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Die Gartenlaube (1859)/Heft 49

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1859
Erscheinungsdatum: 1859
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[709]

No. 49. 1859.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.
Wöchentlich 1 1/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.

Der verwandelte Schmuck.

Novelle von Ernst Willkomm.
(Fortsetzung.)


„Ich habe eine Bitte an Sie, lieber Herr Simonides,“ redete der Graf den Juwelier an. „Sie müssen mir einen Gefallen thun.“

„Wenn es in meiner Macht steht, Herr Graf, werde ich es mir zur Ehre anrechnen, Ihnen dienen zu können.“

„Ich bin durch Zufall in den Besitz einiger Edelsteine gekommen, die ich gern je eher je lieber veräußern möchte,“ fuhr Aurelio von Weckhausen fort. „Ich wüßte sie auf keine Weise zu benutzen, und sie unbenutzt als völlig todtes Capital liegen zu lassen, ist unzweckmäßig. Sollten Sie jedoch nicht geneigt sein, einen eigentlichen Kauf mit mir abzuschließen, so würde ich mich eben so gerne zu einem Tausche bereit finden lassen.“

„Was sind es für Steine, Herr Graf?“ fragte Simonides.

„Sie haben darüber ein richtigeres Urtheil als ich,“ erwiderte Aurelio. „Ich trage sie bei mir, es hat sie noch Niemand gesehen, und nur weil ich zu Ihnen unbedingtes Vertrauen habe, lege ich Ihnen dieselben vor.“

„Es fängt bereits an zu dunkeln,“ entgegnete der Juwelier, „die Dämmerung ist der Betrachtung, besonders der richtigen Abschätzung von Juwelen nicht günstig. Warten wir noch kurze Zeit, bis Heller Lampenschein eine genauere Prüfung Ihrer Steine erlaubt. – Sie waren längere Zeit verreist, Herr Graf?“

„Länger, als ich beabsichtigte. Ein Unfall, der mir in den Apenninen zustieß und mir, hätte das Glück mich nicht in seltener Weise begünstigt, das Leben kosten konnte, hielt mich zurück. Ich habe einen steifen Finger zum Andenken an dies Evenement behalten, was meine Handschrift seitdem bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet.“

Simonides wollte nicht unbescheiden sein, weshalb er sich nicht weiter nach den näheren Umständen dieses Unfalles erkundigte. Er ließ Licht bringen, zog die Rouleaux nieder, stellte zwei sehr hell brennende Lampen mitten auf einen mit grünem Tuch überbreiteten Tisch und verriegelte, um nicht zufällig durch den raschen Eintritt eines Dritten gestört zu werden, die Thür.

„Jetzt sind wir allein, Herr Graf,“ sprach er, zum Tische zurückkehrend, „wenn Sie mir also Ihre Kleinodien vorlegen wollen, bin ich bereit, mein Urtheil über dieselben abzugeben und mein Angebot zu machen.“

Während Simonides diese Worte an Aurelio von Weckhausen richtete, bemerkte er, daß dessen Mittelfinger an der rechten Hand eine breite, noch jetzt fast blutroth schimmernde Wunde trug. Nach dem so eben Vernommenen nahm er an, der Graf möge sich bei dem erwähnten Unfälle diese Wunde zugezogen haben.

Aurelio folgte der Aufforderung des Juweliers. Er zog eine seidene Börse hervor, durch deren Maschen der Glanz verschiedener geschliffener Edelsteine blitzte. Einzeln legte er diese auf den grünen Ueberzug des Tisches.

Simonides nahm jeden Stein einzeln in die Hand, betrachtete ihn mit großer Genauigkeit von allen Seiten und ließ ihn durch mehrfache Wendungen im Lichte spielen. Gewisse Kennzeichen sagten dem erfahrenen Manne, daß sämmtliche Steine schon einmal gefaßt gewesen seien.

„Es sind seltene Kleinodien, nicht wahr?“ sprach, die Prüfung des Juweliers mit Aufmerksamkeit verfolgend, der Graf. „Man hat nicht häufig Gelegenheit, solche werthvolle Exemplare durch Tausch einzuhandeln.“

„Die Steine sind allerdings werthvoll,“ versetzte Simonides, seine Prüfung noch einmal wiederholend, „dennoch dürfte das, was ich Ihnen dafür bieten könnte, Ihren Wünschen kaum entsprechen.“

„Jedenfalls zahlen Sie doch den vollen Preis des Werthes?“

„Das eben ist es, was einem Abschlüsse des von Ihnen gewünschten Geschäftes entgegensteht,“ erwiderte der Juwelier. „Diese Steine waren alle schon einmal gefaßt, und – ein auffallender Umstand – die Hand, welche die Fassung entfernte, muß ungeschickt gewesen sein, denn sie hat beim Ausbrechen jeden einzelnen Stein verletzt.“

„Nicht möglich!“ rief der Graf, den ihm zunächst liegenden Sapphir ergreifend und ebenfalls mit prüfender Aufmerksamkeit betrachtend. „Ich vermag nirgends einen Fehler zu entdecken,“ fuhr er nach einer Weile fort, während der Juwelier bald diesen, bald jenen Stein gegen das Licht hielt, um dessen Farbenspiel und Feuer zu erproben.

„Sehr möglich, Herr Graf,“ antwortete Simonides, „nichts desto weniger muß ich meinen Ausspruch aufrecht erhalten. Man hat sich zu sehr beeilt, als man die alte Fassung entfernte. Derjenige, der sich damit beschäftigte, war unruhig oder mißtrauisch. Er wollte nicht gestört, nicht überrascht werden, und dadurch hat er sich selbst den größten Schaden zugefügt. Bezahlten Sie einen hohen Preis für diese Steine, Herr Graf?“

Aurelio von Weckhausen wollte offenbar das Angebot des Juweliers erfahren, ehe er diesem die Summe nannte, für welche die Edelsteine sein Eigenthum geworden waren.

[710] „Ich glaube einen anständigen Kaufpreis erlegt zu haben,“ versetzte er. „Darauf jedoch kommt es jetzt nicht an, ich wünsche vorläufig nur Ihr Angebot zu erfahren.“

Simonides nahm die Miene eines Menschen an, der angestrengt mit Zahlen beschäftigt ist. Er ließ nochmals Stein für Stein durch seine Finger gleiten und legte sie in ein Häuflein zusammen, das einen wunderbar blitzenden Anblick durch das verschiedenartige Feuer der schönen Juwelen gewährte. Nach einigen Minuten nannte er die Summe.

„Nein, Herr Simonides,“ erwiderte Graf von Weckhausen, „dafür sind sie mir nicht feil, ich glaubte wenigstens das Dreifache von Ihnen zu erhalten. Sie entschuldigen, daß ich Sie bemüht habe. Vielleicht ist ein anderer Ihrer Collegen weniger scrupulös oder“ – fügte er mit feinem Lächeln hinzu – „weniger vorsichtig.“ „Ein wirklicher Kenner, Herr Graf, kann Ihnen nicht mehr bieten, ohne sich selbst in Schaden zu bringen,“ versetzte Simonides. „Sie wollen bedenken, daß wir Juweliere Handelsleute sind und daß sich in diesen zwar gesuchten, aber im Ganzen doch immer zu kostspieligen Artikeln, um einen großen und schnellen Absatz zu erzielen, ein sehr bedeutendes Capital verbirgt, das selten die gewünschten Zinsen trägt.“

„Wohl möglich, mein Herr,“ gab der Graf etwas pikirt zur Antwort, „für mich kann dies jedenfalls kein Grund sein, mit Ihnen abzuschließen. Es thut mir leid, denn ich hätte meine Frau gern zu ihrem Geburtstage mit einem modernen Collier beschenkt. Sie liebt Juwelen über Alles, und da sie zur Erhöhung ihrer ganzen Erscheinung nicht wenig beitragen, so finde ich, daß sie recht thut, sich damit zu schmücken. Man muß das Leben genießen, so lange man jung ist und noch Gefallen am Genüsse findet,“

„Legen Sie das Fehlende zu, Herr Graf,“ entgegnete Simonides, „oder – um Ihnen einen anderen Vorschlag zu machen – stehen Sie mir das alterthümliche Kästchen mit dem noch alterthümlicheren Schmucke ab, das mir der hochwürdige Herr Domcapitular vor einiger Zeit zeigte.“

„Das?“ sagte Aurelio von Weckhausen. „Nimmermehr! Jener Schmuck, mit dem es eine eigne Bewandtniß hat, soll in meiner Familie bleiben. Ich habe ihn zu theuer erkauft!“

„Ganz wie Sie wollen, Herr Graf,“ sprach der Juwelier. „Ich besitze keine Macht, Sie zu zwingen; sollten Sie aber vielleicht eines Tages anders darüber denken, was ja auch möglich ist, so bitte ich, sich meiner geneigtest erinnern zu wollen.“

Der Graf antwortete nur durch eine Verbeugung, ließ die auf dem Tische liegenden Steine einzeln wieder in die Börse gleiten und entfernte sich verstimmt, von dem höflichen Juwelier bis an die Hausthür geleitet. Dieser blickte dem Fortgehenden nach, bis dessen Gestalt sich im Schatten der Häuser verlor.



4. Eine dunkle That.

Aurelio von Weckhausen kehrte nicht in seine Wohnung zurück, obwohl er Gesellschaft erwartete und sich bei dem Juwelier länger aufgehalten hatte, als es seine Absicht gewesen war. Als die Stadt hinter ihm lag, schlug er einen Seitenweg ein, der durch ein kleines Wäldchen nach dem schiffbaren Flusse führte, welcher auf der Ostseite die Stadt berührte. In diesem Wäldchen hatte man ein früheres Försterhaus zu einem Vergnügungslocal eingerichtet. Im Sommer wurden hier unter den rauschenden Laubkronen alter Bäume Concerte gegeben, im Herbst und Winter boten geräumige Zimmer dem Publicum Gelegenheit zu geselligen Zusammenkünften. An solchen fehlte es nie, da die ehemalige Försterei kaum zwanzig Minuten von der Stadt entfernt lag.

Nach dieser anmuthigen Einsiedelei richtete Graf von Weckhausen seine Schritte. Der Pachter derselben stand unter der Thür und unterhielt sich mit einem Aurelio unbekannten Manne. Höflich grüßend trat er beim Gewahren des Grafen zur Seite. Dieser erwiderte den Gruß eben so höflich, indem er die Frage an den Pachter richtete:

„Haben Sie die Equipage des Herrn Domcapitulars vorüberfahren sehen?“

Der Pachter verneinte, worauf Aurelio in das Haus trat mit der Bemerkung, daß er in diesem Falle einige Minuten verweilen müsse, weil sie ohne Zweifel alsbald erscheinen werde.

Während nun der Pachter sein Gespräch mit dem fremden Herrn wieder aufnahm, öffnete der Graf die Thür zum ersten Gesellschaftszimmer und musterte die wenigen darin Anwesenden. An der hintersten Ecke, von den Uebrigen getrennt, saß ein Landmann von stark bäurischem Aussehen, der aufmerksam ein Zeitungsblatt las. Diesem gegenüber nahm Aurelio Platz, zog sein Taschenbuch, entnahm demselben eine kleine Karte, die seinen Namen trug, machte unter diesem ein paar Zeichen mit Bleistift und schob sie dem Lesenden zu. Dieser schien bis jetzt weder den neuen Ankömmling noch dessen Bewegungen bemerkt zu haben. Er las ruhig fort in der Zeitung und erst nach einer Weile legte er sie auf den Tisch. Dabei gewahrte er das kleine weiße Kärtchen. Er hob es auf, betrachtete es mit völlig ruhiger Miene und heftete dann seine scharfen schwarzen Augen fest auf den Grafen.

„Es ist unerläßlich,“ sprach dieser so leise, daß es nur der ihm gegenübersitzende Landmann hören konnte. „Der Juwelier will nicht.“ Der Landmann steckte jetzt die Karte zu sich, ergriff noch einmal die Zeitung, um darin zu blättern, stand dann auf, ohne den Grafen weiter eines Blickes zu würdigen, ging mit großen Schritten und in echt bäuerischer Haltung der Thür zu und ließ diese hinter sich recht vernehmlich in’s Schloß fallen. Draußen sprach er mit dem Pachter, der ihm lachend guten Abend wünschte und um baldige Wiederholung seines Besuches bat. Gleich darauf rollte ein Wagen an dem Hause vorüber, in welchem der Pachter die Kutsche des Domcapitulars vermuthete, weshalb er den Grafen laut bei Namen rief, der diesen Ruf auch beachtete und ihm unverweilt folgte. Bedauernd sagte er zu dem heraustretenden Aurelio:

„Bitte mich gnädigst zu entschuldigen, Herr Graf, ich habe mich geirrt. Es war die Postkutsche, die ja um diese Zeit immer retour fährt.“

„Nun, es thut nichts,“ erwiderte Weckhausen leichthin. „Ich vermuthe, der gute Domcapitular hat eine kleine Spazierfahrt gemacht, ehe er bei seiner Nichte absteigt. Um so mehr muß ich eilen. Auf Wiedersehen.“ Unter vielen Bücklingen des höflichen Pachters schlug er die Richtung des Wagens ein, erreichte das Ende des kleinen Wäldchens und sah von Weitem über Hecken und Wiesen die Lichter seines glänzenden Landsitzes einladend schimmern. Rasch eilte er in seine Appartements, kleidete sich um und betrat den traulichen Salon, wo seine junge, schöne Gattin kleinere, vertrauliche Cirkel zu sehen pflegte. Aurelio entschuldigte sich anmuthig, daß er später als seine Gäste erscheine, und suchte durch Liebenswürdigkeit diesen kleinen Verstoß wieder gut zu machen.

Der Domcapitular war kurz vor dem Grafen angekommen, hatte aber sämmtliche Anwesende sogleich durch eine Mittheilung zu fesseln gewußt, über die jeder Einzelne die Abwesenheit des Hausherrn vergaß.

„Hast Du auch schon davon gehört, bester Aurelio?“ fragte ihn Rosaura.

„Wovon, mein Herz?“ lautete die Gegenfrage des Grafen.

„Von der höchst romantischen Geschichte, mit welcher uns der Oheim soeben unterhielt, und die so fabelhaft klingt, daß wir uns Alle noch nicht entschließen können, sie für wahr zu halten.“

„Ich gestehe meine Unwissenheit,“ erwiderte Aurelio, „da ich aber sehe, daß die Erzählung pikant sein muß, möchte ich den Herrn Oheim bitten, dieselbe auch mir nicht vorzuenthalten.“

„In den nächsten Tagen schon wird sie in den weitesten Kreisen bekannt sein,“ versetzte der Domcapitular. „Allerdings klingt das Geschehene unwahrscheinlich, es kann aber doch nicht eine bloße Erfindung müßiger Köpfe sein, denn ich habe, was ich sagte, aus dem Munde des geheimen Obergerichtsrathes, dem man die Sache amtlich communicirt hat.“

„Ist ein Verbrechen geschehen?“ warf der Graf ein.

„Die Vermuthung eines verbrecherischen Anschlages liegt wenigstens nahe, obwohl das jedenfalls Geschehene auch auf Täuschung beruhen kann,“ entgegnete der Domcapitular.

Ein Bedienter in geschmackvoller Livree reichte Thee und Gebäck herum, die kleine ausgesuchte Gesellschaft gruppirte sich im Halbkreise um den Domcapitular, und dieser konnte der abermaligen Bitte des Grafen nicht widerstehen.

„Eine fürstliche Familie, eine der ältesten auf den Thronen Europa’s, deren Name jedoch verschwiegen bleiben soll,“ begann er, „ist von einem schweren Unglück heimgesucht worden. Vor längerer Zeit schon – wahrscheinlich vor mehr als Jahresfrist – befand sich diese Familie auf Reisen. Ihr Gefolge war zahlreich, da der Glanz des Namens an den Höfen, die man besuchte, aufrecht [711] erhalten werden sollte. Die Reise verlief ohne jeglichen Unfall; man kehrte sehr befriedigt zurück, und namentlich fühlte sich der Fürst nicht nur durch die Aufnahme gehoben, die er allerwärts gefunden hatte, es waren auch die geheimen politischen Tendenzen, welche der Reise selbst eigentlich zu Grunde lagen, vollkommen erreicht worden. Nach Zurückkunft der fürstlichen Familie in ihr Land veranstalteten Behörden und Volk mancherlei Festlichkeiten ihr zu Ehren. Es gab Deputationen zu empfangen, Adressen entgegen zu nehmen, Anreden zu erwidern. Ein äußerst glänzender Fackelzug schloß diese Festlichkeiten. Der Fürst, ein Mann von wohlwollendem Charakter, wollte sich seinen Unterthanen erkenntlich erweisen und gab Befehl, ein Volksfest in großem Styl zu arrangiren, wobei die Unbemittelten die Gäste des Herrschers in seinem Palaste sein sollten. Dieser Befehl ward pünktlich ausgeführt, und der Jubel des Volkes war unbeschreiblich. Zum Schluß gestattete der glückliche Fürst, daß den Schaaren der jubelnden Neugierigen ausnahmsweise auch die Kunstschätze der Familie gezeigt würden, die in mehreren geräumigen Sälen des Schlosses, welche seit undenklichen Zeiten dazu bestimmt waren, aufbewahrt werden. Man hatte keinerlei Vorsicht außer Acht gelassen. Das Publicum erhielt nicht in ungeordneten Schwärmen von beliebiger Zahl Zutritt in die reich ausgestatteten Hallen, sondern truppweise, gegen Karten, die beim Eintritt einem Hatschier vorgezeigt, beim Fortgange diesem wieder abgeliefert werden mußten. Auch innerhalb der Säle und beim Vorzeigen und Erklären der vorhandenen Schätze fehlte es nicht an der gebotenen Ueberwachung. Alles verlief ungestört, in bester Ordnung. Die Säle wurden in hergebrachter Weise wieder geschlossen, die Schlüssel ganz so, wie dies immer üblich gewesen war, unter gewissen fest vorgeschriebenen Ceremonien dem Hofmarschall abgeliefert. Mehrere Monate später sollte, eine Folge jener Reise, die Vermählung der Erbprinzessin mit einem ausländischen Fürstensohne gefeiert werden. Bei solchen Gelegenheiten war es von jeher üblich gewesen, nicht nur den Familienschmuck, sondern auch die alten prachtvollen Tafelgeräthschaften aus der Schatzkammer zu holen, um damit vor den fürstlichen Gästen, welche zu solchen Festen eingeladen werden, zu paradiren. Man denke sich nun die Ueberraschung, ja das Entsetzen des ganzen Fürstenhauses, als man jetzt die furchtbare Entdeckung macht, daß ein Theil dieser nie wieder zu ersetzenden Kleinodien spurlos verschwunden ist! Niemand hat eine Ahnung, auf welche Weise es möglich werden konnte, diese Schätze zu rauben. Man hatte sie an dem genannten Festtage den staunenden Augen des Volkes gezeigt. Damals fehlte nicht der kleinste Gegenstand. Seit jenem Tage hatte keines Menschen Fuß die Schatzkammer wieder betteten; der Schlüssel derselben lag unter dreifachem Verschluß. Die Thüren, die Fenster, Alles zeigte sich in tadellosestem Zustande, ebenso die Truhen, welche die Schätze bargen, und dennoch waren Gegenstände von unermeßlichem Werthe verschwunden!

„Es wurden nun die ernstesten Nachforschungen angestellt. Hochgestellte Palastbeamte und Hofwürdenträger mußten sich mehrmaligen strengen Verhören unterwerfen, selbst Haussuchungen der peinlichsten Art konnten nicht unterbleiben, allein es war weder etwas zu finden, noch führten alle diese Maßregeln zu einer Spur, die man zu weiteren Recherchen hätte benutzen können. Bis zu dieser Stunde ist das Geschehene ein ungelöstes Räthsel. Die fürstliche Familie steht rathlos da dieser Thatsache gegenüber. Ohne schwerer Verschuldung zu verfallen und sich der maßlosesten Ungerechtigkeit gegen Andere anzuklagen, kann sie gegen Niemand einschreiten. Es gibt keine einzige Persönlichkeit, welche verdächtig erscheint.

„Unter diesen gewiß höchst eigenthümlichen Verhältnissen hat man sich entschlossen, einen ebenso außerordentlichen als gewagten Schritt zu thun. Die verschwundenen Schätze veranschlagt man auf anderthalb Millionen Gulden. Den fünften Theil dieser enormen Summe will die fürstliche Familie unter Verschweigung seines Namens demjenigen als Belohnung auszahlen, der im Stande ist, ihr über das Verbleiben jener Schätze bestimmte Kunde zu geben.“

Der Domcapitular machte hier eine Pause, um zu hören, was Graf von Weckhausen zu dieser Mittheilung sagen werde. Aurelio zögerte auch nicht, seine Meinung sogleich kund zu geben.

„Verehrter Herr Oheim,“ sprach er, „wenn diese überaus interessante Geschichte nicht etwa ein reines Phantasiegebilde ist, wird sich die fürstliche Familie, welcher das Unglück begegnete, wohl nach einem Zauberer, einem neuen Cagliostro umsehen müssen. Vielleicht auch hausen Kobolde in dem Palaste des unbekannt oder namenlos gebliebenen Herrschers, welche in der Vermählung der Prinzessin eine Beleidigung ihres Stammes erblicken und sich deshalb durch Verschleppung der erwähnten Kostbarkeiten empfindlich zu rächen suchen. Eine andere Erklärung wüßte ich wenigstens nicht zu geben, man müßte denn eine sehr geheim gehaltene, weit verzweigte Verschwörung annehmen wollen, die sich im Besitze von Nachschlüsseln und anderen Diebswerkzeugen befände und von diesen einen eben so geschickten als weit gehenden Gebrauch gemacht hätte. Hat man denn nichts Näheres über die vermißten Gegenstände in Erfahrung gebracht?“

„Daß es sich hier um kein Märchen, sondern um eine Thatsache handelt,“ nahm der Domcapitular abermals das Wort, „werden Sie schon nächster Tage durch die Bekanntmachung erfahren, welche in allen Regierungsorganen erscheinen soll. Ein näheres Verzeichniß der vermißten Gegenstände oder gar eine Beschreibung derselben wird man jedoch dieser Bekanntmachung nicht beifügen.“ „Und doch will man ermitteln, wo sie geblieben sind?“

„Gewiß! Das Verschweigen gerade soll zu leichterer Ermittelung verhelfen.“

„In der That,“ sprach der Graf lächelnd, „der Weg, welchen man einschlägt, um eine dunkle That zu entdecken, ist ganz so eigenthümlich, ja unbegreiflich, wie das Ereigniß selbst.“

„Im Gegentheil, ich finde, daß es von großer Klugheit zeugt,“ versetzte der Domcapitular.

„Und Ihre Beweise, Herr Oheim?“

„Ganz in der Stille, durch diplomatische Personen läßt die erwähnte fürstliche Familie ein sehr genaues Verzeichniß nebst Beschreibung der auf so unerklärliche Weise abhanden gekommenen Schätze an sämmtliche Juweliere des In- und Auslandes vertheilen. Jeder muß an Eidesstatt unverbrüchliches Schweigen über diese heimliche Mittheilung geloben. Durch dieses Verfahren bleibt das große Publicum in völliger Unkenntnis;. Niemand bekommt auch nur eine entfernte Ahnung über die Beschaffenheit der verschwundenen Gegenstände, während jeder Juwelier, der größte wie der kleinste, ganz genau erfährt, wie die verlorenen Schätze aussahen, welche Kennzeichen sie hatten, wie sie sich ungefähr ausnehmen würden, falls der Zufall sie vielleicht anders gestaltete oder beschädigte. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß nach einiger Zeit, wenn Niemand mehr von dem Vorfalle spricht, irgendwo ein Theil, irgend ein einzelnes Stück jener Schätze auftaucht und dadurch ein Fingerzeig gegeben wird, der, immer still verfolgt, schließlich doch zur Entdeckung der Urheber, der Kobolde – wie Sie sagen – die jenes Verschwinden bewirkt haben mögen, führen muß.“

„Allerdings ein Ausweg, der einer Fuchsfalle ungemein ähnlich sieht,“ meinte Aurelio von Weckhausen. „Angenommen, es haben nicht Kobolde, sondern Menschen jenes Verschwinden bewerkstelligt, kann nicht der Schalksnarr Zufall eine beträchtliche Menge Unerfahrener in böse Verlegenheiten bringen?“

„Sie scheinen den eingeschlagenen Weg nicht zu billigen,“ sagte der Domcapitular.

„Warum nicht?“ versetzte der Graf. „Außerordentliche Vorfälle verlangen ungewöhnliche Mittel! Nur wird man sich vorzusehen haben, wenn man sich etwa in der Lage befindet, Juwelen und dergleichen einkaufen zu können. Mich freut es jetzt, daß ein von mir schon eingeleiteter Handel nicht zu Stande gekommen ist.“

„Du wolltest Juwelen kaufen?“ sagte Rosaura, den Gatten mit glänzenden Augen anblickend. „Von Simonides?“

„Er ist der zuverlässigste, kenntnißreichste und gewissenhafteste aller Juweliere, mit denen ich jemals in Verbindung gekommen bin,“ antwortete Aurelio. „Ich war bei ihm, um einen Tausch zu machen, und weil wir in ein längeres Gespräch verwickelt wurden, traf ich heute später hier ein. Ich würde sagen: leider konnten wir uns nicht einigen, während mir gegenwärtig die Zähigkeit des vorsichtigen Mannes ganz angenehm ist.“

„Welche Steine wollten Sie umtauschen?“ fragte der Domcapitular.

„Einige Sapphire und Opale, von denen ich Ihnen schon erzählte.“

„Dieselben, welche Sie während Ihrer letzten Reise von den säumigen Schuldnern in Genua erhielten?“

„Mit denen das genuesische Haus den Rest seiner Schuld tilgte.“

[712] „Wie schade!“ rief Rosaura. „Wer weiß, wie lange ich nun auf die versprochenen Ohrgehänge noch werde warten müssen!“

„Du mußt die unheimlichen Kobolde in dem Palast der namenlosen Fürstenfamilie für dieses schreckliche Unglück verantwortlich machen,“ sagte scherzend Aurelio. „Wer darf wagen, Juwelen einzuhandeln, zu tauschen, wenn vielleicht geraubte Steine bereits vielfach in Umlauf gesetzt worden sind? Zum Glück haben wir nicht so große Eile, und wenn wir unter Freunden weilen, die es nicht gar zu genau nehmen, kannst Du Dir ja allenfalls mit dem alten Schmucke helfen. Er kleidet Dich so ehrwürdig, daß man Dich für eine Burgherrin alten Styls halten und bewundernd nicht die Schale, sondern den Kern betrachten wird, der Dir diese Würde verleiht.“

Rosaura nahm den Scherz des geliebten Gatten zwar für das, was er sein sollte, ganz zufrieden aber war sie doch nicht damit. Auch wollte ihr die Weigerung Aurelio’s, gegen alte Steine neue, modern geformte einzutauschen, doch gar zu vorsichtig erscheinen. Ein Mann von dem Range, der Stellung und dem Vermögen Weckhausen’s, meinte die junge Frau, könne ungefährdet einen solchen Handel abschließen. Im Stillen ein wenig, aber unbemerkt schmollend, nahm sich Rosaura vor, mit Bitten nicht eher nachzulassen, bis Aurelio seine Bedenken überwinden und seinen Vorsatz doch noch zur Ausführung bringen würde.



Nach einigen Tagen ward die von Domcapitular Rütersen erwähnte Bekanntmachung wirklich veröffentlicht. Das Aufsehen, welches dieselbe hervorrief, war allgemein und verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch alle Schichten des Volkes. Ein großer Theil des Publicums konnte natürlich nur momentan davon berührt und wohl auch angeregt werden, da die Gegenstände, um deren Verschwinden es sich handelte, dem eigentlichen Volke gar zu unerreichbar waren. Nur für die Elite der Gesellschaft und für jene zweideutigen Zwitterpersonen, die bald vom Glück, das ein günstiger Zufall ihnen entgegenbringt, bald vom Schwindel leben, hatte der eigenthümliche Fall ein höheres und bleibendes Interesse. Was die Juweliere davon hielten und wie die Instructionen lauteten, die man diesen wichtigen Leuten gegeben hatte, blieb begreiflicherweise Allen ein Geheimniß.

Aurelio von Weckhausen lachte, so oft man der Angelegenheit erwähnte. Er behauptete, seine Annahme werde sich als richtig erweisen und der Verdacht der Entwendung dieser Schätze auf den unerreichbaren Kobolden, die ja gewissermaßen mit zur Familie des fürstlichen Hauses, wie das häufig vorkomme, gehören könnten, sitzen bleiben. Die Hartnäckigkeit, mit welcher der Graf diese muntere Ansicht fest hielt und immer von Neuem wieder vertheidigte, hätte beinahe eine Spannung zwischen ihm und dem Domcapitular herbeigeführt. Letzterer glaubte wohl an Wunder göttlichen Ursprungs, Alles aber, was mehr den Charakter geisterhaften Spukes an sich trug, war ihm von Grund der Seele verhaßt. Deshalb wollte er es nicht einmal haben, daß Jemand von Volksaberglauben sprach oder sich gar mit einer gewissen Vorliebe diesem zuwandte.

„Es ist seltsam, lieber Graf,“ sprach er eines Tages, als das Gespräch zufällig wieder auf diesen Vorfall kam, „daß Sie als besonnener, praktischer und klar denkender Mann von Geist sich an – erlauben Sie mir den etwas stark klingenden Ausdruck – an solche Narrenspossen festklammem!“

„Haben Sie die Güte, verehrter Herr Oheim,“ versetzte Aurelio in bester Laune, „mir eine natürliche Erklärung des Vorfalles zu geben, und ich werde Ihnen mit Freuden beibringen.“

„Halten Sie das für so unmöglich?“

„Allerdings, denn bis jetzt hat es ja noch Niemand gelingen wollen, das unbegreifliche Geheimniß aufzuklären.“

„Sagen Sie lieber, es hat noch Keiner den Muth gehabt, seine wahre Meinung darüber mit dürren Worten auszusprechen!“

„Aus Furcht etwa, compromittirt zu werden, oder aus sonstigen Rücksichten?“

„Aus Vorsicht, dünkt mich.“

„Sollten auch Sie diesen Muth nicht haben?“

„Unter vier Augen gewiß, vor der Welt nie!“

„O dann bitte ich dringend, Herr Oheim, was denken Sie von der Sache?“

(Fortsetzung folgt.)




Prairie- und Waldbrände.[1]

Wir hatten endlich wieder einmal Trinkwasser entdeckt oder, um genauer zu sein und uns nicht mit fremden Lorbeeren zu schmücken, unsere Maulesel, besonders aber unsere Ochsen, hatten es gerochen und waren mit schnaubender Wuth unaufhaltsam und mit hoch empor starrenden Schweifen darauf zugestürzt, um sich und uns einmal wieder gründlich zu erlaben. Der Pecos-, Puerco- oder Schweinefluß, den wir verfolgt hatten, um womöglich dessen Mündung in den Rio grande oder großen Fluß zu erreichen, war schlimmer, als Meerwasser mit seinem stinkend-salzig-lehmigen Inhalte. Wir saßen also an der Quelle, füllten unsere Fässer und sprachen und rauchten und hörten der vielleicht tausendsten Wundermähr unseres Indianers Hicks zu. Hicks war kein Indianer von Geburt, sondern nur in Lebensweise, Gesinnung, Sehnigkeit, Kleidung und Erscheinung jeder Zoll ein Indianer, wie sie sich auf den ungeheuren Ausdehnungen der noch unsicheren amerikanisch-mexikanischen Grenzen (die wir untersuchen sollten) in verschiedenen Stämmen umhertreiben. Hicks war ein echter Jankee von Geburt und brachte so die Intelligenz und Schlauheit des Weißen als Grundcapital zu den Schätzen seiner Indianer-Tugenden. Tausende von Amerikanern führen als Pioniere auf den Grenzen zwischen Wildniß und Civilisation, als Wild- und Rauchwaaren-Fänger, als erste Colonisten in Wäldern und Ebenen, auf welche die amerikanische Civilisation mit Eisenbahnschnelligkeit zueilt, ein Leben wie Hicks und verindianern halb, indem sie die weiße Civilisation vorbahnen. Sie verindianern durch Klima und Lebensweise so sehr, daß nicht nur ihre Gesichtsfarbe sich indianisch bräunt, sondern auch ihre Gesichtszüge, besonders die Profile, sich binnen acht bis zehn Jahren ganz so schärfen und zuspitzen, wie die der Indianer. Die Stirn tritt zurück, Nase und Lippen springen scharf hervor, das Auge wird stechend, das Haar fließt schwarz und wild. Der indianische Anzug findet sich von selbst in Regionen, wo Schneider und Modejournale unbekannt sind und das Fell des erbeuteten Thieres bald Rock und Weste, bald Beinkleider, Schuhe und Strümpfe ersetzen muß.

Hicks war ein vollkommner Indianer und konnte mit einem Beine reiten, während der Körper an der Seite und dem Halse des Pferdes herunterhing, und unter dem Halse des Thieres hinweg dem Feinde auf der anderen Seite eine sichere Kugel oder den Pfeil in die Brust jagen. So war unser alter Hicks mit einem so braunen, runzeligen, zerfalteten Gesicht, wie wir in den vertrocknetsten Backbirnen nicht finden würden.

Hicks war von dem Anführer unserer Expedition als eine Art Factotum von Diener und Plackholz mitgenommen worden und in jeder großen, plötzlichen Gefahr, in jedem Gefecht mit Indianern unser absoluter Dictator gewesen, dem Niemand ein Haar breit ungehorsam zu sein wagte. Jedesmal, nachdem er, so zu sagen, das Vaterland gerettet, legte er (was sich alle Diktatoren zum Muster nehmen sollten) seine Würde eben so unmerklich und bescheiden nieder, wie er sie genommen, und machte sich sofort wieder dienerhaft nach allen Seiten nützlich. Dies muß der Leser wissen, damit ihn dessen plötzliche Oberherrschaft nicht überrasche. Hicks erzählte und rauchte mit uns an der Quelle. Im Osten erhob sich ein unbedeutendes Felsen-Conglomerat, nicht hoch und nicht ausgedehnt, aber just hinreichend, uns nach des Tages Hitze gegen den durchdringend kalten Nachtwind zu schützen. Rings um die grüne Quelle rauschte weißgraues, mannshohes, ausgedörrtes mexikanisches Prairiegras, vielleicht Hunderte von geographischen Meilen weit, da wir den ganzen Tag von keiner Anhöhe mit den besten Gläsern

[713] 

Amerikanischer Waldbrand auf der Eisenbahnlinie Utica-Syracuse.

[714] Anfang oder Ende entdeckt hatten. Hier und da gab es einzelne kahle, felsige Stellen, bewachsen mit scheußlichen Pflanzen-Grimacen, den harzigen Stink-Stauden der Larraea Mexicana, einzelnen Mezquit-Bäumen oder Gestrüppen von dieser Bohnen-Akazie (Acacia glandulosa), Yucca’s oder Stachelpalmen, großen, runden Echinocacteen, die wie riesige Greise und Ausrufungszeichen der Verzweiflung aus dieser verdorrten Ueppigkeit hervorstarrten, Mamillarien und Opuntien, deren Aeste, Zweige und Blätter ineinander verwachsen und zu allen möglichen Carrikaturen verzerrt durch ihre schreckenerregende Häßlichkeit jedes lebende Wesen vor diesen Regionen warnen zu wollen schienen.

In solcher Umgebung rasteten und rauchten wir und lauschten den Abenteuern unseres Hicks, als dieser plötzlich die Pfeife aus dem Munde nahm, schwieg und horchte und uns winkte, ganz still zu sein. Er saß wie im tiefen Nachdenken gebückt, legte dann das linke, hierauf das rechte Ohr auf den Boden und sprang wie ein Gummiball mit dem pfeifenden, schrillen Rufe auf:

„Prairie in fire!“ Die Prairie brennt!

Wir Alle waren im Nu auf den Beinen und kletterten auf die Felsen im Osten, um die schreckliche Naturscene, von der wir oft gehört, endlich zu sehen. Zunächst gab’s nicht viel für’s Auge, denn das Glimmern und Leuchten in weiter Ferne schien kaum des Sehens Werth. Auch zu hören war zunächst nichts für unsere Ohren, die nicht die Schärfe unseres Hicks hatten. Ein dumpfes, leises Summen und Brausen in der Luft, ein eigenthümliches Pfauchen und Ziehen wurden wir erst gewahr, als uns Hicks darauf aufmerksam gemacht hatte und wir horchten.

Sehr bald freilich ward es unruhiger, unheimlicher, heller, lauter ringsumher. Fernes, vieltöniges Angstgeschrei und Rauschen in den Prairie-Wogen, Triumphgeheul der Wölfe, wildes Aufzucken von Feuersäulen, die wie riesige Raketen gen Himmel stiegen, momentanes Aufblitzen von Feuermeeren, die der Wind in verschiedenen Richtungen über die obersten Spitzen der dürren Grasflächen dem ungeheuern Grundlauffeuer vorausjagte, das unbändige Gebäume unserer Maulesel, ängstliches Umherpatschen unserer Ochsen, kreischendes Aufflattern der Vögel, rauschende, zischende, knisternde Flucht von Vierfüßlern durch den dicken, dürren Graswald – das waren Vorboten der sich rasch heranwälzenden riesigen Feuerschlange. Wir Alle sahen unwillkürlich auf Hicks, der durch ein Teleskop Umfang und Ferne des Flammen-Ungeheuers zu messen schien. Nach kaum einer Minute donnerten seine Befehle wie die eines Feldherrn in der Schlacht: „Hinunter! Maulesel gezäumt, Wasserfässer auf die Sättel! Hinten aufsitzen! Erst Jeder in’s Wasser! Das Feuer hat uns umzingelt. Der Wind ist drin und jagt es heran. Durch den Pecos kein Paß. Wir müssen hindurch! Jeder folgt mir! Die Sporen mit einem Stoß eingedrückt, so wie Ihr den Feuerrand berührt! Nicht eher!“

Diese Befehle wurden mitten in großer Confusion doch rasch und pünktlich ausgeführt, so daß wir bald in guter Schlachtordnung hielten und noch Zeit und Humor hatten, über unsere eigenthümlich ritterliche Position hinter den Sätteln, auf welchen unsere Wassertonnen festgeschnallt waren, lustige Bemerkungen zu machen. Wir warteten nur auf unsern Anführer, der spurlos verschwunden schien. Plötzlich hörten wir das eigenthümliche Lechzen und heisere Bellen eines Prairiewolfs in unserer Nähe. Die Maulesel bäumten sich, die Ochsen knatterten und rauschten in wilder Flucht durch das niederkrachende Gras davon dem Feuer entgegen. Jetzt kam auch unser Hicks wieder zum Vorschein: er hatte den Wolf gespielt, um die Ochsen auf den richtigen Trab zu bringen. Er sprang auf sein Thier und jagte mit langen, flatternden Haaren vor uns her, wir ihm nach. Er hatte richtig die dünnste und verhältnißmäßig kühlste Stelle ausgewittert, an welcher wir ohne erhebliche Brandwunden durch die zischelnde, prasselnde, knisternde, knallende, lodernde, sich aufbäumende, verzweifelt umherzuckende, endlose Feuerschlange hindurchbrachen.

Von diesem Ritt selbst hab’ ich kaum einen bestimmten Eindruck behalten. Es war Alles Grausen und Confusion um mich her. Nur der beiden Ochsen erinnere ich mich, die dicht am glühenden Rande des Feuers, gräßlich beleuchtet, sich auf brennenden Stumpfen wälzten, bedeckt von eingebissenen Wölfen. Wir entkamen glücklich dieser Arrière-Garde der Feuerschlange und sahen hernach von sicherer Anhöhe zu, wie die Wölfe, oft in dichten Schaaren dicht am Rande der Feuerlinie hin- und herjagten und jedes herausspringende Thier in voller, flackernder Beleuchtung niederrissen und verzehrten. Ein entsetzliches Gemisch von Leben und Tod, von Brand und Mord. Erst wie das Feuergebirge sich weiter und weiter von uns entfernte, gewann es seine volle, grausige Schönheit. So weit das Auge reichte, ein lebendiges, zuckendes, sich in ewiger Wandelung zu Gebirgszügen und Spitzen von lodernden Flammen aufthürmendes Alpenmeer, knisternd, knallend, brausend, donnernd, stürmend, blitzschnell auf- und abjagend, in die Prairiewüste hineinschießend, ein hochgepeitschter Ocean von Flammen.

Die dunkel werdenden, abgebrannten Flächen loderten noch hier und da auf und beleuchteten die schwarzen Stangen und vasenartigen Klumpen der noch stehenden Yucca-Stämme, der großen, runden Gerippe von Echinocacteen und gliederverrenkter Mamillarien. Die harzigen Stauden der Larraea Mexicana und die Stämme der vereinzelten Mezquit-Bäume flackerten noch lange grell auf weit umher in der Brandwüste, über welche das Flammenmeer hinweggefluthet. Mit dem anbrechenden Morgen verschwand die Gluth am Horizonte und machte einem Morgenroth Platz, das in seiner ruhigen Schönheit das schwarze Leichenmeer von Brandstätte gräßlich genug beleuchtete. Wir gönnten uns eine kurze Rast.

Hicks hatte sich sofort nach dem Ritt schlafen gelegt, ohne den Prairie-Brand eines Blickes zu würdigen. Er erklärte sich später ganz unzufrieden mit dieser Natur-Tragödie und bewies aus mancherlei Erlebnissen, daß er sie in Texas viel besser gesehen. Im Uebrigen könne sich der Prairie-Brand mit keinem Waldbrande messen. Unter Waldbränden verstehe er aber wirkliche Waldbrände, nicht diese Kindereien, wie sie in den dünnen, armseligen Urwäldern des Nordens Mode seien und von den Zeitungen renommistisch gepriesen würden. Er mochte nach seinen Erfahrungen und den gleichsam unerläßlichen Pflichten, die ein ordentlicher Waldbrand zu erfüllen habe, im Rechte sein; gleichwohl kam mir der Waldbrand, den ich später zwischen Utica und Syracuse im Staate New-York erlebte, und den ein deutscher Maler aus eigener Anschauung hiermit in seinem Haupt- und Eisenbahnzuge hindurch zur Anschauung bringt, respectabel genug vor.

Den häufigen idealistischen Vorstellungen von „Urwald“ entsprechen die nordamerikanischen Wälder keineswegs. Die Bäume stehen häufig vereinzelt und in dünnen Gruppen und sehen in der Regel jämmerlich genug aus. Oft bis in die Wipfel hinauf mit grauem Moos bewachsen, das in Zotteln und Fetzen um sie her fliegt, gleichen sie oft greisen Gerippen mit zerzaustem Haar. Nur die ewig grüne sogenannte Lebenseiche mit ihren harzigen, ledernen Blättern gibt hier und da einen frischen Anblick. Die Gruppen von Pekan-Nußbäumen, von Platanen oder Schattenbäumen, von Baumwollenholz („cotton wood“, einem breitkronigen Baume mit Pappelblättern) und sonstigen, allerdings sehr zahlreichen Hölzern bieten selten einen erquickenden Anblick: die stehenden Bäume sehen verkommen und von Schmarotzergewächsen geplagt aus und scheinen über die neben ihnen gefallenen und in allen möglichen traurigen offenen Gräbern vermodernden sterbend herabzublicken. Die vielen vertrockneten Leichen unter diesen Bäumen, die verdorrten Aeste, das dicke, graue, dürre Moos, die vielen harzhaltigen Gewächse, die, einmal entzündet, wie Pechfackeln lodern, diese und andere Umstände geben den Bränden auch in dünnen Wäldern Nordamerika’s allerdings oft eine fürchterliche Ausdehnung und Dauer. Man hat Beispiele, daß Wälder von mehreren hundert Quadratmeilen monatelang doppelt niederbrannten, erst übersengt von dem rasch laufenden Wipfelfeuer, dann gründlich verzehrt durch das sich am Boden hinfressende Lauffeuer. Bei den ungeheuern Waldflächen in Amerika, die an sich so wenig Werth haben, daß man nur Ausrottung begünstigt und belohnt, ist an Vorsichtsmaßregeln und Mittel gegen Waldbrände durch Grabenziehen oder Aushauen gehörig breiter Bestandstreifen nicht zu denken. Auch wäre dies in den wilden, menschenleeren Strecken, durch welche Indianer streifen und wo einzelne Pioniere ihre „shantees“ auf einsamen, 160-Ackerstücken aufschlugen, keine Möglichkeit. Gerade diese Shantee-Bewohner auf den äußersten Grenzen der Boden-Cultur nehmen nicht selten das Feuer zu Hülfe, um sich Licht und Luft und Rettung vor peinigenden Mosquitos zu verschaffen. Ein ehemaliger sächsischer Officier, der sich weit hinten in Minnesota eine Shantee auf seinem wilden Grundstücke von 160 Ackern gebaut hatte, erzählte mir, daß er an manchen Abenden Dutzende von Waldbränden in allen möglichen Richtungen und Entfernungen beobachtet habe. Jeder von den Colonisten schien sich gelegentlich aus Mangel an andern Gehülfen des Feuers zum Lichten der Wälder zu bedienen. Daß die meisten [715] dieser absichtlichen Brandstiftungen sich aus verhältnißmäßig kleine Gebiete beschränken, sieht wie ein Wunder aus, zumal da in cultivirteren Theilen und dünneren Wäldern das Feuer manchmal Monate lang wüthet und Hunderte von Quadratmeilen einäschert.

Einen Waldbrand dieser Art und Ausdehnung beobachtete ich ziemlich in der Nähe mehrere Tage und Nächte auf dem langen, ebenen Gebiete zwischen Utica und Syracuse. Man hatte Wochen lang alle Tage von der Reise und den Fortschritten desselben gesprochen, etwa wie bei uns von der Verbreitung der Cholera die Rede war. Die Bewohner dieser ungeheuern Waldebenen verstreuen sich dünn in einsamen Farms mit großem Viehstande und gelichteten Flächen rings umher, sodaß sie nicht, wie die einsamen Bewohner der Prairien, sich gegen das Feuer zu verschanzen brauchen oder gar fliehen müssen. Aber Nachtwachen und Wasservorräthe wurden doch nöthig, als es eines Tages hieß, daß der Brand jeden Tag oder über Nacht vorbeijagen und die Farm umzingeln könne. Um wo möglich die ersten Boten begrüßen und den ganzen Verlauf studiren zu können, leistete ich eines Nachts dem Viehknecht im Wachen Gesellschaft. Als es still und dunkel geworden war, stiller als irgendwo in Europa, wie es mir schien, glaubten wir wallende Gluthen am südlichen Himmel zu bemerken. Auch beruhte das eigenthümliche dumpfe Prasseln und Knattern, so schwach es auch war, auf keiner Täuschung, zumal da wir den Donner der etwa drei englische Meilen weit vorbeipassirenden Eisenbahn deutlich davon unterscheiden konnten. Nach langem Sehen und Warten aber wollte sich keine rechte Zunahme des Effects zeigen, sodaß ich mich mit dem Vorsatze schlafen legte, dem Brande entgegenzugehen. Dies that ich den folgenden Tag. Als ich bis zur Hütte des Eisenbahnwärters gekommen war, erzählte mir derselbe, daß der Brand seit zwei Tagen in ganz westlicher Richtung fortgeschritten sei, und man so wenig für die Bahn fürchte, daß bis jetzt keine Unterbrechung des Verkehrs beabsichtigt werde. An einigen Stellen sei das Feuer bis auf zwei Meilen herangedrungen und werde die Bahn wahrscheinlich weiter unten, wo der Wald besonders dünn sei, kreuzen.

Ich trieb mich den ganzen Tag in der Nähe der Bahn umher, ohne von dem Feuer, das der Wind entlang und nicht gegen dieselbe trieb, etwas zu sehen. Nur die dann und wann über Aeste und Gräben fliegend hinwegsetzenden amerikanischen Hirsche, das ängstliche Gekreisch der Vögel in der Luft und die eigenthümlich krächzenden Enten auf Teichen und in Gräben verriethen, daß es nicht geheuer sei. Erst Nachmittags wurde der Brand deutlich hörbar und gegen Abend, mit lebhafter werdendem Winde, bedeckte sich der Himmel im Süden bis in die äußersten Ostgrenzen mit schräg hinzüngelnden Feuer- und Rauchsäulen. Eine Stunde später war Alles rasende Feuergluth. Der Brand rasete wie ein Pelotonfeuer der Schlacht heran, ein Heer von Feuer-Bajonneten, die oft gradlinig eingelegt den Wald in’s Unbegrenzte hinaus mit Sturm nahmen. Hier und da stürzte sich ein wüthender Feuergeist plötzlich mit einem aufknatternden Sprunge wohl Viertelstunden weit dem großen Heere voraus und verzehrte einige moosgrauhaarige Urwaldsgreise mit der Geschwindigkeit eines aufplatzenden Kunstfeuerwerks. Die geschlossene Masse des Brandheeres stürmt mit neuem Eifer nach, Funken, Flammen, brennende Zweige gen Himmel schleudernd, zischend und siedend im grünen Holze, krachend und knisternd hochauflodernd in dürren Bäumen, in grünen Kronen umherzuckend in wüthendem Kampfe mit deren innerer Lebenskraft. Schon hat die stürmende, Salven schießende Feuerwuth diesen und jenen Baum aufgegeben und raset vorwärts; aber die Menschlichkeit scheint ihr leid zu thun, so daß sie zurückspringt und den noch stehenden Baum für seinen Trotz nun um so rascher und mächtiger packt und im Nu von unten bis oben in helle, quickende, zischende Flammen verwandelt, während immer wieder neue Vorposten in meilenweiten Sprüngen dem großen, langen Kernheerde des Brandes den Weg zeigen und die Stätte bereiten.

Früh mit den ersten Sonnenstrahlen kam der Wagenzug aus der Ferne angedonnert. Das Hauptheer der Flamme raste dicht an den Schienen hin, die nach amerikanischer Manier auf den unpräparirten Boden hier mitten durch den Wald gelegt waren, sodaß nur ein schmaler lichter Streifen die noch nicht attakirte Seite von der andern in prasselnder Gluth sich verzehrenden trennte. Es war eine dämonische echt amerikanische Scene, als die Locomotive mit ihrem dicken Kopfe und ihrem langen, wie wahnsinnig dahinrasenden Zuge sich furchtlos an der prasselnden, knisternden, in lodernden, pfauchenden Gluthwellen aufwogenden Flammenmasse donnernd und pfeifend vorbeistürzte und die civilisirte Gluth des Dampfkessels gleichsam in Hohn und Verachtung gegen die ungebändigte rohe Gewalt ihrer Collegin draußen rothe Asche auf der Bahn entlang ausspie. Die meilenweit hin wüthende rohe Gewalt wollte sich rächen und über die wohlthätigen Pferdekräfte des Feuers und Dampfes hinstürzen, aber letztere waren ihr viel zu schnell.




Blätter aus einem diätetischen Recept-Taschenbuche.

1. Diätetisches Recept für Hustende.

Der Husten (d. i. ein gewaltsames, krampfhaftes, rasches und starkes, stoßweises und tönendes Ausathmen) ist niemals eine Krankheit, sondern stets nur eine außergewöhnliche Erscheinung, welche durch Reizung der die Luftwege (also: den Kehlkopf, die Luftröhre und Lungen) auskleidenden (Schleim-) Haut erzeugt wird. Diese die Empfindungsnerven jener Schleimhaut treffende Reizung und mit ihr der Husten kann schnell vorübergehend sein, z. B. wenn sie durch Staub, Rauch, Flüssiges oder Festes, was in die unrechte Kehle (Luftröhre) gekommen ist, durch schädliche Luftarten u. dgl. veranlaßt wird. Dagegen ist der Husten in der Regel einige oder längere Zeit andauernd, wenn die Reizung eine Folge irgend eines Krankheitsprocesses dieses oder jenes Athmungsorganes ist. Also nicht blos bei Lungenschwindsucht, sondern auch bei einer Menge anderer Leiden und Ungehörigkeiten im Athmungsapparate findet sich Husten ein und zwar in den meisten Fällen zum Vortheil des Kranken, weil nur durch ihn Unnützes (Schleim, Eiter, Blut, Wasser) aus den Luftwegen geschafft werden kann. Trotz dem nun, daß der Husten eher etwas Gutes als Schlimmes ist und gar nicht selten zeitlebens ohne allen Nachtheil besteht, so ist doch jedem Hustenden, aber weniger des Hustens, als des den Husten veranlassenden Krankheitsprocesses wegen, eine gewisse Vorsicht anzurathen. Die bei Hustekrankheiten zu beobachtenden diätetischen Regeln sind kurz in folgendes Recept zu fassen:

Rec. Gleichmäßig warme 1) und
 reine 2) Luft bei Tage und bei Nacht. –
 Ruhiges, tiefes Einathmen 3) und
 langsames Ausathmen. 4) –
 Ruhe 5) in jeder Hinsicht. –
 Milde, nahrhafte Kost. 6) –
 Mäßig warmes Verhalten. 7) –
S. Je zeitiger und strenger diese Regeln, zumal bei Kindern,
beobachtet werden, desto eher weicht der Husten.

Ad 1) Warme Luft zum Athmen ist die hauptsächlichste Heilbedingung bei allen Krankheiten im Athmungsapparate, die mit Husten einhergehen. Diese warme Luft (von + 15–16° R.) muß nun aber gleichmäßig ebenso in der Nacht (im geheizten Schlafzimmer), wie am Tage eingeathmet werden. Kalte rauhe Luft, zumal bei Ostwind und wenn der Hustende vorher im Warmen geathmet hatte, ist der allergrößte Feind für kranke Athmungsorgane. Deshalb muß auch ein jeder vom Husten Heimgesuchte, wenn er durch die Verhältnisse im Kalten zu athmen gezwungen ist, durchaus einen Respirator (s. Gartenl. 1855, Nr. 8) vor dem Munde tragen, und wäre es selbst im Schlafe. Kleine Kinder, sobald sie nur einige Male gehüstelt haben, müssen gleich im warmen Zimmer gehalten werden (zumal im Winter) und zwar solange, bis keine Spur von Hüsteln mehr zu merken ist. Dadurch werden alle die dem Kinde gefährlichen Hustekrankheiten (Bräune, Keuchhusten, Lungenentzündung) verhütet. Das Heraus- und Hereinlaufen in’s Zimmer, aus der warmen Stube auf den kalten Saal, ist hustenden Kindern streng zu untersagen.

Ad 2) Reine Luft zum Athmen ist ebenfalls bei allen Husteübeln ganz unentbehrlich. Vorzüglich unterhält Staub aller Art, sowie der Tabaksrauch, die Reizung zum Husten. Deshalb sollten Hustende, die in staubiger, rauchiger Luft arbeiten müssen [716] (wie Müller, Bäcker, Kürschner, Spinner, Steinmetzger, Schleifer, Maurer, Fuhrleute, Cigarrenarbeiter u. s. w.), Mund und Nase durch einen Respirator oder eine dünnseidene Binde verschließen. Daß das Einathmen reizender Gasarten (von sogen. sauren und scharfen Dämpfen) beim Husten ängstlich zu vermeiden ist, versteht sich wohl von selbst. Was das Tabakrauchen betrifft, so ist dieses, zumal im Freien, nicht so schädlich, wie das Athmen in einer mit Tabakrauch geschwängerten Luft.

Ad 3) u. 4) Das Athmen (der warmen, reinen Luft) sei stets ein ruhiges und gehörig tiefes. Was immer das Athmen sehr beschleunigt (wie angreifende Gemüths- und Körperbewegungen, erregende Leidenschaften und Genüsse u. dgl.), oder was der gehörigen Ausdehnung der Lungen hinderlich ist (wie beengende Kleidungsstücke), muß vermieden werden. Dagegen sollte jeder Hustende seinen Brustkasten langsam, aber recht ordentlich ebenso ausdehnen, wie auch verengern lernen, also ruhig und tief einathmen, sowie langsam und kräftig ausathmen.

Ad 5) Ruhe in jeder Hinsicht, und zwar in körperlicher, geistiger, gemüthlicher und geschlechtlicher Beziehung, ist deshalb jedem Hustenden dringendst anzuempfehlen, weil ein durch irgend welche Erregung veranlaßter stärkerer Blutandrang nach dem Athmungsapparate, besonders nach den Lungen, die Hustekrankheit sehr leicht verschlimmern kann. Es ist deshalb Alles zu vermeiden, was stärkeres Herzklopfen, beschleunigtes Athmen, Hitze und Unruhe erregt. Vorzüglich sind hustende Kinder vom Herumtollen und von jedem Echauffement abzuhalten.

Ad 6) Die Kost sei zwar nahrhaft, aber mild und reizlos. Alle erhitzenden, die Nerven erregenden Gewürze und Getränke, wie starker Kaffee und Thee, Spirituosa aller Art, können schaden, zumal wenn sie starkes Herzklopfen und jagenden Athem veranlassen. Die Hauptnahrung des Hustenden sei Milch und Fleischbrühe; übrigens ist bei sonst guter Verdauung nicht gar zu ängstlich strenge Diät zu halten. Ganz unnützer Weise fürchten sich Viele vor fettigen, sauren und salzigen Nahrungsmitteln. Ja im Gegentheil, sollte ein Hustender wirklich an Lungentuberkeln leiden, dann ist ihm Fett und Salz gerade recht dienlich.

Ad 7) Mäßig warmes Verhalten des ganzen Körpers, sodaß keine Erkältung irgend eines Körpertheiles, besonders der Füße, des Rückens und der Achselhöhlen stattfinden kann, ist jedem Hustenden dienlich. Darum kann gar nicht genug auf warme Füße gehalten werden; auch ist ein dünnes Flanell- oder seidenes Jäckchen, auf dem bloßen Leibe getragen, von ganz besonderm Vortheile. Bei Kindern ist das Warmhalten der Füße, des Rückens und des Bauches ganz unerläßlich.

Was die Beschaffenheit des Hustens betrifft, ob er bellend, pfeifend, gellend, dumpf, rauh, hohl, kurz oder tief, locker, rasselnd, trocken, würgend u. s. w., darauf kommt fast gar nichts an, da bei den verschiedensten Hustearten ganz dasselbe ursächliche Leiden und umgekehrt bei ganz derselben Beschaffenheit des Hustens sehr verschiedene Krankheiten vorhanden sein können.

Selbst der Bräune- und Keuchhusten (s. Gartenlaube 1859, Nr. 8) sind nicht so charakteristisch, daß man sie nur einem und zwar einem ganz bestimmten Krankheitszustande zuschreiben könnte. Auch das durch den Husten aus den Athmungswegen Herausbeförderte (der Auswurf) hat keinen besondern Einfluß auf die Behandlung der Hustekrankheit. Er mag herrühren, der Husten, woher er will, eine Beschaffenheit haben, welche er will, und was immer für einen Auswurf mit sich führen, immer sind die obigen Regeln streng zu beobachten. Nur ein einziges ausgezeichnetes Mittel besitzt die Heilkunst gegen den Husten und dieses ist das Morphium, ein Mittel, welches seinen Namen vom Gotte des Schlafes, Morpheus, hat und das der schlafmachende, schmerzlindernde Bestandtheil des Opiums ist. Es wirkt dieses Mittel betäubend auf die Nerven und das Gehirn, dadurch aber den Hustenreiz lindernd und so den Husten mindernd. Natürlich kann es niemals die dem Husten zu Grunde liegende Krankheit im Athmungsapparate heben; es ist und bleibt also nur ein Linderungsmittel, aber bei allen Hustkrankheiten.

Es muß nun aber in gewissen Fällen der Husten durchaus mit Hülfe von Morphium gelindert werden, weil er bei größerer Heftigkeit und längerer Dauer mannichfache und nicht unbedeutende Nachtheile haben kann, die natürlich nur vom Arzte zu bemessen sind. – Es ist äußerst komisch, daß die homöopathische Heilkünstelei, welche Husten durch ihre Heilmittel zu lindern durchaus nicht im Stande ist (denn mindert sich der Husten bei homöopathischer Behandlung, dann hat dies stets nur die Natur und das diätetische Verhalten gethan), doch eine Unmasse der allerverschiedensten Arzneien dagegen empfiehlt. So passen nach Dr. Clothar Müller’s Haus- und Familienarzte (s. S. 78–83) bei trocknem Husten 8 Heilmittel, bei krampfhaftem 5, bei lockerem 8, bei krächzendem 5, bei pfeifendem 4, bei heiserem 5, bei Kitzelhusten 8, bei Stickhusten 6, bei Bellhusten 5, bei Brechhusten 6, bei Abendhusten 7, bei Nachthusten 11, bei Frühhusten 8, bei Husten mit schleimigem Auswurfe 7, mit blutigem 7, eitrigem 8, übelriechendem 5, wässerigem 6, zähem 6, grünlichem 5, grauem 4, salzigem 7, bitterem 3, süßlichem 2, fauligem 7, und bei sauerem Auswurfe 3 Heilmittel; bei Husten durch Bewegung erregt, passen 7 Mittel, durch Sprechen erregt 4, durch das Freie 4, durch Essen 9, durch Liegen 4 Mittel. Und trotz aller dieser Mittel greifen die Bastard-Homöopathen, wie sie Hahnemann nennt, doch da wo’s gilt, zum Morphium in allopathischer Dose. Pfui! über diese Unredlichkeit!

Der Husten wurde früher für das sicherste, wenn nicht gar einzig sichere Zeichen einer Brustaffection und für das constanteste Symptom der wichtigsten Lungenkrankheiten, namentlich der Lungenentzündung und Lungenschwindsucht, angesehen, allein ganz mit Unrecht, denn es kann jede Brustkrankheit entstehen, zur Gesundheit oder zum Tode verlaufen, ohne daß der Kranke nur ein einziges Mal gehustet hat. Es sei dem Leser deshalb hiermit gerathen, nur dem Arzte zu trauen, welcher den kranken Körper genau untersucht (d. h. behorcht, beklopft, befühlt, besichtigt u. s. w.), zumal wenn Husten, der ja bei so ganz verschiedenen Leiden auftritt, vorhanden ist, niemals aber dem Arzte, welcher, wie die Homöopathen, nur nach der Beschaffenheit des Hustens curirt.Bock.




Ein Schneesturm auf dem Hohen Heiligenbluter Tauern.

Von Gustav Rasch.

Ein Tanz der Gebirgsbewohner in einem Tauernhause, Musik und Schnaderhüpfle im obersten Felsenkessel eines Queralpenthals im Anblick der Welt des Erstarrtseins, in welche die untergehende Sonne mit ihren letzten Strahlen hineinleuchtet, jauchzendes Leben in der Nähe des ewigen Schweigens und hinabstürzender Lawinen, welch’ eine Welt von Poesie für ein junges Mädchenherz oder – für einen alpenschwärmenden Stritzow! Ich war so unglücklich, eine solche Nacht voll Poesie im Fuscher Tauernhaus zu erleben, als ich am andern Morgen die nördliche Tauernkette über das Hohe Thor übersteigen wollte. Eine Tasse Thee in einem wohnlich und bequem eingerichteten Wirthshauszimmer, eine gute Havannahcigarre, und die schweigendste Prosa wäre mir lieber gewesen. Das Getrampel der dickbenagelten Gebirgsschuhe auf dem hölzernen Fußboden, das Gejauchze der Burschen und Madels nach einem neuen, schön gelungenen Schnaderhüpfle, die zu einem neuen Walzer einsetzende Musik dauerten die halbe Nacht hindurch und nahmen mir den Schlaf, und als ich endlich einschlief, jauchzten, jodelten und sangen alle diese poetischen Gestalten so lange in meinen Träumen fort, bis mich die tiefe und ernste Stimme des Rederers, des bekannten Tauernführers, aus meinem Halbschlafe weckte und mich aufforderte, schleunigst aufzustehen, da das helle Wetter wahrscheinlich nur einige Stunden anhalten würde und wir bis zum Umschlag desselben das Hohe Thor erstiegen haben müßten.

Der Uebergang über die nördliche Tauernkette über das Hohe Thor des Bluter Tauern durch das Fuscher Thal ist allen andern Uebergängen vorzuziehen. Bei dem Uebergang durch die Rauris geht die Aussicht vom Fuscher Thörl, eine der großartigsten in den östlichen Alpen, verloren, und der Ersatz, den der Uebergang von Gastein über den Rauriser Goldberg bietet, ist ebenfalls mit dieser Aussicht nicht zu vergleichen; der Uebergang durch die Pfandlscharte [717] gibt diesen Blick nur in einer Seitenansicht, während sich freilich auf der andern Seite eine Aussicht auf die Pasterze und auf die Glocknergruppe öffnet, welche man übrigens noch schöner hat, wenn man am andern Tage eine Gletscherreise über die Pasterze von Heiligenblut aus unternimmt. Der Erzherzog Johann von Oesterreich, ein Mann, der nach Schaubach’s und Hoppe’s Tode unter allen jetzt lebenden Menschen die deutschen Alpen wohl am besten kennt und zu würdigen weiß, war ganz meiner Ansicht und hatte mir in einer diesen Gegenstand berührenden Unterhaltung in Wildbad unter allen andern Uebergängen den Uebergang über das Hohe Thor angerathen. Ich war deshalb bis nach Bruck zum Eingange des Fuscher Thals gefahren, und von dort aus zum Fuscher Tauernhaus Tags zuvor hinaufgestiegen. Es hat bereits eine Meereshöhe von 3657 Fuß und steht am Eingange des obersten Thalkessels des Fuscher Thals, seines sogenannten Naßfeldes, einer zwei Stunden langen, grünen, mit Matten, Felsblöcken und Sennhütten bedeckten, kleinen Hochebene, von steilen, nach unten noch bewaldeten Felsen umschlossen. Den Hintergrund bildet eine tiefbeschneite Felsenkette, eine Reihe prächtiger Hochgipfel, zwischen denen vielfach zerklüftete Gletscher sich hinabsenken. Der untere Theil der Fusch bildet eins der schönsten Seitenthäler der Salzach und ist ganz verschieden von den andern Querthälern, welche sich auf das Salzachthal öffnen. Seinen Eingang bildet kein verwildertes Hochgebirgsbild, keine düstere Thalenge, in der eine wilde Ache braust, wie die Oeffnung des Rauriser Thals, kein langgestreckter, hinansteigender Paß mit einem nächtlichen Abgrund zur Seite des an die Felsen hinanklimmenden Weges, wie das Gasteinerthal; sondern das Thal öffnet sich weit, sanft, fast eben ansteigend, auf der mit grünen Matten und grasreichen Wiesen bedeckten Thalsohle, zwischen denen die Ache ruhig hindurchgleitet, braune Sennhütten, weiße Häuser und weidende Heerden. Das Urgebirge steigt zu beiden Seiten hoch hinan, aber es ist vom Scheitel bis zur Sohle bewaldet; nirgends treten die braunen Felsen hervor, nur der Hintergrund hat durch die hie und da heraustretenden, schneegefleckten Felskuppen eine etwas ernstere Färbung. Erst in der Mitte, wo das Weichselbacherthal links hereinzieht, beginnt die Steigung, die Thalwände treten enger zusammen, und man hört das Brausen der Ache in der Tiefe, während die dichte Waldung, welche den ganzen Thalgrund einnimmt, ihre weißschäumenden Stürze verbirgt. Dann erhebt plötzlich der Sonnenwelleck sein schönes, weißes Haupt über einen grünen, das Thal in der Quere durchschneidenden Sattel, und mit jedem Schritt, den man nun bis zum Fuscher Tauernhaus aufwärts steigt, tritt die Tauernkette, welche den Hintergrund des Naßfeldes bildet, immer imposanter und majestätischer hervor.

Es war kaum fünf Uhr, als der Rederer und ich dieser wunderbar großartigen Kette entgegenschritten. Die Sonne war noch nicht über die hohen Thalwände hinaufgestiegen; nur der matte Schimmer des erwachenden Morgens lag über den Schneefeldern und Gletscherabstürzen ausgebreitet. Das Firmament war ohne einen Wolken- oder Nebelstreif; dennoch schritt der Führer tüchtig darauf los, mich mehrmals zur Eile anspornend. Der Rederer ist der zuverlässigste Führer für diesen Theil der nördlichen Tauernkette; Niemand kennt hier das Wetter, den Wind und die Hochsteige so genau, wie er; ich enthielt mich deshalb jeder Opposition, obschon ich in der That nicht begriff, warum und woher eine Wetterveränderung heute so schnell eintreten solle. Wir waren mit Mundvorräthen, Wein und Wachholderbranntwein auf einen ganzen Tag versehen, da der Uebergang selbst bei günstigem Wetter neun bis zehn Stunden in Anspruch nimmt; außerdem trug Rederer ein Seil, Steigeisen und eine Gemsbüchse als Ausrüstung für eine von mir projectirte Gletschertour des folgenden Tages auf dem Rücken. Wir sahen aus, als wenn wir unsere Tour nach Heiligenblut direct über die Eisfelder des Globen oder des Brennkogl nehmen wollten, und ein Senner, der uns entgegenkam, nahm deshalb Gelegenheit, uns wegen einer möglichen Witterungsänderung einen derartigen Versuch durchaus abzurathen. Nachdem wir eine Stunde gegangen waren, stiegen wir links an der Thalwand hinan. Ein uralter, sehr schmaler Saumweg führt von hier in immer sich wiederholenden, ziemlich geschickt angelegten Windungen in vier starken Stunden zum Fuscher Thörl, einem Einschnitt in dem Seitenrücken, welcher die Thäler Fusch und Rauris trennt, hinan. Durch diesen Einschnitt hat man zu steigen, um über den Fuscher Tauern in den westlichen Seitenwinkel der Rauris zu kommen, in den sog. Seidlwinkel, eine öde Steinwüste, durch welche man in wiederum zwei sehr mühsamen Stunden auf das Hohe Thor, einen ähnlichen Einschnitt des Bluter Tauern, gelangt. Hat man das Hohe Thor erreicht, so ist jede Schwierigkeit des Weges überwunden und man steigt dann in drei Stunden ziemlich bequem nach Heiligenblut hinab. Bis hierher hoffte Rederer vor einem Umschlag des Wetters mit mir zu gelangen. Indeß war mit dem Rederer selbst bei schlechtem Wetter der Uebergang recht gut zu wagen; selbst im stärksten Nebelwetter hatte er den Pfad noch nie verfehlt, obschon ich Niemandem rathen möchte, mit einem andern Führer dies Wagestück zu unternehmen. Erst im verflossenen Frühjahr hatte der Seidlwinkel wieder sieben Opfer gefordert. Bauern aus Heiligenblut und aus der Rauris hatten bei Nebelwetter den Uebergang versucht, hatten die Scharte des Hohen Thores nicht ausfindig machen können, und waren nach stundenlangem Umherirren in der Steinwüste und auf den Trümmermeeren erfroren.

Der Saumpfad, den wir hinanstiegen, war so tief ausgetreten, daß wir nur mit halbem Leibe aus der engen Gasse hervorragten, und zog sich nirgends sehr steil hinan. Dennoch wäre mir selbst bei weit größerer Steilheit der Weg bei der bei jedem neuen Aufstieg sich immer großartiger entfaltenden Aussicht auf die Hochgebirgskette, welche den letzten Kessel des Fuscher Thals umschließt, nicht schwer geworden. Jeder Alpenreisende weiß, daß, wenn man eine Thalwand hinansteigt, sich die gegenüberliegende Thalwand für das Auge immer höher erhebt, je höher man selbst steigt, natürlicherweise, wenn sie selbst die höhere ist. Es ist dies eine Täuschung der Sinne, aber eine Täuschung, welche zu den großartigen Aussichten bei einem Jochübergange sehr viel beiträgt. Alle mir gegenüber sich erhebenden Gipfel hatten eine Höhe über 10,000', alle waren also mit ewigem Schnee bedeckt, und jeder Gipfel sandte einen oder mehrere riesige Gletscher hinab. Ich sah, es war eine der großartigsten Aussichten, welche ich jemals in den Alpen gehabt hatte, welche sich vor meinen Blicken allmählich entfaltete. Nach zwei Stunden Steigens hatten wir die Hälfte des Aufstieges erreicht. Eine wunderbar klare Quelle rieselte aus dem Gestein hervor; es war der Petersbrunnen. Das Bild des Apostels Petrus, durch eine starke Holzblende gegen die Witterung geschützt, hat ihr den Namen gegeben. Wir standen bereits hoch genug, um über die Thalwände des Salzachthals, des Längenthals, auf welches das Fuscher Thal mündet, hinwegsehen zu können. Die Kalkalpen, das Steinerne Meer, der Watzmann, das Tauerngebirge erhoben nordwärts ihre Zacken, Spitzen und Risse. Die Sonne war jetzt vollständig über der Thalwand, an der wir hinanklimmten, hinaufstiegen und beleuchtete die uns gegenüberliegende Kette des Urgebirges und die thalauswärts sich erhebenden Kalkzinnen. Noch konnte ich keine Spur einer Wetterveränderung wahrnehmen. Nach wenigen Minuten Rastens trieb Rederer indeß wieder zur Eile, und wir stiegen eilig in das sogenannte obere Naßfeld des Fuscher Thals hinan. Der Wald war hier gänzlich verschwunden, selbst das Krummholz hatte aufgehört, nur ein spärlicher Graswuchs bedeckte den mit Geröll, Steinen und Felsentrümmern bedeckten Boden. Ein Kreuz bezeichnete uns die Höhe des Aufstiegs. Fast ohne uns umzusehen, stiegen wir in kaum zwei Stunden hinan. Kurz vor der Höhe traten neben der Pyramide des Sonnenwellecks zwei schlanke weiße Spitzen, durch eine Scharte von einander getrennt, hervor: es war der Großglockner.

Was soll ich von der Aussicht sagen, welche sich oben in ihrer ganzen imposanten Größe jetzt eröffnete? Pinsel und Palette des Malers würden nicht im Stande sein, sie wiederzugeben, was vermögen also die schwarzen Buchstaben! Weder vom Wormserjoch, noch vom Gornergrat, weder vom Gipfel des Faulhorn, noch am Montblanc baut sich dem verwunderten Auge ein so imposantes Schnee- und Gletscheramphitheater in so grandiosen Umrissen und in solcher Nähe auf. Die berühmt gewordene Aussicht von der Wengernalp ist gegen diese Aussicht unbedeutend zu nennen. Nur die Breite des hintern Kessels des Fuscher Thals trennte mich von wenigstens funfzehn der bedeutendsten Hochgipfel in den Alpen, zwischen denen über zehn kolossale Gletscher und Eismeere in lichtgrünen Stufen hinabstiegen. Die Reihe dieser Schneeriesen begann zunächst am Fuscher Tauern die runde Kuppel des Brennkogl und der weiße Rücken des Globen, an den sich der Gipfel des Spielmann lehnte. Die zwischen ihm und dem Bärenkopf sich klüftende Pfandlscharte bedeckt ein grünfunkelnder Eisstrom, an dessen anderer Seite die schöngeformte Pyramide des Sonnenwellecks sich erhob und sich an den schneeumhüllten Fuschkahrkopf lehnte. Wie ein plötzlich [718] zu Eis gewordener Wasserfall stürzte neben ihm die riesige Fuschkahrkees herab. Dann erhob sich der Breitkopf, durch einen vielfach zerklüfteten Gletscher von dem kolossalen Würfel der Hohen Docke getrennt, auf welche eine Reihe Schneeriesen, der Hohe Gang, die Glocknerin, der Bratschenkopf, das Wiesbachhorn, die Teufelsmühle, der kleine Wiesbach und der Hohe Tönn, durch riesige Gletscher von einander getrennt und auf weißen Firnmeeren stehend, folgten.

Fast eine Stunde saß ich hier, im Anschauen dieses grandiosen Hochgebirgebildes ganz verloren, und horchte auf den Donner der Lawinen, welche sich an den Schneegipfeln und auf den Schneefeldern unter den Strahlen der Sonne loslösten und auf die Gletscher hinunterstürzten. Ich bemerkte nicht, daß sich die Kalkzinnen des Steinernen Meeres und des Watzmanns allmählich mit leichten, grauen Wölkchen umhüllten, und überhörte den Wind, welcher von Minute zu Minute heftiger wurde. Rederer mahnte fortwährend zum Aufbruch. Als ich immer noch keine Anstalt machte, meinen Platz zu verlassen, rief er endlich, ganz verdrießlich werdend, aus:

„Steigen Sie doch die paar Schritte bis zum Kreuz hinan, Sie werden sich dann bald überzeugen, was uns bevorsteht!“

Wir hatten nämlich einige Fuß unter dem Gipfel Halt gemacht, um vor dem Luftzüge auf der Höhe des Joches besser geschützt zu sein. Ich stieg hinauf und sah in den jenseitigen Felsenkessel hinunter. Oben brauste der Wind mit enormer Heftigkeit. Die Aussicht war in eine öde Steinwüste, in ein wildes Trümmermeer. Links sah ich in die obere Hälfte des Rauriserthals. Gegenüber erhob sich ein großes Eisfeld, der Weißenbacher Kees. Rechts von demselben zog der Felsenkamm der Tauernkette, mit weiten Schneefeldern bedeckt, zum Brennkogl hinan. Der ganze Kamm war bereits mit Wolken umhüllt; die Felsenspitze des Ritterkopfes war schon in Nebeln verschwunden und kaum noch erkennbar. Der Wind tobte an den Wänden und Felsenriffen aus dem Rauriser Thal herauf, als wenn er sich gefangen fühlte und einen Ausweg suchte.

„Sehen Sie dort die Scharte rechts am Kamm?“ fragte mich Rederer, mit der Hand mir die Richtung andeutend. „Das ist das Hohe Thor, da müssen wir hinüber. Hätten Sie einen andern Führer, so wäre es das Beste, wieder umzukehren, denn gleich werden Sie die Scharte nicht mehr sehen.“

Jetzt erkannte ich das heranziehende Wetter und begriff die Gefahr. Im Nebel den Weg aus dieser Steinwüste zu finden, war nur so lange ohne Schwierigkeit, als man an der Scharte des Hohen Thors die Richtung erkennen konnte. Noch einige Secunden, und sie war vom Nebel umhüllt. Ich sah Rederer etwas zweifelnd an.

„Glauben Sie bestimmt, mich hinüber zu bringen, Rederer?“ fragte ich.

Der starke, große Mann sah mich mit seinem ruhigen Blick fest an. „Sind Sie müde, Herr?“ fragte er.

„Nicht im mindesten,“ erwiderte ich.

„Dann vorwärts,“ rief er, „ich habe den Weg noch nie verfehlt.“ Und so schnell wie möglich kletterten wir in die Steinwüste hinunter.

Wer nie im Hochgebirge ein Nebelwetter oder einen Schneesturm erlebte, hat von der Heftigkeit und der Schnelligkeit des Eintretens desselben keinen Begriff. In wenigen Minuten ist man so in Nebel eingehüllt, daß man den neben sich Stehenden nicht mehr sieht, ja daß man sogar seine eigene Gestalt kaum erkennen kann. Einer meiner Freunde, der praktische Arzt Dr. Keesbacher in Venedig, gerieth bei dem Uebergang von Murwinkel in das Großarlthal in ein solches Nebelwetter und war gezwungen, eine ganze Stunde lang auf demselben Fleck stehen zu bleiben, weil er bei jedem Schritt in einen Abgrund zu stützen fürchtete, so wenig konnte er die Situation in der nächsten Nähe erkennen. Er wagte ebensowenig sich niederzulegen, weil er nicht wußte, ob er nicht auf einer hohlen Platte stände, welche bei der geringsten Bewegung nachgeben könne. Wenn ich nicht irre, passirte es Herrn v. Simony, dem Saussüre des Dachsteingebirges, bei seiner Ersteigung des Traunsteins, daß er bei einem so plötzlich eintretenden Nebel drei Stunden an ein und derselben Stelle stehen mußte. Wie der Nebel sich verzog, sah er, daß er auf einer über den See hinaushängenden Platte stand, von der die geringste Bewegung ihn in die Tiefe gestürzt hätte. Dergleichen haben wir hier nicht zu fürchten; aber das Verlieren des Weges war fast ebenso gefährlich; denn mit dem Nebelwetter pflegt gewöhnlich eine empfindliche Kälte und in Folge derselben ein Schneefall einzutreten, und das Wetter konnte den ganzen Tag anhalten. Wir befanden uns in einer Meereshöhe von über siebentausend Fuß. Im vergangenen Frühjahr waren, wie ich schon erwähnte, bei diesem Uebergang sieben Menschen umgekommen; ihre Leichen lagen entfernt von einander, da, wo Jeden seine Kräfte verlassen hatten und wo er hingesunken war. Als wir die Tiefe des Felsenkessels erreicht hatten, war der Nebel so dicht geworden, daß wir die nächste Umgebung nicht mehr erkannten. Rederer ging nur einen Schritt vor mir; trotzdem erschien mir seine große, kräftige Gestalt nur in dämmernden Umrissen. Ich faßte den Strick, den er über der Schulter trug, um ganz in seiner Nähe zu bleiben. Der Wind trat immer heftiger auf. Es ist ein ganz eigenthümliches Zischen und Schlagen, mit dem er sich an den Felsenrissen bricht. Der Weg war außerordentlich mühsam und führte fortwährend über Geröll und Felsblöcke, bald hinauf-, bald hinabsteigend. Die Schneestangen, mit denen er bis auf das Hohe Thor bezeichnet ist, waren erst dann sichtbar, wenn wir gerade vor ihnen standen. Rederer schien ihn mit einem gewissen Instinct herauszufühlen. Um uns fortwährend zu vergewissern, daß wir nicht irrten, berührten wir jede Schneestange, an der wir vorbeikamen, mit der Hand. Ich stolperte mehrmals und fühlte an der Berührung mit dem Fuße, daß die Gegenstände, an welche ich stieß, keine Steintrümmer waren. Ich rief Rederer zu, was denn das sei, ob wir auch auf dem richtigen Wege wären?

„Daran fühle ich, daß wir auf dem richtigen Wege sind,“ erwiderte er. „Das sind die Gebeine der hier gefallenen Pferde, welche vor mehr als hundert Jahren umgekommen sind, als noch ein Saumpfad über das Hohe Thor führte.“

In dieser Situation von Gebeinen Verstorbener zu hören, wenn es auch nur Thiere waren, war gerade keine angenehme Neuigkeit. Um mich zu vergewissern, daß dem so war, blieb ich stehen, bückte mich und hob einen Gegenstand auf, an dem ich gerade neuerdings gestolpert war. Ich hielt einen Kinnbackenknochen eines Pferdes in der Hand, in dem noch alle Zähne befindlich waren.

Nachdem wir so ungefähr zwei Stunden fortgeschritten waren, machten wir einen kurzen Halt, ruhten stehend aus und stärkten uns durch einige starke Züge aus der Flasche, welche ich im Tauernhaus mit Wachholderbranntwein hatte füllen lassen. Rederer wiederholte mir mit der größten Bestimmtheit, daß wir auf dem richtigen Wege seien und in einer Stunde auf der Höhe des Hohen Thors stehen müßten. Der Nebel wurde jetzt empfindlich kalt, und der Wind wurde schneidend. So schnell wie möglich stiegen wir weiter hinan, obschon der Weg immer steiler und beschwerlicher wurde. Noch fühlte ich nicht die geringste Müdigkeit. Nun fielen einzelne Schneeflocken und nach wenigen Minuten war aus dem Nebel ein dichtes Schneewetter geworden. In dem scharfen, eisigen Winde krystallisirten sich die einzelnen Schneeflocken zu Eis und berührten das Gesicht in einer höchst empfindlichen Weise. Der Wind schien mit jeder Minute an Heftigkeit zuzunehmen. Dazu wurde das Gehen im Schnee immer schwieriger.

„Jetzt kann ich nicht mehr irren,“ rief Rederer, an einer neuen, auf Steintrümmern befestigten Schneestange ankommend, „die Stange habe ich erst vor vier Wochen hier eingesteckt. Es ist gut, daß uns das Schneewetter nicht eine Stunde früher getroffen hat, sonst wäre es schlimmer gewesen.“

Ich begriff, was er meinte. In dem Schnee konnte er nicht mit dem Fuße fühlen, ob er auf die Knochen der hier gefallenen Pferde trat.

Immer steiler ging es nun hinan, immer schneidender wurde Kälte und Wind; schon an der immer dünner werdenden Luft empfand ich, daß wir zu bedeutender Höhe emporstiegen. Dann hörte ich Rederer vor mir rufen: „Wir stehen auf dem Hohen Thor.“

Ich stieg die zwei Schritt, die ich hinter ihm geblieben war, hinan. Rederer stand neben einem Pfahl, auf dem in einer hölzernen Blende ein Christusbild befestigt war. Das Kreuz, welches früher dort stand, haben die Stürme und Schneewetter zerbrochen und hinunter gestürzt. Es herrschte hier oben eine eisige Temperatur. Das Hohe Thor hat eine Meereshöhe von 8058'. Als ich ganz nahe an das Bild hinantrat, berührte ich mit dem Fuß einen Körper. Ich blickte mich herab, um zu untersuchen, was es war, und erstaunte, als ich eine junge Bäuerin neben der [719] Steinerhöhung, in der der Pfahl befestigt war, ausgestreckt fand. Ich rief Rederer und wir richteten sie auf. Sie athmete, war also nicht todt, sondern nur in dem Zustand der Erschlaffung und Abgespanntheit, welcher dem Tode des Erfrierens vorhergeht. Rederer hielt sie in seinen Armen aufrecht, ich öffnete ihr den Mund und steckte ihr die Oeffnung meiner Feldflasche hinein. Sie schluckte mechanisch, und nach einigen Zügen aus der Flasche öffnete sie die halbgeschlossenen Augen und sah uns verwundert an. Sie war noch unfähig zu sprechen, und gab nur einige unverständliche Laute von sich. Wie wir später von ihr erfuhren, war sie aus dem Rauriser Thal gekommen und wollte über das Hohe Thor nach Heiligenblut, um eine Verwandte zu besuchen. Der Nebel und das Schneewetter hatten sie überrascht; sie war glücklich bis zu der Scharte des Hohen Thors gekommen, war aber dort ganz erschöpft und in einem Zustand der Apathie neben dem Christusbild hingesunken. Wären wir nicht zufällig des Weges gekommen, oder wären, ohne sie zu bemerken, wieder gegangen, so würde sie eingeschlafen und erfroren sein. Ganz an derselben Stelle hatte dies Schicksal im Frühjahr ein junges Mädchen aus der Fusch getroffen. Ihr Begleiter, ein kräftiger, junger Bauernbursche, hatte sich noch eine Stunde weit hinabgeschleppt und war sodann desselben Todes gestorben. Rederer zog seinen dicken Lodenrock aus, und wir hüllten das Mädchen in denselben ein, um sie einigermaßen zu erwärmen. Sie trank noch einmal aus der Flasche und war nach einigen Minuten so weit gestärkt, daß es ihr möglich wurde, von uns Beiden gestützt, die steile Höhe hinabzusteigen. Die Heftigkeit des Wetters hatte während dieser Zeit etwas nachgelassen. Der Wind hatte sich gedreht und zerriß die Nebelmassen, welche das Möllthal einhüllten. So schnell, wie es mit dem Mädchen möglich war, eilten wir abwärts, in der Richtung nach Heiligenblut zu. Nach einer Stunde wurde, des Mädchens wegen, nochmals Halt gemacht und einige Minuten stehend ausgeruht. Sie war jetzt gänzlich wieder zu sich gekommen und bereits im Stande, mit einer geringen Unterstützung allein zu gehen. Ihre Rettung glaubte sie dem wunderthätigen Bilde zu verdanken, in dessen Nähe sie hingesunken war. Noch zwei Stunden Hinabsteigens, und wir sahen die Kirche und das Widdum von Heiligenblut, von hohen, grünen Lärchbäumen umschattet, gerade unter uns liegen.




Hermann Schulze-Delitzsch.

Das allgemeine Streben der Zeit, der Noth Linderung zu bringen, äußert sich insofern auf verschiedene Weise, als man bald nach dem Wohlthätigkeitsprincip, bald nach dem Grundsatz der Selbsthülfe handelt. Welche sittliche Wirkungen das eine und das andere System haben muß, wird jeder Menschenkenner sich selbst sagen. Das Wohlthätigkeitsprincip beruht auf einem Almosengeben und entmuthigt und entsittlicht, das Princip der Selbsthülfe wendet sich an das Ehrgefühl und hebt und stärkt.

Bei keinem der bedrängten Stände würde das Wohlthätigkeitsprincip, wenn es allgemein zur Anwendung käme, furchtbarere Verheerungen anstiften, als bei dem des kleinen Gewerbes. Leider ist unter seinen Mitgliedern, dieser breitesten Basis der Bürgerschaft, eine klare Einsicht in die Lage, in der sie sich befinden und über die sie fast alle klagen, nicht allgemein verbreitet. Die meisten suchen die Hülfe da, wo sie nicht zu finden ist, und fordern Polizeischutz und Zunftzwang. Daß sie leiden, ist gewiß genug, und diese Thatsache genügt den Männern des Wohlthätigkeitsprincips, die kleinen Handwerker im Lichte von verschämten Armen zu sehen. Es war einmal nahe daran, daß diese Auffassung die Oberhand gewann, und dann würde ein großer und achtbarer Stand tiefer gesunken sein, auf eine Stufe hinab, von der wieder loszukommen den Wenigsten gelingt. Da trat Hermann Schulze auf und ihm ist es fast ausschließlich zu verdanken, daß von dem falschen Wege in eine Bahn eingelenkt worden ist, auf der im Laufe weniger Jahre die größten und segensreichsten Fortschritte gemacht worden sind. Er ist der eigentliche Gründer jener Vorschußvereine und andern freien Genossenschaften, welche dem Kleingewerbe seinen vollen Antheil an allen Hülfsmitteln der industriellen und Handelsbewegung unserer Tage verschafft haben.

Hermann Schulze wurde am 29. August 1808 geboren. Sein Vater, der als preußischer Justizrath noch heute lebt, bekleidete damals in Delitzsch, einem Landstädtchen der Provinz Sachsen unfern von Leipzig, das Amt eines Bürgermeisters. In Delitzsch erhielt Schulze die erste Erziehung und ward dann nach Leipzig auf die Nicolaischule geschickt. Seine Universitätsstudien machte er theils in dieser Stadt, theils in Halle. Zweiundzwanzig Jahre alt, bestand er als Candidat der Rechte die erste Prüfung, nach der man ihn in Naumburg beim dortigen Oberlandesgericht als Auscultator beschäftigte. Seine Stellung ließ ihm Muße, sich mit der Geschichte, der Philosophie und der deutschen Literatur zu beschäftigen. In den Gerichtsferien wanderte er durch die Gebirge unsers Vaterlandes und besuchte auch den scandinavischen Norden. Die dichterische Frucht dieser Reisen ist sein 1838 erschienenes „Wanderbuch“ (Leipzig bei Brockhaus), eine Gedichtsammlung, die in unserer an Lyrikern fast überreichen Zeit Aufmerksamkeit und Theilnahme erregt hat.

In demselben Jahre, in dem er als Dichter vor die Welt trat, wurde er zum Assessor ernannt und bald darauf zum Kammergericht in Berlin versetzt. Die Hauptstadt behielt ihn indeß nicht lange. Er stand in Delitzsch im besten Andenken, und als 1841 dort das Amt des Patrimonialrichters erledigt wurde, wünschte man ihn zu haben. Indem er dem ehrenvollen Rufe folgte, stellte er dem Staate zwei Bedingungen, welche beide angenommen wurden: daß man ihn in den Listen nach seinem Dienstalter fortführe, und daß er jeder Zeit in den Staatsdienst zurücktreten könne.

Die collegialische Besetzung der Gerichte, die man neuerdings zur Regel zu machen liebt, hat ihre empfehlenswerthen Seiten, aber in einer wichtigen Beziehung ist der Einzelrichter doch bevorzugt. Er lernt die Welt nicht aus den Acten, sondern in den Menschen kennen, und wird seinerseits dem ganzen Gerichtsbezirke bekannt. Ist er der rechte Mann dazu, so wird sein Verhältniß zu der Bevölkerung ein patriarchalisches. Man vertraut ihm, man folgt ihm, wenn er kostspielige Processe durch einen verständigen Vergleich zu beenden räth, und bei ihm sucht man in vielen Verlegenheiten und Nöthen des alltäglichen Lebens Auskunft und Beistand. Ein solcher Einzelrichter wurde Schulze. Als gesuchter und verehrter Beirath von Bürgern und Bauern hatte er Gelegenheit, ganz andere Blicke in die Lebensverhältnisse zu thun, als der „grüne Tisch“ sie ihm jemals gestattet hätte. Jemehr er sah, wie viel unverschuldete Noth auf das Dasein Vieler drückt, um so eifriger wurde er in der Erfüllung seiner Pflicht, zu helfen, wo er immer konnte. Die Liebe, die er durch sein Wirken säete, hat sich später auf eine rührende Weise geäußert. Als er von der siegreichen Reaction vor Gericht gestellt wurde, um für seine Thätigkeit als Volksabgeordneter bestraft zu werden, da war unter den Zeugen aus seinem alten Gerichtsbezirk, die ihn belasten sollten, nicht einer, der ihm nicht das ehrendste Zeugniß ausgestellt hätte.

Schulze war sieben Jahre als Patrimonialrichter im Amt gewesen, als die Bewegung von 1848 kam. Für Delitzsch verstand es sich von selbst, daß man nur ihn als Abgeordneten nach Berlin schicken könne. In der Nationalversammlung schloß er sich den Centren an, die zwar eine Neugestaltung, aber keinen radicalen Bruch mit der Vergangenheit wollten. Er war seinen Parteigenossen nicht weiter bekannt, als durch sein Wanderbuch und durch verschiedene Aufsätze schöngeistigen und kunstgeschichtlichen Inhalts, die er nach einer Reise in Italien und Sicilien verschiedenen Zeitschriften übergeben hatte. Im nähern Umgange überzeugten sie sich, nach welcher Richtung seine Bestrebungen gingen, und ernannten ihn zum Vorsitzenden des Ausschusses, der zur Untersuchung des Nothstandes der Handwerker und Arbeiter niedergesetzt wurde.

Das Material, das diesem Ausschusse zuströmte, war ein massenhaftes. Aus allen Gegenden Preußens liefen etwa 1600 Bittschriften ein, die ohne Ausnahme die Lage des Kleingewerbes in düstern und nur zu wahren Farben schilderten. Etwas Anderes, als wie traurig es jetzt aussehe, ließ sich aus diesen Schriftstücken indessen nicht entnehmen. Die Hülfe, welche ihre Verfasser und Unterzeichner forderten, widersprach allen Grundbedingungen modernen Verkehrslebens. Die freie Concurrenz sollte beseitigt und jedes Handwerk mit einer neuen Zunftschranke umzogen werden, damit wieder jene verderblichen Verbietungs- und Bannrechte entständen, die dem Handwerk seinen goldenen Boden unter den Füßen fortgezogen [720] haben. Schulze wurde sich darüber klar, daß der entgegengesetzte Weg eingeschlagen werden müsse, wenn etwas erreicht werden solle. Auf diesem Wege glaubte sich eine andere Versammlung zu befinden, der Arbeitercongreß, der in jener Zeit neben der Nationalversammlung in Berlin tagte. In der That folgte dieser Congreß aber fremden Irrlichtern, eben jenen Socialisten, deren ausschweifende, alle Besitzenden abschreckende Theorien der französischen Republik den Untergang gebracht haben. Von einem solchen Extrem, das ohne Halt in ungemessene Weiten schweift, konnte Schulze eben so wenig etwas erwarten, als von dem andern Extrem der Zunftmeister, das nicht in die Zukunft hinaus, sondern in die Vergangenheit zurück wollte.

Hermann Schulze-Delitzsch.

Die feste Ueberzeugung, die Schulze gewann, daß jede Neugestaltung der Arbeiterverhältnisse das Privateigenthum, die Häuslichkeit des Familienlebens und die Freiheit des Verkehrs zu ihrer Grundlage haben müsse, war sein erster Gewinn. Es galt nun die Mittel zu finden, wie dem Aermern ein Wetteifer mit der von einer mächtigern Capitalkraft getragenen Arbeit zu ermöglichen sei. Schulze sagte sich, daß dem Kleingewerbe derselbe Hebel der Geldkraft, dem das Großgewerbe seine Erfolge zumeist verdankt, in die Hand gegeben werden müsse, und daß dies nur durch die Bildung von Vereinen erreicht werden könne. Die Vereinzelung sei es, die den Handwerker ohnmächtig mache und ihn abhalte, aus den reichen Quellen zu schöpfen, die sich der großen Industrie durch die ungemeine Verbesserung der Verkehrsmittel, durch den Aufschwung des Großhandels und durch die Banken längst erschlossen haben. Es komme nun darauf an, solche Genossenschaften zu bilden, die sich nicht wie die Zünfte gegen die Zeitströmung richteten, vielmehr im Gegentheil von ihrer vollen Fluth getragen würden.

Im November 1848 wurde die Nationalversammlung zersprengt und Wrangel’s Soldaten zerstreuten das gesammelte Material des Arbeiter-Ausschusses in alle Winde, Schulze’s Ideen waren der „rettenden That“ unerreichbar, und mit ihnen ging er nach seinem Heimathsorte, um sogleich Hand ans Werk zu legen. Delitzsch zählt nicht viel über 5000 Einwohner, deren Vermögensverhältnisse mit dem freundlichen Eindrucke, den das hinter Baumgängen versteckte, von fruchtbaren Ebenen umgebene Städtchen macht, im Allgemeinen nicht in Einklang stehen. Schulze wußte am besten, wie viel Armuth in Delitzsch verbreitet sei. Hatte er doch im Hungerjahre 1846 energisch gegen das Elend ankämpfen müssen, und war es doch nur seinen Maßregeln zu verdanken gewesen, daß keine oberschlesischen Zustände entstanden waren. Dem bewährten Helfer in der Noth folgten die kleinern Handwerker willig, als er ihnen seine Gedanken, so weit sie ihnen verständlich sein konnten, erörterte und zur Bildung von Vereinen aufforderte. Der erste derselben entstand in der Schuhmacher-Innung, indem 56 Meister zusammentraten, um auf gemeinschaftliche Rechnung Leder zu kaufen und den Vorrath nach Bedarf an die Einzelnen zu Großhandelspreisen, mit einem geringen Aufschlage für die Zinsen und Verwaltungskosten, abzugeben.

1849 wurde Schulze zum zweiten Male zum Abgeordneten gewählt. Die letzten politischen Ereignisse hatten ihn trotz aller Wuth der Reactionspartei und trotz der massenhaften Verfolgungen, die an der Tagesordnung waren, seiner politischen Mäßigung nicht untreu gemacht. Er sprach oft und mit Beifall; seiner Rede über die deutsche Frage vom 21. April versagte auch die Rechte ihren Beifall nicht. Nachdem diese Kammer ebenfalls aufgelöst worden war, stellte man ihn wegen seiner Theilnahme an dem Steuerverweigerungsbeschlusse von 1848 vor Gericht. Er vertheidigte sich glänzend, und die Geschworenen sprachen ihn frei. Er ging nun [721] nach Delitzsch zurück und traf bei den dortigen Vereinen solche Einrichtungen, daß sie auf eigenen Füßen gehen und seiner Leitung für die nächste Zeit entbehren könnten.

Familienvater und ohne ein nennenswerthes Vermögen, mußte er an seine Zukunft denken. Bei seiner Uebernahme des Patrimonialgerichts zu Delitzsch, dessen Auflösung inzwischen nach dem Gesetz von 1849 erfolgt war, hatte er sich den Rücktritt in den preußischen Staatsdienst vorbehalten, sodaß man ihm eine Stelle, wie sie ihm nach seinem Dienstalter zukam, nicht verweigern konnte. Man ernannte ihn zum Kreisrichter und schickte ihn nach dem preußischen Sibirien, worunter die polnisch-preußischen Gebietstheile zunächst der russischen Grenze zu verstehen sind. Eine Anstellung in diesen Gegenden, die sich durch keine Reize der Natur auszeichnen und von einer rohen, eine fremde Sprache redenden Bevölkerung bewohnt werden, ist einer Verbannung gleich zu achten, und das soll sie auch sein. Schulze kam als Richter am Kreisgericht nach Wreschen.

Sein Aufenthalt in dieser Stadt am äußersten Umkreise des Staats umfaßt einen Zeitraum von etwa anderthalb Jahren. Man wies ihm die unangenehmsten und schwierigsten Arbeiten zu, polnische Concursprocesse, die zum Theil aus dem vorigen Jahrhundert stammten und hauptsächlich deshalb verschleppt worden waren, weil sich Niemand an diese verworrenen Rechtsknäuel gewagt hatte. Schulze brachte diese Processe mit unsäglicher Arbeit wieder in Gang, mehrere sogar zur Entscheidung, sodaß die Gelder an die Kinder und Kindeskinder der ursprünglichen Gläubiger ausgezahlt werden konnten. Das Gericht sprach ihm dafür seinen Dank aus, ebenso die zunächst vorgesetzte Justizbehörde, und Schulze konnte um so eher erwarten, daß man ihm nach der Abwicklung des schwierigsten Theils seiner Geschäfte einige Erholung gönnen werde, als seine Gesundheit bei der Riesenarbeit gelitten hatte. Auf ein Zeugniß des Kreisarztes gestützt, bat er um die Erlaubniß, die ihm nach der preußischen Ferienordnung der Gerichte zustehende Ferienreise antreten zu dürfen. Der Justizminister Simons verweigerte sie und hielt seine bis dahin unerhörte Gewaltmaßregel aufrecht, obgleich der Direktor des Wreschener Kreisgerichts die ernstlichsten Gegenvorstellungen machte und Schulze’s Amtsgenossen einstimmig erklärten, „er habe für sie Alle gearbeitet und möge die ganzen Ferien zu seiner Erholung benutzen; sie würden ihn mit Freuden vertreten.“

Sich einer solchen Behandlung zu fügen, war Schulze nicht gemeint. Ohne sich an das Verbot zu kehren, reiste er von Wreschen ab und nahm den Weg über Berlin, wo er sich dem Minister persönlich vorstellte. Dieser erklärte ihm, „allenfalls“ solle ihm der Besuch eines schlesischen Bades gestattet werden, aber seine Heimath dürfe er nicht berühren. Er sollte also thatsächlich internirt werden. Er wurde zum zweiten Male ungehorsam, bereiste die Salzburger Alpen und ging dann geraden Wegs nach Delitzsch. Er hatte erwartet, daß man ihn in eine Disciplinaruntersuchung verwickeln würde, allein dieser Schritt war dem Justizminister zu kühn. Er sah voraus, daß Schulze sich kräftig vertheidigen und die Unterstützung des ganzen preußischen Richterstandes erhalten werde. Um dies zu vermeiden, ersann Herr Simons einen andern Ausweg, für den es in den Gesetzen allerdings so wenig einen Anhalt gab, wie für die Verweigerung der Ferienreise. Schulze wurde im Verordnungswege mitgetheilt, „daß ihm von jetzt an kein Urlaub mehr ertheilt und von seinem Gehalt der Betrag eines Monats gekürzt werden solle.“ Seine Antwort war eine Bitte um Entlassung, die man ihm ohne Weiteres ertheilte.

Aller andern Bande und Pflichten ledig, begab er sich nach Delitzsch mit dem Entschlusse, die Hebung der arbeitenden Classen fortan als die Aufgabe seines Lebens zu betrachten. Er wählte Delitzsch zu seinem Wohnorte, um zunächst die Keime, die er 1849 durch den bereits erwähnten Verein für Ankauf von Rohstoffen und 1850 durch die Gründung eines Vorschußvereins gelegt hatte, weiter zu entwickeln. Vielleicht ahnte er damals selbst nicht, daß das Jahr 1851, in dem er nach Delitzsch zurückkehrte, für Deutschland in volkswirthschaftlicher Beziehung Epoche machend werden solle. Die reißend schnellen Fortschritte seiner Gedanken in unserm sonst so langsamen Vaterlande sind ihm gewiß selbst überraschend gewesen.

Schulze hatte Erfahrungen gemacht, durch die er auf ein ganzes zusammenhängendes System von Handwerkervereinen hingeführt worden war. Die wichtigsten derselben sind die Rohstoff-, Consum- und Vorschußvereine. Ihrer Natur nach greifen sie, sich gegenseitig ergänzend und unterstützend, ineinander. Die ersten verschaffen dem Handwerker die Rohstoffe und Halbfabrikate, deren er bei seiner Arbeit bedarf, zu den billigsten Preisen; die Vorschußvereine sind seine Bank, in der er zu denselben Zinsen, die das Großgewerbe dem Bankier zu entrichten hat, sich mit Geld versehen kann; und die Consumvereine machen sein Leben billig, indem sie ihn mit den täglichen Bedürfnissen wohlfeil versehen. Alle drei Arten von Vereinen beruhen auf dem Grundsatze der Selbsthülfe. Der Handwerker, der sie benutzt, hat durch seine Mitgliedschaft und seine Einzahlungen ein Recht dazu erworben. Er braucht nicht zu bitten, er kann fordern.

Die Einrichtungen sind bei jeder Art ziemlich dieselben, namentlich hinsichtlich des Hauptpunktes, daß jeder Verein eine Sparcasse ist, in welcher der Arbeiter seine Erübrigungen bis zu den kleinsten Beträgen abwärts niederlegen kann. Bei den Vorschußvereinen, welche die Rohstoff- und Consumvereine weit überflügelt haben, wird nach folgenden Grundsätzen verfahren: Das Vermögen des Vereins, das zur Leistung der Vorschüsse dient, wird durch Anleihen und durch zinsfreie Darlehne von Ehrenmitgliedern, hauptsächlich aber durch die eigenen Beisteuern der eigentlichen Mitglieder gebildet. Die Beisteuern bestehen theils in eingezahlten Stammantheilen (Actien), theils in monatlichen Einzahlungen. Die letztern, bei denen man bis zu einem Silbergroschen heruntergeht, sollen einestheils die Geldmittel des Vereins erhöhen, anderntheils den Mitgliedern ein kleines Capital verschaffen und sie an’s Sparen gewöhnen. Bei der Aufnahme von Mitgliedern wird mit großer Vorsicht zu Werke gegangen. Hat man die Ueberzeugung, daß Jemandem durch Vorschüsse nicht mehr zu helfen ist, so weist man ihn zurück. Bei allen Geldverbindlichkeiten haften die Mitglieder Alle für Einen. Wer einen Vorschuß zu erhalten wünscht, hat in der Regel durch Wechsel oder durch Bürgschaft eine gewisse Sicherheit zu stellen. Die Zinsen, die er zu zahlen hat, schwanken in den einzelnen Vereinen zwischen acht bis zehn vom Hundert. Dieser Zinsfuß ist blos scheinbar ein hoher, denn abgesehen davon, daß der vereinzelt dastehende Handwerker bei Darlehnen, wenn er sie überhaupt erhält, weit höhere Zinsen bezahlen muß, erhält er im Verein, weil er an den Vortheilen des Cassengeschäfts Antheil nimmt, die gezahlten Zinsen theilweise zurückerstattet. Bis zu welcher Höhe der Verein Vorschüsse gewährt und in welchen Fristen er die Rückzahlung fordert, richtet sich nach den Verhältnissen des Orts. In Delitzsch hat jedes Mitglied auf Darlehne bis zu zweihundert Thalern Anspruch und es ist ihm eine dreimonatliche Frist gegönnt. Daß man bei unverschuldeter Verzögerung der Zahlung die größte Nachsicht übt, versteht sich bei dem rein humanen Zweck der Vorschußvereine von selbst.

Die Schwierigkeit, für Vereine, die aus lauter unbemittelten Mitgliedern bestanden, von vorn herein Credit zu finden, hatte Schulze bestimmt, sich insofern an die Wohlthätigkeit zu wenden, daß er unverzinsliche Darlehne annahm. Diese um des Zwecks willen gegebenen Gelder bildeten übrigens niemals den Hauptstock, und es zeigte sich auch bald, daß die feste Haltung der Vereine Vertrauen genug einflöße, um jene Beihülfe entbehrlich zu machen. In den Kreisen, deren Nutzen sie dienen wollten, bürgerten sich Schulze’s Schöpfungen schnell ein. Der Vorschußverein zu Delitzsch hatte im Jahre 1852 etwa 100 Mitglieder, deren Zahl im nächsten Jahre auf 175 und im Jahre 1855 auf 210 stieg. In dem letztgenannten Jahre war man so weit gekommen, daß das volle Viertel des Betriebscapitals in eigenem Vermögen des Vereins bestand, das durch das Guthaben der Mitglieder und den Reservefond repräsentirt wurde. Im nahen Eilenburg begann man Ende 1851 mit 396 Mitgliedern und zählte 1854 deren bereits 714, während die Einnahmen in derselben Zeit von 11,625 auf 44,271 Thaler stiegen. Durch diese Resultate ermuntert, gründeten andere Städte ebenfalls Vorschußvereine, in der Provinz Sachsen Halle, Eisleben und Bitterfeld, im Königreich Sachsen zuerst Meißen. Ueberall machte man die günstigsten Erfahrungen. Die Verluste, die aus der Nichtbezahlung erhaltener Vorschüsse erwuchsen, waren nirgends nennenswerth, und mit der Zunahme der Dividende wuchs der Reiz zum Beitritt wie zur Erhöhung der monatlichen Beiträge. In der That war der Gewinn beträchtlich genug, daß er das Sparen belohnte. Der Meißner Verein z. B. zahlte gleich im ersten Jahre 162/3 Procent Dividende.

[722] Einen gleichen Aufschwung nahmen die andern Vereine. So hatte der Leipziger Consumverein, der sich in den ersten Jahren langsam Eingang verschaffte, 1856 einen Umsatz von 9600 und 1859 in den Monaten März bis Oktober von 17,927 Thalern. Der Schuhmacherverein in Delitzsch kaufte 1857 für 11,068 Thaler Rohleder und verschaffte seinen Mitgliedern solche Vortheile, daß die Schuhmacher der benachbarten Orte Schulze baten, ihnen ähnliche Vereine einzurichten, weil sie ohne diese auf den Märkten neben ihren Gewerbsgenossen aus Delitzsch nicht bestehen könnten. Sie hatten richtig herausgerechnet, daß der wohlfeilere Einkauf von Leder bei jeder Schuhsohle eine Ersparniß von 21/2 Silbergroschen ausmache.

Nur an örtliche Verhältnisse und Bedürfnisse anknüpfend und mit den kleinsten Anfangen zufrieden, hatte Schulze eine Grundlage erlangt, auf der sich weiter schreiten ließ. Er begann auch jetzt wieder ganz klein, mit der Gründung eines Vereins Delitzscher Schuhmacher zum gemeinschaftlichen Verkauf der fertigen Waaren auf Jahrmärkten und Messen. Die Vereinsmitglieder übergaben ihre zum Marktverkauf bestimmten Schuhe und Stiefeln einem Beauftragten, der damit die Messen bezog und sie zu den Preisen, die jeder Meister festgesetzt hatte, und gegen eine angemessene Vergütung für seine Mühe verkaufte. Diese Provision betrug weit weniger, als der einzelne Meister früher, wo er noch selbst die Messen bezog, an Zeit und Geld hatte aufwenden müssen. Ueberdies machte der Verein die besten Geschäfte, da die Delitzscher Schuhbude bald in den besten Ruf kam. Der neue Verein wurde seinerseits zum Ausgangspunkte für Magazine der verschiedensten Handwerke. Die Schulze’schen Anstalten dieser Art sind nicht mit den Kleidermagazinen etc. zu verwechseln, die eigentlich Fabriken sind und eine Menge verkommener Meister von einem reicheren Gewerbsgenossen, der die Gefahr und den Nutzen allein hat, abhängig machen. Bei ihnen behält jeder Meister seine Kunden für sich und arbeitet blos dann, wenn seine eigenen Geschäfte stocken, für das gemeinschaftliche Lager.

Nachdem reiche Erfahrungen gewonnen worden waren, trat Schulze mit seinen Resultaten vor die Oeffentlichkeit. Seine drei Schriften: das Associationsbuch, die Vorschuß- und Creditvereine als Volksbanken (Leipzig bei Ernst Keil, 1859, zweite Auflage), und: die arbeitenden Classen und das Associationswesen (Leipzig bei Gustav Mayer), machten die wirksamste Propaganda. Durch sie kam das rechte Leben in die Sache, und Tausende erwärmten sich, die früher nur aus Unkenntniß theilnahmlos gewesen waren. Die Schulze’schen Vereine breiteten sich mit einer beispiellosen Geschwindigkeit von der Mitte Deutschlands nach dem Süden und Norden zugleich aus, ja einzelne entstanden sogar auf fremdem Boden, unter anderm zu Coni in Piemont. Gegenwärtig bestehen 150 Vorschußvereine, 60–80 Rohstoffvereine und 10–20 Consumvereine. Fünfundvierzig Vorschußvereine, die allein genauen Bericht erstatteten, gewährten im Jahre 1858 für 2,086,083 Thaler Vorschüsse, und man greift gewiß nicht zu hoch, wenn man den Gesammtumsatz der 150 Vereine für das Jahr 1859 auf 8–10 Millionen veranschlagt. So hat sich aus kleinen Vereinen unbemittelter Handwerker eine Geldkraft krystallisirt, auf die Rücksicht zu nehmen für die großen Banken mit der Zeit zur Nothwendigkeit werden wird. Die auf dem Wohlthätigkeitsprincip beruhenden Vorschußvereine anderer Gründer, von denen sich einige von 1847 und 1848 her erhalten haben, sind von den Schulze’schen weit überflügelt worden. In Colberg und Luckenwalde, Städten von 8000 und 9000 Einwohnen haben die nach dem Grundsatze der Selbsthülfe eingerichteten Creditcassen im Jahre 1858 für 63,318 und 90,882 Thaler Vorschüsse gewährt, während vierundachtzig Wohlthätigkeitsvereine des großen Berlin im Jahre 1857 es nur auf 68,761 Thaler gebracht haben. Kann es einen schlagenderen Beweis für die Vorzüge des Grundsatzes der Selbsthülfe geben?

1859 hatte Schulze die Freude, auf dem ersten Vereinstage der deutschen Vorschußvereine den Vorsitz führen zu können. Er sah jetzt das Gebäude, dessen Grundstein er gelegt, dessen Mauern er behutsam Stein um Stein zusammengefügt hatte, mit dem Dache gekrönt. Der Vereinstag war nach Dresden ausgeschrieben worden, aber Bedenken der sächsischen Regierung, die sich aus einer Bestimmung des sächsischen Vereinsgesetzes ableiteten, hatten eine Verlegung nach Weimar nöthig gemacht. Abgeordnete von neunundzwanzig Vereinen tauschten in den Tagen vom 14–16. Juni ihre Ansichten und Erfahrungen aus. Schulze gab einen neuen Beweis seiner Besonnenheit, indem er den Vorschlag der Errichtung einer Central-Handwerkerbank lebhaft bekämpfte. Der Gedanke hat etwas Glänzendes, aber noch sind die Stützen, die ihn tragen sollen, zu schwach, und es ist besser, die rechte Zeit abzuwarten, als von oben nach unten zu bauen. Dagegen faßte man den Beschluß, ein Centralbureau zu errichten, welches eine Verbindung der einzelnen Vereine anbahne und den Briefwechsel mit ihnen besorge. Die Leitung wurde Schulze übertragen und noch bestimmt, daß jeder Verein mit 1/2 Procent seines Reinertrags zu den Kosten beitrage.

Wir haben bisher der äußern Hindernisse, auf die Schulze stieß, nicht gedacht. Er hatte seine Vereine auf einen Boden gestellt, der mindestens politisch neutral genannt werden muß, obgleich eigentlich Jeder, der sich wie Schulze der um sich greifenden Noth entgegenstemmt und die arbeitenden Classen wilden utopischen Träumereien entreißt, um ihnen praktische und sittliche Ziele zu zeigen, im besten Sinne des Worts ein Conservativer ist. Dennoch ist er Verdächtigungen nicht entgangen, und nicht nur die rege Theilnahme, die er in neuester Zeit der nationalen Bewegung schenkt, sondern auch die Wirksamkeit, die er als Vorsitzender des volkswirthschaftlichen Congresses in Frankfurt a. M. entfaltet hat, wird gegen ihn ausgebeutet. Es ist, gelind gesagt, kleinlich, Dinge zusammenzuwerfen, die nichts mit einander zu thun haben. Die Schulze’schen Vereine sind besondere und hochwichtige Theile eines Ganzen, über das die deutschen Volkswirthe ihre Berathungen erstrecken und jene Vereine wie der Congreß bewegen sich auf einem Gebiete, auf dem alle Parteien ohne Ausnahme thätig sein sollten. Die nationale Bewegung liegt weit davon ab. Will Schulze sich an ihr betheiligen, so ist das eine rein persönliche Angelegenheit. Mit welchem Recht kann man ihm befehlen, der einzige Mensch in Deutschland zu sein, der keine eigene politische Meinung haben darf? Mißbrauchte er seine Vereine zu Gunsten jener Bewegung, wozu jeder Anlaß und sogar jede Möglichkeit fehlt, dann und erst dann dürfte man ihm Vorwürfe machen. Uebrigens beweist die Stellung, die er in jener Bewegung einnimmt, abermals, wie bedeutend er ist. Nachdem er der ersten Versammlung in Eisenach beigewohnt hatte, Wurde er in Coburg vom Herzog empfangen, der anerkennende und ermuthigende Worte an ihn richtete, und führte bei der zweiten Versammlung in Frankfurt a. M. den Vorsitz. Einen Auszug aus seiner damaligen Rede, die einen glänzenden Beweis seiner Vaterlandsliebe und Aufopferungsfähigkeit gibt, haben wir s. Z. in Nr. 40 mitgetheilt.

Die Zeitungen haben in neuester Zeit berichtet, daß Schulze zweimal um Anwaltstellen eingekommen und beide Male vom Minister Simons nicht einmal einer Antwort gewürdigt worden sei. Aus seinen Bewerbungen wird man ersehen haben, daß er kein vermögender Mann ist. Er wird so bald als möglich ein Amt oder Geschäft suchen müssen, und dann ist seine Kraft für seine Vereine verloren. Sollte sich nicht ein Mittel finden, ihn für diese zu erhalten, ohne daß er fortfahren müßte, wie in allen Jahren seit 1851, Opfer zu bringen, die seine Pflichten gegen seine heranwachsenden Kinder ihm nicht mehr erlauben? In England wäre ein Auskunftsmittel sogleich gefunden; dort ist es längst Sitte, daß ein verdienter Mann von denen, welchen er seine ganzen Kräfte darbringt, entschädigt wird. Es wäre schön und ein fruchtbringendes Beispiel für die Zukunft, wenn man die englische Sitte nachahmte. Das halbe Procent, das der Centralstelle bezahlt wird, gleicht eben die Bureaukosten aus. Erhöht man es auf zwei Procent vom Reingewinn jedes Vorschußvereins, so würde eine Summe von 500, höchstens 600 Thaler jährlich erreicht, zu der beizutragen keinem Vereine schwer fiele und die doch nur eine sehr bescheidene Vergütung für alle Arbeiten und Reisen Schulze’s wäre. Der Verein, der zuerst den Antrag auf eine für das Ganze kaum bemerkbare Entschädigung des hochverdienten Mannes stellte, würde sich ein Verdienst um das Vereinswesen überhaupt erwerben. Opfer, wie Schulze sie bisher gebracht, können von Niemand verlangt werden, der sie zu bringen nicht im Stande ist, und solche unmögliche Opfer muthet man dem Gründer der Vereine zu, wenn man verlangt, daß er seine Dienste ohne alle Vergütung fortsetze.

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Fragmente aus Italien.

Von Moritz Hartmann.
I. Aus Turin.
Tendenz der Denkmäler und der Literatur. – Das Monument einer Habsburger Königin. – Zartgefühl des Volkes. – Achtzehn Theater. – Das alte Turin. – Das Ghetto und sein schönes Judenmädchen. – Die Waldenser.
(Schluß.)


Was aus den Marmor- und Erzlettern der Denkmäler, könnte man auch von den Leinwänden der Maler der letzten Decennien ablesen. Da sind meist Allegorien, die das gegenwärtige Elend oder die schöne Zukunft Italiens ausdrücken, oder historische Gegenstände, welche Großthaten alter Zeiten, meist aus den Freiheitskämpfen der lombardischen Städte gegen die Kaiser, darstellen. Man wollte lehren, aufmuntern, durch das Beispiel der Väter entzünden. Man meißelte, malte, schrieb Tendenz. Carlo Alberto bezahlte diese Bilder aufs Königlichste, weit über seine Kräfte, und machte Bestellungen in allen Ateliers zwischen Alpen und Charybde; das königliche Schloß in Turin ist eine Gallerie, eine illustrirte Leidensgeschichte Italiens geworden.

Und erst die Literatur! Wollten wir auf die Tendenzliteratur eingehen, die immer in Italien existirt und deren neueste Epoche wenigstens bis auf Alfieri zurückleitet, wir würden nicht fertig, wir müßten Bände darüber schreiben. Und sie hat Herrliches hervorgebracht, Leidenschaftliches, Tragisches, höllisches Gelächter, tief in die Seele einschneidende Satiren. Wir nennen nur Giusti, Giuseppe Giusti, den tieferen Beranger Italiens.

Und der arme Goffredo Mamelli, der in Rom gefallen ist, kaum zweiundzwanzig Jahr alt, der Dichter des Jahres 1848!

Es ist doch hübsch, daß zu allen Freiheitsbewegungen der modernen Zeit die Poesie ihr Contingent gestellt hat. Polen hat seinen Mickiewitz; in Ungarn fiel Alexander Petöfi auf dem Schlachtfelde; Frankreich hat Lachambaudie und Victor Hugo; Deutschland Freiligrath, Kinkel, Ludwig Pfau. Italien hat von Silvio bis auf Mamelli eine ganze Schaar Verbannter, Eingekerkerter, Gefallener.

Es ist Zeit, daß man wieder anfange italienisch zu lernen.

Doch wir wollen uns in dieser vom Blute der Schlachtfelder rauchenden, politisch-diplomatischen Zeit nicht bei Kunst und Literatur aufhalten; nur auf einen Augenblick wollen wir, da wir einmal von Monumenten gesprochen, in die Kapelle treten, die sich hinter dem Hochaltar in der Kathedrale findet, in die man auch vom Schlosse aus gelangen kann und die die Monumente enthält, welche Carlo Alberto mehrern seiner Vorfahren errichten ließ. Diese Kapelle ist ein Kleinod und es soll Niemand daran vorübergehen, dem daran liegt, einen in allen Phasen wohlthätigen, durch und durch ästhetischen Eindruck zu empfangen. Diese Kapelle ist eine schöne, von einer kunstvollen Kuppel überdeckte Rotunde. Sie ist ganz mit schwarzem Marmor ausgelegt, von schwarzen, monolithen Säulen getragen und von oben durch ein dämmriges Licht beleuchtet. Von diesem schwarzen Grunde heben sich prächtig, doch einfach und trotz der combinirten Composition anspruchslos die weißen Marmormonumente ab, die erhöhten Hauptgestalten mit den entsprechenden symbolischen oder allegorischen Figuren. Die Arbeit ist vortrefflich, die Gruppirung höchst geschmackvoll und künstlerisch. Man sieht hier die besten Specimina der modernen italienischen Sculptur und man fängt zu glauben an, daß diese, wie die Kunst überhaupt, hier eine schöne Zukunft haben. Rührend neben diesen prächtigen, gestaltenvollen Königsmalen nimmt sich das Monument der letztverstorbenen Königin Adelaide aus. Es sieht aus, als wollte es gar nicht ein Monument darstellen, als wäre die Person, die es darstellt, für dergleichen zu bescheiden gewesen und als hätten die Leidtragenden und der Künstler diese Bescheidenheit geschont. Königin Adelaide sitzt im einfachen Kleide, alles Schmuckes baar, wie sie zu Hause unter ihren Kindern gesessen haben mag, eine rührend häusliche und schöne Erscheinung. Nur die große Unterlippe erinnert, daß sie eine Habsburgerin gewesen. Die böse Lippe hatte ihr viel zu schaffen gemacht. Sie war vom Volke von Turin sehr geliebt und sie´hatte das Bedürfniß geliebt zu sein, denn sie war gut. Aber sie hatte hier die Jahre 1848 und 49 durchzumachen, die Zeit, in der man sich gegen ihre Familie schlug und jede Erinnerung an den Feind das Volk außer sich brachte. Wenn sie nun im Publicum erschien, biß sie sich auf die große Unterlippe und suchte sie so viel als möglich zu verbergen. Man bemerkte das und war ihr für diese erfolglose Bemühung doppelt dankbar und zugethan. Auch benahm sich das Volk während der ganzen Zeit ihr gegenüber mit dem höchsten Zartgefühl. Bei öffentlichen Aufzügen oder Demonstrationen, die in Folge einer Revolution in der Lombardei oder eines Sieges über die Oesterreicher statt fanden, vermied man Gassen und Plätze, die sie von ihren Fenstern aus sehen konnte; in den Theatern wurde jede politische Kundgebung, die ihr Familiengefühl verletzen konnte, unterdrückt, sobald sie in ihrer Loge erschien, und durch Applaus ersetzt, der ihrer Person galt. Als sie starb, war die Trauer herzlich und allgemein, und das stille und anspruchslose Denkmal der Habsburgerin in dem kleinen Pantheon wird vom Volke mit größerer Andacht und Theilnahme betrachtet, als alle die prächtigen Monumente der Savoyarden.

Wir wollen also nicht von Kunst sprechen. Wie schade! In Italien, in Turin, das eine so herrliche und so unbekannte Gallerie besitzt und in dieser Gallerie den Papst Paul von Titian mit der berühmten Hand, der allein so viel werth ist, wie manche andere Gallerie, und die Veroneses, die Rembrandts, die Dürers, die Wouvermans etc.! Vorbei! vorbei!

Wir sind in den Straßen!

Da ist das Haus Alfieri’s – ganz nahe dabei das Haus, in welchem J. J. Rousseau als Kammerdiener das Band geflochten und die That einem armen Stubenmädchen in die Schuhe schob und katholisch wurde – einige Schritte weiter und wir sind auf dem Weinmarkt – an einer Straßenecke. Sie ist bedeckt von Theaterzetteln, die einander mit großen Lettern und bunten Farben zu überschreien suchen. Natürlich, die Concurrenz ist groß. Die Stadt Turin mit ihren 50000 Einwohnern hat 18, sage achtzehn Theater, darunter vier große, das königliche Theater, das Nationaltheater, das große Theater, das teatro Carignan, mehrere ziemlich große, die meist die Namen berühmter Leute tragen, wie Alfieri, Rossini, Scribe, Nota, viele kleine, wie Gerbino, Martiniano, Gianduja etc. Letzteres ist eigentlich ein Marionettentheater, gehört aber mit zu den populärsten und beliebtesten. Gianduja ist der Name einer Volksfigur, die den Turiner personificirt, der Turiner Hampelmann, wie der Meneghin der Mailänder Hampelmann ist. Letzterer ist jetzt in Turin ziemlich heimisch geworden, und da man sich mit Mailand eins fühlt, wird er auf jede Weise und bei jeder Gelegenheit, oft sehr gewaltsam, angebracht. So weiß ihn das Theater Gerbino oft in französischen Rührstücken und Melodramen auftreten zu lassen und vergißt es nie, aus dem Zettel anzukündigen „con Meneghino“. Der Meneghin spricht mailändisch, wie Gianduja piemontesisch spricht, so daß ich Ihnen von den Witzen, die das Publicum so sehr lachen machen, nichts zu erzählen weiß. Gerbino, Alfieri etc. geben auch sehr ernste, oft sehr schauderhafte Stücke, die meist aus dem Französischen übersetzt sind, eben so wie die kleinen Possen, mit denen die Vorstellungen eingeleitet werden; doch erscheinen beide, Melodram und Posse, von italienischen Schauspielern aufgeführt, ganz verändert. Das Melodram wird pathetischer, das französische Vaudeville, selbst das feinere Proverbe wird una brillantissima farsa. Aber wie sehr diese Schauspieler, nach unsern Begriffen, übertreiben, man muß doch zugeben, daß natürliches Talent in starker Dosis vorhanden ist, und man fühlt, daß die Ristori keine vereinzelte Erscheinung sein kann. Wäre das Interesse des sogenannten feineren Publicums nicht von der Oper absorbirt und hätte Italien ein Nationaltheater, was bei den bisherigen Zuständen freilich eine Unmöglichkeit war, Italien würde gewiß große Schauspieler haben. Jetzt aber, da man im recitirenden Schauspiel nur die Farce und die materiellste Thränenrührung sucht, sind die Talente verwildert. Doch muß man zugeben, daß diese verwilderten Talente, wenn sie Stücke geben, vor denen das gebildete Publicum Respect hat und die für classisch in der Form gelten, wie z. B. dieser Tage Frariesia di Rimini von Silvio Pellico, sich mit Takt zusammenzunehmen und zu mäßigen wissen. – Bevor Piemont Preßfreiheit hatte, waren die kleinen Theater von einer gewissen politischen Bedeutung, denn Gianduja warf oft eine Wahrheit in’s Publicum, die kein Schriftsteller zu schreiben und kein Drucker zu drucken den Muth hatte. Konnte man Gianduja einsperren? Doch, man that es, aber man machte sich lächerlich. Heute hat Gianduja seine Rolle der Presse überlassen müssen, aber er hat darum die Politik nicht aufgegeben; er zieht in die Schlacht von Palestro, er schlägt sich mit Gyulai, er macht sich über den Erzbischof von Genua und seinen Hirtenbrief lustig. Die Theater sind alle liberal und national gesinnt und richten ihr Repertoir darnach ein. So wird im jetzigen Augenblicke ein großes Spectakelstück eingerichtet, das die Schrecken der Inquisition darstellt und in welcher die Geistlichkeit zum ersten Male auf die Bühne gebracht wird – nicht um ihr Lob zu singen. Wir leben eben in der Zeit der Hirtenbriefe und es geht die Sage, daß der König mit dem Interdicte belegt werden soll. Da will die patriotische Bühne dem Volke zeigen, aus welcher Quelle solche Maßregeln fließen.

Die alte Zeit im neuen Turin erinnert mich, daß es auch noch ein altes Turin gibt. Ach, es ist nicht mehr viel davon übrig! An der schönen, romantischen Kathedrale vorbei, deren Thüren mit so altehrwürdigen und lieblichen Sculpturen bedeckt sind, deren naive, alte Bauart man vandalisch mit moderner Färberei entstellt hat, gelangen wir in die wenigen krummen und winkligen Gassen, die von dem althistorischen Turin, in dessen Nähe Hannibal eine Schlacht geschlagen, übrig geblieben. Aber selbst diese Häuser deuten aus kein hohes Alterthum. In den Winkeln und Gängen ihres Innern webt wohl noch jahrhundertaltes Zwielicht, aber die Vordermauern sind modern, einförmig und kasernenhaft. Die Feuchtigkeit, die Schlechtigkeit des Pflasters und der Schmutz erinnern noch an die Zeiten schlechter Municipalverwaltung, die sich im modernen Turin, dem reinlichen, ordentlichen, anständigen, gänzlich verwischt haben. Zwei Gebäude erinnern uns an zwei unglückliche Dichter. Das eine, die sogenannten Thürme des Ovid, die, mit phantastischen Zinnen aus Ziegeln aufgeführt, in der That auf römischen Grundmauern ruhen sollen, haben der Sage nach den verbannten Dichter als Gefangenen beherbergt. Er wurde von Rom hierher transportirt und von hier nach Genua, wo er nach Tomi eingeschifft wurde. Heute sind diese Thürme, wie die Blenden vor ihren kleinen Fenstern beweisen, noch immer Gefängnisse, und ein eingerahmtes Stück Gemäuer daran trägt das Zeichen der Jesuiten. Ein anderes Haus in der Nähe sagt mit goldener Inschrift auf marmorner Tafel, daß es dereinst Torquato Tasso, den Dichter des befreiten Jerusalems, beherbergte. In der That hat Tasso eine Zeit lang hier gelebt, aber nicht immer in dem alten Hause; er war auch der Gast des Grafen und Herzogs, dessen Schloß und Gärten er als Gärten der Armide beschreibt. Sic transit! – Von den Gärten der Armide ist heute keine Spur mehr vorhanden, und das Schloß der Armide und des Fürsten ist heute eine Tabakfabrik. Rauch ist die Herrlichkeit der Welt! –

Ein Stück altes Turin, obwohl mitten im neuen gelegen, ist das Ghetto. Man muß sich da nicht ein Prager, oder Frankfurter, oder römisches Ghetto vorstellen; es hat so luftige und breite Gassen und so moderne Häuser, wie der Rest der Stadt, alt sind hier nur die Juden, die trotz aller Religionsfreiheit, [724] trotzdem sie überall in der Stadt wohnen könnten, doch aus alter Gewohnheit zusammenbleiben und zwar an demselben Flecke, wo sie ehemals zusammengepfercht leben mußten, und die, trotzdem ihnen heute alle Gewerbe offenstehen, aus alter Gewohnheit meist mit alten Kleidern handeln. Die Race sieht sehr alt und verkommen uns. Trotzdem beherbergte das Ghetto vor ungefähr fünfzehn Jahren die größte Schönheit Turins, eine der größten Schönheiten, die man sich, nach der Beschreibung, vorstellen kann. Es war ein junges Judenmädchen, das man damals als eine große Merkwürdigkeit, als ein Weltwunder betrachtete. Wenn sie ausging, entstanden Auflaufe und oft bildeten sich vor ihrem Fenster Zusammenrottungen, die sie mit Geschrei zu sehen verlangten. Zuletzt ging sie nie mehr aus und die Eltern hielten sie eingesperrt. Es waren ehrliche Leute, die, unter der damaligen absoluten Regierung, irgend einen Skandal fürchteten, für den sie keine Genugthuung gefunden, oder der der Ehre der Tochter hätte schaden können. So stand dieses Licht unter dem Scheffel. Einige ehrenhafte christliche Familien ließen sie manchmal in’s Haus kommen, um ihr in ihrer Gefangenschaft einige Abwechselung zu gewähren. Sie ist verschwunden und ich konnte nicht erfahren, wohin. Wahrscheinlich handelt sie in Piguerole oder irgend einem andern Nest mit alten Kleidern. Möge es ihr wohl ergehen, der Märtyrerin der Schönheit, und möge sie in irgend einem alten Fracke eine Tausendpfundnote oder besser ein Sonett auf ihre Schönheit finden!

Die Juden erinnern mich an eine andere ehemals in diesem Reiche verfolgte Religionsgesellschaft, an die Waldenser. Schön und glänzend steht heute ihr romanisch-gothischer Tempel mit breiter Facade auf der Promenade und empfängt gastlich alle Protestanten und Reformirte, die sich in Turin aufhalten. Am Tage der Eröffnung dieses Tempels prophezeiten alle Priester den bevorstehenden Untergang der Welt, aber sie steht noch und die Waldenser feiern unbehindert, unter dem Schutze der neuen Gesetze und vor Allem der neuen Zeit, ihren Gottesdienst, sie, die sich ehemals in Schluchten und Klüften haben verbergen müssen. Die Thäler, die sie heute bewohnen, sind die Sitze des blühendsten Wohlstandes, und ihre fanatischsten Nachbarn rühmen ihren Fleiß, ihre Einfachheit, ihre Bildung und Redlichkeit. Das hat man von jeher gethan, aber das war nicht Grund genug, den Ketzern ein Bethaus zu gestatten. Nun ist es endlich geschehen, aber wer hätte das unter Karl Albert vorausgesagt?

Es wird in Italien noch Manches geschehen, was heute kein Prophet voraussagen kann.




Blätter und Blüthen.

Eine noch lebende Genossin und Krankenpflegerin Friedrich Schiller’s. Wie herrlich auch die Feste zu Ehren unseres Schiller gefeiert worden sind, nirgends wurde der 10. November inniger und weihevoller begangen, als in einem freundlichen, kleinen Hause, seit wenigen Jahren erst in einem traulichen Walddörfchen erbaut.

Dies Berghäuschen auf der mäßigen Höhe eines Gartens, der sich in einigen Terrassen aus dem Thale erhebt, ist der stille Ruhesitz einer edlen Matrone, welche unserem Schiller nicht nur viele Jahre sehr nahe stand, sondern den Kranken auch mit sorglicher Liebe gepflegt hat. Wer möchte aus den festlichen Tagen mit ihrem offenen Glanze, ihrer lauten, allgemeinen Feier, in denen einmal das schwer belastete Nationalgefühl der Deutschen sich warm an einem gemeinsamen Schatze aufrichten durfte, wer möchte da nicht gern einen Blick in ein Haus hinein thun, wo die Letzte noch lebt, die dem großen, in seinem Leben so sehr versäumten Dichter wohl gethan hat! – sie, welcher mancher dankbare Blick des leidenden Dichters zugewendet war.

Dort das friedliche Berghäuschen, vor dem drunten im grünen Thale der Bach hinter Erlen rasch niederrollt, droben stattliche Fichten den Berg krönen, blickt uns wie der Wittwensitz einer friedvollen Seele an, und das ist er auch. Treten wir ein, so zeigen die Wände der Zimmer die treuen Bilder uns wohlbekannter, großer Menschen, der Genossen und Freunde Schiller’s; die einfachen Tische und Schränke tragen manche kostbare Gabe, welche durch die Liebe und die Hand, die sie gab, für alle Zeit geweiht sind, als Reliquien aus der größten Zeit deutscher Dichtkunst und Wissenschaft, von den edelsten und größten Menschen derselben. Dort an dem Fenster, nach der Sonnenseite, sitzt in einem Lehnsessel die hohe, gerade Gestalt einer Greisin. Du könntest sie für eine Ahnenfrau halten, wenn du in das bleiche, ruhige, längliche Gesicht mit seinen edlen, festen Zügen und diesen schwarzen Augen siehst; aber höre der Greisin zu, wenn sie von der Zeit redet, wo sie mit Goethe und Herder, mit Alexander und Wilhelm von Humboldt, mit Körner zusammen war, wo Schiller sie „die treuste Seele“ nannte, wo sie den Dichter glücklich, wo sie ihn in tiefer Betrübniß gesehen; dann zieht es dich zu diesen Augen, die immer lebenvoller werden, zu diesen treuen, warmen Mittheilungen mächtig hin, und du glaubst neben einer Mutter aus gar alter Zeit zu stehen. Reiche ihr dankbar die Hand; denn bedenke, jene ihre bleiche Hand hat unsern Schiller liebend gepflegt, wo er einsam und sorgenvoll aus seinem letzten Lager lag.

Doch ich will Namen nennen. Möge die einfache, geräuschlose Verehrte, die nie aus der anspruchlosesten Zurückgezogenheit vortrat und das Große und Herrliche, was ihrem Leben angehört, nur wie ein Heiligthum der Seele still mit sich trug, – wenn sie dies lesen sollte, möge sie nicht verletzt werden! – Das Berghäuschen, in das ich geführt habe, steht in dem Dörfchen Langendembach in der Grafschaft Oppurg im Weimarischen, nahe dem freundlichen Städtchen Pösneck. Die Bewohnerin desselben ist Wilhelmine Schwenke In Langendembach als Tochter des damaligen Pfarrers 1780 geboren, kam sie 1798 in das Haus des Schwagers von Friedrich Schiller, des Geheimerathes von Wollzogen. Anfangs Dienerin, wurde sie bald die vertrauteste Lebensgefährtin der Frau von Wollzogen, der bekannten Schriftstellerin, – der Schwester der Gattin Schiller’s, in solchem Grade, daß die sterbende Frau von Wollzogen in die Hände unserer Wilhelmine Schwenke ihren kostbarsten, aber auch wohl zu wahrenden Schatz, ihren Nachlaß von Briefen und Schriften testamentarisch übergab.

Nur einige Monate des Jahres 1802 ausgenommen, in denen sie mit Frau von Wollzogen in Paris lebte, war Fr. Schwenke anno 1798 bis 1805 theils in Weimar, theils in Jena fast täglich mit Schiller zusammen, der bekanntlich so gern mit seiner geistreichen Schwägerin von Vollzogen verkehrte und bei seiner mittheilsamen Natur dieselbe zur Vertrauten seiner Leiden und Freuden, wie seiner Ideen und Schöpfungen machte. Gern pflegte sich Schiller mit der natürlichen, wahren und weiblich tactvollen Begleiterin seiner Schwägerin zu necken und bewies derselben vorzugsweise Vertrauen und Achtung. Als Schiller in Jena sehr ernstlich erkrankte und bei der gerade erfolgten Niederkunft der Gattin desselben Alle im Hause viel beschäftigt waren, wurde Fr. Schwenke wochenlang fast die einzige sorgliche Pflegerin des Kranken. Selbst als Schiller 1803 bis 1804 in Dresden und Loschwitz bei Körners sich aufhielt, wohnte Fr. Schwenk mit Fr. von Wollzogen in demselben Hause mit dem Dichter. In der schweren Zeit, als Schiller 1805, in Weimar das letzte Mal erkrankte, der Hof verreist, Goethe selbst krank war, auch da noch saß sie abwechselnd an Schiller’s oft gar einsamem Sterbebette, eine liebende Wärterin. – –

Gewiß richten sich gern unsere Blicke von den Festen der Dankbarkeit gegen unsern großen Heimgegangenen nach dem kleinen friedlichen Häuschen im Walddörfchen und zu der hin, welche die einzige noch Lebende ist, die unserem theuern Schiller die größten Dienste weiblicher Sorgfalt und Pflege! erwies, die gethan hat, was wir so gern thun möchten, während wir doch nur, wenn auch mit dem warmen Herzen dankbarer Verehrung, zu dem Verklärten aufzublicken vermögen, ohne eine einzige Wunde heilen zu können, deren so viele dem großen Herzen des unendlich zartfühlenden Dichters geschlagen wurden. Im Geiste fassen wir dankbar die bleiche Hand der edlen Greisin, die unserem Schiller wohlgethan.*** S.




Zur Schillerfeier! Zu den erfreulichsten Resultaten der Schillerfeier gehört unbedingt das erhöhte Ansehen der deutschen Nationalität, die sich zum ersten Male, und wie mit einem Schlage, dem Auslande gegenüber als ein geschlossenes, fertiges und begeistertes Ganze hingestellt. Ein nicht unwesentliches Verdienst für Erreichung dieses glänzenden Resultates dürfen wir mit Recht unsern Flüchtlingen im Auslande zusprechen, die mit wenig Ausnahmen sich wieder des deutschen Namens würdig gezeigt. Demokraten vom reinsten Wasser sprachen in England, Frankreich, der Schweiz und Amerika mit hinreißender Begeisterung von ihrem schönen Vaterlande und bewiesen den hochaufhorchenden Ausländern in Poesie und Prosa, daß sie trotz des harten Exils und trotz mancher tiefen Demüthigung und Enttäuschung im Herzen gut deutsch geblieben sind und deutsch bleiben wollen. Durch sie und die Würde ihrer Feier, durch die Wahrheit ihrer Begeisterung und die Herzinnigkeit ihrer Vaterlandsliebe hat Deutschland in wenig Tagen und ohne Schwertstreich Eroberungen gemacht, die segenbringender für das Ansehen der Nation wirken werden, als alle bluttriefenden der Vorzeit.




Ein klarer Kopf ist viel Werth in der Welt, und es gibt deren weit weniger in der Welt, als man glaubt; man findet eher tausend geistreiche Menschen, als einen Mann von klarem Hellem Verstande. Einer der wenigen Männer, deren Gedanken krystallklar sind, die jeden noch so verwickelten Gegenstand so einfach und klar darlegen, daß er Jedem übersichtlich erscheint und man gar nicht begreift, wie da je von Verwirrung die Rede sein konnte, und die für ihre Darstellungen immer die einfachsten ungeschmückten Worte wählen – ein solcher Mann ist Johann Jacoby in Königsberg. Hunderte von Reden sind erschienen bei der Jahrhundert-Feier Schiller’s, keine hat tiefer und dabei klarer, keine umfassender und dabei verständlicher das Wesen Schiller’s und seine Bedeutung für das deutsche Volk ausgelegt, als Johann Jacoby in seiner kaum 16 Seiten füllenden Schrift: „Schiller der Dichter und Mann des Volkes. Schillerfestrede im Königsberger Handwerkerverein gehalten.“ (Königsberg, Verlag von Theile.) – Nach dieser ist unbedingt die Gützkow’sche Rede (als Festgruß bei der Dresdner Feier am 9. November gesprochen) die glänzendste, die eine wahrhaft hinreißende Wirkung ausübt.




Das ganze Resultat des orientalischen Krieges besteht in Schiffsladungen Knochen. Englische Zeitungen erzählen, daß neuerdings schon das zweite Schiff mit Knochen aus Sebastopol angekommen sei, das letzte mit einer Ladung von 237 Tonnen. Sie verlangen zu wissen, ob dies Gebeine russischer oder anglo-französischer Soldaten, ob es überhaupt Menschen- oder Pferdeknochen seien und ob sie zur Düngung oder zur Stiefelwichsfabrikation verwendet werden sollen. Sehr schmeichelhafte Auszeichnungen für die um Nichts Gemordeten und für die Hinterbliebenen, die vielleicht mit den Knochen ihrer Söhne oder Brüder täglich den Glanz ihrer Stiefeln erneuen. Das sogenannte „Feld der Ehre“ reducirt sich demnach auf einen Düngerhaufen oder – eine Schachtel Stiefelwichse!



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.


  1. Aus den Mittheilungen eines deutschen Arztes.