Die Gartenlaube (1859)/Heft 16
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No. 16. | 1859. |
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.Wir waren allein in dem Gemache. Nichts um uns her war unheimlich; aber in uns war es uns desto unheimlicher.
„Ah, Herr Assessor, das war eine sonderbare Entree; da kann einem graulich werden.“
„Ich bin neugierig auf das Weitere, Herr Secretair.“
„Spotten Sie nicht. Ich versichere Sie –“
„Ich sprach im Ernst.“
„Ah, nein, ich bin es nicht. Ist jene junge Person schon eine Verrückte –“
„Eine Verrückte, Herr Secretair?“
„Eine Blödsinnige denn, das können Sie nicht leugnen. Und von ihr hatte man nicht einmal etwas gehört. Wie mag da erst der Alte sein! Ein Glück nur, daß er im Sterben liegt, wie die Andere, die Marianne, sagte.“
„Ein Glück, Herr Secretair?“
„Herr Assessor, wenn der Mensch auch noch die Kräfte eines Rasenden hätte, hier, in dieser Einsamkeit, zwischen den alten Klostermauern, und dazu die andere Verrückte und der alte Satan, und wer weiß, was sonst noch in diesem Hause des Wahnsinnes hauset; und ein Verbrechen soll der Alte ohnehin schon auf dem Gewissen haben – und das alte Weib sah aus, wie ein Verbrechen – ah, Herr Assessor, da könnte einem wahrhaftig ängstlich zu Muthe werden.“
„Ihnen, Herr Secretair?“ mußte ich doch halb scherzend fragen. „Und Sie waren Officier und haben die Feldzüge mitgemacht?“
Aber er antwortete sehr ernsthaft: „Ja, ja, Herr Assessor, und kein Mensch hat mir jemals Furchtsamkeit vorwerfen können. Damals! Aber sehen Sie, das verdammte Sitzen hinter den Acten, nun schon über achtzehn Jahre lang, Jahr ein, Jahr aus, Tag für Tag, vom frühen Morgen bis in den späten Abend, ah, das kann einen ganz anderen Menschen aus einem machen, das ruinirt zuletzt den Besten. O, diese Acten!“
Hatte der gute Mann nicht Recht? O, diese Acten!
Aber er wurde doch nach und nach wieder neugierig; am Plaudern war er schon. „Mich wundert nur,“ fuhr er fort, „wie das junge Mädchen, unsere Reisegefährtin, so allein mit dem alten Drachen gehen konnte. – Ja, ja, die Leute hatten wohl Recht, dieses alte Weib einen Drachen zu nennen! ich möchte nicht allein mit ihr sein. Aber das Mädchen schien nichts weniger als Furcht vor ihr zu haben. Da müssen sonderbare Verhältnisse vorliegen. Und zu wem wollte sie eigentlich und sollte sie doch nicht? Zu dem Alten nicht, sagte die Blödsinnige. Zu wem dann? Und warum wurde die Person so wüthend dabei? Ah, Herr Assessor, ich bin doch – ja, ich bin doch neugierig.“
„Gott sei Dank!“ sagte ich.
Er ging in dem Zimmer umher, um sich Alles anzusehen, nebenbei auch wohl etwas zu horchen. Dabei konnte er das Schwätzen nicht lassen.
„Verzweifelt feste Thüren, Herr Assessor. Das alte Eichenholz ist hart wie Eisen geworden, und so dick.“
„Die geistlichen Herren liebten das so, Herr Secretair.“
„Ja, ja, aber man kann auch noch jetzt einen Menschen hinter diesen Thüren verschließen –“
„Einen, Herr Secretair, aber nicht zwei.“
„Auch zwei, auch zwei. Warum läßt man uns hier so lange warten? Und dann – sehen sich der Herr Assessor einmal diese Fensterladen an. Ah, sie sind in unseren Gerichtsgefängnissen nicht fester und dichter verschlossen.“
„Herr Secretair, die Acten, die Acten!“
„Und wie still ist es um uns her! Kein Laut in dem ganzen Hause. Und es sind doch Menschen darin. Auch von unserer Reisegefährtin hört man nichts mehr, und sie war doch wahrhaftig nicht auf den Mund gefallen. – Ah, Herr Assessor!“
„Nun?“
„Diese Todtenstille ist wirklich unheimlich. Wenn die beiden Weibsleute das arme Mädchen –! Die Alte war ein echter Drache, und die Junge war blödsinnig, und boshaft war sie dazu. Und boshafte Blödsinnige, Herr Assessor, Sie wissen es gewiß auch, sind die gefährlichsten Menschen, schrecken vor keinem Verbrechen zurück. Und den blödsinnigen Alten, der gar ein wirklicher Verrückter ist, kennen wir noch nicht einmal. Und Thüren und Fenster des Hauses sind wie mit Eisen verschlossen, und das Haus liegt so allein, von aller menschlichen Gesellschaft entfernt, so recht zu Verbrechen geeignet, und es wäre gewiß nicht das erste –“ Er hielt plötzlich inne. „Herr Gott, was war das?“ rief er dann leise.
Er horchte gespannt. Ich hatte nichts gehört.
„Was haben Sie?“ fragte ich ihn.
„Hörten Sie nichts?“
„Nein.“
„Es war mir, als wenn ich Stimmen hörte; eine tiefe Baßstimme war darunter.“
„Hat Ihre Einbildungskraft nicht vielleicht mehr gehört, als Ihr Ohr?“ [226] Er wollte mir antworten, als auf einmal rasch, aber leise eine Thür geöffnet wurde. Er fuhr erschrocken zurück.
Das Zimmer hatte drei Thüren; die eine führte in die Halle, durch welche wir eingetreten waren; die beiden anderen befanden sich einander gegenüber in den beiden Seitenmauern, und eine von ihnen, die links, öffnete sich. Eine äußere Ursache zum Erschrecken hatte der Secretair wohl nicht gehabt.
Die alte Frau Langlet trat durch die Thür ein, und sie sah nicht im Geringsten schrecklich oder furchtbar, vielmehr sogar manierlich und freundlich aus. Sie hatte sich umgekleidet; darum hatten wir wohl warten müssen. Sie hatte eine weiße Haube aufgesetzt, die ziemlich reinlich war, und ein anderes, ebenfalls altmodisch großgeblümtes Kleid angezogen. Ihr Gesicht hatte ein Lächeln, das zugleich leidend und gewinnend sein sollte. Sie sah nicht mehr boshaft aus, aber gemein, und das böse Weib glaubte man ihr nun erst recht anzusehen. Sie hatte die Thür hinter sich zugemacht.
„Wenn es den Herren jetzt gefällig wäre,“ sagte sie.
Wir wollten ihr folgen. Sie bewegte sich aber nicht.
„Ich hätte noch eine Bitte an die Herren.“
„Lassen Sie hören.“
„Der Herr Friedensrichter – er ist mein Vetter – ist sehr krank; er wird es wohl nicht lange mehr machen. Wenn Sie nicht zuviel mit ihm sprechen wollten.“
„Ich werde nicht mehr mit ihm sprechen,“ erwiderte ich ihr, „als das Gesetz und das Geschäft erfordern.“
Sie schritt zu der Thür zurück, aus der sie gekommen war. Wir folgten ihr.
„Ich darf doch zugegen bleiben?“ fragte sie noch im Gehen.
„Wenigstens vorläufig,“ antwortete ich.
Es hatte mir nicht entgehen können, wie sie während des kurzen Gesprächs sowohl den Secretair, als mich, besonders aber mich, mit heimlichen Seitenblicken mißtrauisch, mit einer gewissen Besorgniß sogar, betrachtete. Ich mußte um so mehr auf meiner Hut sein.
Sie öffnete die Thür. Wir traten mit ihr in ein Zimmer, das dem, aus dem wir kamen, fast völlig gleich war, auch in seinem Ameublement; nur war ein Schreibtisch darin, auf dem mehrere Bücher standen, und in einer Ecke ein Bett mit Vorhängen. Das Bett war aber leer. Dagegen lag auf einem Sopha in der Mitte der Stube Jemand auf und unter Bettkissen. Es war wohl der Testator, der vormalige Friedensrichter Lohmann, und wir befanden uns in seiner Arbeitsstube, die jetzt zugleich das Wohn- und Schlafzimmer des alten, kranken Mannes war. Die Frau führte uns zu dem Sopha.
„Herr Vetter Lohmann, die Gerichtsherren!“
Es war also der Testator. Er nickte mit dem Kopfe und zeigte mit der Hand nach Stühlen, die in der Nähe des Sopha’s standen. Für unser Geschäft waren schon Vorbereitungen getroffen. Am Fußende des Sopha’s stand ein Tisch mit zwei Wachskerzen darauf; ein Stuhl stand davor, für den, der an dem Tische schreiben sollte. Ein zweiter Stuhl befand sich an dem Kopfende des Sopha’s; er war für mich bestimmt, und ich nahm ihn ein. Der Secretair setzte sich an den Tisch. Die alte Frau, Madame Langlet, trat zurück, nach dem Bette hin, an dessen Seite, hinter den Sitz des Secretairs. Sie konnte so den Kranken sowohl, als mich beobachten, während sie in dem Schatten des Secretairs stand und wenigstens ihre Gesichtszüge nur ungenau von mir beobachtet werden konnten. Sie hatte sich, wie in Bescheidenheit, so zurückgezogen. Ich glaubte, eine andere Absicht darin finden zu dürfen.
Ich betrachtete zunächst den Kranken. Das Gesicht zeigte einen sehr alten und sehr entkräfteten Mann. Es war lang, mager und blaß; die Züge waren erschlafft; die Augen matt und glanzlos; es war gerade kein häßliches, aber, wenigstens in diesem Augenblicke, ein völlig ausdrucksloses Gesicht. Die Augen waren halb geschlossen. Der Kranke lag wie in einer Apathie; er schien für nichts mehr Gefühl zu haben, auch für das Leben nicht. Seine Krankheit bestand wohl nur in großer Altersschwäche. Aber das Gesicht zeigte auch keine Spur von Blödsinn oder anderer Geistesschwäche, Geisteszerrüttung, Seelenkrankheit; in den Zügen weder Stumpfheit, noch Verzerrung; in den Augen weder Geistlosigkeit, noch ein flackerndes oder auch nur glimmendes Feuer.
Der Secretair legte seine Schreibmaterialien zum Schreiben zurecht. Ich begann ein Gespräch mit dem Testator, um vorläufig – das allgemeine Landrecht schrieb es ausdrücklich so vor – seine Identität und den Zustand seiner Geisteskräfte festzustellen.
„Sie sind der Herr Lohmann?“ fragte ich ihn.
„Ich heiße Louis François Lohmann,“ antwortete er.
Er antwortete mit einer schwachen, aber klaren, nicht unangenehmen Stimme. Die tiefe Baßstimme, die der Secretair vorhin gehört hatte, war es nicht. Freilich, hatte er überhaupt eine Stimme gehört?
„In welchem Alter sind Sie?“ fuhr ich fort.
„Ich bin fünfundsiebzig Jahre alt.“
„Sie sind nicht von hier gebürtig?“
„Das Elsaß ist meine Heimath.“
„Sie waren hier früher Friedensrichter?“
„Tiefendorf war zum Hauptorte eines Cantons von gleichem Namen gemacht. Ich war Friedensrichter des Cantons.“
Er gab alle Antworten zwar mit seiner schwachen Stimme, aber ohne körperliche Beschwerde oder Mühe; noch weniger waren sie seinem Geiste beschwerlich. Er antwortete, wenn auch nicht rasch, doch jedes Mal sofort, ohne daß er sich zu sammeln oder zu besinnen brauchte. Sein Geist schien völlig klar zu sein. Er war es wenigstens bis jetzt noch. Auch der Secretair – ich sah es ihm an – verwunderte sich darüber.
„Sie wollen Ihren letzten Willen erklären?“ fragte ich ihn weiter.
„Ja.“
„Sie haben Jemandem den Auftrag gegeben, zu dem Zwecke einen Gerichtsdeputirten hierher zu erbitten.“
„Meinem Sohne.“
„Sie kennen die Handschrift Ihres Sohnes?“
„Gewiß.“
„Hat er dieses geschrieben?“
Ich hielt ihm die Eingabe des Sohnes vor das Gesicht; er sah sie genau an.
„Ja.“
„Haben Sie vielleicht selber schriftlich Ihr Testament aufgesetzt?“
„Nein. Das Schreiben war mir schon seit Jahren zu schwer.“
„Sie wollen es also mündlich zum gerichtlichen Protokoll erklären?“
„Das ist meine Absicht.“
Noch immer war der Kranke eben so klar, wie ruhig. Dem Secretair schien es desto unklarer und unruhiger, beinahe unheimlicher zu werden. Die alte Frau stand unbeweglich, wie eine Statue, an das Bette gelehnt. Ich fuhr fort:
„Bevor wir zu der Aufnahme des Testamentes schreiten, habe ich noch eine Förmlichkeit zu entledigen. Ich kenne Sie nicht; der Herr Secretair kennt Sie ebenfalls nicht. Gleichwohl verlangt das Gesetz ausdrücklich, daß Ihre Person festgestellt werde.“
Der Kranke besann sich, aber nur einen Augenblick.
„Sie kennen auch Niemanden von meinen Hausgenossen?“
Die Frage zeigte wiederholt, wie klar und richtig seine Gedanken waren.
„Nein,“ erwiderte ich.
Er richtete seine Augen fragend auf die Frau Langlet. Die Frau sann nach.
„Es bedarf,“ bemerkte ich, „nur der Anerkennung Seitens einer einzigen Person, die auch entweder mir oder dem Herrn Secretair bekannt ist. – Der Pater Theodorus zum Beispiel,“ setzte ich hinzu. „Ich selbst kenne außer ihm Niemanden im Dorfe.“
Der Name des Geistlichen brachte eine sonderbare Wirkung hervor. Die alte Frau schoß an dem Bette plötzlich in die Höhe. Dem Kranken sank der halb aufgerichtete Kopf in das Bettkissen zurück; dann traf mich ein scheuer Blick seiner Augen. Aber fast in demselben Moment sah ich von dem Bette her, aus und trotz dem Schatten, in dem die Frau Langlet stand, einen zuckenden Blitz zweier drohender, befehlender Augen nach ihm hinleuchten. Der Kranke sah den Blitz. Er erschrak, nahm sich aber zusammen. Sein Auge schloß sich darauf wieder halb und in seinem Gesichte war keine Spur von Unruhe mehr zu entdecken.
Stand er so in der Gewalt der Frau? Und hatte sie zugleich darum, um diese zu jeder Zeit über ihn ausüben zu können, sich an das Bette gestellt, wo sein erster Blick gerade auf sie fallen mußte?
Ich konnte sie entfernen, und mußte es nach den Gesetzen, [227] sobald ich bemerkte, daß ihre Gegenwart irgend einen zwingenden Einfluß auf seine freien Entschließungen ausüben wollte. Hiervon konnte aber erst bei der wirklichen Aufnahme des letzten Willens die Rede sein. Zudem war es mir, als wenn die fernere Anwesenheit der Frau dazu beitragen müsse, Licht in ein Dunkel zu bringen, das ich auf einmal mit größerem Rechte, als bisher, glaubte ahnen zu dürfen.
„Der Pater Theodorus,“ hatte ich gesagt. Ich hatte keine Antwort erhalten. „Sie schienen einverstanden zu sein,“ sagte ich absichtlich.
Die alte Frau hatte rasch einen Entschluß gefaßt.
„Ich werde nach ihm schicken.“
Sie verließ das Zimmer durch eine Thür, die auch aus diesem in die Vorhalle des Hauses führte. Nach einer halben Minute war sie wieder da und auf ihrem Platze. Sie mußte sich sehr beeilt haben. Ich hatte unterdeß fortgefahren.
„Wir können mittlerweile weiter verhandeln.“
Der Kranke nickte mit dem Kopfe.
„Sie haben über den Inhalt Ihres Testamentes schon einen Entschluß gefaßt?“
„Ja.“
„In welcher Weise wollen Sie testiren?“
„Mein einziger Erbe soll mein Sohn sein.“
„Sein Name?“
„Er heißt Louis François, wie ich.“
„Er ist Ihr einziges Kind?“
„Er ist mein einziges Kind.“
„Sie sind auch nicht mehr verheirathet?“
„Ich bin Wittwer.“
„Sie haben keine Nebenbestimmungen?“
„Ich will noch ein Vermächtniß aussetzen. Madame Langlet, meine Anverwandte, soll, so lange sie lebt, freie Wohnung und Bewirthschaftung und Benutzung dieses Hauses und der dazu gehörigen Gebäude, Gärten und anderen Räume behalten; außerdem soll mein Sohn ihr eine lebenslängliche Rente von dreihundert Thalern auszahlen.“
„Weitere Bestimmungen hätten Sie nicht?“
Der Kranke lag still und schien nachzusinnen. Die alte Frau am Bette machte eine unruhige Bewegung; es kam mir vor, als wenn sie dem Kranken ihre Anwesenheit bemerklich machen wolle; der alte Mann achtete jedoch nicht darauf. Sie räusperte sich geräuschvoll. Er schien leise zusammenzufahren. Noch einen Augenblick sann er unschlüssig nach. Dann sagte er:
„Ich setze meinen Sohn nur unter einer Bedingung zum Erben ein.“
Er hielt inne. Er hatte langsamer gesprochen, als vorher, aber nicht minder mit vollem Bewußtsein; schon seine Unentschlossenheit, bevor er sprach, mußte dies bestätigen. Ob er nicht unter einem moralischen Zwange der anwesenden Frau sprach, war eine andere Frage; nach seinen ferneren Worten war es beinahe anzunehmen.
„Nennen Sie die Bedingung,“ forderte ich ihn auf.
„Mein Sohn soll die Tochter der Frau Langlet heirathen.“
„Das ist Ihre Bedingung?“
„Ja.“
„Der Name der Dame, die Ihr Sohn heirathen soll.“
„Adrienne Langlet.“
Die Blödsinnige sollte der junge Mann heirathen! Dem Secretair flog das Papier aus der Hand, das er gerade falten wollte, um das Protokoll darauf zu schreiben.
Mir fiel unwillkürlich unsere hübsche, muthige, entschlossene Reisegefährtin Marianne ein, der von der Blödsinnigen der Eingang in das Haus verwehrt war, die, wie die Blödsinnige meinte, zu einem Andern als dem Kranken gewollt hatte. Zu wem hatte sie gewollt? Zu wem hatte Jene sie nicht lassen wollen? Das Gesicht der alten Frau glaubte ich, trotz der Dunkelheit, in der sie stand, zufrieden lächeln zu sehen.
Der Kranke hatte völlig klar, ruhig und bestimmt gesprochen. Ich hatte noch ein paar Fragen über den Gegenstand an ihn zu richten.
„Wenn Ihr Sohn die Bedingung nicht erfüllen will – haben Sie besondere Bestimmungen für den Fall zu treffen?“
„Er soll alsdann auf den Pflichttheil eingesetzt werden.“
„Und wie soll es mit Ihrem übrigen Nachlasse werden?“
„Die Frau Langlet wird dann Erbin meines gesammten übrigen Nachlasses.“
Auch das sprach er bestimmt, fest. Aber ich glaubte doch, eine leise Unruhe an ihm wahrzunehmen, als er es gesagt hatte. Das Gesicht der Alten glänzte triumphirend. Sie war so häßlich, und sah jetzt wieder so boshaft aus.
„Noch ist der Tag nicht zu Ende,“ mußte ich bei mir denken, auch nicht – ich will es nicht leugnen – ohne einige Bosheit.– Ich war mit meinen Fragen zu Ende.
Nach dem gewöhnlichen formellen Gange konnte ich den Inhalt der Bestimmungen des Testators nicht zu Protokoll nehmen, bevor die Anerkennung seiner Person erfolgt war. Ich durfte aber auch ausnahmsweise diese nachfolgen lassen. Es war mir indeß um so mehr an Beobachtung jener gewöhnlichen Form gelegen, als mir so eben die Unruhe des Kranken aufgefallen war, und als das allgemeine Gerücht seiner Geistesstörung mir noch immer die Pflicht auferlegte, auch in anderer Weise seinen geistigen Zustand noch festzustellen zu suchen. Dies that ich jetzt. Die Frau Langlet ließ ich vor der Hand noch absichtlich da, um zugleich mich zu überzeugen, in welchem Grade er wirklich, auch hinsichtlich seiner letztwilligen Entschließungen, unter dem Einflüsse der Frau stehe. Ich konnte dann später mit um so mehr Hoffnung auf Erfolg seinen wahren freien Willen ermitteln.
Ich knüpfte an allgemeine Beziehungen und Lebensverhältnisse des Kranken an, ohne weitere Nebenabsicht. Wie bald sollte das, was ich erfuhr, mich in furchtbarer Weise die Absicht meines Fragens völlig vergessen lassen!
„In welchem Jahre sind Sie hierher gekommen?“ fragte ich ihn.
„Im Jahre 1809,“ antwortete er, „gleich, als die französische Gerichtsverfassung hier eingeführt wurde.“
„Und Sie verwalteten das Amt eines Friedensrichters bis zur preußischen Zeit?“
„Bis die preußische Gerichtsverfassung eingeführt wurde.“
„Sie bekommen Pension?“
„Nein, ich habe darauf verzichtet.“
„Ein seltener Fall; Sie waren freilich schon damals in glücklicher Vermögenslage.“
„Ich war es.“
„War nicht im Jahre 1813 ein Gefecht in dieser Gegend?“
Ich hatte auch diese Frage ohne alle Nebenabsicht gethan. Gleichwohl war es, als ob auf einmal ein leichtes Zittern das Gesicht des Kranken durchzuckte. Ich war noch so arglos, daß mir auch das nicht einmal auffiel.
„Ja,“ antwortete der Kranke.
„Bald nach der Schlacht von Leipzig?“
„Bald nachher.“
„Zwischen Franzosen und Kosaken?“
„Ja.“
„Es sollen nur wenige Franzosen mit dem Leben davon gekommen sein?“
„So hieß es.“
„Wie war deren Schicksal? Anderswo ist leider manchmal das Volk über sie hergefallen, selbst verrätherisch, räuberisch.“
Die ungeheure Veränderung, die auf einmal, in kaum einer halben Minute, mit dem alten Manne vorgegangen war, mußte mir um so mehr auffallen, je weniger ich bei meinen nach dieser Seite arglosen Fragen darauf vorbereitet war. In sein blasses Gesicht war eine fliegende Röthe getreten; der Mund stand ihm offen, die Augen starrten mich mit unruhig leuchtendem Lichte an. Ich mußte unwillkürlich einen Blick auf die Frau Langlet werfen. Ihre Gesichtszüge konnte ich nicht unterscheiden; sie hatte sich tiefer in den Schatten des Secretairs gestellt. Aber sie hatte den Kopf vorgebeugt, den Fuß aufgehoben, als wenn sie in großer, nicht mehr zurückhaltender Unruhe vortreten, den Kranken in Schutz nehmen, sich ihm, der nicht nach ihr hinsah, mindestens bemerklich machen müsse.
Was war das?
Der Secretair hatte unterwegs – wie er sagte, nach einem Gerüchte – auf ein Verbrechen hingedeutet, das in jener Franzosenzeit verübt sein, und durch welches der alte Lohmann seinen plötzlichen Reichthum erlangt haben solle. Ich hatte an seine glückliche Vermögenslage absichtslos erinnert, aber plötzlich eine Frage nach jener kriegerischen Zeit angeknüpft. Auf einmal diese Unruhe, diese Verwirrung, des Kranken sowohl, wie der alten Frau. Ja, schien in dem [228] flackernden Augenleuchten des alten Mannes sich nicht das plötzliche, durch die Erinnerung an das Verbrechen veranlaßte Wiedererwachen eines Wahnsinns anzukündigen, der vielleicht seit kürzerer, vielleicht seit längerer Zeit ruhig geschlummert hatte?
Ich dachte zugleich wieder an das auffallende Benehmen des Pater Theodorus, als der Secretair ihn nach jenem Kriegsereignisse gefragt hatte. Ich glaubte auf einmal einen Faden in ein tiefes, dunkles Labyrinth gefunden zu haben. Ich mußte ihn weiter verfolgen; freilich konnte ich es nur an der Hand der wenigen Gerüchte, die ich von dem Secretair und aus dessen Gespräch mit dem Pater entnommen hatte. Der Kranke hatte mir auf meine Frage nicht geantwortet.
„In manchen Gegenden Deutschlands,“ fuhr ich fort, „fielen in jener Zeit ähnliche kleine Gefechte zwischen den Franzosen und den verfolgenden Feinden vor. Sie haben gewiß davon gehört?“
„Ja, ja,“ sagte er, lebhafter, als bisher.
„Die armen Franzosen waren immer verloren. Entgingen sie dem Tode im Gefechte, so fiel das Volk über sie her.“
Er nickte mit dem Kopfe.
„Entgingen sie auch der Grausamkeit des Volkes, wurden sie selbst hülfreich, mitleidig aufgenommen – wie oft wurden sie hinterher das Opfer habsüchtigen, räuberischen, raubmörderischen Verraths!“ Ich hatte ihm fest, scharf in das Auge geblickt, während ich diese Worte sprach.
Anfangs war es, als wenn er noch einen Versuch gemacht hätte, meinem Blicke auszuweichen, die Augen niederzuschlagen. Auf einmal sah er mit den leuchtenden Augen mich starr an. Der Wahnsinn kehrte wohl mehr und mehr in ihn zurück. Der mißlungene Versuch war wohl die letzte Anstrengung des noch klaren Geistes gewesen. Er antwortete mir nicht.
„Erzählt man,“ fragte ich weiter, „nicht auch in dieser Gegend von ähnlichen Beispielen?“
„Gewiß weiß man davon,“ rief er wieder lebhaft.
„Und Sie kennen sie?“
„Wie werde ich –?“
Hatte er sagen wollen: „Wie werde ich nicht?“
Die Frau Langlet war, einer Furie ähnlich, aber einer Furie, die in der Todesangst ist, von dem Bette her vorgesprungen. Ein wüthender Blitz ihrer funkelnden Augen traf den Kranken. Das Wort, das er aussprechen wollte, starb ihm auf den Lippen. Sein Blick wurde ängstlich. Sein Kopf fiel in das Kissen zurück.
Das Weib mußte eine ungeheure Gewalt über den Mann haben; ihr drohender Blick hatte ihm sogar das entflohene Bewußtsein zurückgeben können. Es war jetzt Zeit, sie zu entfernen.
„Madame,“ sagte ich zu ihr, „hätten Sie die Güte, uns zu verlassen?“
Sie schien vorbereitet auf die Aufforderung zu sein. Sie hatte keine Lust, ihr Folge zu geben.
„Mein Platz ist hier,“ sagte sie, „bei dem Kranken. Er bedarf meiner Hülfe.“ Sie sprach schnell, mit der Stimme der unterdrückten Wuth. Sie wendete sich zugleich rasch an den Kranken:
„Nicht wahr, Vetter, ich soll hier bleiben? Sie wollen es?!“
„Ja, ja, ich will es.“
Ich stand auf. „Madame, hätten Sie die Güte, sich mit mir auf ein paar Augenblicke in ein Nebenzimmer zu begeben?“
Ich schritt auf die Thür des Zimmers zu, aus dem wir in das Krankenzimmer getreten waren. Ich öffnete sie. Mein ruhiges, entschiedenes Benehmen imponirte ihr. Sie ging mit mir in das Zimmer. Wie die Wuth noch immer in ihr kochte und selbst eine trotzdem sichtbare Angst nicht in ihr aufkommen ließ, sah man dem häßlichen, boshaften Gesichte deutlich genug an.
„Was wollen Sie von mir?“ begann sie von selbst.
„Ihnen mit wenigen Worten erklären, Madame, wozu ich das Recht und den festen Willen habe.“
„Nun?“
„Sie kehren nicht in das Krankenzimmer zurück.“
„Der Kranke bedarf meiner Hülfe.“
„Wenn er Ihrer bedarf, werde ich Sie früh genug rufen.“
„Ich weiche nicht von ihm; ich will nicht.“
„So werden Sie mich zwingen –“
„In Gegenwart des Sterbenden gegen eine schwache Frau Gewalt zu gebrauchen?“
„Das nicht; aber ich werde zum Protokoll vermerken, wie Sie einen drohenden Einfluß auf den Testator ausgeübt hätten, der seine freie Willensbestimmung hinderte, wie Sie ungeachtet meiner wiederholten Aufforderung ihn nicht hätten verlassen wollen, wie daher das so entstandene Testament nicht als ein freies, sondern nach meiner innersten Ueberzeugung nur als ein erzwungenes, gesetzlich nichtiges zu betrachten sei. Sie haben jetzt die Wahl, Madame.“
Sie ging heftig im Zimmer auf und ab. Sie sann nach.
„Ich kann hier in diesem Zimmer bleiben?“ blieb sie vor mir stehen.
„Nein, auch das nicht.“
„Warum nicht?“ stampfte sie wüthend mit dem Fuße.
„Sie würden hier horchen und jeden Augenblick die Verhandlung wieder stören können. Sie entfernen sich ganz aus der Nähe des Krankenzimmers.“
„Aber ich werde ja wie eine Diebin, wie eine Räuberin behandelt. Hier, gleichsam in meinem eigenen Hause.“
„Madame, darf ich bitten, sich kurz und rasch zu entschließen?“
„Gut, ich gehe.“
„Noch ein Wort, Madame. Jeden Versuch, in das Krankenzimmer wieder einzudringen, würde ich als einen Zwang gegen den freien Willen des Kranken zum Protokoll verzeichnen.“
Sie verließ wüthend das Zimmer.
Ich kehrte zu dem Kranken zurück. Er war noch unter dem Einflusse der Frau und erhob den Kopf, als ich eintrat. Er war unruhig, als er mich allein zurückkommen sah. Dann aber kam es mir doch vor, als wenn er sich auf einmal leichter fühle; sein Blick schien lebhafter zu werden, ohne das unruhige Flackern und Leuchten zu zeigen. Wenn ich zurückdachte, wie er, nach meiner Meinung nur unter dem Zwange der Frau, sich dazu verstanden hatte, jene Bedingung für seinen Sohn auszusprechen, so erschien sein erleichterter Zustand mir erklärlich genug. Indeß lag mir für den Augenblick nur daran, der neuen Spur in ein tiefes Dunkel, die ich zuletzt aufgefunden zu haben glaubte, weiter nachzuforschen. Ich mußte vorsichtig verfahren. Er hatte dem Anschein nach sein volles Bewußtsein zurückerhalten.
„Machtlos zur See!“ Dies Wort muß der Deutsche im Auslande häufig hören, ohne es mit Grund widerlegen zu können. Der Eingeborne des Binnenlandes, den seine Verhältnisse nicht aus den gewohnten Lebenskreisen hinaustreiben in die Ferne, fühlt selten ganz, welch schwerer Vorwurf in diesem Worte verborgen liegt. Eine Nation von mehr als vierzig Millionen Seelen, die ein Recht hat, sich den gebietenden und herrschenden Völkern Europa’s beizuzählen, die in allen wichtigen politischen Fragen ihre Entscheidung abgibt, die sich rühmen darf, eben so reich zu sein an großen historischen Erinnerungen, als sie sich neben andern Nationen auszeichnet durch hervorragende Bildung, durch bewundernswürdige Leistungen in Literatur, Kunst und Erfindungen aller Art, eine so in jeder Hinsicht große Nation muß es sich geduldig gefallen lassen, daß man sie halb spöttisch, halb schadenfroh „machtlos zur See“ schilt!
Es gab eine Zeit, wo dies anders war, obwohl diese Zeit glorreichen Andenkens weit zurückliegt in der Geschichte und in eine Epoche deutscher Vergangenheit fällt, von der sonst nicht gerade viel Lobenswerthes zu erzählen ist, wenn wir das Ganze des Reiches in’s Auge fassen, das sich damals stolz noch das heilige deutsche römische Reich nannte. In jenen Tagen trüber Wirrniß, politischen Haders und nationaler Zersplitterung gelang es der Thatkraft strebenden Bürgerthums, durch energisches Auftreten und gemeinsames [229] Zusammenwirken, sich auch auf der See Macht zu erringen. Der Bund der Hansa war es, der sich eigene Flotten schuf, blutige Schlachten zur See schlug, ruhmvolle Siege erkämpfte und die hansische Flagge zu Ehren brachte. Ein deutsches Reichsbanner kannte man damals nicht auf den Meeren, die Flagge der Hansa aber war geachtet und gefürchtet, wo immer sie sich zeigte. Sie machte sich geltend auf allen damals der Schifffahrt eröffneten Meeren, und unter dem Schutze derselben gründeten die alten Hansen jene wichtigen Factoreien oder Comptoire, die ihnen einen großen Theil des europäischen Nordens zinsbar machten, und von denen noch einige wenige Ueberreste sich selbst bis auf unsere Tage erhalten haben. Freilich war es nicht eigentlich das Bedürfniß, nationalen Ruhm sich zu erringen, das die Hansen zu so kühnen Unternehmungen anfeuerte. Der Patriotismus, wie wir diesen Begriff jetzt fassen, gab den Hansen nicht den Impuls zur Ausrüstung ihrer Flotten. Sie bemannten und bewehrten ihre Schiffe nur, um ihre Handelsfahrzeuge zu schützen, und namentlich, um den Häringsfang an den Küsten Schoonens mit aller Ruhe und Bequemlichkeit betreiben zu können.
Später hörte man wenig mehr von Kriegsschiffen der Hansestädte, und wie wenig das Reich darauf Ansprüche machte, die Herrschaft, welche es auf dem Lande ausübte, auch auf die See auszudehnen, ist leider nur allzu bekannt. An die Nothwendigkeit eines Schutzes auf dem Meere dachte man im deutschen Binnenlande ernstlich wohl erst im Jahre 1848. Es soll hier nicht die Rede sein von dem Versuch, eine deutsche Flotte zu schaffen. So schön der Gedanke war, eine solche Schöpfung in’s Leben zu rufen, und so rüstig man in den Jahren 1848 und 1849 daran arbeitete, das in der That patriotische Beginnen auch zu fördern: der Versuch selbst wurde unter zu ungünstigen politischen Verhältnissen gemacht, als daß er hätte gelingen können. Ist nun aber auch der letzte Kiel jener schnell bemannten und mit zum Theil trefflichen Geschützen ausgerüsteten deutschen Kriegsschiffe längst schon wieder an den Meistbietenden verkauft worden, zu der Einsicht ist man doch auch in den Cabineten deutscher Fürsten seitdem gekommen, daß es hoch nöthig sei, endlich einmal daran zu denken, Deutschland auch zur See wehrhaft zu machen.
Die Verhältnisse, selbst die Küstenstrecken deutscher Bundesländer sind diesem Unternehmen keineswegs sehr günstig, allein hat man, wie es scheint, den ernsten Willen, auch durch die größten Hindernisse sich an der Ausführung des einmal gefaßten Entschlusses nicht irre machen zu lassen, so wird unermüdeter Ausdauer dies patriotische Unternehmen auch gelingen. Die Krone Preußen strebt mit dankenswerther Anerkennung diesem Ziele entgegen. Die Erwerbung des Jahdebusens zwischen Ems und Weser, und die Vorkehrungen, welche die preußische Regierung an jener flachen Küstengegend trifft, um einen Hafen für Kriegsschiffe daselbst zu schaffen, legen Zeugniß davon ab. Im Ganzen aber geschieht – dies sprechen wir unumwunden aus – noch viel zu wenig, um alsbald die noch so junge preußische Kriegsmarine auf einen achtunggebietenden Stand zu bringen.
Es ist zu bedauern, daß man nicht längst schon darauf verfallen ist, die drei freien Städte Bremen, Hamburg und Lübeck, welche ein Contingent an Truppen für den Bund stellen, das kaum in Betracht kommen kann, dieser ihrer [230] Bundespflicht zu entbinden. Die Bevölkerung aller drei Städte und Staaten würde, so weit sie militairpflichtig ist, sich weit besser zum See-, als zum Landdienste eignen, und wir sind fest überzeugt, daß sich mit ihr eine Anzahl von Kriegsschiffen bemannen ließe, die genügend wäre, die deutsche Handelsmarine allerwärts zu schützen, wo sie des Schutzes bedürfte, und der deutschen Nation als solcher gebührend Respect zu verschaffen. Alle seefahrenden Nationen kennen und achten den deutschen Seemann, dessen Trefflichkeit über alles Lob erhaben ist. Keine andere Nation, die englische nicht einmal ausgenommen, thut es ihm zuvor in Ausdauer, Ruhe, Besonnenheit und entschlossenem Wagen. Darum würde eine deutsche Kriegsmarine, die sich aus Seeangeborenen recrutirte, sich in sehr kurzer Zeit mit jedem übermüthigen Gegner auch auf dem Meere messen können.
Was uns in dieser Hinsicht die nahe oder ferne Zukunft etwa bringen mag, wer kann so kühn sein, dies jetzt schon bestimmen zu wollen? Die Verhältnisse können auch hier Vieles rascher ändern und zeitigen, als man hoffen darf. Bis dies geschieht, wollen wir uns wenigstens des Thatsächlichen freuen, und hier tritt uns eine Erscheinung entgegen, die uns erhebt, die unsern Muth stählt, und die wir deshalb so hoch schätzen, weil sie dem Schooße des freien deutschen Bürgerthums entkeimt ist. Wir meinen das Wachsen der deutschen Handelsmarine, die patriotischen Unternehmungen namentlich der hansischen Schwesterstädte Bremen und Hamburg, ihre Flaggen öfter denn je auf dem großen Ocean wehen zu lassen und die deutsche Post- und Packetschifffahrt frei von allem fremden Einflusse zu machen.
Es ist dies ein Fortschritt von unberechenbarer Wichtigkeit. Durch die Begründung und Eröffnung der beiden großen oceanischen Dampfschifffahrtslinien, welche der Bürgersinn Bremens und Hamburgs schuf, und durch die das gesammte Deutschland direct mit der großen nordamerikanischen Union in directen und zwar regelmäßigen Verkehr getreten ist, fängt der Deutsche erst wieder an heimisch zu werden auf dem Weltmeere. Die „Hamburg-Amerikanische Packetfahrt-Actiengesellschaft“, die außer ihren fünf imposanten eisernen Schraubendampfern, deren jeder 400 Pferdekraft besitzt, auch noch eine Anzahl Segelschiffe stets in Activität erhält, und der Bremer „Norddeutsche Lloyd“ sind Unternehmungen von großer Tragweite. Beide sagen dem Auslande, daß die Deutschen gewillt sind, nach und nach eine gebietende Stellung unter den seefahrenden Nationen einzunehmen, und finden sie im Gemeinsinn ihrer stammverwandten Brüder nur die Unterstützung, welche beiden Unternehmungen gebührt, so wird man alsbald auch an den Küsten der neuen Welt mit größerer Achtung von uns sprechen.
Diese Betrachtungen drängten sich uns bei einem Besuche auf, den wir vor einiger Zeit Bremerhaven abstatteten. Der Name dieses noch nicht dreißig Jahre existirenden Ortes ist auch den Bewohnern des Binnenlandes bekannt und geläufig. Hamburg und Bremen, Cuxhaven und Bremerhaven sind Namen, die Jeder, auch der Ungebildete, in stiller Gebirgseinsamkeit Lebende hört oder liest. Nach einem dieser Orte bricht ja der Unzufriedene, gelockt von dem blendenden Schimmer der fernen Goldländer oder gerufen von vorangegangenen Freunden, die ein seltener Glücksstern leitete, auf, um sich nach den Gestaden der neuen Welt einzuschiffen. Jener Exodus von Hunderttausenden, der seit ein paar Decennien namentlich aus den deutschen Binnenländern sich nach den beiden Handelsemporien an der Elbe und Weser ergießt, macht die Hafenorte beider Seestädte so bekannt im Innern Deutschlands. Hier erblicken alljährlich Tausende zum ersten Male ein Seeschiff, hier ruht das erstaunte Auge befangen, voll banger Ahnungen auf dem schäumenden Strome, der seine grauen Wogen brandend gegen das Ufer rollt. Der Athem des Meeres weht sie hier an, und so weit beim Anblick der unübersehbaren Wassermasse das Herz Vieler werden mag, Manchem dürfte es auch vor Bangigkeit stärker schlagen, als zuvor.
In der alten Welt gehören schnell wachsende Städte zu den Seltenheiten. Orte älteren Ursprungs vergrößern sich wohl in entsprechender Weise, wenn die Verkehrsverhältnisse ihnen günstig waren, neu entstandene Ortschaften haben dagegen fast immer lange zu kämpfen, ehe sie sich eine gewisse Bedeutung erringen. Eine Ausnahme hiervon macht Bremerhaven, dessen Entstehung in das Jahr 1830 zurückdatirt, und das gegenwärtig nicht blos eine schöne, sondern auch eine sehr belebte Seestadt bildet, die noch täglich wächst, und der ohne Frage eine sehr bedeutende Zukunft bevorsteht.
Bekanntlich liegt die Mutterstadt dieses Ortes, das alte berühmte Bremen, zu tief im Lande, um Seeschiffe im Stadthafen einlaufen zu sehen. Eine Seehandelsstadt von Bremens Bedeutung mußte diesen Uebelstand stets schmerzlich empfinden, und derselbe mußte sich ihr desto unerträglicher gestalten, je größer die Fortschritte des Schiffsverkehres durch die zweckmäßigere Bauart der Schiffe wurden. Vegesack lag zwar nahe und auf Bremer Gebiet, aber auch hier fehlte der Weser noch die erforderliche Tiefe, um großen Schiffen das Aussegeln im Strome bis dahin zu gestatten. Einen passenden Platz zur Anlegung eines wirklichen Hafens für tiefgehende Seeschiffe bot erst die Mündung der Geeste in die Weser. Bis soweit aber erstreckte sich nicht das Territorium der alten Hansestadt. Der silberne Schlüssel im rothen Felde konnte wohl an der Gaffel vorüberziehender Schiffe wehen, an einem Flaggenstocke auf festem Lande durften ihn die Bremer nicht aufhissen. Das flache Land an der Geeste stand unter der Botmäßigkeit Hannovers, das ein Fort daselbst erbaut und mit Kanonen schweren Calibers besetzt hat, welche das Fahrwasser des sich bereits verbreiternden Stromes bequem bestreichen können.
Einer der bedeutendsten Bürger Bremens, hervorragend durch Geist, Bildung und praktischen Blick, der im Jahre 1857 verstorbene Bürgermeister Smidt, von vielen seiner Mitbürger Vater Smidt genannt, erwarb sich vorzugsweise das Verdienst, das so wichtige Stück Land an der Mündung der Geeste seiner Vaterstadt zuzuwenden. Seinem diplomatischen Talent gelang es schon 1827, Hannover zur Abtretung eines Gebietstheiles an der Weser und Geeste an die unternehmende Handelsstadt zu bewegen, und hier wurde die neue Hafenstadt nebst den wichtigen dem Handel und der Seeschifffahrt dienenden großartigen Anlagen erbaut.
Der Ort blühte alsbald auf, breite, regelmäßige Straßen, wohnliche, zum Theil stattliche Gebäude entstanden in Menge, und so wuchs Bremerhaven dergestalt, daß man die Zahl seiner jetzigen Einwohner – ohne die ansehnliche Menge der Fremden – schon auf 6000 schätzt. Drei kurze Jahre nach erfolgtem Ankaufe genügten, den mit nicht geringen Schwierigkeiten verbundenen Hafenbau zu beendigen, so daß derselbe 1830 bereits Seeschiffe aufnehmen konnte. Dieser Hafen, einer der zweckmäßigsten und gesichertsten an den flachen Ufern der Nordsee, zerfällt eigentlich in drei besondere Häfen, von denen das neue Bassin, mit besonderem Eingange, die größten und tiefgehendsten Seeschiffe aufnehmen kann, der Außen- und Binnenhafen aber für kleinere Schiffe von geringerem Tiefgange, so wie für die eigentlichen Weserkähne bestimmt ist.
Ein sehenswerthes Bauwerk bietet namentlich die große Schleuße dar mit ihren kolossalen zwei Paar Fluth- und Ebbethüren, die je nach Bedürfniß sich öffnen und schließen, eine sogenannte Fächerschleuße. Ihre ganze Länge beträgt 285 Fuß, die des eigentlichen Schleußenbassins allein 141 Fuß. Der Binnenhafen besitzt eine Länge von 2600 Fuß bei einer Breite von 216 Fuß. Diese räumliche Ausdehnung gewährt mindestens vierzig großen Schiffen Platz zu bequemem Anlegen, ohne den Verkehr hin- und wiedersegelnder Fahrzeuge im Hafen selbst zu behindern. Es herrscht hier Jahr aus, Jahr ein, so lange die Schifffahrt nicht durch strenges Frostwelter unterbrochen wird, ein ungemein reges Leben. Schiffe aller Größen und von der verschiedensten Bauart kommen und gehen, bald mit im Winde sich blähenden Segeln, bald von keuchenden Dampfern geschleppt. Schraubendampfschiffe neuester Construction, deren schwarze Riesenleiber mit ihren im Verhältniß zu den schlanken Masten nur kurzen Schloten alle anderen, auch die größten Segelfahrzeuge überragen, fesseln das Auge des Fremden und sind namentlich ein Gegenstand der Bewunderung für die gewöhnlich bedeutende Anzahl Auswanderer, welche auf kleineren Schiffen von Bremen herabkommen, um in Bremerhaven an Bord der Packetschiffe zu gehen, die sie den Orten ihrer Bestimmung zuführen sollen.
Zum großen Theile hat Bremerhaven sein rasches Gedeihen und den Wohlstand seiner Bevölkerung der Auswanderung zu verdanken. Kein anderer deutscher Hafenplatz zeigte sich regsamer und sorgte so früh für prompte und sichere Ueberfahrt auswandernder deutscher Brüder. Den Bremer Rhedern bleibt der Ruhm unbenommen, daß sie es zuerst waren, die auf möglichste Sicherheit Auswanderungslustiger Bedacht nahmen. Ihre gut eingerichteten Schiffe machten der über England geleiteten und meistentheils durch Agenten betriebenen Auswanderung, die wieder mit amerikanischen Gesellschaften in Verbindung standen, Concurrenz, Es ward dadurch für alle Auswanderer ein wesentlicher Vortheil erreicht, da die Bremer [231] Rheder streng gewissenhaft verfuhren, ihre Versprechungen hielten, Niemand mit Willen übervortheilten und nur tüchtige, seehaltige Schiffe in Fahrt setzten, die von gebildeten, humanen und erfahrenen Capitainen commandirt wurden.
So leitete Bremen frühzeitig den größten Arm des deutschen Auswandererstromes nach dem neu angelegten Bremerhaven. Da es aber vorkam, daß unberechenbare Umstände die Abfahrt selbst bereitliegender Schiffe doch verhinderten, was z. B. anhaltende widrige Winde stets thun, und die Zahl der aus dem Binnenlande Kommenden mit jedem Tage zunehmen konnte, so war man bedacht, diesen zur Zeit eigentlich Heimathslosen ein Asyl zu eröffnen, wo sie ruhig dem Tage ihrer Abreise entgegenharren konnten. Dies Asyl ist das Auswandererhaus.
Jeder Fremde, den Geschäfte oder der Wunsch, sich zu unterrichten, nach Bremerhaven führen, sollte dies imposante, in jeder Hinsicht vortrefflich eingerichtete Gebäude, das schon durch seine Architektur in die Augen fällt, besuchen. Es ist ein Hospiz für Jedermann; man fragt hier nicht nach Rang und Namen der Ankömmlinge, die Bezeichnung „Auswanderer“ genügt, um dem Anklopfenden die gastliche Thür desselben zu eröffnen.
Das Auswandererhaus liegt nahe am Strome, unfern dem Landungsplatze der Weserdampfschiffe. Aus seinen Fenstern übersieht man den Hafen und die mit Segeln belebte Weser. Erbaut wurde dies Gebäude im Jahre 1850, und zwar überließ der Staat dazu für billigen Preis ein Terrain von 30,000 Quadratfuß. Es enthält in seiner gegenwärtigen Einrichtung zehn geräumige, hohe und luftige Säle, die zusammen 2500 Personen fassen können. Jeder einzelne Saal ist so eingerichtet, daß er mit einem ihm eigens zugehörigen Wasch- und Badezimmer zusammenhängt, das stets mit frisch zulaufendem Wasser gespeist werden kann. Die Schlafstätten erinnern an das Schiffsleben und bereiten die im Auswandererhause Einkehrenden zweckmäßig auf diese den Meisten noch unbekannte Lebensweise vor. Dieselben bestehen nämlich aus Kojen, und es ist den Auswanderern gestattet, sich während ihres Aufenthaltes in Bremerhaven so darin zu vertheilen, wie es ihren Bedürfnissen am besten entspricht. Es befördert dies nicht allein das gesellige Zusammenleben Gleichgesinnter und Gleichgearteter, sondern es gewährt auch außerdem noch die nicht gering anzuschlagende Vergünstigung, daß nach dem Wunsche der Auswanderer die Nummern der Kojen des Hauses mit Leichtigkeit auf die im Schiff zu beziehenden Kojen übertragen werden können.
Den Tag über können die hier Logirenden an geräumigen Tischen Platz nehmen und sich mit Unterhaltung etc. die Zeit verkürzen. Hier wird auch gemeinschaftlich gespeist. Die gereichten Speisen sind reinlich, nahrhaft und reichlich und werden in der Küche des Hauses zubereitet. Auch dabei wird auf die bevorstehende Seereise bereits Rücksicht genommen, indem die Speisen des Auswandererhauses ungefähr der auf den Auswandererschiffen gereichten Schiffskost entsprechen. Jeder Saal hat ferner einen besonders abgegrenzten Raum, wo die Bewohner ihre zu täglichem Gebrauche unentbehrlichen Effecten und Utensilien aufbewahren. Für Beleuchtung und Ventilation dieser Säle ist hinreichend gesorgt, eben so für deren Reinigung, die unter Aufsicht besonders dafür angestellter Wärter vorgenommen wird. Diese Wärter sind außerdem verpflichtet, über die Aufrechthaltung der Ordnung zu wachen. Kranke finden ein gut eingerichtetes Lazareth, das von den Wohnsälen entfernt liegt, damit das aus denselben dringende Geräusch die Leidenden nicht störe. Auch einen Betsaal einzurichten hat man nicht vergessen. Derselbe führt den Namen Capelle, liegt im unteren Raume des Gebäudes und es wird darin regelmäßig Gottesdienst nach lutherischem Ritus gehalten. Damit jedoch auch Katholiken ihr religiöses Bedürfniß befriedigen können, lebt in Bremerhaven ein katholischer Missionär, an welchen katholische Auswanderer sich zu wenden haben.
Einen schlagenden Beweis für den starken Besuch dieses Auswandererhauses liefern die statistischen Angaben. Diese weisen nach, daß – um nur ein Beispiel, statt vieler, anzuführen – von 58,551 Auswanderern, welche im Jahre 1852 in Bremerhaven sich einschifften, deren 37,429 in diesem großen Hospiz wohnten und daselbst gespeist wurden. An einem einzigen Tage des Jahres 1853 vertheilte die Kochanstalt 4085 Portionen Essen.
An sonstigen Baulichkeiten Bremerhavens sind ferner noch als sehenswerth zu nennen: das Hafenhaus, welches dem Amtmanne und dem Hafenmeister zur Amtswohnung dient, und die Kirche, deren Thurm noch nicht ganz beendigt ist. Auch ein Theater fehlt Bremerhaven nicht, obwohl es ein eigenes Schauspielhaus noch nicht besitzt. Die bescheidene Muse Thalia behalf sich vorläufig bis auf bessere Zeiten, wo man ihr größere Aufmerksamkeit wird zuwenden können, mit dem Saale eines Gasthauses, den man indeß recht geschmackvoll zu einem heiteren Musentempel eingerichtet hat.
Diejenigen, welche sich unterrichten wollen, dürfen Bremerhaven nicht verlassen, ohne eine der Schiffswerften besucht zu haben, auf welchen Bremer Rheder ihre Seeschiffe bauen lassen. Einige dieser Werften besitzen auch Docks. Es sind dies hinter der Stadt an der Geeste gelegene Bassins, die mit dem Flusse in Verbindung stehen und in welche zur Zeit des Hochwassers, worunter man die höchste Anschwellung der Fluth versteht, Schiffe, die einer Reparatur bedürfen, einlaufen. Sobald das Wasser wieder fällt (ebbt), leeren sich diese Behälter von selbst und das zu reparirende Schiff kommt auf’s Trockene zu liegen, so daß es bequem untersucht, die schadhaften Stellen ausgebessert, der Kiel mit neuem Kupferboden versehen und, was sonst etwa nöthig ist, damit vorgenommen werden kann.
Obwohl Bremerhaven eine wirkliche Seestadt ist, lernt man doch durch einen Aufenthalt in dem vielfach anziehenden Orte die eigentliche See immer noch nicht kennen. Wir sehen freilich das Ebben und Fluthen des Meeres, das regelmäßig zwei Mal innerhalb vierundzwanzig Stunden die Wogen der Weser höher aufrauschen und dann wieder stiller in seichterem Bette dem Meere zurollen macht. Das Meer mit seinen Wundern und Schrecken aber ahnt nur das in die Ferne schweifende Auge, das auf dem immer breiter werdenden Wasserspiegel ruht und wie aus der Tiefe emporsteigend die Segel der stromaufwärts ziehenden Schiffe langsam näher und näher schweben sieht. Es sollte aber kein Binnenländer unterlassen, ist er einmal bis Bremerhaven gekommen, auch das Meer in seiner ganzen Herrlichkeit zu überschauen. Hier am Quai der behäbigen Hafenstadt sieht er das Anschwellen der Fluth, einige Meilen weiter stromabwärts vernimmt er den Gruß des heiligen Meeres selbst, den donnernden Wogenschlag, die Brandung, die nie ruhend, bald nur surrend und murmelnd, bald wie Sturmgeheul rasend und zischend ihre weißen Häupter über die grünen Borde der Erde hebt.
Sieben Meilen unterhalb Bremen liegt Bremerhaven, drei Meilen weiter abwärts vermischen sich die Gewässer der Weser mit den Wogen der Nordsee, der man mit so vielem Rechte den Beinamen „die Stürmische“ gibt.
Für den Seefahrer ist die Nordsee eines der gefährlichsten Meere, besonders in der Nähe der großen Strommündungen, welche an den Küsten Flanderns, Hollands und Deutschlands ihre gewaltigen Wassermassen derselben zuführen. An flachen Gestaden befinden sich regelmäßig beträchtliche von der See bedeckte Flächen von nur sehr geringer Tiefe. Die Ströme führen eine unglaubliche Menge von Sand und Schlamm mit sich, der sich hüben und drüben an den flachen Küsten ansetzt und so theils feste, theils bewegliche Bänke und Watten bildet. Tiefe Bänke nehmen oft große Flächen ein und sind zur Zeit der Ebbe theils nur wenige Fuß tief mit Wasser bedeckt, theils treten sie dann auch ganz zu Tage. Nur die Fluthwoge spült über sie hin und macht sie geeignet zur Befahrung mit wenig tiefgehenden Schiffen, den sogenannten Küstenfahrzeugen. Zwischen diesen oft Stunden, ja Meilen langen und breiten Sandbänken, denen die Seefahrer bestimmte Namen beigelegt haben, bilden Fluth und Ebbe jene tiefen und breiten Fahrrinnen, in denen auch die größten Seeschiffe stets eine hinreichende Tiefe finden, um sicher darauf segeln und dem Hafen zusteuern zu können.
Zu leichterer Auffindung des Fahrwassers an solchen schwer zugänglichen Küsten hat der menschliche Erfindungsgeist verschiedenartige Hülfsmittel ersonnen, welche den von hoher See kommenden Schiffern schon aus weiter Ferne anzeigen, wie sie steuern müssen, um nicht auf Untiefen zu gerathen. Wie mannigfaltig aber derartige Vorkehrungen auch sind, dennoch vermögen sie Strandungen und Schiffbrüche nicht jederzeit zu verhindern. Dicke Nebelluft, heftiges Schneegestöber, vornehmlich aber wildes Sturmwetter sind Feinde der Schifffahrt, die der menschliche Scharfsinn mit all’ seinen sinnreichen Erfindungen nie ganz abzuwehren im Stande ist.
Die Wegweiser für den Seemann an den Küsten zerfallen in Tage- und Nachtzeichen. Jene bestehen vorzugsweise aus charakteristisch gestalteten, thurmartigen Holzgerüsten, die auf niedrigen Sandbänken errichtet sind und oft schon mehrere Meilen weit vom Lande entfernt in See erkannt werden können. Diese Zeichen nennt man Baaken, und jede solche einzelne Baake führt einen besonderen [232] Namen, wie auch jede anders geformt ist, damit ja keine Verwechselung stattfinden kann, was die Schiffer nur irre führen und die Strandungen, anstatt sie zu verhindern, befördern würde. So gibt es an und innerhalb der gegen fünf Meilen breiten Elbmündung die Kugel- oder Strengenflü-Baake, die Norder- und Ostbaake und die Scharhörnbaake auf dem großen gefahrvollen Sande Scharhörn, welcher von der kleinen Insel Neuwerk sich weit in die Nordsee hinaus erstreckt. Die Wesermündung wird durch die Jungfernbaake, die drei Baaken und die große Bremer Baake auf dem hohen Wege markirt.
Alle diese Zeichen müssen dem ansegelnden Schiffer in einer gewissen, stets sehr genau angegebenen und jedem Seemann bekannten Stellung erscheinen, wenn er einen ebenfalls bestimmten Punkt auf See erreicht hat, der sich durch nautische Instrumente und seemännische Berechnungen mit Hülfe des Compasses und vorgenommener Peilungen[1] unschwer bestimmen läßt. Nach diesen Stellungen der Seemarken hat der ansegelnde Schiffer zu steuern, um das sichere Fahrwasser aufzufinden. Bei Nebelwetter sind diese Marken natürlich nicht zu erkennen, und es bleibt dann dem Schiffer nichts übrig, als Anker zu werfen, vorausgesetzt, daß die Gegend des Meeres, wo er sich befindet, und die Beschaffenheit des Windes dies gestattet, oder, was nicht selten vorkommt, die Nähe der gefahrvollen Küste zu verlassen und wieder die hohe See zu suchen, wo die größere Tiefe des Meeres ihm das Segeln erleichtert.
Schwieriger als am Tage ist das Einlaufen großer Schiffe in schwer zu passirenden Fahrrinnen in der Nacht. Zu möglichster Erleichterung der Schifffahrt hat man deshalb an allen Küsten, und namentlich an und in den Mündungen großer, stark befahrener Ströme die Leuchtfeuer erfunden.
In früheren Zeiten behalf man sich häufig durch das Anzünden wirklicher Feuer, die in hohen Lohen auf besonders dazu errichtetem Mauerwerk aufschlugen, und so den Seefahrern theils als Warnungszeichen, theils als Leitsterne dienten. Die fortgeschrittene Wissenschaft erfand zweckmäßigere Einrichtungen, erbaute hochragende feste Leuchtthürme, und unterhielt auf deren Höhen in eigenthümlich construirten Laternen während des Nachts fortdauernd brennende Lichter. Neuerdings hat man auch diese vielfach verbessert und dadurch eine Erleuchtung der Gestade des Meeres erzielt, die sich vollkommener kaum denken läßt, wenn die Zahl der aufgestellten Leuchtthürme überhaupt groß genug ist, was freilich von den Nordseeküsten noch nicht behauptet werden kann.
Einer der am vollkommensten eingerichteten Leuchtthürme innerhalb der Gewässer, welche die deutschen Küsten bespülen, ist unbedingt der Bremer Leuchtthurm, in dessen Laterne zuerst seit December 1856 die weithin strahlenden Lampen angezündet wurden.
Berliner Bilder.
Wer aus dieser allerdings sehr unheimlichen Überschrift auf eine bösartige Geschichte von räthselhaften und geheimnißvollen Menschen, etwa im Style der Novelle vom Manne mit der eisernen Maske, schließt und sich vorsorglich in seinem Lehnstuhle zurechtsetzt, bereit, die nach und nach auftauchenden Schaudergefühle zu genießen, dem rathen wir, das Blatt aus der Hand zu legen, da wir weit davon entfernt sind, thörichte Hoffnungen täuschen zu wollen. Die Geschichte vom Manne mit der schwarzen Mappe streift nicht im mindesten an geschichtliche Probleme und Criminalgeschichten, sie paßt nicht in das berühmte Buch von den zweifelhaften Menschen, nicht in den neuen Pitaval; sie ist eine einfache, etwas constitutionelle Skizze. Aber wenn sie nicht den Vorzug besitzt, haarsträubend und schauderhaft zu sein, so erwirbt sie sich vielleicht einen kleineren Kreis von Freunden durch die harmlose Eigenschaft, einige Komik zu entwickeln und in der Gegenwart zu spielen.
Es ist noch nicht allzulange her, daß in dem Königreiche Preußen ein sehr hartes Regiment herrschte. Namentlich waren über die Spree-Athener so strenge Vögte gesetzt, wie sie nur das erste Capitel des zweiten Buches Mose in der Charakteristik der egyptischen Zustände und der Epigonen Joseph’s schildert. In dieser Zeit lebte in Berlin ein Mann, der nichts war, aber Geld und mithin die nöthige Muße besaß, sich vom Morgen bis in die sinkende Nacht mit Murren zu beschäftigen und über die mögliche Verbesserung der staatlichen Sachlage nachzudenken. Als Rentier und Hausbesitzer war er nicht unbekannt mit den schweren Pflichten der Herrschaft, und allmählich reifte in ihm die Ueberzeugung, daß am Ende auch der Staat nur ein höher organisirtes Hauswesen sei, und ein begabter Mann, der mit Berliner Miethern fertig werde, durch Uebung wohl dahin kommen könne, auch die Insassen der verschiedenen Stockwerke einer Monarchie in Ordnung zu halten, sie zur pünktlichen Zahlung der vierteljährigen Steuern zu veranlassen und an die Hausordnung zu gewöhnen.
So trug es sich zu, daß in ihm jene schreckliche Krankheit entstand, welche nur von den kräftigsten Naturen ohne den Ruin der gesammten Persönlichkeit überstanden wird; er verfiel in einen schweren chronischen politischen Ehrgeiz. Allerdings war es leichter, auf dem Exercirplatze vor dem Halleschen Thore zu ertrinken, als unter dem Ministero Manteuffel diese wilde Leidenschaft zu befriedigen, allein der politische Ehrgeiz wuchert, wie die Liebe, um so höher empor, je weniger zärtliche Pflege Beide empfangen und je ärger sie von den Gegenständen ihres Verlangens mißhandelt werden.
Herr Müller, diesen etwas ungewöhnlichen Namen trägt der merkwürdige Mann, von dem wir reden, überlegte lange, welche Wege er einschlagen solle, um sich den zeitigen Machthabern angenehm zu machen, und durch dieses nicht seltene Verfahren vielleicht ein General-Consulat oder eine bequeme Stelle in dem Ministerium zu erlangen, im glücklichen Falle auch wohl zu einem Ordensbande zu kommen. Etwas Ungewöhnliches mußte es sein, was aus dem Gehirn dieses seltenen Mannes hervorging, und er verbrauchte eine beträchtliche Anzahl seiner Lebenstage, um die Menge seiner Ideen zu ordnen und zu Papier zu bringen. Lange schwankte er zwischen zwei Projecten, welche er für besonders annehmbar in den Augen einer starken Regierung hielt. Das eine bestand in einem Auswanderungsentwurf gewaltsamer Art für alle der Demokratie verdächtigen Personen, nach gewissen, von allen Bequemlichkeiten und verdaulichen Nahrungsmitteln entblößten Ostseebädern, das andere in einem kühnen Plane zur Anwerbung einer geheimen Schutzmannschaft behufs Beobachtung des Privatlebens, mit der Tendenz, allmählich alle Staatsbürger in Schutzmänner zu verwandeln, und so ein neueres goldenes Zeitalter und eine holde Uebereinstimmung der Meinungen herbeizuführen.
Leider dachte Herr Müller zu lange nach. An einem Morgen ersah er aus der Zeitung, daß sein politischer Abgott das Staatsruder aus den Händen verloren habe und mit dem Packen der Koffer und Deponiren seiner Werthpapiere beschäftigt sei. Sein erstes Gefühl war eine gänzliche gedankliche und seelische Zerschmetterung. Ihm war zu Muthe, wie dem ersten Napoleon, als er die Uebergabe von Paris und den Kriegsüberdruß seiner Generäle erfuhr, denn Herr Müller war bereits so weit vorgeschritten, die genannten beiden genialen Pläne zu vereinigen. Langsam faßte sich endlich der große Mann und überlegte, welche Wendung die innere Politik seines Vaterlandes nehmen könne. Schon daß der Tourist von Olmütz einfach vom Schauplatz abtrat, sagte ihm, daß eine freisinnigere Richtung zu erwarten stehe, da ein reactionairerer Minister-Präsident so wenig gefunden werden könne, wie unter den vorhandenen dunklen Erdgeborenen ein schwärzeres Geschöpf, als ein Mohr oder ein Schornsteinfeger. Herr Müller sagte zu sich selbst mit dem unnachahmlichen Freimuth, von dem alle in das Rad der Geschichte greifenden Männer einen Antheil besitzen, daß jetzt die Zeit gekommen sei, nicht mehr in Reaction, sondern in Reform Geschäfte zu machen. Die Ereignisse gaben dieser speculativen Ansicht Recht, denn in Berlin trat jener großartige Umschwung der Meinungen ein, von welchem die sich sonst um Alles bekümmernde Presse so auffallend wenig Notiz genommen hat. Männer, die bis dahin nie [233] über den Ideenkreis des Treubundes hinausgedacht und alle Festtage der Novembermänner mit dem Pocal in der Hand begangen, die sich nur in Gesellschaft graubärtiger pensionirter Officiere glücklich gefühlt, und einen Vorrath gefüllter Oellampen nebst einem patriotisch anzüglichen Transparent zu einer unerwarteten Illumination stets im Hause hatten, stiegen aus ihrer vornehmen Höhe plötzlich herab in die gemeinen Hallen des bayrischen Bieres und der frischen Würste mit Sauerkraut, sprachen begeistert für die Heilighaltung der Verfassungsparagraphen, lauschten auf die Bedürfnisse des Volkes, redeten geringschätzig von der Polizei und dem Preßbureau am Molkenmarkt, abonnirten auf bissige liberale Zeitungen und schnauzten die armen Botenweiber, welche am Anfange des neuen Vierteljahres die bisherigen Blätter in’s Haus brachten, so wüthend an, als wären sie die Verfasserinnen der Leitartikel und die vertheidigenden Amazonen des Herrenhauses. Nur mit Erröthen gestehen wir, daß auch Herr Müller sich dieses Leichtsinnes im Wechsel der politischen Ueberzeugung schuldig machte.
„Liebes Kind,“ rief der große Mann an einem Tage aus, als er gelesen, daß für die Kammern neu gewählt werden solle, und seine besorgte Gemahlin ihn gefragt hatte, ob es nicht des zu erwartenden Aufstandes wegen räthlich sei, alle Gelder und Pretiosen einzupacken, die Vorhänge herunterzulassen, die Thüren zu verschließen und nach Dessau in Sicherheit zu fahren, „liebes Kind, Du hast eine ganz falsche Vorstellung von der Situation – hoffentlich weißt Du, was eine Situation ist? – unter den Wölfen mußte man mit heulen, unter den Schafen muß man mit blöken. Es kommt wieder eine andere Schattirung von Constitutionalismus in die Mode. Sagte ich Schattirung? nein, nicht Schattirung! eine andere Phase! Bisher genossen wir einen Pseudoconstitutionalismus, der sich zu dem echten etwa wie der Cichorienkaffee der Köchin zu Deinem starken Morgenkaffee verhielt. Ich wage nicht zu sagen, ob wir schon den echten Constitutionalismus bekommen werden, allein so viel steht fest: aus dem Ministerium ist viel Cichorie ausgeschieden!“
Da dieses Gleichniß für die Gemahlin etwas ungemein Ansprechendes besaß, schenkte Madame Müller ihrem Gemahl geneigtes Gehör und derselbe fuhr fort, ihr sein Absichten für die Zukunft auseinanderzusetzen.
„Ich beabsichtige,“ sagte der ausgezeichnete Politiker, „zunächst Wahlmann zu werden und dann, wenn mir das Glück hold ist, als Abgeordneter in die Kammer zu treten und das gegenwärtige Ministerium zu stützen. In mir liegt etwas, das mich für jedes bestehende Ministerium zu stimmen zwingt. Hast Du von der Wünschelruthe gehört? Sie verbeugt sich tief, wo Wasser oder Metall in der Erde verborgen ist. Gerade so ergeht es meinem Rücken mit den Ministerien. Das liegt in der menschlichen Natur, das kann man sich nicht geben, nicht in sich unterdrücken; das ist jene Magie, von der die neuesten Naturphilosophen reden. Wer wagte wohl diese wunderbare Erscheinung zu erklären!“
„Wirst Du aber auch gewählt werden, lieber Anton?“ fragt das bedächtige Weib seiner jugendlichen Wahl.
„Warum sollte ich nicht gewählt werden? War ich nicht schon oft genug Wahlmann und braucht man gegenwärtig nicht Männer, diese seltene Waare in einem Zeitalter der Verworfenheit? Sei so gut, liebes Kind, und kaufe mir morgen eine schwarze Mappe bei Treu in der Leipziger Straße oder bei Moßner in der Burgstraße, wenn Letzterer nicht allzu theuer sein sollte.“
„Aber wozu denn eine schwarze Mappe, Anton?“
„Weil alle Deputirten schwarze Mappen tragen,“ antwortet Herr Müller mit wichtiger Miene; „was für den Minister das Portefeuille mit den Gesetzen, ist für den Abgeordneten die biegsame schwarze Mappe mit den Gesetzesvorlagen. In der Kammer legt er sie vor sich auf das kleine Pult; auf der Straße trägt er sie unter dem Arme. Sie gibt ihm erst das gehörige Ansehen vor den Leuten. Ich habe nie begreifen können, wie die Blätter immer von den Portefeuilles der Minister und niemals von den schwarzen Mappen der Abgeordneten reden; Beide sind nichts ohne dergleichen bedeutsame Fabrikate aus Buchbinderhänden!“
Diese treffliche Auseinandersetzung überzeugt vollständig die folgsame Gattin, und sie beeilt sich, bei Gelegenheit ihres nächsten Ausganges, die sehnsüchtigen Wünsche ihres Gatten zu befriedigen. Die schwarze Mappe, ein Muster von Biegsamkeit und Korduan, wird angeschafft und auf dem Schreibtische des zukünftigen Staatsmannes niedergelegt, eine Augenweide für alle Hausbewohner, wenn sie kommen, die Quittung über die gezahlte Miethe in Empfang zu nehmen.
Inzwischen haben die Wahlbewegungen begonnen und werden mit Heftigkeit fortgesetzt. Wir wollen nicht die Einrichtungen des Staates verkleinern oder gar die Vertreter des Volkes verdächtigen, allein die Wahlmänner scheinen uns niemals aus einer scharfsinnigen Erwägung aller persönlichen und politischen Umstände, sondern aus puren Gemüthsbewegungen hervorzugehen. Sie sind nur die „Söhne einer naiven Gefühlspolitik“. Diese Helden müssen in den meisten Fällen bestimmte gemüthliche Eigenschaften besitzen, wenn sie den Urwählern wohlgefallen sollen. Man liebt sie mit tiefen bebenden und rührenden Stimmen, wie sie aus einem fleißigen Biergenusse hervorzugehen pflegen; man schätzt an ihnen ein biederes Pathos, vorgeschuht mit freimüthigen, aber nicht allzu scharfen Phrasen; besonders gesucht sind Märtyrer, denen einmal die Paßkarte oder die Gewährung irgend eines unnützen Gesuches verweigert worden. Besitzen sie eine stets gefüllte Cigarrentasche, mit deren Inhalt sie in den Vorversammlungen nicht sparsam sein dürfen, so wird dieser Umstand ihren Wahlaussichten nicht schädlich sein. Lassen sie sich die Mühe nicht verdrießen, bei den Urwählern die Runde zu machen und ihnen in der Mitte ihrer Familien und Werkstätten Besuche abzustatten oder ihnen bei künftig vorkommenden Bauten Arbeit zu versprechen, so ist Alles geschehen, was in der Macht eines weisen Mannes steht. Es handelt sich hier wirklich nur um Gefühlspolitik.
So wurde denn der ausgezeichnete Mann, mit dessen politischer Laufbahn wir uns beschäftigen, in der That mit einer starken Majorität zum ersten Wahlmanne seines Bezirkes erwählt.
„Meine politische Berechnung ist richtig gewesen,“ sagte Herr Müller, als er nach der Wahl etwas schwerfällig in das Zimmer der Gattin trat, denn er hatte mit einigen einflußreichen Urwählern auf das Wohl des liberalen Ministeriums seinen brennenden Durst gestillt, „der erste Schritt ist geschehen; ich bin Wahlmann!“
Nach diesen Worten, die mit einem unbeschreiblichen Anstande gesprochen wurden, ergriff er sinnend die schwarze Mappe, öffnete sie, fuhr auf Probe tief mit der Rechten hinein, als wollte er das Manuscript einer fulminanten Rede gegen das Jagdrecht oder die Zeitungssteuer herausziehen, und flüsterte halblaut: „Ich will Abgeordneter werden.“
Die Wahl der Abgeordneten beruht leider nicht auf Gefühlspolitik. Die Herren Wahlmänner, ihres bedenklichen Ursprunges eingedenk, haben vielmehr einen wahren Abscheu gegen Gefühlspolilik und gehen mit den auftretenden Candidaten um, wie die Examinatoren mit jenen unglücklichen Referendarien, welche sich zum dritten Examen, dem des Assessors, gemeldet haben, ohne die nöthigen glänzenden Geistesgaben zu besitzen, welche zu diesem im glücklichsten Falle von Diäten lebenden Amte gehören. Die auftretenden Candidaten zur Volksvertretung oder „Landbotschaft“ werden moralisch geprüft und gesichtet, wie die berüchtigten Verdünnungen in der homöopathischen Apotheke. Die Wahlmänner mustern ihre Vergangenheit und Gegenwart; sie müßten sogar über ihre Zukunft Rechenschaft ablegen, wenn die Vorsehung in diesem Punkte nicht den Menschen und Wahlmännern einen Riegel vorgeschoben hätte. Man fragt nicht allein nach ihren Thaten, Schriften und Reden; man zwingt sie, alle ihre Gedanken im Laufe des letzten Jahrzehends auszuplaudern. Das Geringste ist noch, wenn man förmliche Examina in verschiedenen speciellen Fächern mit ihnen anstellt. Glänzende äußere Eigenschaften pflegen nicht zu entscheiden. Der sogenannte „gesinnungstüchtige Mann der Wahlmannschaft“ genügt hier nicht, höchstens in einem weit von der Hauptstadt entfernten Wahlkreise; man fordert gelehrte, consequente, liberale und charakterfeste Männer, insofern sie überhaupt zu haben sind.
Wir würden die schrecklichen Scenen beschreiben, welche der unglückliche Candidat Müller durchmachen mußte, fürchteten wir nicht, die Nerven unserer Leser zu tief zu erschüttern. Man erinnerte ihn an eine gewisse Adresse, an einen Huldigungsbesuch bei dem Novembermanne, an das Arrangement eines Bezirksballes mit Treubundsgesängen bei Tafel, man vernichtete ihn vollständig als politischen Charakter, und nur eine unbekannte Stimme ließ sich schließlich hören und nannte ihn noch „eine alte Wetterfahne“.
Der Verlorene schwankte nach Hause und wurde um zehn Uhr Abends von dem das Haus zuschließenden Nachtwächter auf dem Flur gefunden. Der rasch herbeigerufene Arzt ließ ihm aus Furcht [234] vor einem Schlaganfall zur Ader, verbot alle aufregenden politischen Gespräche und jede Zeitungslecture, verordnete kühlende Getränke nebst einer Abkochung von Pflaumen und Sennesblättern, einem drastischen Mittel gegen heftige Anfälle von Ehrgeiz oder Volksvertretungssucht, und rieth, Stroh auf der Straße vor der Thür zu streuen, wenn das angestammte Stroh im Kopfe des Patienten Müller nicht sein Recht behaupten und die närrischen Phantasieen ersticken sollte.
Das gefürchtete Unheil stellte sich nicht ein, die politische Schwärmerei endete nicht mit einem apoplektischen Streiche; der Patient stand vielmehr nach einigen Tagen stillschweigend auf, verzehrte dreiviertel Pfund russischen Caviar, trank dazu einen Schoppen Ungarwein und kleidete sich an. Seine Gemahlin ließ ihn gewähren; sie wußte, daß ihr Müller kein schnöder Gewaltmensch, sondern nur eine sanfte lyrische Natur war.
Der gedemüthigte Politiker begab sich in sein Gemach, zog die bewußte schwarze Mappe hervor und betrachtete sie mit schwermüthigen Blicken. Hierauf füllte er sie mit allerlei auf die Wahl bezüglichen Papieren und Broschüren und verschloß sie sorgfältig. Dann betrug er sich ruhiger, denn sonst, sprach niemals über Politik und rauchte seine Cigarre mit der stillen Würde eines in die Genüsse seines Tschibuks versunkenen Orientalen.
So kam allmählich der Eröffnungstag der Kammern und die Vorlesung der Thronrede heran. An diesem hochpolitischen Tage entwickelte der verunglückte Deputirte schon am frühen Morgen eine schauerliche Thätigkeit. Er forderte seinen besten schwarzen Anzug, einen französischen Hut à ressort, weiße Handschuhe und eine Gallacravatte. Dann schmückte er sich, nahm die schwarze Mappe unter den Arm und begab sich nach dem Schlosse. Viele der stets auf den Straßen umherbummelnden Berliner wichen ihm ehrerbietig aus, und so gelangte er, unter großer innerer Genugthuung, bis in die Nähe des Einganges, wo er in Ermangelung einer Einlaßkarte sich begnügen mußte, unter dem umherstehenden Volke einen Platz einzunehmen.
Am nächsten Tage war er aber schon glücklicher. Gemeinhin ist es leichter, ein Billet zur Kammer, als zur Oper zu erhalten, und es gelang dem falschen Deputirten sehr bald, sich einen Platz auf einer guten Tribüne zu allen Sitzungen zu sichern. Hier erblickt man ihn seitdem mit seiner schwarzen Mappe, wie er höchst aufmerksam auf die glänzenden Reden lauscht, die in der laufenden Saison in so ungewöhnlicher Menge gehalten werden, wie er die pikanten Witze des constitutionellen Grazioso genießt und selbst bei den schwächendsten Debatten der sterblichen Natur nicht nachgibt und einschläft. Gleichzeitig mit den Abgeordneten verläßt er das Haus und schließt sich dem Hauptzuge dieser Herren durch die Leipziger Straße nach den besuchtesten Gasthäusern an. Er läßt sich nie ohne seine schwarze Mappe blicken und es verursacht ihm eine ganz unglaubliche Befriedigung, wenn die kleinen Schulbuben ihn für einen Landboten halten und als Beweis ihrer Anerkennung dieser hohen Würde gewaltsam gegen ihn rennen und nachträglich die Zunge hinter ihm ausstrecken. Natürlich speist er nur mit Deputirten, die ihn für einen Berichterstatter auswärtiger Zeitungen halten und den Mitgenuß des Sectes, den Herr Müller auftischen läßt, nicht verschmähen. Auch mit wirklichen Reporters hat er, gleich manchen wirklichen Landboten, Bekanntschaften angeknüpft und gefällt sich darin, mit ihnen auf dem Trottoir stehen zu bleiben und sehr laut über die letzte Sitzung zu sprechen. Am rührendsten ist aber seine Zärtlichkeit gegen die schwarze Mappe. Er trennt sich so wenig von ihr, wie ein echter Abgeordneter, der endlich nach zehnjährigen fruchtlosen Anstrengungen diese Würde in Berlin errungen hat und nun mit jenem Symbol Wochen lang durch alle Straßen der Stadt, wenn der Verkehr am lebhaftesten ist, patrouillirt.
Nur in der deutschen Ballade gibt es ähnliche Beispiele von Beharrlichkeit, stillem Wahnsinn und Komik, wie in der wahren Geschichte des constitutionellen Schwärmers Müller.
Die Auswahl der zu Lauben geeigneten Pflanzen ist so groß, daß der Liebhaber wirklich in Verlegenheit kommen kann, welche er anwenden soll. Gleichwohl kommt ungemein viel auf die rechte Wahl an, indem die verschiedenen Lauben nicht nur zum Theil verschiedene Pflanzen verlangen, sondern auch so eingerichtet sein müssen, daß sie gedeihen und auf eine ihrer Natur angemessene Art befestigt und gezogen werden können. Man wählt also entweder die Pflanzen darnach, wie sie die Laube verlangt, oder man richtet die Laube nach gewissen Lieblingspflanzen ein. Zur besseren Uebersicht werde ich die Laubenpflanzen in zwei Hauptabtheilungen bringen, nämlich erstens solche, die im freien Garten aushalten und ohne besondere Hülfsmittel angezogen werden können, zweitens solche, die zur Ueberwinterung und Anzucht ein Gewächshaus oder anderes Ueberwinterungslocal bedürfen.
1. Eigentliche Schlingpflanzen. Unter allen holzartigen Schlingpflanzen verdient die cultivirte Weinrebe, wo sie an Lauben gedeiht und reife Trauben bringt, den Vorzug, denn in ihr vereinigt sich das Nützliche mit dem Schönen auf eine seltene Weise. Man muß Italien und Südtyrol gesehen haben, um einen Begriff von der Herrlichkeit der Rebenlauben zu bekommen. In Tyrol, besonders bei Meran, führen die Landstraßen und Wege oft große Strecken unter Lauben hin, und welch herrlichen Anblick gewähren die herabhängenden schwarzblauen, rothen oder gelbbraunen Trauben zur Zeit der Reife! Nicht minder schön sind die von einem Rebendache beschatteten Landungsplätze in Italien, die sogar noch an den Schweizerseen angetroffen werden. Auch in den Rheingegenden, besonders in Baden, sind große Rebenlauben häufig. Leider gedeiht und reift der Wein an Lauben in vielen Gegenden Deutschlands nicht oder unvollkommen, wenigstens die bessern Sorten nicht. Es gibt jedoch einige, die in nicht ganz schlechten Lagen noch nördlich bis Hamburg an Lauben reif werden, nämlich der sogenannte frühe Leipziger, die Berliner Seidentraube und die Jakobstraube. Nicht alle Sorten sind gleich gut zu Lauben, und es eignen sich nur solche dazu, die lang geschnitten werden können und schnell und in großer Ausdehnung wachsen. Hierzu gehören besonders die Malvasier-Sorten, wozu auch die beiden ersteren genannten gehören. Am stärksten wächst der sogenannte Gänsefüßer, welcher so groß wird, daß in Handschuhsheim bei Heidelberg ein Stock über 100 Fuß lang ist und 4 bis 5 Ohm leichten rothen Wein gibt. Für wärmere Lagen ist der blaue Trollinger vor vielen andern zu empfehlen. Die schönste Belaubung hat die nordamerikanische Isabellentraube (Vitis Isabella) mit einen Fuß im Durchmesser haltenden Blättern und sehr raschem Wuchs. Doch schmecken die Trauben eigenthümlich und reifen sehr spät. Der Weinstock eignet sich nur zu größeren Lauben, vorzüglich zu Laubengängen nach Art der Veranda und Pergola.
Wo die edlen Weinreben nicht gedeihen, können die wilden Reben aus Nordamerika, deren es mehrere Arten gibt, eine ähnliche Wirkung hervorbringen, jedoch ohne die schönen nützlichen Trauben. Am verbreitetsten sind Vitis Labrusca, vulpena (aestivalis), cordifolia, sinuata, rotundifolia. Sie kommen auch im Schatten fort, und lassen sich daher auch gut an Laubenbäumen ziehen. – Der bekannte wilde Wein, Ampelopsis oder Hedera quinquefolia, dessen im Herbst rothe Blätter von so ausgezeichneter Wirkung sind, bedarf wohl keiner besonderen Empfehlung. Außer seiner großen Schönheit hat er noch das Gute, daß er in jedem Boden, in jeder Lage gedeiht und außerordentlich schnell wächst. Es gibt noch schöne Arten, unter denen besonders A. cordata zu empfehlen ist. – Eine der schönsten und beliebtesten Laubenpflanzen ist die großblättrige Aristolochia, Aristolochia Sipho, mit einen Fuß großen, herrlich grünen Blättern, die sich glatt an das Geländer auflegen und ein so dichtes geschlossenes Dach bilden, daß ein leichter Regen nicht durchdringt. Leider belaubt sie sich etwas spät im Frühjahre. [235] Sie kommt auch im Schatten fort, es hält aber schwer, sie unter Bäumen aufzubringen.
Die am schönsten blühende holzartige Laubenschlingpflanze ist die chinesische Glycine, Glycine oder Wistaria chinensis, mit schön gefiederten Blättern und herrlichen blauen oder weißen, köstlich duftenden Blüthentrauben, die zierlich zwischen den jungen Blättern in die Laube herabhängen. Leider erfriert diese herrliche Pflanze zuweilen und muß daher wie Wein bedeckt werden. In Frankfurt a. M. sieht man sie noch 40 Fuß hohe Wände bekleiden. – Weniger bekannt, obgleich nicht viel weniger schön und gegen unser Klima härter, ist Wistaria frutescens (Glycine und Apios frutescens) aus Amerika. Sie beginnt zu blühen, wenn W. chinensis aufhört, und hat ebenfalls einen sehr angenehmen Geruch.
Die Waldrebenarten, nämlich Clematis viticella dunkelblau, C. viorna violett, C. vitalba, flammula und virginica weiß u. a. m., sind ungemein hübsch zu Lauben, leicht, dicht bekleidend und fast den ganzen Sommer blühend. Die beiden letztern haben einen köstlichen Geruch. Zu empfehlen sind ferner C. orientalis, glauca, crispa, cylindrica, reticulata, campaniflora, Simsii. Die Waldreben wachsen bis 30 Fuß hoch, lassen sich aber, da sie jedes Jahr bis auf älteres Holz zurücksterben und nie starke Stämme bilden, auch leicht niedrig halten. Das leichteste Laubengestelle von Draht ist stark genug, diese zarten luftigen Pflanzen zu tragen. Für kleine zierliche Lauben sind auch noch einige chinesische und japanische Waldreben mit viel prachtvolleren Blumen anwendbar; doch müssen sie bei uns im Winter gut mit Nadeln oder Moos gedeckt werden, gute lockere Erde und einen trocknen Standort haben. Die schönsten sind: Clematis florida plena, mit gefüllten weißen Blumen, Sieboldi (caerulea grandiflora), blanda, montana grandiflora etc. Hierher gehören auch die Alpenreben, Atragene alpina mit hellblauen und A. sibirica mit weiß und blauen Blumen. Beide blühen vor dem Clematis. Alle Waldreben, mit Ausnahme der chinesischen und japanischen, kommen auch im Schatten fort. Menispermum canadense und dahuricum sind hoch und schnell wachsende Schlingpflanzen, die wie Aristolochia angewendet werden können und auch dieser Pflanze ähnlich sind, jedoch kleinere Blätter haben. Sie erfrieren auch bei strengster Kälte nicht. – Die griechische Winde, Periploca graeca, hat herrliche, der bekannten Wachsblume (Hoya oder Asclepias carnosa) ähnliche Blumen von großer Schönheit. Sie eignet sich nur für die Seiten der Lauben, die, da die Zweige sich stark winden, senkrechte Stäbe oder Drähte haben müssen. Es ist gut, sie im Winter zu bedecken. – Das Geißblatt oder der Jelängerjelieber, Lonicera, wovon es viele, sämmtlich schön blühende Arten gibt, ist eine prächtige Schlingpflanze, die häufig an Lauben gezogen wird. Gleichwohl ist sie hierzu sehr unpassend, indem sie unten und inwendig stets kahl wird, und nur oben auf der Laube blüht, während unten und inwendig nichts als kahle und abgestorbene Zweige zu sehen sind. Auch verschlingen sich die Stengel büschelweise zu Stricken und Klumpen, wodurch Lücken entstehen, und die Laube immer verwildert aussieht. Will man Jelängerjelieber an Lauben anwenden, so muß man sie immer zurückschneiden und oft anbinden. Am schönsten sind sie noch an Gebüschlauben, wenn man sie frei zwischen den Zweigen anderer Sträucher wachsen läßt. – Den Baumwürger, Celastrus scandens, führe ich nur an, um von seiner Verwendung abzurathen.
Die alljährlich bis auf den Boden absterbenden, aber im Frühling wieder ausschlagenden krautartigen Schlingpflanzen eignen sich meist nur für kleine Lauben, da sie größere entweder nicht ganz oder erst im Spätsommer bekleiden. Gleichwohl sind viele ihrer schönen Blumen wegen schätzenswerth, bosonders wenn man sie mit holzartigen Schlingpflanzen zusammen anpflanzt. Alle haben windende Stengel, und die Lauben müssen demgemäß eingerichtet sein. Einige der schönsten sind folgende:
Die Knollenwicke, Apios tuberosa oder Glycine Apios, hat eine Knollenwurzel, die die unangenehme Eigenschaft hat, sich weit zu verbreiten und viele Ausläufer zu machen. Die röthlichen Blüthentrauben haben einen herrlichen Geruch und blühen im Spätsommer. Eignet sich zu den oben genannten Wistaria chinensis und W. frutescens, um die unteren kahlen Stellen der Lauben zu bekleiden. – Calystegia dahurica, hat Aehnlichkeit mit unserer überall an Zäunen und feuchten Plätzen wild wachsenden weißen Zaunwinde (C. Sepium), aber hellrothe größere Blumen und wächst bis 40 Fuß hoch, so daß eine Laube schnell damit zu bekleiden ist. So schön diese Pflanze ist, so hat sie doch die übele Eigenschaft, daß sie, einmal angepflanzt, nicht wieder auszurotten ist, so lange noch ein Stück Wurzel in der Erde bleibt. Diese Winde eignet sich zur Zusammenpflanzung mit stark wachsenden, unten leicht kahl werdenden holzartigen Laubenpflanzen, wo sie die leeren Stellen schnell deckt. Auch die gemeine weiße Zaunwinde, C. Sepium, verdient Beachtung und ist, wie die vorige, besonders schön an Gebüschlauben, wenn sie ungezwungen durch die Zweige klettert und so die nicht blühenden Gesträuche mit schönen Blüthen schmückt. Die schönste Art ist Calystegia rubescens fl. pl. mit gefüllten, rosenrothen Blumen. Diese hat das Gute, daß sie mehrere Tage blüht, während die einfachen nur den Vormittag blühen. Sie wächst 10–15 Fuß hoch. Die genannten drei Winden gedeihen gut im Schatten und sind vortrefflich, um Säulen davon zu bilden, indem man vom Dach der Lauben einen senkrechten Faden spannt.
Der sogenannte Schnellepheu, Mikania scandens (M. senecioides oder Senecio mikanioides) gleicht fast dem Epheu, hat aber weiche, weniger steife Blätter. Es gibt kaum eine Pflanze, mit der man schneller eine Laube beziehen könnte, sie paßt also besonders zu neuangelegten Lauben, an denen die später bleibenden holzartigen Schlingpflanzen noch klein sind. Vortrefflich ist sie an Balconlauben, wo man die Pflanzen in Gefäßen halten muß. Diese Pflanze hält unter trockner Bedeckung im Freien aus, doch ist es zweckmäßiger, kleine aus Stecklingen gezogene Pflanzen an einem frostfreien Orte im Topfe zu durchwintern. Sie gedeiht vorzüglich im Schatten. – Die fünfblättrige türkische Kresse oder Nasturtie, Tropaeolum pentaphyllum, ist eine der schönsten, am reichsten blühenden Schlingpflanzen, deren Knolle unter starker trockner Bedeckung im Freien aushält. Man thut indessen wohl, die Knollen im Herbst auszuheben, trocken und frostfrei bei den Georginen zu durchwintern und im Frühjahr in einen Topf zu pflanzen, damit sie Anfangs Mai schon ausgetrieben ist, weil die im Lande bleibenden Knollen oft spät austreiben. Diese zierliche Pflanze ist reizend an feinen Drahtlauben, allein oder zwischen anderen Schlingpflanzen.
2. Sträucher mit schlanken, dünnen Zweigen. Diese befestigen sich nicht von selbst an den Lauben, lassen sich aber willkürlich ziehen und leicht biegen, so daß sie an kleinere Lauben ganz vortrefflich sind. Sie haben fast alle schöne Blumen, und dies ist ihr Hauptvorzug. Hierher gehören vor Allem die Kletterrosen, d. h. Rosen mit langen, biegsamen Zweigen. Rosa arvensis wächst so hoch, daß sie nur an ganz hohen, großen Lauben zu gebrauchen ist, und wird leicht etwas zu üppig und wild. Die Tapetenrose, Rosa turbinata oder tugurionum, wächst 12–15 Fuß hoch, hat große, schwach gefüllte, rothe Blumen und blüht sehr reich. Die immergrüne Kletterrose, R. sempervirens (capreolata oder scandens), wovon es mehrere sehr schöne Spielarten mit weißen und rothen gefüllten Blumen gibt, wächst 10–15 Fuß hoch und blüht überaus reich und prächtig. Einige der prächtigsten Spielarten sind: Felicité perpétuelle, odoratissima, Ruga, virginalis superba. Diese Sorten erfrieren aber zuweilen, müssen im Winter bedeckt werden und es ist gut, stets einige davon in Töpfen zu haben, um die abgehenden ersetzen zu können. Rosa reclinata ist vortrefflich [236] zu Lauben und erfriert nicht. R. multiflora, moschata, Banksea alba und lutea sind herrliche Rosen, müssen jedoch im Winter sehr gut bedeckt werden. Rosa Boursaulti ist eine prächtige, große, sehr gefüllte Rose, die nur in rauhen Lagen bedeckt zu werden braucht. Neuerdings hat man noch eine große Menge sehr prachtvoller Kletterrosen zu Lauben, die jedoch meist bedeckt werden müssen. Vorzügliche neue Laubenrosen sind die sogenannten Prairierosen, R. rubifolia, aus Nordamerika, welche unsern Winter meist sehr gut vertragen. Man hat davon schon viele schöne Gartenspielarten. – Der echte orientalische Jasmin, Jasminum officinale, die beliebteste Pflanze des Morgenlandes, hält, wie der Weinstock zugedeckt, sehr gut im Freien aus, wird jedoch bei uns selten über 8–10 Fuß hoch, paßt sich daher nur für die Seiten der Lauben. Der Hecken- oder Teufelszwirn, Lycium europaeum, ist eine vortreffliche Laubenpflanze, wenn man sie hoch zieht oder auf eine Erhöhung pflanzt, so daß die langen reichblühenden Zweige herabhängen. Zu regelmäßig gezogenen Lauben eignet sie sich jedoch nicht, mehr für einen schattigen Sitz. – Es gibt noch verschiedene zu Lauben brauchbare Sträucher; da aber Schlingpflanzen den Vorzug verdienen, so will ich sie nicht anführen.
3. Holzarten zu Baum- und Heckenlauben. Zu Baumlauben, d. h. zu solchen, wo eine frei wachsende Baumkrone einen Sitzplatz beschattet und zur Laube eingerichtet ist, eignet sich jeder schön und dicht belaubte Baum. Zu Heckenlauben, welche beschnitten werden müssen und eine steife architektonische Form haben, können alle hochwachsenden Heckensträucher und Bäume verwendet werden. Am besten sind Hainbuchen (Weißbuchen) und Weißdorn, auch immergrüner Taxus, Cedern, Lebensbäume u. s. w. Diese Art von Lauben sind nur für Wirthschaftsgärten brauchbar.
Die Pflanzen dieser Abtheilung sind meist schön blühende Schlingpflanzen, die besonders an Luxuslauben in Blumengärten und auf Balconen gezogen werden. Es gibt eine große Menge von hierzu geeigneten Blumen, und alljährlich kommen neue dazu.
1. Gewächshaus-Laubenpflanzen. Cobaea scandens, eine bekannte, ungemein rasch wachsende und schön blühende Rankenpflanze, besonders geeignet, um die Decke großer Lauben zu beziehen, aber unten leicht kahl werdend, deshalb in Verbindung mit niedrig bleibenden Schlingpflanzen anzuwenden. Kann aus Samen gezogen werden. – Philogyne suavis (Tilophara testicularis) ist eine der reizendsten Schlingpflanzen mit moschusduftenden Blättern und Blüthen und der herrlichsten dichten Belaubung, unter allen derartigen Pflanzen am schnellsten eine Laube bekleidend. Sie ist zwar noch viel schöner zu Guirlanden, aber auch zu Lauben eine der besten. Die Blume ist unbedeutend. Man zieht die Pflanzen aus Stecklingen. – Cephalandra quinqueloba, (Bryonia quinqueloba), der vorigen nahe stehend, mit unscheinbaren Blüthen, aber herrlicher, ungemein dichter Belaubung. – Ipomea, (Pharbitis) Leari und tyrianthina, prächtige Winden mit violetten Blumen. Sie müssen im Warmhause durchwintert werden, verlangen einen sehr warmen Standort und Sonne, wenn sie blühen sollen. – Passionsblume, Passiflora caerulea und mehrere Gartenspielarten. Diese bekannte Prachtpflanze blüht an Mauern in warmer Lage sehr reich und hält, gut bedeckt, sogar im Freien aus. – Nasturtie oder türkische Kresse, Tropaeolum, in vielen Arten und Spielarten. Dies sind prächtige Laubenpflanzen, die meist sehr hoch und alle sehr schnell wachsen. Es gibt eine Menge Arten und Sorten von dieser herrlichen Gattung, doch blühen mehrere im freien Lande schwer, manche erst gegen den Herbst hin, einige im Freien gar nicht oder einzeln. Da fast alljährlich neue Sorten vorkommen, so will ich die jetzt beliebten nicht nennen. Sie können zwar meist aus Samen gezogen werden, da jedoch dieser nicht immer reift, zieht man sie aus Stecklingen. Die Tropäolen werden unten immer kahl und man muß sie daher mit andern von unten auf vollbleibenden Pflanzen, besonders mit Lophospermum oder Maurandia, zusammenpflanzen. Sie heften sich durch Drehung der Blattstiele an und müssen deshalb an netzartige Geländer von Draht oder Faden gezogen werden.
Lophospermum erubescens und scandens mit mehreren Spielarten wachsen bis 10 Fuß hoch, blühen jedoch schon von unten auf sehr reich. Die Blumen sind roth und fingerhutartig. – Maurandia Barklayana, semperflorens und andere, mit blauen, rothen und weißen Blumen, haben viel Aehnlichkeit mit der vorigen Pflanze und auch gleiche Verwendung, sind jedoch in allen Theilen kleiner und zierlicher. – Ecremocarpus oder Calampelis scaber, orangeroth, schön, hochwachsend, aber unten immer kahl, daher nur in Verbindung mit grünbleibenden Blumen anzupflanzen. – Rhodochiton volubile hat etwas Aehnlichkeit mit Lophospermum, wächst aber sehr hoch und hat eigenthümliche schwarzrothe Blumen. – Unter den nicht kletternden Pflanzen gibt es in Gärten, wo Gewächshäuser bestehen, zwar viele, welche an die Seiten von Lauben brauchbar sind, ich will aber blos eine erwähnen, nämlich die Fuchsia. Man kann sich nichts Reizenderes denken, als eine mit hohen Fuchsien bezogene kleine Laube, in welche Tausende von Blüthenglocken hineinhängen. Man kann jedoch nur die Seiten damit beziehen. Es eignet sich hierzu vorzüglich eine alte kleinblumige Sorte, F. gracilis und ähnliche. Man kann sie leicht im Keller überwintern. – Alle Pflanzen dieser Abtheilung werden Mitte Mai in das Freie gepflanzt.
2. Sommerblumen. Diese werden alljährlich neu aus Samen gezogen, den man entweder sogleich an die Laube säet oder einige Wochen vorher in Töpfe oder Mistbeete, um sie schon groß an die Laube zu pflanzen. Das Letztere ist besser, weil so die Laube eher voll wird. Hierher gehören die schon genannten Nasturtien oder Tropäolen. Immer aus Samen zieht man die Canarische, Tropaeolum peregrinum oder canariense (aduncum), sehr reich blühend und ungemein hoch wachsend, mit eigenthümlich ausgefranzten gelben Blumen. Sie ist leider den Raupen und Erdflöhen sehr ausgesetzt. T. minus, besonders die Spielart coccineum, wächst bis 15 Fuß hoch. T. majus, in vielen Farben, wird 10 bis 12 Fuß hoch. Mit zarten Pflanzen darf es nicht zusammengebracht werden, weil es diese unterdrückt. – Die Winden, Ipomea, in verschiedenen Arten und Spielarten, sind herrliche Laubenblumen, müssen aber an Fäden oder dünnen Stangen in die Höhe wachsen. Sie blühen bei Sonnenschein nur Vormittags, haben aber große schattende Blüthen. Die vorzüglichsten Arten und Sorten sind: Ipomea purpurea in vielen Farben, I. cermesina, rubro-caerulea etc. – Syccos angulata und Cyclanthera pedata sind hübsche, unter allen am schnellsten wachsende Schlingpflanzen, besonders die erstere. Wenn man Pfähle einschlägt und von diesen Fäden nach einem Mittelpunkte zieht, so kann man mit dieser Pflanze (auch mit Winden, jedoch nicht so große Flächen) in einem Sommer die größte Zeltlaube beschatten, was oft für gewisse Zwecke sehr nützlich wird. Diese Pflanzen werden aber von unten kahl und es müssen daher andere grünbleibende Schlingpflanzen (Maurandia, Lophospermum etc.) dabei gepflanzt werden. – Die Brennwinde, Cajophora oder Loasa latericia, contorta, u. a. m. haben eigenthümlich schöne, orangerothe Blüthen. Blätter und Blumen stechen wie Brennnesseln und sind daher sehr zweckmäßig, wo eine Laubenseite Beschädigungen ausgesetzt ist, denn Niemand greift sie zum zweiten Male an. Eine sehr schöne Pflanze, die auch im Schatten wächst. – Endlich gehören hierher die schönen türkischen oder Feuerbohnen (Phaseolus multiflorus oder coccineus), wovon es eine schöne Spielart mit halb weißen Blumen gibt. – Zum Schlusse will ich noch die reizende zweijährige Adlumia cirrhosa (Fumaria scadens) erwähnen. Es ist dies die leichteste, zarteste aller Schlingpflanzen und bedeckt sich mit unzähligen hellrothen Blumen. Man säet den Samen im Mai oder Juni, bringt die Pflanzen auf ein Beet und im folgenden Frühjahre an die Laube, wo sie in vier Wochen Alles bedecken. Im Winter deckt man die Pflanze mit trockener Streu zu.
- ↑ Messungen.
- ↑ Man vergleiche den Artikel „Die Gartenlaube“ in Nr. 20, des Jahrganges 1856 der Gartenlaube.