims umgibt außerhalb der Laterne wieder eine Terrasse.
Die erwähnten Etagen, welche zu Wohn- und Schlafräumen eingerichtet sind, haben eine runde Form, Schränke, Schlafstellen, eiserne Windöfen mit separaten Schornsteinen, die bis oben hinausgehen. [244] Küche, Lagerraum, Dienst- und Laternenstube sind mit Fliesen belegt, die Wand der Laternenstube aber, damit es nicht darin stäuben möge, auch noch mit kleinen weißen Fliesen.
Das oberste Ende der Kuppel der Laterne, die ein regelmäßiges Zwölfeck bildet und einen äußeren Durchmesser von 11½ Fuß hat, steht 118 Fuß über Null, das Licht der Laterne aber mit seinem Kerne 107 Fuß über Null, Diese Laterne, die außer ihren zwölf gußeisernen Ständern von 1 bis 3½ Zoll Stärke noch 60 Zwischensprossen hält, von denen die drei unteren Reihen mit Wasserrinnen und die untersten mit Ventilationsöffnungen versehen sind, besteht aus 48 Spiegelscheiben von ½ Zoll Stärke und ist mit einem Blitzableiter versehen.
Das Licht, nach dem Fresnel’schen Systeme, ist ein katadioptrisches[2] zweiter Ordnung, fest und weiß, und wird fünfzehn bis sechzehn Seemeilen weit gesehen. Auf vielen früher erbauten Leuchtthürmen bediente man sich parabolisch geschliffener und versilberter Hohlspiegel. Diese Spiegel stellte man in die Peripherie eines Kreises, damit die zu beleuchtende Horizontfläche davon beleuchtet würde. Man hat später bemerkt, daß ungeachtet des hellstrahlenden Lichtbündels, welches solche Hohlspiegel hinauswerfen, dennoch in der Entfernung dunkle Zwischenräume entstehen, was zu Täuschungen Anlaß geben kann. Die von Fresnel getroffene Einrichtung hat diesem Uebelstande abgeholfen. Er nahm im Centrum der Laterne einen einzelnen Lichtpunkt als Brennpunkt und stellte einen Glasapparat auf, welcher cylinderförmig um den Brennpunkt herumgeht. Der Mitteltheil dieses Glasapparates ist, der Höhe nach, linsenförmig dioptrisch (strahlenbrechend), seine oberen und unteren Theile dagegen sind katadioptrisch (strahlenbrechend und wiedergebend) eingerichtet. Diese oberen und unteren Theile des Apparates bestehen aus prismatisch geschliffenen kreisförmigen Glasringen, deren Seiten oder Steigungen so berechnet sind, daß die aus dem Brennpunkts dahin kommenden Lichtstrahlen von der ersten Fläche gebrochen und dann von der zweiten so reflectirt werden, daß sie horizontal und parallel mit der Achse ausströmen, indem jeder Lichtstrahl, welcher aus einem Prismenglase nach dem Gesetze der Brechung unter einem Winkel, welcher kleiner als 90° ist, in die Luft austritt, nicht gebrochen, sondern reflectirt wird. So gelingt es Fresnel, das ganze von seinem Apparate bestrahlte Feld des Horizontes dergestalt zu beleuchten, daß es auch nicht von der geringsten Verdunkelung unterbrochen wird.
Das Licht des Bremer Leuchtthurmes erhellt nun westlich die See um die Insel Wangerooge, südlich die ganze breite Wasserfläche der Wesermündung vom Leuchtthurme nach Bremerhaven und wieder rückwärts von Blexen nach Fedderwarden. Unbeleuchtet dagegen bleibt die Küste der Mellum[3] und die ganze Jahde, eine Fläche, die 120 Grad des Horizontes mißt. Dieser Raum ist im Fresnel’schen Apparate mit parabolisch geschliffenen Hohlspiegeln oder Reflectoren von versilbertem Kupfer ausgefüllt, welche die Intensität des Lichtes ungemein verstärken.
Nähert sich nun ein Schiff, über die Wasserwüste der Nordsee steuernd, der Wesermündung, so tritt es in der Gegend der ersten Weserschlüsseltonne, in einer Entfernung von etwa 16 Seemeilen, in den Bereich des Lichtkreises, welchen der Apparat des Bremer Leuchtthurmes über das Meer ausstrahlt. Der Schiffer weiß jetzt, wie er steuern muß; damit er aber, dem Lichtkerne, mithin auch der Küste näher kommend, die sichere Fahrstraße nicht verliere und sich zu sehr den gefährlichen Untiefen in der Wesermündung nähere, hat man noch ein besonderes Warnungslicht im Bremer Leuchtthurme angebracht. Es befindet sich dies ebenfalls katadioptrische Licht fünfter Ordnung in einer abgeschlossenen Abtheilung des Küchenraumes, ungefähr 38 Fuß über ordinärer Fluthhöhe. Das Licht ist weiß und dient vorzugsweise dazu, den Seefahrern anzudeuten, wo sie die bisher auf das große Licht des Thurmes genommene Richtung zu verlassen haben. Den weißen Glanz dieses kleinen Lichtes im Auge behaltend, vermeiden die ansegelnden Schiffe die gefahrvolle Mellum oder den sogenannten schwarzen Tonnenwall, finden leicht den Eingang nach dem Dwasgatt, und erreichen so unbehindert die Gegend der Jungfernbaake, womit das Einlaufen in die Weser für glücklich beendigt gelten darf. Sollte jedoch der Zufall solche Schiffe nur um ein Geringes zu weit südlich abführen vom sicher einzuhaltenden Cours, so tritt vor das erwähnte kleine Licht als Warner ein rother Schein, welcher dem Schiffer andeutet, daß er anders steuern müsse. Erst wenn das weiße Licht ihm wieder entgegenwinkt, droht ihm keine Gefahr mehr.
Es liegt auf der Hand, daß Tausende von Menschen ohne das Vorhandensein der Leuchtthürme an den Küsten und in den Strommündungen elend zu Grunde gehen würden. Da aber unendlich viel auf die Pflege solcher Lichter ankommt, damit ihr Schein genau so, wie er für Seefahrer durch officielle Bekanntmachungen angegeben wird, auch stets in See sichtbar sei, gehören zu den Aufsehern oder Wärtern auf Leuchtthürmen ebenso zuverlässige, wie streng gewissenhafte Leute. Es existiren daher für Leuchtthurmwärter, deren jeder größere Thurm mehrere hat, die strengsten und minutiösesten Vorschriften, die sich theils auf ihr Verhalten selbst beziehen, theils und vornehmlich mit der Instandhaltung des höchst complicirten Apparates, ferner mit der Behandlung und Anzündung der Lampen, mit dem Aufsetzen der Gläser, dem Putzen der Laternen etc. beschäftigen. Jeder Docht, jede Lampe, jedes Glas u. s. w. hat seine Reserven, die eben so gut gehalten sein müssen, wie die im Dienst befindlichen. Einsatzscheiben für die Laterne sind ebenfalls in ausreichender Zahl vorhanden, denn es ist möglich, daß der Orkan eine Scheibe zerbricht oder, was auch schon vorgekommen ist, daß die im Sturm gegen das Mauerwerk rasende See losgerissene Steine bis zur Laterne hinaufschleudert und eine der halbzölligen Spiegelscheiben einknickt. Ferner muß daher auch einer der diensthabenden Wächter, so lange die Lampen brennen, in der Laternenstube anwesend sein, weshalb für den Winter dazu erforderliche warme Kleidung für die Wächter Seitens des Staates geliefert wird.
Es würde zu weit führen, die Behandlung des Apparates vor und bei Anzündung der Lampen zu beschreiben, obwohl das Verfahren dabei schon interessant ist, weil man Alles berechnet hat, um kein auch noch so unbedeutendes Fäserchen an einem der Dochte, kein Stäubchen an den Glascylindern sich ansetzen zu lassen. Für keinen Menschen auf der Welt ist die größte Ordnungsliebe und Accuratesse eine heiligere Pflicht, als für die Lampenwärter auf Leuchtthürmen. Nur der höchst sinnreichen Einrichtung des Apparates möge, da sie für jeden Gebildeten von Interesse ist und vielleicht mehr als einen binnenländischen Leser veranlaßt, Bremerhaven und die Wesermündung zu besuchen, am Schlusse dieses Aufsatzes noch gedacht werden.
Der optische Theil dieses Apparates besteht aus vier Linsenschirmen von Glas, acht Schirmen mit dreiseitigen prismatischen Ringen, welche sich ober- und unterhalb der Linsenschirme befinden, und aus zwei mit Silber plattirten Reverberen. Diese letzteren nehmen ein Drittheil des Horizontes oder 120° als verdunkelten Theil, wie schon vorhin bemerkt wurde, ein, während die Glastheile das Licht der Lampen auf zwei Drittheile oder 240° hinausstrahlen.
Diesen sinnreich construirten Apparat erleuchtet eine mechanische Lampe mit drei concentrischen Dochten, deren Flammen sich im gemeinsamen Brennpunkt der Gläser und Reverberen befinden. Druckkolben führen der Flamme das erforderliche Oel zu. Ueber dem Glascylinder der Lampe ist ein mit einer Klappe versehenes Blechrohr, der Regulator, angebracht. Dieser mündet in ein Abzugsrohr, welches den Dunst und Qualm der Lampe bis über die Glasringe hinausleitet. Der ganze optische Apparat steht so fest, daß er nicht verrückt werden kann. Die Lampe trägt ein auf den Diensttisch befestigter Dreifuß. Ehe sie eingestellt wird, muß ihr Gang in allen ihren Theilen vorher einige Stunden genau beobachtet werden. Hat die Flamme nach erfolgter Einstellung ihren vollen Glanz erhalten, so muß sie 500 Grammes oder 1 Pfund Oel per Stunde verbrennen. Damit dies geschehe, und die Flamme stets in voller Lichtentwickelung verbleibe, wird viermal so viel Oel, als die Flamme eigentlich verbraucht, zu ihr hinaufgehoben, nämlich 2000 Grammes oder 4 Pfund per Stunde, oder 250 Grammes in 7½ Minuten. Das übrig bleibende Oel fließt über und in den Behälter zurück.
Besteht der eigentliche Zweck aller Leuchtthürme zunächst darin, den Seefahrern die Meerespfade an für die Schifffahrt gefährlichen Gegenden zu beleuchten und ihnen die Richtung anzudeuten, in welcher sie dem noch fern liegenden Hafen zusteuern sollen: so treten doch häufig Umstände ein, welche diesen Zweck vereiteln. Undurchdringliche Nebel verhüllen auch die hellglänzendsten Lichter, und wenn [245] der Seefahrer ihrer endlich trüb und in ganz anderer Gestalt ansichtig wird, ist es oft schon zu spät. Die unüberwindlichsten Feinde des Seefahrers aber sind die Stürme, deren Gewalt keine menschliche Vorsicht berechnen, keine menschliche Macht besiegen kann. Das vom Orkan über den aufgewühlten Ocean gepeitschte Schiff wird, ist es nicht möglich, es von den verderblichen Sandbänken fern zu halten, im Angesicht des leuchtenden Pharus von den Wogen auf Untiefen geworfen und von der Wucht der Wellen wie Glas zertrümmert.
Von der ungeheuern Gewalt der Meereswogen können diejenigen, welche nie mit eigenen Augen eine stürmische See gesehen haben, sich kaum eine Vorstellung machen. Centnerschwere Felsblöcke werden von einer einzigen großen Woge bergaufwärts gerollt, und der springende Kamm einer sich bäumenden Welle, der im Sonnenlicht einem riesigen Diadem von Silber ähnelt, zerschmettert vielzöllige Balken, als wären es dünne Holzsplitter. Selbst die gewöhnliche Brandung auf sandigem Flachstrande zerschlägt die stärksten Boote in unzählige Stücke.
In solcher Noth, die der Seemann in seinem schweren Berufe nur zu oft kennen lernt, setzt er, wenn schon die Planken seines Schiffes im Anprall der Sturzseen brechen, seine Hoffnung noch immer auf den Leuchtthurm. Das stille Licht über dem schäumenden Meere sieht auf ihn herab aus Himmelshöhen wie das Auge Gottes. Er bietet die letzten Kräfte auf, um ein Boot von dem zerschellenden Wrack loszumachen, greift zu den Rudern und strebt dem Thurme zu. Erreicht er ihn und gelingt es seiner seemännischen Geschicklichkeit, an dem ragenden Gemäuer anzulegen, dann weiß er, daß er für diesmal dem Tode entronnen ist.
Um solchen Unglücklichen mit dem Nöthigsten beispringen und den Erschöpften, vielleicht schon Halbtodten Pflege angedeihen lassen zu können, befinden sich in größeren Leuchtthürmen erwärmte Räume etc. Auch der Bremer Leuchtthurm besitzt solche in der kalten Jahreszeit stets erwärmte Stuben. Auch hält man eine beträchtliche Anzahl wollener Decken bereit, damit die Schiffbrüchigen zunächst durch Benutzung derselben den Gebrauch ihrer erstarrten Glieder wieder erhalten. Auch für genügenden Proviant ist stets gesorgt. Und so erfüllen denn die Leuchtthürme[WS 1]eine doppelte Pflicht der Menschlichkeit. Sie zeigen in finsterer Nacht den Seefahrern die Pfade durch die unendlichen Wasserwüsten und bieten im Sturm verunglückten Schiffern ein sicheres Asyl und unentgeltliche Pflege.
Der „ewige Friede“, welchen Kant prophezeihte, ist noch nicht gekommen. Im Gegentheil rüstet man sich entrüstet und allseitig furchtsam und mißtrauisch zu einem allgemeinen europäischen Kriege, ohne sich mit Congreß und Friedensstiftung zu trösten. Dieser allgemein gefürchtete Krieg würde, wenn er losbräche, mindestens ein sehr naturwissenschaftlicher werden, eine durchgebildete, ausgesuchte, angewandte Chemie im Großen zerstörender, explodirender, entzündender, Menschen, Städte, Festungen und Länder in unerhörter Kraft und Geschwindigkeit verwüstender Compositionen. Welch’ furchtbare chemische Geheimnisse vermuthet man hinter Cherbourg und andern Festungen des „Kaiserreichs, welches der Friede ist“! Und hat nicht jedes Arsenal in den christlichen Königreichen irgend eine mysteriöse Explosions-Mischung oder neue Waffengattung von unerhörter Tragweite und Mordgewalt?
Von den meisten dieser Geheimnisse wissen wir gewöhnliche Sterbliche, die wir blos das Geld oder uns selbst für die Kriege liefern müssen, wenig oder nichts. Doch was die großartigste und eifrigste aller Kriegswerkzeug-Industrieen, die englische, betrifft, ist vieles Geheimniß offenbar geworden, z. B. das große Ereigniß des Jahrhunderts, wie die Armstrong-Kanone genannt ward, so sehr auch die „Autoritäten“ thun, als hätten sie noch Alles für sich, und obgleich Theilhaber der Erfindung das ganze Patent längst an Amerika und Frankreich verkauft haben.
Im Arsenale zu Woolwich haben wir uns früher schon einmal umgesehen.[4] Jetzt gilt es, den entlegeneren Kanonen-Probir- und Exercirplatz Shoebury-Neß zu besuchen, um einigermaßen zu sehen, was England für angewandte Mathematik und Chemie auf den künftigen Kriegsschauplatz liefern würde.
Selbst die Engländer wissen meist nicht, was oder wo Shoebury-Neß ist. In den Zeitungen kommt der Name zwar oft vor und in der Regel mit der Nachricht, daß dort schon wieder eine Kanone gesprungen sei. Was ist Shoebury-Neß? Wo ist Shoebury-Neß? Warum zerschmettern Leute neue Kanonen à 1500 bis 3000 Pfund per Stück in Shoebury-Neß? Und wie ist’s mit der Armstrong-Kanone, dem Ereigniß des Jahrhunderts?
Versuchen wir, zu antworten.
Shoebury-Neß also ist ein Stückchen Landzunge, die England von der Essex-Küste aus, nicht weit von der Themse-Mündung, in den Canal und gegen Frankreich heraussteckt, ein schreckliches Stück Sand ohne Bewohner, ohne Häuser, ohne Vieh, ohne Bäume, ohne Felder. Weiter landeinwärts liegt zwar das ärmliche Shoebury, aber die Zunge selbst, die Neß, ist aus der Sahara herausgeschnitten. Nichtsdestoweniger geht’s da sehr oft lebendig und laut her. Hier werden nämlich alle neuen, großen Kanonen, Mörser, Carronaden, Haubitzen und alle die unzähligen neuen, riesigen Kriegs-Instrumente, die auf Grund von Patenten zum ersten Male gemacht wurden, erst probirt, und zwar stets mit stärkeren Ladungen, als ihnen später zugemuthet werden soll. Bestehen sie die Probe, gut; aber sie platzten bisher größtentheils, wenigstens fast alle die neuen Riesenkanonen, welchen vorher nachgerühmt ward, daß sie mit einer Explosion Vernichtung durch die halbe Schöpfung schleudern würden. Es liegt für uns, die wir uns, wenn’s losgeht, doch blos todtschießen lassen oder dafür bezahlen müssen, daß Andere tausendweise todtgeschossen werden, eine Art Trost darin, daß diese mörderischen Ungeheuer sich mit dem ersten Schusse blos selbst umbrachten, ohne weiteren Schaden zu thun.
Nur ein furchtbarer Mörser, der größte unter allen seinen Collegen, in dessen Mündung ein Mann beinahe aufrecht stehen kann, 1½ Yard im Durchmesser, ½ Yard dick in der Eisenhaut und fähig, 500pfündige Bomben zu schleudern, und die Armstrong- Kanone haben unter allen neuen Kanonen-Versuchen die Probe bestanden.
Das Kriegs-Ministerium hat während der letzten fünf Jahre über sechshundert Erfindungen für Erleichterung und Erweiterung der Mordgewalten im Kriege zu Gericht gesessen und mehr als 150 praktisch probirt. Von letzteren haben sich nicht mehr als zwanzig bewährt. Unter diesen steht die Armstrong-Kanone obenan. Sie schleudert, wie die Regierung dem Unterhause versicherte, Bomben-Cylinder mathematisch genau und im richtigen Augenblicke ganze Regiments-Salven um sich her schmetternd bis fünf englische Meilen weit auf den erzielten Punkt. Das klingt beinahe wie Marktschreierei, die wir hier weiter nicht zu untersuchen haben. Wir beschränken uns auf kurze Verdeutschung der Beschreibung, die wir in einem englischen Ingenieur-Journale fanden.
Danach ist die Armstrong-Kanone allerdings ein merkwürdiges Monstrum. Bis jetzt sind zwei Größen fabricirt worden, von 3½ und 2½ Zoll Bohr, beide 10 Fuß 6 Zoll lang und mit 40 Rifle-Rinnen. Jede ist doppelt oder vielmehr dreifach dickgehäutet. Die innere Haut besteht aus Stahl. Ueber dieser ist in Spiralen ein dickes Band von Eisen geschmiedet, und darüber eine andere Spirale in entgegengesetzter Windung, ebenfalls von zähem Schmiedeeisen. Die größere Kanone wiegt so 360 Centner. Das Merkwürdigste kommt nun aber erst. Die Baxe oder der hintere Theil besteht aus einem Pflock, der locker geschraubt werden kann und hohl ist. Es wird nicht, wie es hieß, durch die nach Wegschraubung der Baxe entstandene Oeffnung, auch nicht durch die Mündung, sondern von der Seite oben geladen. Hier wird ein viereckiger Eisenblock herausgehoben und die Kugel, welche keine Kugel ist, in die Oeffnung gebracht, für welche zugleich durch Aufschraubung des hohlen Baxen-Blocks Raum gemacht wird. Letzterer wird darauf wieder festgeschraubt, so daß die Kugel gegen einen kleinen Vorsprung im Innern festgedrängt wird. Hierauf kommt [246] die eine Patrone mit Flanell-Futteral hinein, auf diese wird der viereckige Eisenblock, durch welchen das Zündloch in einem stumpfen Winkel läuft, wieder festgerammt. Das Zündloch in dem Blocke endigt in eine Kupferscheibe mit Höhlung, unmittelbar vor dem Blocke angebracht. In diese Höhlung wird eine andere kleine Patrone gesteckt, die blos den Zweck hat, die große inwendig zu entzünden, da diese wegen des winkeligen Zündloches nicht direct getroffen werden kann. Deshalb sind auch zwei Zünder nöthig, deren chemische Composition noch als Geheimniß bezeichnet ward. Die Bombe oder Kugel ist ein Cylinder, hinten eiförmig, vorn mit einem Zünder im Maule, von bleiernen Bändern umgeben, die bei der Entladung so ausgequetscht werden, daß sie das ganze Geschoß mit einer Bleidecke umgeben. Die Armstrong-Kanone ist bei aller schweren Bedeutung im Zerstören ungeheuer leicht. Zwei Männer können die kleinere Sorte tragen. Man will damit in einer Entfernung von fünf Meilen sechs Fuß tief in eine Reihe hintereinander aufgeschichteter Eichenbreter geschossen haben. Nach der Erklärung des Kriegsministers im Unterhause schleuderte man mit fünf Pfund Pulver eine 32 pfündige Bombe fünf Meilen weit genau in das bestimmte Ziel. Dies kann man auch, nach einem Patente Armstrong’s, in dickster Nacht, also blindlings, sicher treffen.
Sir W. Armstrong, viele Jahre gewöhnlicher Ingenieur in Newcastle, ist wegen seiner Kanone bereits geadelt und der Königin vorgestellt worden. – Wegen Erfindung eines Lebensrettungsmittels wird Niemand unter die Edeln erhoben. Leben retten kann ja jeder gewöhnliche Doctor. Sir Armstrong ist auch Haupt-Ingenieur der neuen Regierungs-Rifle-Kanonen-Fabrik in Newcastle, wo das Princip seiner Erfindung in großen Kanonen weiter ausgeführt werden soll.
Früher mit ihm geschäftlich Verbundene entzweiten sich, weil sie über den Gewinn nicht einig werden konnten, und verkauften die Armstrong’sche Erfindung auf eigene Rechnung an Frankreich und Amerika. Die Russen, die immer Sachverständige in aller Welt haben, sind umsonst dahinter gekommen.
Vielleicht haben aber die englischen Kriegswerkstätten doch noch manch Geheimniß für sich, wie die anderer Potentaten die ihrigen. Hier ist wenigstens eine Liste der merkwürdigsten und fürchterlichsten:
Neue Stahlkanone von Shortridge; Parke’s neues, sechsfach (?) das gewöhnliche übertreffende Schießpulver; Longridge’s gußeiserne, drahtumschmiedete Kanone; Lawrence’s „Bombenmischung“; Forrester’s Mörser von canadischem Holzkohlen-Eisen; Disney’s „infernale Flüssigkeit“, die, aus Bomben spritzend, Alles umher in Brand steckt; Capitän Norton’s „Flüssig-Feuer-Rifle-Bombe“ (Phosphor in Schwefelkohle aufgelöst u. s. w.), die beim Probiren auf Shoebury-Neß ganz durchnäßte Wollsäcke in Brand steckte, und mit welcher der Erfinder jedes Linienschiff unlöschbar in Flammen aufzulösen verspricht; Dundonald’s seit fünfzig Jahren geheimnißvoll besprochener und jetzt ausgeführter „Devastator“, der das Motto verwirklichen will: „Es muß Allens verrungenirt werden“; Wade’s „Congreve-Raketen-Bomben-Drache“, bestehend aus Platzbombe mit je ein Dutzend daran gebundenen Congreve-Raketen; Robert’s Mörserschiff, schwimmende Batterieen von Eisen; Norton’s Bomben, die ohne Kanone oder Mörser von Congreve-Raketen unter die Feinde geschossen werden; Boxer’s Zünder für Bomben, jeder mit 400 Kugeln; Shaw’s Rifle-Batterie, die mit einem Druck des Fingers 1000 und mehr Gewehre abfeuert; Mackintosh’s Stinkflüssigkeit, auf das Meer für die feindliche Flotte auszugießen und diese damit zu ersticken. Ist’s genug der Erfindungen christlicher Liebe für unsere Mitbrüder? Wir haben vorläufig genug, aber die Kriegsverständigen arbeiten noch Tag und Nacht an deren Vermehrung und Verfürchterlichung.
Die Versuche und Proben neuer Mordinstrumente während der letzten fünf Jahre haben in Woolwich und Shoebury-Neß allein über neun Millionen Pfund Sterling gekostet. Sie wurden größtentheils in Versuchen des Riesigen und Kolossalen verplatzt. Die „Lancaster-Oval-Kanone“ sollte Sebastopol und sogar Kronstadt zertrümmern. Man machte solche Kanonen mit Eifer und Bomben dazu à 30 Pfund Sterling. Die Kanonen platzten aber größtentheils bei erster Probe, und die, welche hielten, spieen die Bomben in höchst bedenklichen Richtungen aus, so daß man mit ein paarmal hunderttausend Pfund verunglückten Versuchen sich einstweilen für zufrieden erklärte. Jetzt regnete es neue Erfindungen: gußeiserne, schmiedeeiserne, gerifelte, glatte, ovale, hinten geladene, von der Seite geladene Kanonen, runde, ovale, eiförmige, cylindrische, spitzige Kugeln und Bomben. Wir erwähnen nur einige Ausführungen derselben und deren Schicksal.
Der Ingenieur Nasmyth, Erfinder des weltberühmten Dampfhammers, erbot sich, ungeheuere Kanonen mit seinem Hammer zu schmieden, damit uns ein andermal irgend ein Sebastopol nicht so lange aufhalte. Die Regierung gab ihm Geld und er fing nun mit seinem Achtzig-Centner-Dampfhammer an, 8 Fuß lange und 4 Fuß dicke Eisenmassen zusammen zu schmieden, in welche dann ein Loch gebohrt ward. Nachdem die Masse außen gedrechselt und polirt war, lag die erste schmiedeeiserne Kanone da. Man schleppte sie mit ungeheurer Anstrengung von Pferde-, Dampf- und Hebelkräften nach Shoebury-Neß, lud sie mit einer zehn Centner schweren Halbkugel (auch Erfindung) und schmetterte sie in alle Winde, nämlich die ganze Kanone. Es ergab sich, daß beim Schmieden der ungeheueren Masse ein Theil des Eisens crystallinisch, also von leichterer Textur geworden war. Einige Nasmyth-Kanonen hielten zwar hernach, aber die ganze Sache ist für ein paar hundertausend Pfund aufgegeben.
Das Monstrum der Mersey-Eisen-Compagnie, 15 Fuß lang, 44 Zoll Durchmesser, auch geschmiedet, 480 Centner schwer, zerschmetterte mit einer 300pfündigen Kugel dicke Eisen- und Balkenmassen, kostete aber 3000 Pfund, so daß man für diesen Preis kein zweites schmieden ließ. Der „Palmerston-Mörser“ von 36 Zoll Bohr, aus Schmiedeeisen-Reifen, 9 Zoll breit und 3½ Zoll dick zusammengehämmert und mit 520pfündigen Bomben einer Compagnie geladen, flog beim ersten Versuche in tausend Stücke.
Eine schmiedeeiserne Bombe, von Mr. Britten erfunden und gemacht, sollte mit der Hälfte Pulver noch einmal so weit gehen, als die gewöhnlichen. Versuche in Shoebury-Neß sollen gelungen, aber die weitere Ausführung der Erfindung aufgegeben worden sein.
Die Polygonal-Rifle-Kanonen des Manchester Ingenieurs Whitworth, neunkantig inwendig, aus einzelnen Winkelstückchen zusammengesetzt und dann mit Schmiedeeisenringen gebunden, barsten auch größtentheils, wenn auch erst bei der vierten bis neunten Abprotzung.
Die „Vierviertel-Cylinder-Schmiedeeisen-Kanonen“ des Ingenieurs Dundas waren ein Triumph, aber nur in der Theorie. Jede kostete mehr, als ein mit Gold beladener Esel, durch welchen man nach Alexander dem Großen auf eine minder gefährliche Weise Festungen einnehmen kann.
Auch kam einmal die Stahlkanone des Herrn Krupp[WS 2] aus Essen am Rhein nach Shoebury-Neß, von der Regierung für 1500 Pfund angekauft: inwendig von Stahl und mit einer Gußeisenjacke bedeckt, 180 Centner schwer. Man lud sie mit einer konischen Bombe, 260 Pfund schwer, und – protzte das Ganze in die Schöpfung hinein. Stahl und Eisen, Alles lag in kleinen Stücken umher.
Das sind einige Andeutungen aus der kanonischen Abtheilung. Dabei haben wir an die sieben Meilen langen Dampfräderschafte zu denken, die in Woolwich Tag und Nacht drehen, bohren, hämmern, gießen, schmieden und in einem Jahre Mordgewalt für jedes einzelne Individuum der jetzt lebenden Menschheit schaffen können.
Wir ahnen nun, wie mörderisch, wie wissenschaftlich gründlich und satanisch ein nächster Krieg ausfallen würde. Es sieht beinahe aus, als müßten die feindlichen Heere im Felde oder auf dem Wasser gegen einander rücken, irgendwie mit einem Fingerdruck etwas loslassen, sich damit plötzlich gegenseitig vernichten und dann Frieden schließen. Die Soldaten liegen nach einer halben Stunde größtentheils alle zerrissen und zerschmettert, die Feldherren setzen sich einen Lorbeerkranz auf den Kopf, und reiten durch Ehrenpforten und weißgekleidete Jungfrauen nach Hause zum Festessen.
Vom Erhabenen zum Lächerlichen ist nur ein Schritt, aber auch umgekehrt, wie man just schreitet. Das fürchterliche, wissenschaftlich ausgebildete Verderben, das Alle in Kriegsbereitschaft haben, nimmt dem Kriege vielleicht just seine Schrecken: man führt am Ende gar keinen Krieg mehr, oder der ausgebrochene endet mit einer Schlacht und doppelten Niederlage. Hoffen wir, daß die höchste wissenschaftliche Bosheit der Vernichtungs-Industrie gerade in ihrer Spitze abbrechen und sich in sich selbst auflösen werde.
[247]
Versenkt sich der Blick des sinnigen Menschen in die Tiefen des nächtlichen Sternenhimmels, so füllt sich das Gemüth mit ahnenden Empfindungen, der Geist wird ergriffen von forschendem Verlangen. Er fühlt sich winzig inmitten der Unendlichkeit gewaltiger Mächte, – er erkennt sich groß in seiner Kleinheit, wenn er sich mit seiner Glaslinse und seinem Rechenstabe emporschwingt, den geistigen Flug durch diese Ewigkeiten nimmt und den leuchtenden Sternen für Aeonen ihre Bahnen vorzeichnet.
Aber in heutigen Tagen fängt er an, noch einen anderen Weg zu brechen, auf dem er Antwort sucht auf die großen Fragen der Schöpfung, es ist der der Physik und zuletzt der der Chemie, mit denen er einzudringen wagt in den dunkeln labyrinthischen Grund des Weltgebäudes.
Wie? Will er hinauflangen mit seiner Retorte in das Himmelsgewölbe? Will er den Sternenstoff destilliren? Will er keck den Sonnenglanz zerlegen? – Nicht doch! Aber der Sonnenglanz kommt zu ihm herunter; er gibt sich gefangen, läßt sich geduldig zerschneiden in sieben Portionen und gehorcht ihm als dienender Knecht zum Bildermachen. Und der Sternenstoff? Der kommt gar von selbst herbeigeflogen und springt ihm in den Schmelztiegel hinein. Da gibt es Donnern und Rasseln am Himmel, eine prachtvolle Leuchte gibt ihm das Geleite in unsere Atmosphäre herein, und ein wunderbares Gebilde kommt aus den himmlischen Reichen als Gesandter bei uns an.
Was in aller Welt ist das? Was schlägt in ein Dach ein, was schmettert hier einen Baum nieder, was tödtet dort einen friedlichen Menschen? – Es ist ein Meteorstein (Meteorit), ein Stein aus Eisen, aus Kohle, der mit Wucht in den Boden eingeschlagen hat. Er ist heiß, man verbrennt die Hände an ihm und kohlschwarz sieht er aus. Das ist keine Gestalt aus des Himmels Klarheit, die Hölle scheint ihn ausgeworfen zu haben; mit Toben, mit Feuer und Rauch und mit wüthender Gewaltsamkeit feiert er seinen Eintritt bei uns. Er selbst zerschmettert seinen Leib dabei und geht in Trümmer.
Doch siehe, innen ist er nicht mehr schwarz, er ist weiß. Er muß silbern, er muß golden sein, eine Menge gelber und weißer blanker Körner glänzen aus seinen weißlichen Eingeweiden metallisch heraus. Wagen wir es, ihn zu zergliedern!
Da finden wir, daß seine Schwärze nur aus einer oberflächlichen Haut besteht; sie hüllt ihn ganz ein, ist nur so dick als ein Kartenblatt darüber hergezogen und so hart, daß man damit die Fensterscheiben ritzen kann. Man sollte glauben, daß sie zum Schutze des Steines da wäre. Dem ist aber nicht so; wir haben gesehen, wie er in Feuer und Flammen aus dem Himmel hervorbrach und heiß auf der Erde ankam. In diesem Feuer, das nur Secunden dauerte, hat er eine oberflächliche Schmelzung erlitten und davon die dünne schwarze Rinde erhalten, in der wir ihn einige Augenblicke darauf finden.
Ganz anders ist sein Aussehen im Innern, wenn wir ihn zerbrechen. Die glänzend metallischen, gelben und weißen Körnchen darin sind kein Gold und kein Silber, sie sind Schwefelkies und blankes Eisen. In großer Menge sind sie ziemlich gleichförmig in der graulich-weißen Substanz des Steines zerstreut. Aber auch diese letztere ist nicht einfach. Wir sehen in eine feine erdige, rein weiße Grundmasse unzählige der verschiedensten Körper eingebettet. Manche sind groß, wie Wallnüsse, wie Mandelkerne; andere klein, wie Hanfsamen, wie Mohn, ja, viele sind kleiner, als Vanillekörnchen, und legt man etwas davon unter ein Vergrößerungsglas, so gehen die Maße herab bis in’s unendlich Kleine, die feinsten Nadelstiche sind grob gegen Millionen schwarze krystallinische Pünktchen, die man darein eingesäet findet.
Betrachten wir aber diese für sich, so finden wir die meisten davon wieder nicht einfach; auch sie erscheinen wieder zusammengesetzt aus allerlei Theilchen, und so kommen wir an kein Ende in dem feinen Gemenge der mannichfaltigen Bestandtheile der Meteoriten. Kein irdischer Stein ist ihnen in der Zusammensetzung gleich.
Werfen wir einige Blicke auf einzelne dieser Körperchen, aus deren Haufwerk ein Meteorit besteht. Zuerst auf die schönen goldgelben Schwefelkiese. Sie zeigen sich krystallisirt, ganz in denselben Formen, wie wir sie aus unsern Bergwerken hervorholen.
Dann prüfen wir die Eisenkernchen. Sie sind weich, lassen sich feilen, hämmern, fletschen, auflösen in Säuren, niederschlagen, man kann aus ihnen Englischroth, Berlinerblau und Alles machen, was unser irdisches Eisen gibt. Zerlegt man sie mit chemischen Hülfsmitteln, so findet man fast immer Nickelmetall darin. Bisweilen ist das Eisen nur in geringer Menge vorhanden und verschwindet dem freien Auge; bald mehrt es sich, nimmt ein Viertel, die Hälfte des Steines ein; bald klumpt es sich und macht ganze größere Kerne darin aus; ja, es nimmt endlich so überhand, daß der ganze Stein fast aus nichts besteht, als aus dem vorherrschend gewordenen Eisen und Nickel allein. Man kann ihn dann nicht mehr einen Stein nennen, sondern es wird eine Eisenmasse daraus, die bisweilen zu Hunderten von Centnern anschwillt.
Vor Allem begegnen uns gewisse runde Kügelchen, die sehr häufig in den Meteoriten in’s Auge fallen. Zunächst gewahren wir ganz kugelrunde, glänzende, dunkle, harte Körperchen, die wie Schrote in die weiße Grundmasse hineingeworfen erscheinen. Im Jahre 1794 ist in Italien bei Siena ein ganzer Regen von kleinen Meteoriten vom Himmel gefallen, in diesen finden sich Tausende solcher runder, schöner, reinbegrenzter, glänzender Kügelchen, die meist graulichschwarz in weißem erdigem Grunde liegen. Im Jahre 1798 geschah Aehnliches bei Benares in Ostindien. Feurige Wolken erschienen plötzlich am Himmel und schwarze Steine stürzten zahlreich aus ihnen herab zur Erde; alle waren außen schwarz und innen weiß und voll von kleinen runden, harten Kügelchen von Mohnkorn- bis zu Hanfsamengröße, dunkelgrau, aber glanzlos. Sie zeigten sich so lose eingelagert in die Steine, daß man sie leicht herausnehmen konnte; es blieb dann ein reines, glattes, hohles Kugellager im Muttergesteine zurück. – Ein ganz ähnlicher Stein fiel zu Utrecht im Jahre 1843; ein anderer zu Littlepiney in Missouri; andere zu verschiedenen Zeiten zu Pultawa in Rußland, zu Richmond in Virginien, zu Epinal in den Vogesen, zu Weston in Connecticut, zu Blansko in Mähren, zu Heredia in Costarica, zu Seres in Macedonien, zu Mäsing in Baiern, zu Lontolax in Finnland, zu Borkut in Ungarn, zu Bremervörde in Hannover, und so eben in unseren Tagen recht schöne zu Ausson und Clarac in Südfrankreich. Alle diese Steine zeigen auffallend schöne Kügelchen in ihre Grundmasse eingelagert. Diese reine runde Form, wo die Kügelchen wie gedrechselt erscheinen, geht dann in’s Eirunde, in’s Längliche, in’s Plattgedrückte und in alle Gestalten von abgerundeten Geschieben über. Endlich werden die Körperchen eckig und nehmen alle Formen von Bruchstücken und Splittern an, ja, zuletzt gehen sie im Steine von Kaba und Alais mitunter völlig in weißliche Splitter, ja Fetzen über. Nahm man solche Kügelchen heraus und gab sie unsern Chemikern, so wiesen sie nach, daß sie größtentheils aus nichts als ganz aus derselben Mischung bestehen, wie unsere gewöhnlichen irdischen Olivine.
Aber die Grundmasse selbst, prüft man sie genau, besteht auch aus lauter terrestrischer Substanz, aus Augit, Hornblende, Feldspath, Oligoklas, Anorthit, Eisenoxydulkernchen, Thonerde, Kalk, Chromoxyd, dann Kobalt, Mangan, Kupfer, Zinn, Schwefel, Phosphor, Kohle u. s. w., endlich aus einer Menge Trümmern von Olivin, und dies nicht selten so reichlich, daß die Grundmasse zum größten Theile daraus zusammengesetzt erscheint.
Ein allgemeiner Rückblick auf alles dieses zeigt uns also, daß sie nichts Anderes, als ein zusammengesetztes Trümmergestein, eine Breccie von einer Menge verschiedenartiger Dinge sind, die da zusammengemengt, bald groß, bald klein, bald eckig und splitterig, bald länglich, bald rund, bald fest, bald locker, bald hart, bald weich, bald metallisch, bald steinig regellos aneinander gefügt, bald einfach, bald selbst wieder gemengt in eine schwarze Brandrinde eingehüllt sind.
Ein solches Gemenge der verschiedenartigsten Gebilde nun kann nicht auf einmal und aus einem Gusse der schöpfenden Werkstätte hervorgegangen sein, es müssen die entlegensten Zeiten und die mannichfaltigsten Kräfte an seinem Aufbaue gearbeitet haben. Alle die in den Stein eingeschlossenen, Gebilde müssen fertig gewesen sein, [248]
Völkerschlacht bei Leipzig. Der letzte Stadtsoldat. Blüthezeit der Studentenkämpfe mit den Knoten. Eine Leipzigerin aus der guten alten Zeit. Anfänge des Fiakerwesens. |
Das Sturmjahr 48: Dienstmädchen-Versammlung. Verbrüderung von Civil und Militair (September 48.) Milch-Esels Tod bei der Erstürmung der großen Barrikade (Mai 49.) Gosen-Studien. |
Erste obrigkeitliche Probe der Meß-Musik. Verhandlungen zwischen Rath und Stadt-Verordneten über die neuen Park-Anlagen. Die Kreuzstraße bei schlechtem Wetter. Toilette zum Leipziger Künstler-Fest am 19. März 1859. |
[249] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [250] ehe sie in denselben eingeschlossen werden konnten; sie sind Bausteine zum Gebäude des Meteoriten und mußten früher dagewesen sein, als dieser selbst. Sie haben also als kleinere Meteoriten ein älteres Dasein und wir erhalten sie nur in einem späteren eingelagert als Meteoriten in Meteoriten.
Wie aber sollen wir uns die Hergänge hierbei denken? Welchen Weg haben wir einzuschlagen, um aus einem Labyrinthe uns herauszufinden, in das die Himmelssteine uns hier verstricken? Wie uns Licht in dieser Finsterniß, wie Verständniß in diesen Widersprüchen uns verschaffen, ohne in’s Schwankende und Haltlose der Muthmaßung uns zu verlieren? – Versuchen wir es, in rückwärts gehender Zergliederung der uns vorliegenden Thatsachen aufwärts zu klimmen und, den Faden feststehender und sicherer Gesetze der Physik nicht aus der Hand lassend, zu sehen, wie weit der kleine Mensch mit seiner starken Logik und seinem unermüdlichen Fleiße vorwärts zu dringen vermag in der Erkenntniß der Urkräfte des Universums und der Geheimnisse des Weltbaues.
Wir fangen damit an, daß wir alle die Gebilde einzeln aus den Meteoriten heraussondern und sie nach einander unter’s Mikroskop bringen. Da finden wir, daß die Schwefelkiese durchaus krystallinisches Gefüge besitzen; daß die Eisenkörnchen innere Linien darbieten; daß die Kügelchen Blätterdurchgang haben; daß alle die Olivine, die Augite, die Hornblenden u. s. f. durchaus Krystalltextur besitzen, kurz, daß Alles an den Meteoriten von krystallinischer Structur ist; daß durchaus nichts Amorphes (Gestaltloses) in ihnen sich findet; daß die kleinsten und feinsten Theile unter dem Gesetze der Krystallisation ihre Entstehung und Gestaltung erhielten, daß mit einem Worte die Meteoriten ein zusammengesetztes Gebilde der Krystallisationskraft sind.
Damit sind wir um einen großen Schritt weiter. Wir lernen daraus, daß das Gesetz der Kristallbildung, sein Dualismus und seine Polarität, seine Fernwirkung und seine Anziehung, umgekehrt seine Abstoßung und Wahlfähigkeit nicht blos bei uns auf der Erde, sondern weit fort durch das ganze Sonnensystem, so weit die Bahnen der Meteorsteine sich erstrecken, herrschen und über die Bewegung des Stoffes gebieten. Wir erfahren, daß das Krystallisationsgesetz durch das Weltall waltet, so gut wie die Gravitation.
Von da können wir wiederum einen Schritt weiter versuchen. Die Physik lehrt uns, daß kein Körper sich krystallisiren kann, es seien denn zuvor alle seine componirenden Bestandtheile bis in ihre letzten Atome hinaus lose und beweglich. Das eben macht die Grundbedingung der Krystallisation, daß die feinsten Bestandtheile (die Moleküle) der Körper frei beweglich ihrem inneren Antriebe zur Gestaltung ungehindert müssen folgen können. Das aber ist nur möglich, wenn diese Elementartheile von einander unabhängig, ohne Zusammenhang, gelöst und alle einzeln sich selbst überlassen sind. Der ganze Meteorit, alle seine Bestandtheile mußten also, ehe sie zu Krystallen zusammentraten, gelöst und in freier Schwebe gewesen sein, wie der Zucker im Wasser, wie der Wasserdampf in der Luft. – Was konnte aber möglicherweise das Lösungsmittel für die Meteoritenstoffe sein? Es konnte nach unsern geläufigen Begriffen nur ein tropfbarflüssiges oder ein luftförmiges sein, andere existiren unseres Wissens nicht. Tropfbarflüssig konnte es unmöglich sein, man müßte denn die Heimath der Meteoriten für Meere halten, die das Ende der Welt umflössen; das wäre eine Absurdität, die einer Widerlegung nur bei den Bekennern der griechischen Mythologie bedurft hätte. Luftförmig? Was müßte das für eine Luft sein, welche Eisen, Chrom, Kobalt, Mangan, Kupfer, Zinn, Kohle, Schwefel u. s. w. alle durcheinander aufgelöst in sich trüge? Dies widerspricht unseren chemischen Kenntnissen. Und wenn sie wirklich aus wässerigen und gasförmigen Medien sich gebildet hatten, die man sich irgend wo im Räume vorstellig machen wollte, so würden sie aus ihnen nie haben heraustreten können, sie würden nach den Gesetzen der Schwere, die erwiesenermaßen durch das Universum herrschen, in oder bei ihnen haben bleiben müssen. So wenig eine Wolke oder ein Hagelkorn aus unserer Atmosphäre hinaus in die weite Welt fliegen kann, ebensowenig würde ein Meteorit seine Mutterlauge haben verlassen können. Wir würden also in solchen Fällen niemals den Besuch eines Aèrolithen erlebt haben. – Kann nun ein solches Erzeugniß weder aus Wässerigem, noch aus Luftigem sich herausgebildet haben (zu einer erschütterten Wagenachse wird, denke ich. Niemand seine Zuflucht nehmen wollen): woher sollen dann endlich diese Kristallisationen kommen? Die Physik droht uns im Stiche zu lassen. Nur Eins bleibt noch möglich, und das ist, daß die Atome der Meteoritenbestandtheile aus gar keinem Medium kommen, daß sie in ihrem dunkeln Ursprünge für sich selbst lose und frei waren, daß alle ihre Substanz im Gaszustände sich befand, daß die Atome frei im Welträume schwebten. Das ist nicht nur nicht unmöglich, sondern wir wissen in der That, daß die meisten Körper sich in Gaszustand versetzen lassen, ja, daß es gar nicht sehr schwierig ist, das Eisen selbst zu gasificiren. Daß die Welt etwas wie Anfang gehabt haben muß, das sehen wir daran, daß sie einen Fortgang hat. Die Paläontologie (Urweltkunde) lehrt uns, daß sie einen Entwickelungsgang nimmt. Es mußten Pflanzen da sein, ehe Thiere leben konnten; es mußten Thiere da sein, ehe der Mensch leben konnte; sehr spät erst kommt er in der Schöpfung zum Vorscheine. Rückwärts blickend, sehen wir die feste Welt mit Krystallen beginnen, und damit diese Krystalle sich bilden konnten, mußte ein Stoffzustand vorangegangen sein, in welchem alles Ding gasförmig war. Hier beginnt für uns die Welt; weiter zurück wird menschliches Forschen nie mehr dringen können. Aber auf dieser Höhe kommen wir mit Consequenz an; wir verlassen keinen Augenblick den Codex der Physik und bis hierher gehen wir sicheren Schrittes an der Hand logischer Analyse.
Nun laßt uns umkehren, laßt uns auf dem Wege wissenschaftlicher Begriffsverknüpfungen unser Ziel in’s Auge fassen! Mit Atomen, in unermeßliche Räume vertheilt, müssen wir nach physikalischen Gesetzen das All als beginnend uns denken. So ungefähr, nur vor siebzig Jahren mit weniger Klarheit, dachte es sich einer unserer scharfsinnigsten Denker, der große Laplace; er sprach unbestimmt von Nebeln, er kannte noch nicht unsere jetzt so vollendet entwickelten Lehren von den Atomen. An uns ist es nun, mit den neuen wissenschaftlichen Hülfsmitteln seine Vorstellungen zu verkörpern und sie zu Gedanken auszubauen. Was diesen Gaszustand alles Stoffes bedingte, das wissen wir freilich nicht. Das Princip der Abstoßung und Ausdehnung, das im Urzustände geherrscht haben muß, muß langsam von ihm gewichen sein und die Anziehung, die Vereinigung, die Kristallisation ihren Anfang genommen haben; das Werden der Dinge begann: kleine Körperchen gestalteten sich, die krystallisirend aneinander anschlossen[WS 3], wie wir dies täglich in unseren Werkstätten selbst erzeugen. Ja, ein recht gut zutreffendes Beispiel haben wir hier in Deutschland den ganzen Winter vor uns. Das in der klaren Luft befindliche Wassergas ist darin schwebend und unsichtbar. Die Bedingungen des losen Zustandes seiner Moleküle werden langsam aufgehoben und allmählich werden sie fest, schließen sich krystallisirend aneinander an und aus reinen Gaszuständen entwickeln sich kleine Wasserkrystalle, – es bildet sich Schnee. Wirkte keine Schwere auf ihn, keine Anziehung von Seiten der Erde her, so bliebe er in dem Räume schweben, in welchem er sich erzeugte, und bildete einen großen Schwarm von Eiskrystallen. Er wird aber heruntergezogen und bildet eine geologische Formation, ein Schneelager. Ganz in ähnlicher Weise denken wir uns die ersten Bildungen fester Körper. Kleine Krystallchen von Eisen, Nickeleisen, Schwefeleisen, Chromeisen, von Olivin, Augit, Hornblende, von Feldspath, Anorthit, Albit, Oligoklas haben sich zusammengethan. Milliarden haben sich so aus den Atomen und Moleküle herausgebildet, und da keine Schwere sie unter ihr Gebot nahm, wie es bei uns dem Schnee widerfährt, so blieben sie beisammen und existirten als ungeheure Schwärme fort.
Was mag nun aus ihnen geworden sein? Alle großen Weltkörper sehen wir in Bewegung, Wie das kommt, wer und was sie in Bewegung setzte, davon wissen wir freilich wenig. Allein so wie die festen Gestirnmassen, so müssen auch unsere Krystallschwärme in Bewegung gesetzt worden sein. Sie werden also, wie Alles, was am Himmel lebt, ihre rastlose Wanderung haben antreten müssen und unter das Machtgebot irgend eines großen Weltkörpers, eines Kolosses von einem Fixsterne gerathen sein, dem sie unterthan wurden. Auf diese Weise müssen ungeheuere Schwärme am Himmel herumziehen, die in vorgeschriebenen Bahnen sich bewegen.
Im vorigen Herbste nahm ein Officier der kleinen Armee Canada’s Urlaub, um sich einmal in Civil zu amüsiren. Es war „Altweibersommer", die schöne Zeit, wenn die Tage, während welcher man nach Jean Paul kaum weiß, wo die Lampe steht, zu bereuen scheinen, daß sie so kurz und kalt werden, und noch einmal zu ihrer warmen, sonnigen Herrlichkeit zurückkehren. Noch war kein Blatt gefallen, aber die Natur trug bereits das elegische bunte Kleid der Vielfarbigkeit mit allen Tinten des Vergilbens und dunkler, trotziger Belaubung. Sträuche mancherlei Art trugen Beeren, zuweilen heiterer, als die Blüthen des Frühlings. Duftiges Indianergras mit Tausenden von Blüthen bedeckt, rankte sich über dunkele Nadelhölzer und erfüllte die Luft über den Tausenden der „Christen-Inseln" im Huron-See mit der Fülle unendlicher Wohlgerüche. Er ließ sich und seine Freunde durch den Insel-Archipelagus rudern, bis offenes Wasser erreicht war. Jetzt trieb das ausgespannte Segel weit in das hohe Wasser hinein und schaukelte die Luftschiffer unter Leitung von zwei sehnigen braunen Indianern nach der gegenüber dämmernden Wildniß der Bisons und Bären. Des Nachts wurde am Ufer geschlafen und gekocht und der Tag auf luftigem, leichtem Seeboote zugebracht oder gelegentlich zu kleinen Jägerausflügen benutzt, bis die eigentliche, ferne Wildniß erreicht war. Hier wurden Boot und alle Luxusartikel verlassen, und mit je einer wollenen Decke, einem wasserdichten Anzug, einigen Kochapparaten und der nöthigen Mutation echte, uralte, wilde Jägerzüge in unbetretene Wildniß hinein unternommen. Sie kamen endlich bis zu den Anfängen des „Superior“-Sees, wo sie in einem Fellhändlerboote, das eben nach dem unteren Ende des Sees aufbrechen wollte, Aufnahme fanden. Die Reise dauerte mehrere Tage. Für die Nacht ward das Boot am Ufer festgebunden, Angesichts des Nachtlagers mit prasselndem Urwaldsfeuer, über welchem Töpfe kochten und Bratpfannen würziges Wild zischend und knisternd mundgerecht zu machen verstanden, wie keine andere Bratpfanne in der Welt. Der darauf folgende Schlaf auf bloßer, kalter Erde, gegen die und deren Sturm und Wetter die einfache wollene Decke hinreichen mußte, war gesund und tief in des Wortes verwegenster Bedeutung.
Eines Morgens freilich fand sich unser Officier plötzlich sehr warm und dick zugedeckt. Der Sturm heulte wie ein Tobwahnsinniger, brach Aeste und ganze Patriarchen von Urwaldbäumen nieder und wühlte in dem Schnee umher, der über Nacht in scharfkantigen Wellen und Gebirgszügen gefallen war. Der Erwachte grub und schüttelte sich aus dem Schnee heraus und sah um sich. Gefährten und Boot waren verschwunden. Nur ein zerrissenes Seil flatterte im Sturme seewärts. Seine Begleiter hatten im Boote geschlafen und waren fort auf die tobenden Wellen geschleudert worden. Er war allein, unser Officier, keine Frage, allein in schneebedeckter, weiter, furchtbarer Wildniß, ohne Lebensmittel, ohne Führer, Hunderte von Meilen fern jeder Civilisation. Eine entsetzliche Situation, in welcher ihn nur die Hoffnung aufrecht erhielt, daß das Boot nach ihm zurückkehren würde. Die untergehende Sonne sah ihn noch warten und wachen. Hernach übernahm ein mächtiges Feuer, das er anzündete, die Rolle der Sonne. Auch heraufzuckende, schießende Nordlichter fanden ihn noch nicht schlafend. Er durchwachte eine furchtbare Nacht. Am folgenden Morgen brach er mit seinen noch gebliebenen Freunden, d. h. der Jagdflinte, einem Messer und Revolver, ostwärts auf, um zu versuchen, in dieser Richtung seine Colonie zu erreichen. unterwegs fand er glücklicher Weise noch einen Tomahawk, der auf einer Anhöhe vom Schnee unbedeckt geblieben war.
So mühte er sich vorwärts durch Schnee und Wüste, immer Angesichts des See’s, aus Furcht, daß er die Richtung verlieren könnte. Die Schneestürme waren entsetzlich, aber abgehauenes und gefallenes Holz gab heiße, hohe Flamme und das sichre Rohr würzige Rebhühner und sonstiges Gethier. In dem dichten Gebüsch einer Zwergfichte fand er endlich Schutz und Schirm für die Nacht. Aber der Schnee bauete auch hier einen Hügel über ihn, unter welchem er bis zum Morgen schlief. Des Morgens hatte er Mühe, sich herauszugraben. Alle Glieder waren starr und steif. Die Füße trugen ihn nicht. Er fiel wieder in den Schnee. Beide Füße waren erfroren. Tüchtig mit Schnee gerieben und in Felle verzehrter Hasen gebunden, mußten sie tragen. Die Flinte und ein Stock bildeten Ergänzungsfüße, Handlanger des lahmen, elenden Hinkens durch eisige, grausame Einöde und Wildniß. So schleppte er sich fort den ganzen Tag lang, bis er gänzlich erschöpft auf Schnee und Eis niedersank. Das Einzige, wozu er sich noch zwingen konnte, war, daß er sich nach dichterem Gebüsch elend hinschleppte und ein Feuer davor anzündete. Er hielt sich für glücklich, eine Art Höhle zu finden, welche durch das dichte Gesträuch offen und vor Schnee geschützt geblieben war.
„Es war ordentlich gemüthlich warm darin,“ erzählt er selbst, „so daß ich beschloß, einige Tage darin zu bleiben und mich zu erholen. Während ich vor meiner neuen Wohnung Feuer machte und einen Hasen abzog, um ihn an zwei Stöcken daran zu braten, ward ich von einem plötzlichen Gebrumme oder Gegrunze überrascht. Die Stille selbst um mich herum schien davor zu erschrecken. Während ich mich in Besorgniß umsah und nachdachte, wie und woher das seltsame Geräusch komme, fuhr ich vor einem zweiten tiefen Brummtone zusammen. Vergebens suchte ich der Sache auf die Spur zu kommen, so daß ich mich endlich müde und matt hinkauerte und dem Hasen zusah, wie er sich braten ließ. Dies dauerte aber nicht lange. Ein tiefes, gräßliches Gegröhle donnerte aus meiner Höhle hervor. Ich sprang auf und wendete mich um, um dicht vor mir einen grimmigen, riesigen Scheusalsbär, den berüchtigten „grizzly“ zu erblicken, das fürchterlichste Thier der nordamerikanischen Wälder. Seine großen, grausamen Augen glühten mich scheußlich an unter seinen buschigen, stacheligen Brauen hervor, und wie die gewaltigen Kinnladen arbeiteten und knirschten in hungriger Wuth, mich zu zerreißen! Ehe ich meinen Revolver ziehen konnte, erhob er sich wie ein Thurm und – schloß mich in seine Arme, so fest, so knochenknackend, daß ich keine Hand rühren konnte. Diese Todesart war mir entsetzlich, obgleich ich während dieser Tage und Nächte meiner einsamen Wanderung auf alle mögliche Arten umzukommen, vorbereitet zu sein glaubte. Müde und erschöpft bis zum Tode, wie ich war, fühlte ich mich doch jetzt wieder stark, so daß ich mit dem einen Arme mir Luft machte und die Hand heraufzwang nach dem Gürtel, um den Revolver zu fassen. Aber durch eine Bewegung des Bären fiel dieser mit einem Schusse zur Erde. Mit einem entsetzlichen Geheul quetschte er mich noch fester, so daß seine Klauen durch meine Kleider drangen und die Haut zerrissen. Aber ich hatte das Messer im Gürtel gefaßt, mit welchem ich mörderlich in seinen Leib stieß, so weit sich mein Arm bewegen konnte. Freilich dies verschlimmerte mir meine Pein. Der Bär warf sich zur Erde, ohne mich im Geringsten locker zu lassen, und riß und biß in Schmerzenswuth meine wollene Decke, die ich glücklicher Weise gegen Kälte um den Kopf gebunden hatte, während er sich mit mir im Schnee wälzte. Die plötzliche Aufregung wich einer tödtlichen Mattigkeit und einem dumpfen Brausen in meinen Ohren, welches nur von dem krachenden, donnernden Gebrüll des Bären übertäubt ward. Bewußtsein und Schmerzgefühl wurden thatsächlich aus mir herausgepreßt, während ich mich mit einer dumpfen Gleichgültigkeit – Folge der Kraftüberbietung und Erschöpfung, die wahrscheinlich den Tod immer süß, gewiß leicht macht – dem Sterben, dem Umkommen hingab.
„Aber selbst von diesem Halbschlummer des Sterbens schrak ich auf, als ein scharfer Knall mein Ohr traf und den Bären in den Kopf, wie ich später erfuhr. Ich fühlte, ich sah ihn hinstürzen. Ich verlor das Bewußtsein, wachte aber von Qualen der Kälte und des Durstes auf und sah mit dem ersten Aufschlags der Augen einen jungen Indianer über mich gebeugt, eifrig beschäftigt, mich mit Schnee zu reiben. Er hatte von der Ferne mein Feuer gesehen und den Schuß meines fallenden Revolvers gehört, und war neugierig herbeigeeilt, um mich von einem scheußlichen Tode zu retten, dem ich mich schon ergeben hatte.
„Die ganze Nacht blieb der rothhäutige barmherzige Samariter bei mir, verband meine klaffenden Wunden und hüllte mich warm ein. Gegen Morgen verließ er mich, um weitere Hülfe aus seinem nicht weit entlegenen Wigwam oder Dorfe zu holen. Nach kurzer Zeit kamen sie herbei und trugen ihren „Bruder“ in’s Dorf, wo sie mich den ganzen Winter pflegten und wahrhaft „brüderlich“ behandelten. Mit ihren Waldkräutern heilten sie meine Wunden bald und gründlich und nahmen, als sich im Februar für mich [252] Gelegenheit fand, meine Garnison wieder zu erreichen, von mir so höflichen, so herzlichen Abschied, daß ich nur mit Rührung und innigstem Dankgefühl an diese rohe, ehrliche, herzliche, uneigennützige Gastfreundschaft, wie man sie unter Christen, feinfühlenden Menschen, selbst leiblichen Geschwistern so selten findet, zurückdenken kann,
„Meine Rückkehr auf den Boden der Civilisation wurde nicht sehr freudig begrüßt. Meine Collegen unter mir waren avancirt, da ich ausgefallen, verschollen, als Todter gestrichen worden war, und nun mußte ich doch als Lebendiger und als derselbe Officier, als welcher ich Urlaub genommen, wieder anerkannt werden. Der Herr College, welcher meine Würde, meine Stelle, ja selbst mein Zimmer geerbt hatte, haßte den Bären, der mich zu schwach umarmt, den jungen Indianer, der mich zum Leben zurückgerufen, und mich, der ich von den Todten wieder auferstanden war. Dieser dreifache Eingriff in sein Avancement, diese Menschlichkeit, die uns Allen passirt war, selbst dem Bären, lief ihm wider alle militairische Ehre.“
Wandernde Speisewirthschaften in Paris. In Paris gibt es Tausende den Restaurationen, Garküchen und Speisewirthschaften, in denen man von sechs Sous an bis zwanzig Franken Mittags essen kann, und trotzdem waren Tausende der Bewohner von Paris genöthigt, sich Mittags mit einem trockenen Imbiß zu begnügen, weil ihnen entweder die Zeit fehlte, sich ihr Mittagessen selbst zu bereiten, oder weil ihnen Raum und Einrichtung dazu fehlten, ihre Umstände es ihnen aber auch nicht erlaubten, zu einem Speisewirthe zu gehen. Es war daher ein höchst zweckmäßiges und philanthropisches Unternehmen, welches der Vicomte von Botherel, unter der Regierung Ludwig Philipp’s, in’s Leben rief, als er das Institut der fahrenden Garküchen errichtete.
Man erbaute zu diesem Zwecke ein großes Gebäude, in welchem sich nichts als Vorrathskammern, Keller und Küchen mit der Wohnung des Inspektors und des Küchenpersonals befanden. Mit diesem Gebäude war ein eigener Schlachthof verbunden, in welchem das Schlachtvieh, welches von der Gesellschaft der fahrenden Garküchen in großen Partieen angekauft war, geschlachtet wurde. Von früh sieben Uhr bis Nachts elf Uhr würde in dem „Magazin der Gesellschaft“ gekocht, gebraten und gesotten und von halb acht Uhr früh bis Nachts zwölf Uhr wurden die Speisen und Getränke (Kaffee, Thee, Chocolade, Punsch, Glühwein) auf eigens dazu eingerichteten großen Wagen durch alle Stadttheile von Paris verbreitet. Jeder Geschmack, jeder Geldbeutel war von diesen fahrenden Garküchen berücksichtigt. Man konnte für zehn Sous Rindfleisch mit Gemüse und für Zwanzig Franken eine feine, ausgewählte Collation von Geflügel, Wildpret, Fischen, Pasteten, Braten erhalten. Die Speisen waren in dem Augenblicke, wo sie an die Käufer verabreicht wurden, noch eben so heiß, als in dem Augenblicke, wo sie aus der Küche kamen. Die Wagen, deren Form der der Omnibuswagen ähnlich, hatten nämlich zwei Reihen eiserne Oefen, die beständig geheizt wurden und auf deren jedem einige Dutzend Kasserole sich befanden. An beiden Seiten des Wagens war eine große Tafel befestigt, auf welcher der Preiscourant der Getränke und Speisen verzeichnet war. Am Vordertheil des Wagens war ein eleganter Sitz mit einem leichten Geländer von Gußeisen angebracht, auf welchem eine hübsche, elegante Dame du comptoir saß, die das Geld und die Aufträge der Käufer in Empfang nahm und ihre Befehle an die Demoiselles und Aufwärter ertheilte, welche die Speisen verabreichten. Es gab zwölf solcher Wagen, in jedem Arrondissement einen. Sie hielten in jeder Straße und auf jedem Platze. Später verdoppelte man die Zahl der Wagen und richtete es so ein, daß sie in jeder Straße dreimal anhielten. Der Preiscourant war übrigens ein sehr mäßiger, geringer, als bei jedem andern Speisewirth von Paris.
Als wir im Jahre 1847 während einer studentischen Ferienreise von Deutschland aus Paris besuchten, bestand das Unternehmen noch; was später aus ihm geworden, ist uns nicht bekannt, wahrscheinlich führte die Februarrevolution auch seinen Untergang herbei. Zu gleicher Zeit wurde in Paris von Holländern eine ähnliche Anstalt errichtet, nur mit dem Unterschiede, daß die holländische Gesellschaft sich ihre Aufgabe dahin gestellt hatte, Paris mit guter kräftiger Fleischbrühe zu versorgen. Sie ließ die Bouillon auf ähnliche Weise verkaufen, wie es die Botherel’sche Gesellschaft mit ihren Speisen that: durch fahrende Wagen, welche von früh 10 Uhr bis Abends 9 Uhr Paris nach allen Richtungen durchkreuzten.
Die neueste Moniteurnote wird von der Berliner Volkszeitung in
einer so derben, schlagenden Weise zurückgewiesen, daß wir uns es nicht
versagen können, einige Stellen daraus mitzutheilen. „Der Pariser Moniteur,“
heißt es, „erlaubt sich wiederum, Deutschland darüber zu belehren, in wie
weit es berechtigt ist, gereizt zu sein, in wie weit es verpflichtet ist, sich zu
beruhigen und in wie weit es Veranlassung hat, sich mit Unterstützung
Frankreichs schönen Hoffnungen auf deutsche Einheit hinzugeben.
„Daß wir alle diese Lehren rundweg von der Hand weisen, versteht sich von selbst. – Läge in diesen Lehren auch eine volle Wahrheit, wir würden sie mindestens unbeachtet lassen, in der Ueberzeugung, daß die Wahrheit befleckt wird durch solche Verkünder. Was auch in der deutschen Nation von Wünschen und Hoffnungen lebt, sie würde sich mit Ekel davon abwenden, wenn die Verwirklichung geboten werden könnte aus solchen Händen, die gegenwärtig in Paris eine der begabtesten Nationen zum leeren Spielzeug der Glücksjägerei und der Corruption herabgewürdigt haben. – Daß die deutsche Nation ihre Einheit schmerzlich vermißt, daran mahnt sie gerade die Frechheit, mit welcher solche Weltbeglücker es vermeinen, sie uns zusichern zu können. Der Moniteur bemüht sich ganz umsonst, uns Lehren zu geben; sind wir auch nicht staatlich geeinigt, so sind wir doch im volksthümlichen Gefühl deutscher Ehre einig genug, um den einstimmigen Ruf zu erheben: Zurück, Ihr glücklichmacherischen Glücksjäger! Eher wird die Zeit kommen, in der wir’s erleben, daß die französische Nation erwacht und ihre Ehre rettet aus der Hand ihrer befleckten Unterdrücker, ehe ein einziges deutsches ehrliches Herz sich verleiten läßt, auch nur die leiseste Hoffnung seiner reinen Wünsche an Euer Lug- und Trugsystem zu knüpfen!
„So würden wir im Sinne und Geist, in Einsicht und Empfinden, im Gefühl und Bewußtsein deutscher Ehre sprechen, auch wenn die Lehren dieses Moniteur an sich wahr wären. Da sie aber an sich Lug und Trug sind, verdienen sie nicht einmal die Sprache redlicher Entrüstung; wir thun genug, wenn wir den Schleier von ihrem Antlitz nehmen und sie nackt hinstellen in ihrer ganzen jammerhaften Gestalt.“
Weiter unten fährt die Volkszeitung fort:
„Als der wirkliche Napoleon die Welt zu erobern ausging, brachte er den Nationen wirkliche Güter der Freiheit, und dennoch haben diese sein Joch nicht ertragen mögen, und die Erinnerung an die Erhebungen unserer Väter sind die anregendsten in unsern Gemüthern. Was Ihr der Welt bringen würdet, das erzählt die ganze Geschichte Eures herrschenden Systems, das ein Abscheu jedes Menschen ist, der die leiseste Spur des Gefühls für Volksrechte und Volksfreiheit hat! – Und doch bildet Ihr Euch ein, es würde irgend ein Volk durch irgend welche Sympathie Euere Lebensexistenz verlängern wollen? – Nun, so verdient Ihr nicht einmal unsere Entrüstung, sondern möget Euch mit der Antwort begnügen, daß in uns die unerschütterliche Ueberzeugung lebt, daß Euere Tage gezählt sind, und der Sturz Eueres Regiments nicht einmal das Glück haben wird, ein tragischer zu sein!“
Herr Dr. Thesmar, der Verfasser des im vorigen Jahre abgedruckten
Artikels: „Die Privat-Irrenanstalten“ sendet uns auf die in Nummer 4.
unseres Blattes abgegebene Replik der Bonner Aerzte eine Gegenerklärung
ein, die allerdings den Beweis bringt, daß die in dieser Angelegenheit
oft genannte Frau Geheimräthin Egen doch nicht so geisteskrank war, als
die Bonner Aerzte in ihrer Replik angaben, wie denn auch ein Zeugniß
ihres jetzigen Arztes, das ausdrücklich von „überstandenem Irrsinn“
spricht, den weitern Beweis liefert, daß diese Dame sich jetzt geistig wohl
befindet und ihren Zustand in klarster Weise beurtheilt. Es fehlt uns
an Raum, die etwas ausführliche Erklärung des etc. Thesmar in ihrem
Wortlaut zum Abdruck zu bringen, und wir begnügen uns deshalb, zumal
das betreffende Aktenstück bereits in der Kölner Zeitung, dem Frankf. Journal
und andern Zeitungen veröffentlicht wurde, mit dieser kurzen Mittheilung.
Interessiren dürfte es unsere Leser noch, daß der von Dr. Thesmar so
entschieden angegriffene Lennartz wegen des an W. Franßen aus Xanten
verübten Vergehens der Mißhandlung zu einmonatlicher Gefängnißstrafe
verurtheilt worden ist. Die gegen Lennartz eingeleitete Untersuchung ist
dadurch und zwar in der Art zum Abschluß gekommen, daß der größte
Theil der verübten Verbrechen, weil sie länger als drei Jahre vor der
Anhebung der Untersuchung zurücklagen, als verjährt angesehen werden mußte.
Mit dem 1. April begann ein neues Quartal der bei Ernst Keil in Leipzig erscheinenden Zeitschrift:
Unsere Zeitschrift beschäftigt sich mit Land und Leuten weit und breit, auf dem ganzen Erdenrunde. Sie gibt nicht Erdichtetes, sondern Wahrheit, aber was sie erzählt, bestätigt gar oft den altbewährten Spruch: „Wirklichkeit ist seltsamer als Dichtung“. Sie gibt nicht trockene Reiseberichte; sie beschreibt vielmehr Erlebnisse in der pikantesten und kleidet ihre Schilderungen in die eleganteste und anmuthigste Form; denn, was gelesen zu werden verdient, soll auch angenehm zu lesen sein. Ihr Feuilleton ist stets reich und neu. – Die große Verbreitung, welche die „Fremde“ seit ihrem kurzen Bestehen gefunden hat, beweist am besten die Gediegenheit des Blattes.
- ↑ Die detaillirten Angaben, über die Construction des Thurmes, so wie über die Beleuchtungsart sind dessen „Beschreibung des Baues etc.“ entlehnt.
- ↑ Ein Licht, welches eine Vergrößerung oder scheinbare Annäherung des Sehgegenstandes bewirkt, und sowohl mittelst Brechung der Lichtstrahlen als durch Zurückstrahlung von Spiegeln aus hervorgebracht wird.
- ↑ Eine große Sandbank.
- ↑ Siehe Nummer 37. des Jahrganges 1858 der Gartenlaube.