Die Gartenlaube (1860)/Heft 36
[561]
No. 36. | 1860. |
Es war um die Mittagsstunde eines Herbsttages im Jahre 1763. Auf dem Platze vor dem Eingang zu der großen und prächtigen, eben neuerbauten kaiserlichen Reitschule zu Wien, dicht neben der Burg, schritt langsam eine eigenthümliche Gestalt auf und ab.
Es war ein noch junger Mann mit edlen, ja schönen Zügen, einer stark gewölbten, mehr breiten als hohen Stirn, einer gebogenen Nase, einem energisch ausgebildeten Kinn, das Alles dunkel gebräunt von Wind und Wetter. Starkes schwarzes Haar hing, gegen alle Mode der Zeit, in losen Locken wirr und wild auf seine breiten Schultern herab, die mit einem abgetragenen und geflickten Zwillichkittel bekleidet waren. Der alte breitrandige Hut, die engen ungarischen Beinkleider, die in alten zerrissenen Stiefeln endigten und sich mit Recht ein wenig lichtscheu darin zu verkriechen schienen, standen in bester Harmonie zu der Kleidung des Oberkörpers; aber auffallend war, daß in einem solchen dürftigen und verkommenen Anzuge eine so hochgewachsene, jugendlich kräftige und zur Arbeit tüchtige Gestalt steckte.
Das Thor öffnete sich von Zeit zu Zeit; es ließ Cavaliere, die zu zweien oder dreien mit ihren Reitknechten, meist auf ausgezeichneten Thieren kamen, hinein; es ließ andre Gruppen heraus. Der Fremde im Zwillichkittel und Slowakenhut sah mit einem Ausdruck von Sorge forschend in die Züge der neu Ankommenden, suchte auch wohl ihren Reitknechten einige Worte abzugewinnen, sprach einen oder den andern der Stallmeister und Bereiter an, deren er beim Aus- und Eingehen habhaft werden konnte, aber, wie es schien, immer vergebens, denn der Unmuth, der auf seinem Gesichte ausgeprägt lag, kehrte nach jeder solchen kurz abgebrochenen Conversation in erhöhtem Grade auf seine Züge zurück.
Mittag war längst vorüber. Neue Reiter, die ihre Pferde in der Reitbahn tummeln wollten, kamen nicht mehr; die, welche darin gewesen, zogen ab; die Bahn war fast leer geworden und das Personal schickte sich an, den Schauplatz seiner Thätigkeit zu räumen; da tauchte unerwartet noch eine kleine, aber glänzende Cavalcade auf dem Platze auf. Ein zierlich gebauter, freundlich aussehender alter Herr, dessen rothe Beinkleider sofort den kaiserlichen General ankündigten, ritt auf einem schönen Pferde von spanischer Zucht an der Spitze einer kleinen Gruppe von ein paar Adjutanten und Reitknechten, deren Einer ein Handpferd führte, herbei. Die Thore der Reitbahn flogen weit vor ihm auf. Die Bereiter und Stallmeister eilten herbei, ihn zu empfangen, und der alte Herr grüßte mit einem Kopfnicken so herablassend vornehm, wie ein König. Langsamen, gemessenen Schritts ritt er ein und warf sich dann sofort in die Bahn.
Er war ein vortrefflicher Reiter, der vornehme alte Herr. Der Mann im Zwillichkittel konnte es bezeugen. Er hatte sich mit dem kleinen Trupp in die Bahn begeben, und in dem Haufen der „Bastinbereiter“, „Stallübergeher“ und „Schulputzer“, die herangekommen, die Excellenz zu bewundern, wurde er geduldet, ohne daß man ihm Beachtung schenkte. Der General ließ seinen Spanier mit der vollendetsten Reitergewandtheit die Schule durchmachen; das edle Thier changirte, machte Volten, traversirte und arbeitete mit der Sicherheit eines Uhrwerks. Endlich hielt die Excellenz inne, wandte sich in die Mitte der Bahn und ließ das mitgebrachte Handpferd, einen Fuchs, der währenddeß ungeduldig den Sand gestampft, sich gebäumt und alle Zeichen eines schwer zu bändigenden Naturells gegeben hatte, vorführen.
„Chacun à son tour,“ sagte er, indem er einem Bereiter winkte, „versuche Er jetzt den Alezan da! Ich habe ihn gestern aus Ungarn bekommen! Mais, je vous le dis – il a le diable au corps!“
Der Bereiter eilte dienstfertig herbei, und obwohl der schlanke hochbeinige Fuchs, als jener nach dem Mähnenhaar greifen wollte, einen solchen Seitensatz machte, daß der Piqueur Mühe hatte, ihn zu halten, war der gewandte Reiter doch bald im Sattel. Der Piqueur ließ die Zügel los; das Pferd stieg augenblicklich steilrecht in die Höhe, machte eine Lançade, bockte, und – der Bereiter flog weit ab in den Sand! Zehn Hände haschten nach den Zügeln des ausbrechenden Pferdes. Der Abgeworfene sprang auf und klopfte Flüche murmelnd den Staub von seiner Uniform; er machte Miene, sich wieder aufzuschwingen.
„Laß Er’s halt nur gut sein,“ rief lachend die Excellenz, „laß Er’s einen Andern versuchen!“
Ein Stallmeister war schon im Eifer, die Ehre der Bahn zu vertreten, herangesprungen; trotz der Unbändigkeit des Pferdes brachte er den Fuß in den Bügel und schwang sich auf. Einmal oben, saß er fest wie angeklammert. Er drückte dem Fuchs sanft und behutsam die Weichen, um ihn in Bewegung zu setzen – die Bewegung läßt nicht auf sich warten, nur ist sie leider so furchtbar heftig und gewaltsam, daß eine Secunde später der Stallmeister alle Vier von sich streckend da lag, wo eben der Bereiter lag.
„Kreuzschockschwerenoth!“ rief der Mann zornig aus, indem er aufsprang und sich die verrenkte Schulter rieb, „da meint man ja, man sitzt auf einem Pulverfaß, das mit einem in die Luft geht, und nicht auf einem Gaul!“
[562] Die Excellenz schilt und flucht jetzt deutsch und französisch durcheinander. Da tritt unser Mann im Kittel und Slowakenhut zu einem der Stallmeister und sagt mit bescheidenem, fast demüthigem Tone:
„Würden Sie mir nicht von dem Herrn General die Erlaubniß erbitten, das Pferd zu reiten?“
„Ihm?“ versetzte der Angeredete verwundert, indem er den Fremden vom Kopf bis zu den Füßen maß.
„Ich würde schon damit fertig werden,“ antwortete der letztere, „lassen Sie mich nur darauf!“
Die Excellenz hatte ihn in’s Auge gefaßt. „Was will der Mensch?“ rief er dem Stallmeister zu, „– auf den Fuchs? Nun, so laßt ihn, vielleicht gibt der hannakische Bauer der kaiserlichen Manége eine Lection.“
Der Fremde hatte den großen Hut, den er in der Hand gehalten, schon weggeworfen; er strich jetzt das dunkle, dichte Haar aus der Stirn, und indem er sich dem Pferde näherte, ließ er es von den zwei Reitknechten, die es hielten, mehr abseits, von den Zuschauern möglichst entfernt, führen. Dann suchte er es durch Zureden und Streicheln zu beruhigen, und nachdem dies gelungen schien, machte er einen weiten Bogen, der ihn mehrere Schritte weit hinter das Pferd brachte, nahm einen kurzen Anlauf und mit einer bewundernswürdigen Turnergewandtheit schwang er sich mit einem mächtigen Satze über des Pferdes Croupe in den Sattel.
„Alle Wetter, wie springt der Kerl!“ rief die Excellenz verwundert aus.
Der Fuchs bäumte sich sofort, aber er ließ sich von dem Reiter beschwichtigen; er scheute wenigstens nicht und machte keine Seitensätze, um seine Last fortzuschleudern, er schien sich darein zu ergeben, in des Mannes Hand und Gewalt zu sein, der Besitz von ihm genommen; vielleicht auch war er durch den früher geleisteten Widerstand ermüdet. Jedenfalls hatte der Fremde richtig beobachtet, er hatte wahrgenommen, daß das Thier vor denen scheute, welche rasch und aufgeregt an seine Seite traten und ihm die Absicht verriethen, es zu besteigen; darum hatte er den kühnen Satz über die Croupe gemacht.
Der Fuchs ließ sich jetzt in die Bahn führen und ließ ahnen, daß nicht jeder gute Keim zu Gehorsam und Zucht in ihm erstickt sei. Wohl gab es von Zeit zu Zeit kleine Störungen in dem sich anbahnenden guten Einvernehmen zwischen Roß und Mann; jenes schien namentlich nicht ganz über den passendsten Gebrauch seiner vier Beine mit sich einig zu sein und von Zeit zu Zeit von der Idee befallen zu werden, die vorderen seien nur dazu da, mit ihnen in der Luft Entrechats zu schlagen; aber die Geduld und Ruhe des Reiters, verbunden mit einer unerschütterlichen Festigkeit im Sitz, brachte es immer wieder zu einem baldigen Friedensschluß.
Der General sah mit Vergnügen, das Stallpersonal nicht ganz angenehm überrascht dem Schauspiel zu.
Der Fremde führte endlich das bezwungene, schweißbedeckte Ungeheuer in die Mitte der Bahn, dem General gegenüber, sprang leicht aus dem Sattel und machte der Excellenz eine ruhige Verbeugung, mit dem Anstande eines wohlerzogenen Mannes. Der General winkte ihn heran.
„Brav, brav,“ sagte er in seinem gebrochenen Deutsch, „man sollte meinen, Er sei ein verkappter englischer Reiter, der sich einen Spaß mit der kaiserlichen Manége machen will! Nun, jedenfalls hat Er gezeigt, daß der Fuchs zu bändigen und zu schulen ist; ist mir sehr lieb; da nehm’ Er!“
Die Excellenz war mit der schmalen Hand in die Tasche der tief herabhängenden gestickten Weste gefahren und hatte wie eine Prise daraus vier oder fünf nagelneue, funkelnde Kremnitzer Dukaten herausgeholt, die er dem Fremden reichte.
Dieser trat bescheiden einen Schritt zurück.
„Halten zu Gnaden, Excellenz,“ sagte er, „ich bin, wie Sie sehen, ein armer Teufel, den die Noth und der Hunger zwingen, hier einen Herrendienst als Bereiter, oder was es irgend sein mag, zu suchen. Aber ich bin kaiserlicher Officier, und Ew. Excellenz werden mir deshalb vergönnen, ein Trinkgeld abzulehnen.“
„Officier? Er ist Officier?“ fragte der General überrascht aushorchend. „Wie ist das möglich? Expliquez-vous!“
„Ich heiße,“ versetzte der Fremde, „Joseph von Frohn, bin Oberlieutenant bei Prohasca-Dragonern, habe die Feldzüge gegen die Preußen mitgemacht und wurde gefangen in der Schlacht von Liegnitz. Mit vielen Tausenden von andern Kriegsgefangenen wurde ich nach Magdeburg geschickt, das damals eine sehr schwache Besatzung hatte. Dort habe ich die Cameraden für einen Versuch gewonnen, die Festung in Besitz zu nehmen; das ist uns nicht ganz gelungen, obwohl wir die Stadt in unsre Gewalt gebracht haben. Aber wir haben das Gouvernement gezwungen, uns mit den Waffen, die wir genommen, und mit einem Zehrgelde, das uns ausbezahlt wurde, frei abziehen zu lassen. Ich bin zu meinem Regimente nach Böhmen zurückgekehrt und wegen meines Verhaltens in Magdeburg zum Rittmeister befördert worden, habe aber das Patent nie erhalten, denn ein unglückliches Gefecht bei Landshut ließ mich vorher wieder in preußische Gefangenschaft gerathen. Ich wurde nun nach Kosel gebracht, und da man zum Unglück in mir den Mann von Magdeburg erkannte, so bin ich dort auf das Abscheulichste behandelt worden. Ich wage jedoch nicht, Ew. Excellenz mit der Erzählung der Quälereien aufzuhalten, die man mir in diesem schrecklichen Kosels’chen Sumpfloch angethan hat. Der Hubertusburger Friede hat mich dann gerettet; ich wurde mit andern Cameraden nach Breslau abgeführt und dort nach Nachod instradirt, ohne einen Pfennig Wegzehrung ausbezahlt zu bekommen, und gekleidet wie ein Zuchthäusler.
„So habe ich mich,“ fuhr der unglückliche Officier zu erzählen fort, „als Bettler durchschlagen müssen. In Nachod habe ich wenigstens bei einem Bürgersmann so viel Barmherzigkeit gefunden, daß er mir die Kleider, die ich hier trage, schenkte, und dann habe ich mich weiter durch Böhmen und Mähren durchgeschlagen, hierher, weil ich hier mein Regiment finden mußte. Das Regiment steht auch hier, als ich mich aber auf der Adjutantur meldete, und die Stammrolle nachgeschlagen wurde, fand sich bei dem Namen Frohn der Zusatz: „Geblieben vor dem Feind.“ Man hat mir deshalb den Wiedereintritt verweigert; in meine Stelle war bereits ein Anderer eingerückt; die Regimenter sind sämmtlich wegen des Friedens reducirt, und weil ich der Stammrolle nach todt bin, will man mir auch keine Entlassung und keine Pension geben; beim Oberst-Inhaber bin ich gar nicht vorgelassen worden.“
Die Excellenz unterbrach hier die Erzählung mit einem französischen Fluche.
„Aber ist das ein Unglück!“ rief er aus, „pauvre diable que vous êtes … von Seiner Magdeburger Affaire hab’ ich gehört, ich entsinne mich dessen … ce sont des miserables qui vous traitent ainsi … mais,“ fuhr er fort, seine goldene Uhr hervorziehend, „es ist Mittagszeit. Ich bin der Feldmarschall und Arcieren-Hauptmann Graf von Aspremont-Linden. Venez me trouver demain matin, wir werden weiter davon reden, en attendant donnez votre nom à mon piqueur!“
Die Excellenz nickte mit dem Kopfe, und während Frohn einem der Diener des Feldmarschalls seinen Namen wiederholte, verließ die Gesellschaft die Bahn; der ungarische Fuchs, zwischen zwei Reitknechten geführt, schloß den Zug.
Die Herren Bereiter und Stallmeister hatten aus einer respektvollen Entfernung die Unterredung mit angehört, und Frohn’s Erzählung hatte bei Einigen von ihnen etwas von dem Groll und Aerger verscheucht, womit sie auf den Mann blickten, der sie beschämt und gedemüthigt hatte. Nichtsdestoweniger zerstreuten sie sich jetzt, ohne sich weiter um ihn zu kümmern. Nur ein junger, blaß und etwas verlebt aussehender Mensch mit schönen dunklen Augen und feinen Zügen, der die Scholaren-Uniform der kaiserlichen Reitschule trug, trat auf ihn zu.
„Jetzt läuft Alles auseinander,“ sagte er mit einem gewissen gutmüthigen Humor, „und schaut halt, was die Frau Eheliebste zum Mittagessen aufgesetzt hat – wo der Herr von Frohn was zu essen bekommt, darum kümmern’s sich nicht, und ’s hat doch keiner mehr a guten Bissen verdient … wissen’s was, essen’s mit mir, und nachher sorg’ ich auch schon für ein Unterkommen auf die Nacht!“
Der Officier im Zwillichkittel sah ihn überrascht an; aber er hatte keinen Grund, die Einladung abzulehnen, und sehr dringende Gründe, sie anzunehmen. So ging er mit dem gutmüthigen Scholaren, der ihn in ein Speisehaus der Nachbarschaft führte und hier mit Vergnügen zuschaute, wie gut seinem Gaste die aufgetragen Gerichte, der gebratene „Lammshase“ und die „Kolatschen mit Bowidl“ schmeckten. Der junge Mensch, der sich Franz Fellhamer nannte und der, nebenbei bemerkt, trotz seiner Jugend eine bedeutende Uebung in der Vertilgung der aufgetragenen Weinforten verrieth, unterhielt ihn dabei mit großer Zungengeläufigkeit. Nach [563] und nach wurde es dabei Frohn ziemlich klar, daß er an ein echtes „Wiener Früchtl“ gerathen, das ein für sein Alter sehr beachtenswerthes Maß von Leichtsinn und Verwegenheit in sich entwickelt und vielleicht die Gesellschaft Frohns nur gesucht hatte, weil ihn eine andere nicht mit gleicher Bereitwilligkeit mehr aufnahm. Jedenfalls war er jedoch gutmüthig und Frohn nicht dazu bestellt, ihm Moral zu predigen. So blieben Beide im besten Verständniß, und der Letztere folgte dem hoffnungsvollen Jünger der Equitationskunst, als dieser gegen Abend ihn aufforderte, mit ihm zu kommen, und ihn einlud, in seinem elterlichen Hause das Nachtquartier zu nehmen.
Das elterliche Haus lag nicht weit entfernt, in der Maria-Hilfer-Vorstadt, in einer stillen Nebenstraße; neben dem Hause erstreckte sich eine Gartenmauer mit einem Thürchen darin. Franz klopfte ein paar Mal an dieses letztere; da er jedoch keine Antwort erhielt und Niemand öffnete, schritt er weiter und zog die Klingel der Hausthüre. Diese wurde gleich darauf behutsam geöffnet, und eine behäbige Gestalt in Schlafrock und Zipfelmütze, ein Mann in mittleren Jahren, trat auf die Schwelle.
„Ich bringe dem Herrn Vattern einen Stubenherrn für das leerstehende Quartier oben,“ sagte der junge Mensch mit großer Seelenruhe, und dabei auf Frohn deutend.
„Der Franzl ist’s?“ versetzte der würdige Bürger, wie es schien, nicht angenehm überrascht, und ein wenig ironisch. „’Nen Stubenherrn bringt der Franzl? Nun, der wird halt danach sein … ja, ich seh’s schon, es ist halt a saubrer Stubenherr, a …“
„Vatter, verschwätzen’s Ihna net,“ fiel Franzl warnend ein, „ein kaiserlicher Rittmeister ist’s, der Herr von Frohn, er sieht nur nicht danach aus, weil ihn die Preußen in der Gefangenschaft gehabt haben, und da hat er sich durchschlagen müssen bis hierher zum Regiment; er ist auf morgen in der Früh zum Feldmarschall Aspremont bestellt, und wann er zurückkommt, wird er halt schon anders ausschaun! Wenn Sie ’n aber nicht wollen, den Herrn von Frohn, mir ist’s schon Eins, der Herr Vatter mag thun, was er will – geruhsame Nacht!“
Nach dieser plötzlichen und für Frohn etwas unerwarteten Wendung des Gesprächs wandte sich der Franzl, begann eine Arie aus dem Idomeneo, Re di Creta, zu pfeifen und schritt ruhig davon die Gasse hinab.
„Der Nichtsnutz, der!“ murmelte der Mann im Schlafrock ihm nach; dann, sich zu Frohn wendend, sagte er: „Ist’s denn wahr, was er von dem Herrn da plauscht?“
„Es ist allerdings wahr,“ versetzte Frohn, „nur daß ich nicht in der Absicht gekommen bin, ein Quartier zu miethen, sondern weil der junge Mann, den ich in der Reitschule kennen lernte, mir zuvorkommend anbot, mich als Gast in sein elterlichen Haus zu führen. Ich bin leider in der Lage, eine solche Freundlichkeit nicht abweisen zu können, und bin deshalb ohne Arg mitgegangen. Entschuldigen Sie jedoch die Störung, Sie sehen, es ist meine Schuld nicht. Ich wünsche Ihnen guten Abend.“
„Nein, nein, wenn’s so ist,“ fiel der Bürger hier ein, in die Thüre zurücktretend, die er bisher mit seiner Gestalt verbarricadirt gehalten hatte, „und an Ihrer Sprache hört man’s schon, daß’s was Andern sind, als wonach’s ausschaun; an Unterschlupf auf d’Nacht mögen’s schon haben, treten’n ein, lassen’s Ihnen gefallen!“
Frohn folgte jetzt der Einladung des gutmüthigen Wiener Hausherrn. Dieser führte ihn über den Flur in ein Empfangszimmerchen und ging dann seine Frau zu rufen. Bald darauf erschien ein kleines, rundes, beweglichen Haussmütterchen, das den kaiserlichen Herrn Officier verwundert betrachtete und dann sehr mitleidig und gerührt nach seinen wundersamen Schicksalen auszufragen begann, bis der Herr im Schlafrock sich seines müden Gasten erbarmte und ihn nach oben in ein freundliches, auf die Gasse hinausgehenden Quartier brachte.
„Machen’s Ihna bequem hier,“ sagte der Herr Fellhamer, „und wenn Sie noch etwas wünschen …“
„Nichts, mein bester Herr,“ versetzte Frohn sehr zufrieden, „als daß ich morgen in die Lage komme, Ihnen diese zwei hübschen kleinen Stuben wirklich abmiethen und für längere Zeit Ihr Gast werden zu können!“
Es war acht Uhr am folgenden Morgen. Joseph von Frohn stand in einer Fensterbrüstung der Antichambre im Palais des Feldmarschalls; er war gekleidet, wie er gestern vor den Augen der Excellenz erschienen, im zerfetzten Zwillichkittel und in den zerrissenen Stiefeln, aber trotz dieses Costümes, wie es heute wohl zum ersten Male in diesen reichen Gemächern auftauchte, war er von Portier und Dienern ohne Weiteres eingeführt worden.
In dem Raume befanden sich mehrere Herren, Beamte, Bürger, Officiere, welche bei dem General Anliegen vorzubringen hatten und auf Audienz warteten. Sie alle maßen mit verwunderten Blicken den hochgewachsenen, ernst aussehenden Mann, der hier eingeführt war und doch nur ein Bettler sein konnte.
Eine Flügelthüre öffnete sich, und ein Kammerdiener trat heraus. Die Anwesenden drängten sich ihm rasch entgegen, aber er machte eine abwehrende Handbewegung gegen dieselben, ging auf Frohn zu und sagte:
„Excellenz wollen Sie zuerst sprechen. Kommen Sie!“
Frohn folgte ihm mit hochklopfendem Herzen in das Cabinet des Feldmarschalls. Der kleine Mann mit dem feinen echtfranzösischen Gesichte hatte eben seine Morgenchocolade geschlürft und die Tasse fortschiebend rief er lebhaft Frohn entgegen:
„Ah, c’est vous! Bon jour! Näher heran. Ich habe,“ fuhr er fort, wie gestern französische und deutsche Brocken durcheinander mengend, „ich habe Nachforschungen über Ihn angestellt. Er hat mir die Wahrheit gesagt. Er ist als todt aus der Musterrolle gestrichen – eh bien, was kann man dawider machen? Einen Todten kann ich nicht aufwecken, dan kann auch die Kaiserin nicht!“
„Aber, Excellenz,“ warf Frohn bescheiden ein, „einen Irrthum berichtigen, ein paar Worte ohne Sinn durchstreichen.“
Der Feldmarschall zuckte die Achseln. „Das geht nicht, mein Freund,“ sagte er; „solche Correcturen in der Stammrolle würden sehr schlecht aussehen; es ist wider die Ordnung, und man darf da nicht wie in ein Schülerheft hineinpfuschen!“
Frohn sah niedergeschlagen zu dem Feldmarschall auf oder vielmehr auf die kleine lebhafte Gestalt herab.
„Aber,“ fuhr die Excellenz fort, „ist Er denn so versessen darauf, durchaus wieder bei den Dragonern eintreten zu wollen? Wenn ich Ihn nun zu meinem Husaren-Regiment nähme?“
„Wenn Excellenz die Gnade hätten –“ rief Frohn freudig aus.
„Er müßte freilich als Lieutenant eintreten; aber man könnte schon dafür sorgen, daß Er bei guter Dienstführung rasch weiter käme. Mais voyons d’abord, pour ne pas faire des châteaux, wie sieht es mit der Equipirung aus?“
„Excellenz, ich habe nichts und ich kenne auch Niemand, den ich mit Hoffnung auf Erfolg um eine so bedeutende Summe angehen könnte.“
„Das ist schlimm, sehr schlimm,“ fiel die Excellenz ein, „so bleibt nichts übrig, als daß ich ihn in die Arcieren-Leibgarde aufnehme. Er hat da Lieutenantsrang und erhält sofort Alles geliefert, was zur Uniform und Ausrüstung gehört. Wäre Er damit einverstanden?“
„Wenn ich auch in der Lage wäre, wählen zu können, würde ich Ew. Excellenz doch für die Aufnahme in ein so privilegirtes Corps ewig dankbar sein.“
„Eh bien,“ antwortete der Feldmarschall, eine Klingel rührend, „so soll gleich für Ihn gesorgt werden!“
Der Kammerdiener trat ein und erhielt den Befehl, den Adjutanten hereinzuschicken. Als dieser kam, gab ihm der Graf den Auftrag, für die Einkleidung de Monsieur de Frohn zu sorgen.
„Monsieur de Frohn“, fügte er mit Nachdruck hinzu, „est un officier distingué j’espère que ses camarades de corps le traiteront avec toute la considération qui lui est due, et j’y veillerai!“
Der Adjutant machte gegen den Mann im Bettlerkleide eine höfliche Verbeugung und bat ihn, ihm zu folgen.
Der Feldmarschall entließ seinen Schützling mit freundlichem Kopfnicken.
„Wenn wir eingekleidet sind und den Dienst angetreten haben,“ sagte er, „werden wir uns melden. Er soll mir dann ausführlich seine Schicksale berichten.“
Der neue Gardist beurlaubte sich in militärischer Haltung von seinem wohlwollenden Chef und folgte dem Adjutanten, der ihn nach dem Hotel der Arcieren-Garde in der Vorstadt Landstraße führte und hier dem Premier-Wachtmeister des Corps vorstellte. Dieser gab ihnen einen Diener mit, der sie in eins der oberen Gemächer brachte, wo sich die Montirungskammer der Arcieren-Leibgarde [564] befand. Die beiden Männer hatten mit Hinzuziehung des Aufsichtsbeamten lange zu suchen, bis sie die für Frohns Gestalt passenden Equipirungsstücke unter den reichen Vorräthen gefunden hatten; endlich stand der schlanke, kräftige Mann in einer vollständigen Verwandlung da: in einem feinen Scharlachrock mit schwarzen Aufschlägen und goldenen Tressen und Achselschnüren, Beinkleidern von Büffelleder, die in hohen, mit Manschetten umgebenen Reiterstiefeln endeten; über dieser Uniform ein schwarzsammtner Flügelrock ohne Aermel und darüber eine Patrontasche am sammtnen Bandelier; ein dreieckiges Hütchen mit Tressen hatte den Schlapphut ersetzt, ein Degen und eine schöne, mit goldenen Nageln beschlagene Hellebarde bildeten die Bewaffnung.
Der Adjutant des Feldmarschalls sah lächelnd zu der stattlichen Gestalt auf; dann gab er seinem Begleiter die nöthigen weitern Anweisungen, und nach Verlauf von kaum einer Stunde sah sich Frohn als wohlbestallter Arcieren-Leibgardist Ihrer kaiserlich-königlichen apostolischen Majestät eingeschrieben, instruirt und in Eid und Pflicht genommen. Da in dem Hotel des Corps nicht sofort ein Quartier für ihn bereit war, so wurde ihm anheimgestellt, vorläufig in der Stadt zu wohnen. Er trat deshalb noch vor Mittag wieder unter das gastliche Dach des Herrn Fellhamer zurück, um sich contractmäßig in Besitz seines Nachtquartiers zu setzen, das ihm mit Vergnügen von dem erstaunten Hausherrn überlassen wurde. Der verkommene Gesell von gestern war heute für ihn eine Respectsperson von bedeutendem Gewicht. Denn ein Arcierengardist war in jener Zeit ein privilegirtes Wesen, wenn auch nicht mehr seine Hellebarde oder sein Flügelrock etwas von der Heiligkeit eines Altars hatten, wie in früheren Zeiten, wo ein zur Hinrichtung hinausgeführter Verbrecher, der einem Arcier begegnete und dem es gelang, seine Hellebarde oder seinen Flügelrock zu berühren, für diesen Tag seines Halses sicher war und in sein Gefängnis, zurückgeführt werden mußte.
Unser Held konnte mit seiner neuen Lage sehr zufrieden sein. Der Dienst war über alle Maßen leicht. Er bestand darin, bei Hoffesten, an Gallatagen, bei feierlichen Auffahrten von Botschaftern zu paradiren und einige Wachtposten in der inneren Hofburg zu besetzen. Durch diesen Nachtdienst wurden etwa wöchentlich vierundzwanzig Stunden in Anspruch genommen; die übrige Zeit konnte der neue Arcier seine glänzende Scharlachuniform im Prater, auf der Bastei oder auf dem Graben spazieren führen, oder die Stunden im Verkehr mit seinen Cameraden verbringen.
Nebenbei fand Frohn eine unterhaltende Beschäftigung darin, die häuslichen Verhältnisse seiner Wirthsleute zu beobachten. Die Verhältnisse seines Hauswirths hatten etwas, das einen jungen Mann zu dieser Beobachtung geradezu herausforderte. Sie schienen nämlich allseitig beherrscht von dem Einfluß, welchen ein unsichtbar bleibendes Wesen darüber ausübte, ein Wesen, das nie leibhaft vor seinen Augen erschien, das, in unnahbarer Zurückgezogenheit weilend, dem ganzen Haushalt ein Gepräge stiller Würde und gemessener Zurückhaltung auszudrücken schien, und das trotz seiner Nixenhaftigkeit den christlichen Namen Thereserl führte, ein Name, der übrigens in Frohns Gegenwart sehr selten erwähnt wurde, und immer beinahe nur wie in der Zerstreuung, als ob man just seine Anwesenheit vergessen habe.
Der „Franzl“ ließ sich übrigens auch bei Frohn nicht wieder blicken; doch fehlten die Spuren nicht, daß er sich fortwährend der süßen Gewohnheit des Daseins erfreue. Von Zeit zu Zeit wurde es lauter im Hause unten; es gab kleine Scenen und Wortwechsel. Wenn Frohn zufällig sich auf dem Gange vor seinem Zimmer befand, so vernahm er, daß die Ausdrücke von Meinungsverschiedenheit, die so lebhaft zu ihm heraufschwirrten, von dem gutmüthigen Manne mit großem Haarbeutel und rothblumigem Schlafrock, dem Hausherrn, von dem kleinen rundlichen Hausmütterchen und von dem hoffnungsvollen Franzl ausgestoßen wurden, welch Letzterer nicht im Hause wohnte, aber zuweilen mit der freundlichen Absicht darin auftauchte, in das stagnirende und lautlose Alltagsdasein, das diesen friedlichen häuslichen Heerd umgab, etwas Abwechselung und wohlthätige Erregung zu bringen. Weshalb Franzl nicht im Hause wohnte, erfuhr Frohn in seinen gelegentlichen Unterhaltungen mit der Hauswirthin nicht. Der Streit, den sein Kommen zu entflammen pflegte, wies am deutlichsten darauf hin, daß seine Aufführung sich nicht der Billigung seiner würdigen Erzeuger zu erfreuen hatte.
Unser Arcier hätte kein junger, über viel Zeit gebietender Mann sein müssen, wenn ihn nicht verlangt hätte, den stillwaltenden Hausgeist, das Thereserl, zu erschauen. Lange Zeit blieben seine Bemühungen vergeblich. Endlich aber, es mochte in der dritten Woche seines Aufenthalts im Hause sein, traf Frohn eines Abends das Thereserl einmal richtig unten in der Wohnstube an. Es war ein bildhübsches und dabei höchst anmuthiges Geschöpf; auch war sie mit großer Sorgfalt gekleidet, nicht auffallend, nicht geschmückt, aber mit jener einfachen und gediegenen Eleganz, welche den Damen der höheren Gesellschaftsclassen so wohl steht, wenn sie den guten Geschmack haben, sie breitspurigem Pomp vorzuziehen.
Das Thereserl war mittler Größe, hatte ein allerliebstes rundes Gesicht und ein Paar dunkle, feurige Schelmenaugen. Es erwiderte Frohns tiefe Verbeugung mit dem Anstand einer großen Dame. Es lächelte sehr anmuthig dabei, aber dies Lächeln hatte etwas Erzwungenes; auf dem hübschen Gesicht lagerte ein sehr großer Ernst. Auch der Papa im Schlafrock und die sonst so rührige Mama sahen heute mit einer Miene darein, als hätten sie eben mit ihrem feinen Töchterchen eine Unterredung über sehr wenig heitere Dinge gepflogen. Frohn nahm, nachdem er sich der Demoiselle vorstellen lassen, das Wort und suchte durch eine lebhafte Unterhaltung die peinliche Stimmung zu verscheuchen und zugleich das Thereserl zu fesseln, damit sie nicht sogleich seinen Augen verschwinde und sich wieder in ihr mysteriöses Elfenreich, das irgendwo in den nach hinten auf den kleinen Garten hinausgehenden Gemächern des Hauses liegen mußte, zurückziehe. Sie schien jedoch seinem Geplauder kein übermäßig großes Interesse zu widmen, sondern zu ihren offenbar nicht heitern Gedanken oder Sorgen zurückzukehren. Erst als die Hausfrau Frohn aufforderte, doch ihrer Tochter seine merkwürdige Flucht aus der Festung Magdeburg zu erzählen – er hatte seine Wirthsleute früher ein paar Abendstunden lang damit unterhalten – und als der Arcier sehr bereitwillig darauf einging, horchte das hübsche Kind auf, und endlich hingen ihre Blicke gespannt an seinen Lippen.
Als er geendet hatte, sah sie ihn noch lange aus ihren schönen Augen, aber mit einem Ausdruck an, der ihn jetzt wieder glauben lassen mußte, sie habe gar nicht gehört, was er gesprochen, sondern sei einzig mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt und darin verloren.
Wie aus ihrem Sinnen erwachend, sagte sie endlich im reinsten Wiener Dialekt, der von ihren kirschrothen Lippen ganz allerliebst lautete:
„So brav san’s – und so solid san’s a, wie d’ Herrn Eltern sog’n – schaun’s, das mog i halt!“
„Die Demoiselle ist zu gütig gegen mich,“ erwiderte Frohn, sich lächelnd gegen sie verbeugend.
Das Thereserl erröthete über ihre Lebhaftigkeit. Nach einer Weile, während der alte Herr im Schlafrock seine unmaßgeblichen Gedanken über Frohn’s Geschichte verlautbarte, stand sie auf und verschwand, gefolgt von der Mama, die nach ihr die Stube verließ.
Frohn hatte nun also doch das schöne Kind mit eigenen Augen gesehen und sich überzeugt, daß sie nicht etwa eine poetische Illusion und keine unsichtbare Titania sei, die durch Zaubereinflüsse das stille Haus regiere. Und damit war der Bann gebrochen, der sie für ihn bisher umgeben hatte; er sollte sie viel früher wiedersehen, als er gehofft hatte.
Die Befreier Siciliens.
Wir geben hier, nach einer Zeichnung des Künstlers, welchen die „Illustrated London News“ nach Sicilien geschickt hat, die Portraits Einiger der „Befreier Siciliens“, in ihren eigenthümlichen bequemen Uniformen, um Garibaldi, den modernen Ritter ohne Furcht und Tadel, gruppirt. Die Geschichte dieses Helden ist unsern Lesern bekannt. General Stephan Türr ist ein Ungar, stammt
[565][566] aus einer angesehenen Familie und ist 35 bis 36 Jahre alt. Er diente in der österreichischen Armee bis zu dem ungarischen Aufstand, dem er sich anschloß. In dem Kriege der Westmächte gegen Rußland trat er in englische Dienste, wurde in Bucharest trotz seiner englischen Uniform von den Oesterreichern gefangen und sollte gehängt werden, erhielt aber durch Einschreiten Englands seine Freiheit wieder. Er kämpfte darauf den Krimkrieg bis zu Ende mit durch, nach dem Frieden ging er zu den Tscherkessen, bis der italienische Krieg ausbrach, der ihn zu Garibaldi führte. Bixio ist eigentlich Seemann, als aber der Ruf zu den Waffen 1848 in Italien ertönte, schloß er sich sofort in Rom Garibaldi an, von dem er sich seitdem nicht mehr getrennt hat. Carini, ein geborner Sicilianer, zeichnete sich bei der letzten Revolution seines Vaterlandes aus, ist außerordentlich tapfer und kam nach einer Verbannung von zwölf Jahren zurück, um von Neuem sein Blut für die Freiheit Italiens zu vergießen.
Ein deutsches Milizheer!
„So lange zwischen Euren adeligen Officieren und den gemeinen Soldaten eine unübersteigliche Kluft besteht, werden jene auf diese keinen heilsamen Einfluß ausüben können, wird der Gamaschendienst und das Exercir-Reglement jede gesunde Luft paralysiren. Ihr werdet nur freie Männer zum Siege führen, oder Ihr werdet die Sieger nicht geführt haben.“
Commandirender des dritten Armee-Corps.
Jeder Gebildete kennt die tiefgewurzelten schweren Gebrechen, welche von den stehenden Heeren unzertrennlich sind. So lange sie bestehen, muß man täglich sie angreifen und auf das Bessere hinweisen. Auch die Gartenlaube darf sich dieser Aufgabe nicht entziehen. Mit Zahlen und Thatsachen wollen wir die tausendfachen Mißstände und Mißbräuche nachweisen.
Schon vor 1854 war der Bestand der stehenden Heere Europa’s 3,705,000 Mann zu Lande, 219,500 Mann auf den Flotten. Von dieser Masse (jetzt etwa 4 Mill.) befindet sich jeweilen nur die kleinere Hälfte im Urlaub. Außerdem sind noch 1,762,000 Milizen und milizartige Truppen in Anschlag zu bringen. Der gesammte Staatsaufwand betrug damals in Europa ungefähr 1815 Mill. Thlr. preuß., sodaß bei einer Bevölkerung von 267 Mill. ungefähr 34 Thlr. auf die Familie kamen. Ziemlich ein Drittel aller Ausgaben, nämlich fast 587 Mill. Thlr., oder fast 11 Thlr. auf die Familie, wurde von den eigentlich militärischen Zwecken verschlungen. Gegenwärtig sind die Gesammtkosten der Land- und Seemacht schon auf 670 Mill. Thlr. angewachsen, wohlverstanden, für den Friedensfuß! Die Rechnung stellt sich aber noch ganz anders, wenn wir die unmittelbaren volkswirthschaftlichen Nachtheile der unproductiven ständigen Bewaffnung in’s Auge fassen. Der schwerste dieser Nachtheile ist das Arbeitsversäumniß der Mannschaft. Rechnet man als Arbeitslohn im kräftigsten Alter blos 10 Sgr. und 300 Arbeitstage, so beträgt (bei 2 Mill. unter dem Gewehr stehender Soldaten und bei 400,000 Pferden) der jährliche Verlust an 240 Mill. Thlr., wozu noch der Arbeitsverlust der Milizen mit ungefähr 6 Mill. Thlr. tritt. In zweiter Linie stehen noch andere Nachtheile, als Einquartierungslasten, Zulagen der Familien an ihre dienenden Angehörigen, Stellvertretungssummen, Selbstausgaben der Milizen, außerordentliche Mobilisirungen im Frieden etc. Die Kosten für alles dergleichen können auf 107 Mill. Thlr. veranschlagt werden. Demnach ergibt sich, mit jenen 670 Mill. zusammen, gegenwärtig ein jährlicher Gesamtaufwand Europa’s für den Krieg im Frieden bis zu der ungeheuren Summe von 1023 Mill. Thlr., oder 19 Thlr. auf die Familie.
Eine ganze Reihe mittelbarer volkswirthschaftlicher Nachtheile läßt sich gar nicht in Zahlen ausbringen, berührt aber gleichfalls die wichtigsten Interessen der Gesellschaft. Dahin gehören: Ungleichheit in der Vertheilung der Militär- und Abgabenlasten, Abdrängung der Industrie auf unnatürliche Bahnen, Verkümmerung des freien Verkehrs unter den Völkern („Freihandel und Militärherrschaft schließen einander gegenseitig aus“), Bedrückung der arbeitenden Classen, Beförderung der Verarmung. So ist denn aus dem Wehrstand ein böser Zehrstand geworden und eine wahre Landplage für den Nähr- und Lehrstand. Würde der Druck der Militärlasten beseitigt und andererseits die Freiheit der Arbeit und des Erwerbs anerkannt, so wäre damit die sociale Frage fast gelöst. Gegenüber den Militärstaaten sind die Schweiz und die Vereinigten Staaten die beredtesten Zeugen; bei stehenden Heeren hätten sie sicherlich nicht die jetzige Stufe ihres Wohlstandes erreicht. Ihnen zunächst steht England, wo wenigstens nur Geworbene dienen.
Blicken wir nun auf die den Truppen selbst erwachsenden Nachtheile, so fällt uns eine erschreckende Menschenverschwendung in die Augen. Die Conscription wirkt verheerender als Pest und Cholera. Ungesunde Lebensweise, Zusammenpfropfung in Casernen, körperliche Überanstrengung und Aufreibung führt häufige Erkrankung herbei und rafft viele Leute fort, besonders die der Einreihung nicht entgangenen Schwächlichen und Untauglichen.
Die Sterblichkeit unter den Soldaten ist sogar im Frieden um die Hälfte größer, oft doppelt so groß, als bei der übrigen Bevölkerung, obgleich sie den eigentlichen Nahrungssorgen entrückt sind und ursprünglich doch meist nur die Kräftigern zum Dienst genommen werden. Im Kriege vollends werden durch Krankheiten weit mehr Soldaten getödtet, als durch feindliche Waffen. Am günstigsten ist das Sterblichkeitsverhältniß noch in Preußen, wegen der kurzen Dienstzeit. Frankreich dagegen verliert im Frieden jährlich etwa zwei Soldaten auf einen Bürgerlichen, und Rußland gar begräbt jedes Jahr 40 bis 50,000 Opfer des bewaffneten Friedens. Nicht selten auch treibt die Verzweiflung den Soldaten zum Selbstmord.
Kann man sich noch wundern, daß allenthalben die Klagen über zunehmende physische Verschlechterung der Bevölkerung immer lauter werden? Auch hierin, wie in vielen andern Gebrechen, schreitet Frankreich „an der Spitze der Civilisation“. Das Militärmaß mußte wiederholt herabgesetzt werden. Die immer geringer werdende Zahl der Dienstfähigen beträgt in Frankreich kaum noch 50 Procent. Die Schweiz dagegen weist 75 Procent auf; sie hat 316,500 Dienstfähige von 20 bis 44 Jahren, und 450,000 von 18 bis 59 Jahren.
Bei den Ausgedienten ist die Arbeitsfähigkeit und Arbeitslust oft geschwächt oder verloren; sie wurden ja der besten und schönsten Jugendjahre beraubt, ohne irgend entsprechende Vergütung. Für die vollständige Unfreiheit und den stündlichen Zwang wird der „weiße Mann“ in zweierlei Tuch mit dürftiger Nahrung und kümmerlichem Sold abgefunden. Trotz aller Abschaffung der Frohnen legt ihm der Staat eine Steuer auf und übt fortdauernd Eigenthumsraub, indem er ihn für seine Leistungen durchaus nicht angemessen entschädigt. Die Kosten der Stellvertretung geben den Maßstab der Summen ab, welche die Regierungen jährlich ihren Heeren schuldig bleiben. Ein Stellvertreter in Friedenszeit kommt, sehr gering gerechnet, auf 55 Thlr. zu stehen. Es kommen demnach 3 Millionen stehender Soldaten jährlich um 165 Mill. Thlr. Im Kriege, der den Marktpreis der militärischen Dienste verdoppelt, wird jeder Soldat um etwa 110 Thlr. jährlich verkürzt.
Wenn die ständige Bewaffnung schon im Frieden ein Krebsschaden ist, so erreicht der Unverstand im Kriege seinen Gipfel. Alsdann ist die wirthschaftliche und sittliche Verwüstung bei Siegern und Besiegten schrankenlos. Ein frisches Beispiel, um sich von dem Kriegsschaden eine ungefähre Vorstellung zu machen, bietet der letzte orientalische Krieg. Er wüthete 28 Monate, um fast ohne irgend ein Ergebniß zu enden. In seiner Bilanz ist das Haben Null, das Soll folgendes. Es gingen zu Grunde: 1/2 Mill. Soldaten und 1/4 Mill. bürgerlicher Bevölkerung; dieser Verlust beträgt capitalisirt 427 Mill. Thlr. Zerstörungen und Opfer aller Art dürfen mindestens auf 266 Mill. Thlr. veranschlagt werden. [567] Die Kriegskosten selbst sind nachweislich bis zu der riesigen Summe von 1889 Mill. Thlr. angewachsen; darunter glänzt eine Vermehrung der Staatsschulden um 1399 Mill. Thlr., zu deren Verzinsung jährlich etwa 65 Mill. Thlr. ausgebracht werden müssen. Summa des unmittelbaren Kriegsschadens: 2582 Mill. Thlr. In zweiter Linie aber marschiren noch die mittelbaren Verluste auf, als: Verringerung der Production, Störung des Handels, Entwerthung der Papiere, Vertheuerung des Brodes und der wichtigsten Lebensmittel. Diese Vertheuerung, nur auf 4 bis 5 Pfennige für das Pfund veranschlagt, ergibt während zweier Jahre eine Mehrbelastung der europäischen Bevölkerung mit 2133 Mill. Thlr. Das Uebrige läßt sich nicht in Zahlen abschätzen. Doch schon aus den genannten Posten bildet sich als Hauptsumme des unmittelbar und mittelbar vom orientalischen Kriege angerichteten Schadens: 4715 Mill. Thlr. Legt man ihn als Kriegssteuer in ganz Europa um, so treffen auf jede Familie etwa 90 Thlr. Schade, daß Kaiser Nicolaus sich nicht entschloß, den Kaiser Napoleon „Bruder“ statt „Vetter“ zu betiteln! Der Kriegsmoloch begnügt sich nicht mit den Opfern, die ihm während des Kampfes hingeworfen werden. Er frißt immer fort, auch wenn er todt ist. Ohne von den empfindlichen Nachwehen der Gewerbe und des Handels zu reden, genießen wir in den Staatsschulden eine höchst fühlbare Fortwirkung der Kriegslasten im Frieden. Die größtentheils aus Kriegen entstandenen Staatsschulden Europa’s betragen gegenwärtig ungefähr 16,000 Mill. Thlr., die mit etwa 640 Mill. verzinst werden müssen.
Fassen wir den jährlichen Militäraufwand Europa’s (1023 Mill.) und die Verzinsung der Staatsschulden zusammen, so erblicken wir ein jährliches Budget von 1663 Mill. Thlrn., die fast ganz nutzlos vergeudet werden. Da das gesammte Einkommen der europäischen Staaten nicht viel über 1800 Mill. beträgt, so bleiben für alle andern Zwecke, für die wahren Bedürfnisse der Gesellschaft, etwa 150 bis 160 Mill. Thlr. übrig. Und das nennt man Blüthe der Civilisation! Indeß wollen wir an der Hoffnung festhalten, daß auch dieser Unsinn durch sein Uebermaß curirt werde. Die politischen und socialen Gefahren des stehenden Heerwesens werden immer drohender. Durch den unerträglichen Druck der Militärlasten wird die Unzufriedenheit der Massen fort und fort genährt. Die Zwangssoldaten selbst, statt immerfort „die Gesellschaft zu retten“, werden einmal sich selbst mitsammt der wirklichen Gesellschaft retten. Sogar ihre Kriegsherrn konnten sich nicht ganz der Wahrheit verschließen; 1814 und 1815, nachdem die Welt alle Genüsse des Militärluxus gründlich durchgekostet, versprachen fast alle Regierungen Abschaffung der Conscription. Dies Versprechen hatte freilich das Schicksal vieler anderer Versprechungen, und die Soldatenpresse dauert noch heute lustig fort, bis sie einmal ein Ende mit Schrecken nimmt. Die unzweideutigsten Beweise des Abscheus vor den Militärfrohnen haben noch keine Reform zu Wege gebracht. Gerade solche Regierungen, welche die bittere Erfahrung von Militärrevolutionen und Truppenabfällen gemacht haben, sind am eifrigsten erpicht, sich immer wieder auf Zwangsbajonnete zu setzen. Den in den meisten Armeen so häufigen Desertionen glaubt man durch verschärfte Strafen abhelfen zu können; trotz aller Erfolglosigkeit wird das System nicht gemildert. Eben so wenig Belehrung schöpfen die Machthaber aus den hartnäckigen und verzweifelten Anstrengungen und Kunstgriffen der vielen Tausende, welche sich dem verhaßten Zwangsdienste zu entziehen suchen und vor der Uniform bis an’s Ende der Welt fliehen. Der Loskauf wird bereits im großen Styl betrieben; dafür werden die schwersten Opfer nicht gescheut. Die Selbstverstümmelung ist so häufig geworden (Oesterreich hatte 1854 nicht weniger als 1414 Fälle), daß die Regierungen sie für wirkungslos erklären und die Unglücklichen brauchen, wozu sie noch gut sind. Besonders ausgedehnt ist seit geraumer Zeit die heimliche Auswanderung, durch welche ein Theil der kräftigen Jugend dem Militärjoch entrinnt, trotz der Vermögensbeschlagnahme und anderer strenger Strafen, trotz der starken Bande, welche den Menschen an die Heimath fesseln. So wanderte in der Pfalz während der beiden Jahre 1853 und 54 fast die Gesammtzahl der militärpflichtig Gewordenen, 9341 junge Männer, mit 11/2 Mill. Gulden heimlich aus.
Solche Zustände mahnen laut genug, nicht länger das Wesen in der Form, die Regierten in der Regierung auf- und untergehen zu lassen. Die allgemeine Unmündigkeit, welche zum Vortheil unserer Vormünder gewaltsam aufrecht gehalten wird, muß mit innerem oder äußerem Verfalle enden, wenn man nicht endlich einmal so viel Verstand und Herz auftreibt, um vom Staate alles wegzustreichen, was nur „zum Staate“ ist. Gibt es aber etwas Ueberflüssigeres und zugleich die Grundlagen der Gesellschaft ärger Untergrabendes, als den soldatischen Zwangsdienst? Mit vollem Recht nannte ihn Chateaubriand „die Gesetzgebung der Hölle“. Tiefste Beherzigung verdienen die Worte, mit denen Schulz-Bodmer seine „Militärpolitik“ schließt: „Von dem Augenblicke an, da die militärische Conscription aufgehört hat, sind – wie schon lange die Briten, Nordamerikaner und Schweizer – alle Völker Europa’s freie Völker geworden: die Franzosen und Deutschen, wie Italiener, Polen, Magyaren und Griechen. Von demselben Augenblicke an sind die Fesseln des Welthandels gebrochen, und der freie Handel breitet seinen wachsenden Segen über die Länder der Erde. Wird zur Unterhaltung zahlreicher stehender Heere nicht mehr das Gut der Völker in maßlosem Umfange verschwendet, so ist zugleich jede Bedrückung der Industrie und des Handels überflüssig und darum unmöglich geworden. Mit der Abschaffung des soldatischen Zwangsdienstes ist freilich auch der eitle Schimmer und das glänzende Elend des Militärdespotismus verschwunden. Aber die Periode der Freiheit und des Friedens, der Ordnung und des leiblichen, geistigen und sittlichen Gedeihens der Nationen hat begonnen. Um so größer ist der Ruhm derjenigen Regierung, die zuerst die entscheidenden Schritte thun wird für die Aufhebung der weißen Sclaverei in Europa, für die Erlösung der Völker und Heere aus den Banden der „Gesetzgebung der Hölle“.“
Was soll aber aus den Staaten ohne Heere werden? Wie soll ein Land sich ohne Soldaten vertheidigen? So fragt der militärische Schlendrian und das bürgerliche Philisterium. Wir sind vollkommen einverstanden, daß man sich gegen feindliche Angriffe vertheidigen muß. Wir verlangen aber, daß dies ernstlich und gründlich geschehe, daß man den Krieg nicht als Lotteriespiel betrachte, sondern mit der Gewißheit des Sieges in den Kampf gehe.
Es gibt drei Systeme der Landesvertheidigung. Das erste, einfachste und wohlfeilste System ist, gar nichts zu thun. Der Feind ist dann sofort unser Freund, und wir brauchen nur alle seine Wünsche zu erfüllen, um uns jede Vertheidigung zu ersparen. Wir machen Honig für jeden Bären, der Lust hat, ihn zu verspeisen. Diesem System der christlichen De- und Sanftmuth hat kürzlich Coemans in der belgischen Kammer einen classischen Ausdruck gegeben, indem er erklärte: „Wehrlosigkeit ist die beste Vertheidigung.“ Auf gleichem Standpunkt engelhafter Bescheidenheit befinden sich die schwärmerischen Friedensfreunde, die uns täglich ausführlich beweisen, daß der Friede viel besser und schöner als der Krieg sei. Nach Cobden, Bright und Comp. wird der Wolf bitter verleumdet: er will die Schafe nicht fressen, sondern nur umarmen. Diese Herren sollten übrigens nicht auf halbem Wege stehen bleiben. Ihr Staat ist nichts als ein Staat von Privatmenschen, folglich ein Widerspruch. Bei der absoluten Friedenstheorie braucht man gar keinen Staat. Das erste System überlassen wir allen, die lieber Amboß als Hammer sind.
Das zweite System der Landesvertheidigung ist das der stehenden Heere. Es ist das kostspieligste und doch unwirksam, weil es das System der halben Wehrhaftigkeit ist. Manche Staatsmänner und Militärs, wenn sie auch die Conscription als das Grundübel Europa’s erkennen, entschuldigen sie doch mit der Nothwendigkeit, gegen das Ausland gerüstet sein zu müssen. Dies ist schon deshalb grundfalsch, weil es den kleinern Staat der Gnade des größern preisgibt. Achtzehn Millionen müssen im technisch-militärischen Duell gegen sechsunddreißig den Kürzern ziehen. Aber auch bei gleichen Kräften ist oft der Kampf ungleich, wenn Geschicklichkeit und Uebung auf der einen Seite überwiegt. Der orientalische und der italienische Krieg haben wieder die alte Erfahrung glänzend bestätigt, daß die geschultesten Heere geschlagen werden können.
Unüberwindlichkeit gewährt einzig und allein das dritte System, dasjenige der vollen Wehrkraft, das Milizsystem. Die größtmögliche Steigerung der Vertheidigungskraft gegen freche Angriffe und Eroberungsgelüste besteht in der allgemeinen Bewaffnung und Wehrhastigkeit. Wo sie durchgeführt ist, da kann auch ein kleines Volk mit Glück der Uebermacht Widerstand leisten.
Staatsmänner und Militärs, welche sich über die alltäglichen Vorurtheile des Handwerks zu erheben verstanden, haben selbst das [568] Uebergewicht der Milizheere über stehende Heere anerkannt. Der bewährte Kriegsmeister Radetzky erklärte: „Die zuverlässigste Stärke des Staats beruht auf zweckmäßig gebildeten Landwehren, und nur dadurch kann sich ein Volk unüberwindlich machen.“ Was der große Scharnhorst und seine edlen Genossen auf diesem Gebiete gedacht und geschaffen haben, bedarf keiner weitern Ausführung; ihrer volkstümlichen Wehrverfassung verdankte Preußen und Deutschland seine Befreiung aus schmachvollem Joche. Die ausgezeichnetsten Militärschriftsteller, wie Clausewitz, Valentini, Rüstow, haben auf’s Eindringlichste dem Milizsystem das Wort geredet.
Die Grundzüge des Milizsystems sind einfach, wie die Wahrheit immer ist. Die beste Vorstufe der allgemeinen Wehrhaftigkeit bildet die militärische Jugenderziehung in Verbindung mit dem Turnwesen; die militärische Ausbildung geht am leichtesten, raschesten und wohlfeilsten von Statten, wenn sie schon in der Jugendzeit beginnt. Die Einübung sämmtlicher Waffenfähigen mit jährlichen zeitweisen Uebungen liefert den unerschöpflichen Stoff des größtmöglichen Landesheeres. Zum Behuf dieser Einübung, sowie der Ausbildung guter Officiere und der Pflege der Kriegswissenschaft müssen oder können kleine ständige Kerne und Rahmen von freiwilligen Soldaten nebst Officieren unterhalten werden. Sobald ein Aufgebot erforderlich wird, werden die Rahmen von der bereits eingetheilten eingeübten Mannschaft ausgefüllt. Da aber bei einer volksthümlichen Wehrverfassung jeder Krieg sofort ein Volkskrieg wird, so muß auch der Landsturm zur Unterstützung des activen Operationsheeres in geeigneter Weise verwendet werden. Als sonstige Hauptbedingungen für glückliche Erfolge eines Milizheeres, seiner eigenthümlichen Natur entsprechend, betrachtet Schulz-Bodmer: im Anfange des Krieges vorsichtige Beschränkung auf die reine Vertheidigung; zeitige Befestigung der natürlichen Vertheidigungslinien des Landes; eine beschränkte Theilnahme des Volksheers an der Wiederbesetzung der im Kriege erledigten Führerstellen aus der Zahl der ihm als befähigt bezeichneten Candidaten, aber nur soweit das unmittelbare Interesse der Mannschaft reicht, also nicht über die Grenzen der Compagnie hinaus; möglichste Verstärkung des activen Volksheeres gleich im Anfang; volle und zweckmäßige Belohnung der Wehrmänner.
Soll die Raserei der Angriffskriege vermindert und beseitigt, der Krieg selbst ausgerottet werden, so kann dies einzig und allein bei allgemeiner Wehrhaftigkeit gelingen. Ein Schwert hält das andere in der Scheide, und wenn erst die Völker durchweg bewaffnet sind, werden sie sich nicht angreifen. Der letzte Krieg gegen den Krieg, bisher eine schöne Hoffnung, kann einmal lebensvolle Wirklichkeit werden.
Eben so aber, wie das Milizsystem das wirksamste Mittel zur Sicherung des äußeren Friedens ist, verbürgt es auch den innern Frieden. Das stehende Heerwesen oder das Systems mit der bewaffneten Minderheit die waffenlose Mehrheit im Zaum zu halten, ist eine ständige Beraubung des Volkes, eine Pflanzschule der Unzufriedenheit und Anarchie. Dagegen sorgt das eigene Interesse des bewaffneten Bürgers dafür, daß durch Milizen die innere Ordnung und Sicherheit weit besser aufrecht erhalten wird, als durch eine besondere Soldatenkaste. Die Freiheit ist eben die Voraussetzung und rechte Heimath des Milizsystems; wo die Bürger ihren vollen Willen auf gesetzlichem Wege zur Geltung bringen können, da wird die Ruhe nicht gestört, braucht also auch nicht wiederhergestellt zu werden. Das beweist die Schweiz mit ihrer republikanischen Bundesverfassung am anschaulichsten.
Würde in Europa das Milizsystem, wenn auch mit stehenden Rahmen, angenommen, so ließen sich die jährlichen Militärkosten von 670 Mill. Thlr. auf 162 Mill. vermindern. Dies betrüge statt 2,460,000 Thlr. auf jede Million Bevölkerung kaum 600,000 (immerhin noch 120,000 mehr als in der Schweiz, wo die Mannschaft nur zeitweise beisammen ist). Auf solchem Fuße hätte Europa in den letzten 45 Jahren (den jährlichen Durchschnitt der Militärkosten auf 500 Mill. Thlr. angenommen) eine Ersparniß von 17,100 Mill. Thlr. machen und jede Familie ihr Vermögen um 340 Thlr. vermehren können. Auf solchem Fuße würde jeder Staat mit dem vierten Theil der Kosten eine dreimal größere Wehrkraft zur Vertheidigung besitzen und könnte sich zugleich mit Durchführung der angemessenen wohlverdienten Belohnung der Truppen eine der kräftigsten Bürgschaften des Sieges verschaffen. Betrachten wir jetzt das Milizsystem in dem Lande, wo es bis jetzt am vollständigsten durchgeführt ist.
In vier Artikeln der Bundesverfassung sind die Grundlagen des schweizerischen Wehrwesens enthalten; auf ihnen ruht der Ausbau durch spätere Gesetze, hauptsächlich durch das vom 8. Mai 1850 über die Militärorganisation. Das monarchische Europa wird nicht eher zur Ruhe und Ordnung gelangen, bis es sich auf den Granitgrund der Freiheit stellt, wie ihn Artikel 13 der schweizerischen Bundesverfassung ausspricht: „Der Bund ist nicht berechtigt, stehende Truppen zu halten. Ohne Bewilligung der Bundesbehörde darf kein Canton oder in getheilten Cantonen kein Landestheil mehr als 300 Mann stehende Truppen halten, die Landjägercorps nicht inbegriffen.“
Die andern drei Artikel lauten:
„Art. 18. Jeder Schweizer ist wehrpflichtig.
Art. 19. Das Bundesheer, welches aus den Contingenten der Cantone gebildet wird, besteht:
- a) aus dem Bundesauszug, wozu jeder Canton auf 100 Seelen schweizerischer Bevölkerung drei Mann zu stellen hat;
- b) aus der Reserve, deren Bestand die Hälfte des Bundesauszuges beträgt.
In Zeiten der Gefahr kann der Bund auch über die übrigen Streitkräfte (die Landwehr) eines jeden Cantons verfügen. Die Mannschaftsscala, welche nach dem bezeichneten Maßstabe das Contingent für jeden Canton festsetzt, ist alle zwanzig Jahre einer Revision zu unterwerfen.
Art. 20. Um in dem Bundesheere die erforderliche Gleichmäßigkeit und Dienstfähigkeit zu erzielen, werden folgende Grundsätze festgesetzt:
1) Ein Bundesgesetz bestimmt die allgemeine Organisation des Bundesheeres.
2) Der Bund übernimmt:
- a) den Unterricht der Genietruppen, der Artillerie und Cavallerie, wobei jedoch den Cantonen, welche diese Waffengattungen zu stellen haben, die Lieferung der Pferde obliegt;
- b) die Bildung der Instructoren für die übrigen Waffengattungen;
- c) für alle Waffengattungen den höhern Militärunterricht, wozu er namentlich Militärschulen errichtet und Zusammenzüge von Truppen anordnet;
- d) die Lieferung eines Theiles des Kriegsmaterials.
Die Centralisation des Militärunterrichts kann nöthigenfalls durch die Bundesgesetzgebung weiter entwickelt werden.
3) Der Bund überwacht den Militärunterricht der Infanterie und der Scharfschützen, sowie die Anschaffung, den Bau und Unterhalt des Kriegszeugs, welches die Cantone zum Bundesheer zu liefern haben.
4) Die Militärverordnungen der Cantone dürfen nichts enthalten, was der eidgenössischen Militärorganisation und den den Cantonen obliegenden bundesmäßigen Verpflichtungen entgegen ist, und müssen zu diesfälliger Prüfung dem Bundesrathe vorgelegt werden.
5) Alle Truppenabtheilungen im eidgenössischen Dienste führen ausschließlich die eidgenössische Fahne.“
Demnach hat weder die Schweiz, noch ein einzelner Canton ein stehendes Heer; auch Baselstadt hat vor vier Jahren seine Standestruppe aufgelöst. Soldaten und Officiere werden im Frieden jährlich auf kurze Zeit zu Uebungen einberufen. Ständig besoldet ist blos eine kleine Anzahl von Verwaltungsbeamten und Instructoren. Dennoch geht jede Mobilmachung rasch vor sich, rascher sogar als in den meisten Monarchien. In Wahrheit hat also auch die Schweiz ihr stehendes Heer; nur wird es nicht unnütz beschäftigt und bezahlt, solange keine Arbeit vorliegt. Während in den Staaten mit stehenden Heeren die Operationsarmee höchstens 11/2 Procent der Bevölkerung erreicht, beträgt sie in der Schweiz das Drei- und Vierfache. Alle Dienstfähigen werden militärisch ausgebildet; Stellvertretung ist nicht gestattet, und die Ausnahmen von der Wehrpflicht sind auf die dringendsten Fälle beschränkt. Das gesetzliche Minimum für Auszug und Reserve wird in vielen Cantonen überschritten, so daß eine ziemliche Menge Ueberzähliger vorhanden ist. Alle Wehrkräftigen, die nicht in jenen beiden Abtheilungen und in der Landwehr dienen, bilden den Landsturm.
[569]
In einer Zeit, wo man in Frankreich den Schülern der Lyceen befiehlt, Lobgedichte auf den Prinzen Jerome zu fertigen, und wo deutsche Höfe – artig genug sind, um den einstmaligen Räuber deutscher Fürstenthümer acht Tage Trauer anzulegen, dürfte es wohl nicht ganz unangemessen erscheinen, wenn wir uns der Thaten dieses Herrn erinnern, dessen Tod jetzt so tief betrauert wird. Wir beginnen heute mit der Polizei der damaligen Zeit und bemerken ausdrücklich, daß wir dabei aus authentischen Archivquellen schöpfen und nur erzählen, was dort actenmäßig niedergelegt ist. Später werden wir uns den Bruder „Immer lustick“ selbst „kaufen.“
Unter der Leitung Bongars’, des westphälischen Gensd’armeriegenerals und Polizeidirectors in Kassel, stand ein Heer von vielen tausend Spionen und 900 Gensd’armen, von denen leider sehr viele Deutsche waren. Dieser geheimen Polizei war nichts heilig, weder Kirche, noch Schule, weder Familienbande, das Glück der Ehe, noch Privatbriefe. Man konnte mit Gewißheit darauf rechnen, daß in jeder Gesellschaft, mochte sie groß oder klein sein, wenigstens ein Mitglied dieses teuflischen Bundes sich befand und nur auf die Gelegenheit lauerte oder sie mit den Haaren herbeizog, Jemand anklagen und in’s Unglück stürzen zu können. Die deutsche Gemüthlichkeit, sowie der freie, gesellige Ton, hatte in dem neugebackenen Königreiche aufgehört, wenigstens in den Städten desselben. Einer mußte in dem Andern einen Verräther erwarten, deshalb war das gegenseitige Vertrauen geschwunden, blieben Herzen und Mund verschlossen. Man nahm sich wohl in Acht, in seine Worte einen zweideutigen Sinn hineinzulegen, sowie überhaupt von Politik zu reden. In den geselligen Kreisen entstanden daher aus Mangel an Stoff, oder weil die Worte abgewogen werden mußten, oft langweilige Pausen. Wehe demjenigen, der über die Schmach und Schande des Vaterlandes, über den unerträglichen Druck, über die Demüthigungen, denen man tagtäglich ausgesetzt war, auch nur geseufzt hätte! Körper und Geister lagen in Ketten, und der Zornesröthe im Antlitze der Patrioten allein war es gestattet, sich zu äußern.
Bongars war ein Mann von hohem, stattlichem Wuchse und ausdrucksvollen Zügen, aber von großer Magerkeit. Was die Natur nur immer Falsches, Herzloses, Heimtückisches, Grausames und Arglistiges in den verschiedenen Menschenseelen geschaffen hat, das fand sich in diesem Teufel in Menschengestalt vereinigt. Er wußte seinem Gesichte stets eine huldreiche, freundliche Miene zu geben, so daß er selbst hinter dem grünen Tische der peinlichen Verhöre Zutrauen einflößte, so sehr hatte er die Kunst der Verstellung sich angeeignet. Er war buchstäblich ein reißender Wolf im Schafspelze. Er wußte seine Beute immer um so gewisser zu erhaschen, als er den unglücklichen Opfern gegenüber die bittersten Vorwürfe und schrecklichsten Drohungen stets im wohlmeinenden Tone und in sanfter Stimme aussprach. Seine Krallen sah man nie.
Er war ein geborner Franzose und sprach nur gebrochen deutsch. Genauere Beobachter wollen bemerkt haben, daß er nur die in sein Fach schlagenden unumgänglich nothwendigen Ausdrücke, die den Mann allein schon kennzeichnen würden, mechanisch auswendig gelernt habe, wie z. B.: „Schlechter Unterthan – Verräther – falsche Nachricht – feindliche Proclamation – Spion – hart bestrafen“, und dergleichen mehr. Seine Verhöre waren sehr einfach. Hatte er die Beschuldigung mühsam herausgestottert, so folgte die Verurtheilung gleich hinterdrein, die nur in dem einen Falle nicht ausgeführt wurde, wenn der Verurtheilte mit bedeutenden Geldmitteln dagegen protestirte. Er wurde dann in Freiheit gesetzt, aber unter die „Surveillance“ der geheimen Polizei[WS 1] gestellt, so daß fortan jeder seiner Schritte beobachtet und jedes seiner Worte aufgezeichnet wurde.
Waren intelligente Leute oder Männer von Geistesgegenwart und Muth im Verhör, so waren mehrere seiner Unterbeamten zugegen, die im Augenblicke der Vertheidigung im Zimmer auf- und abschritten, den Beklagten streng in’s Auge fassen und ihn aus der Fassung bringen sollten. Diese mehr als boshafte Art und Weise des Verhörs übte er nicht nur in Kassel, sondern auch auf seinen inquisitorischen Reisen. In diesem letztern Falle bediente er sich besonders der Vagabonden, Glücksritter und vornehmlich der Juden, deren sehr viele in seinen Diensten standen.
Bongars strebte nur danach, sich zu bereichern. Jedes Mittel war ihm recht. Von den unzähligen Schmeißfliegen des Königreichs Westphalen war er zweifelsohne die giftigste und gefährlichste. Er machte sich kein Gewissen daraus, ganze Familien zu Grunde zu richten, Glück, Freiheit und Leben Anderer auf’s Spiel zu setzen – wenn er nur einen Gewinn davon hatte. Ob der Angeklagte unschuldig war, galt ihm gleich. Daher wagte man in Kassel bei der niederträchtigen Justizverwaltung auch gar nicht einmal daran zu denken, Recht und Gerechtigkeit zu finden, selbst wenn die Anklage auf einer bloßen Verleumdung oder böswilligen Beschuldigung beruhte.
Es war also nicht zu verwundern, daß die geheimen Spione, die, ich muß es noch einmal wiederholen, leider! vielfach aus Deutschen bestanden, ihr Augenmerk ganz besonders auf Wohlhabende richteten und diesen Schlingen und Fallstricke legten, während die Armen weniger berücksichtigt wurden und für ihr Vergehen höchstens geringe Freiheitsstrafen zu verbüßen hatten, wie folgendes Beispiel zeigen mag.
Ein Schneider, der überall öffentlich eine baldige Aenderung der Dinge vorhersagte und das Morgenroth der Erlösung und Freiheit vor seinem geistigen Auge in nächster Zukunft erstehen sah, besonders wenn der Branntwein ihn begeistert hatte, trotzte, wo er nur immer konnte, der Polizei, verhöhnte und verspottete sie, als ob es seine Absicht sei, sich eine Märtyrerkrone zu verschaffen und seinen Namen unsterblich zu machen. Von Tag zu Tag wurde er kühner. Weil er aber ein armer Teufel war, ertrug die Polizei lange und mit seltener Geduld seine Schimpfreden und Prophetenworte. Endlich aber machte er es zu arg. Er wurde in’s Gefängniß geworfen, wo er die Festwoche von Weihnachten bis Neujahr Zeit hatte, die Zukunft in Hessen sich so schön wie möglich auszumalen.
Diese Strafe hatte indessen nicht den geringsten Einfluß auf seine Sehergabe und deutsche Gesinnung ausgeübt. Er schimpfte auf die Franzosen nach wie vor und ärger als je; er scheute sich sogar nicht, der Polizei in’s Angesicht zu lachen und sie zum allgemeinen Ergötzen der Zuhörer zu verwünschen und zu verfluchen. Er bedankte sich auch bei ihr, daß sie durch seine Gefangennahme dafür gesorgt hätte, ihm seinen Verdienst zu erhalten, den er in den Festtagen sicherlich verausgabt haben würde. Den Steuerdienern pflegte er bei ihren Mahnungen und Zwangsbefehlen zu erwidern: „Unser allergnädigster König ist ein Bettelbube, der mir nicht einmal vier Wochen die Steuern creditiren kann, sondern mich nach wenigen Tagen schon auspfänden laßt; ich würde mich schämen, mit ihm zu tauschen, denn ich kann meinen Schuldnern Jahre lang borgen.“
Es würde ihm übel ergangen sein, wenn er ein vermögender Mann gewesen wäre. Wohlhabende Leute wurden ausgepreßt wie ein Schwamm, wie unter Tausenden folgendes Beispiel lehren mag. Ein Kaufmann in Marburg kehrte eines Abends mit einem Freunde aus dem Schauspielhause zurück. Es hatte lange und anhaltend geregnet, und die Gassen waren daher mit Koth bedeckt. Der Kaufmann that einen Fehltritt und gerieth hinein. Aergerlich rief er aus: „Seitdem wir Westphalen sind, müssen wir im Kothe stecken bleiben.“ Der Freund bat ihn, still zu sein, weil auch die Nacht Ohren habe. „Wer in aller Welt will mir etwas thun, wenn ich die Wahrheit rede?“
„Sie sollen aber die Wahrheit nicht reden, wie Sie wohl wissen.“
Während dieses Gesprächs vernahmen sie leise Schritte hinter sich, und als sie sich vor der Hausthüre des Kaufmanns trennten, sahen sie in ihrer Nähe einen Menschen umherschleichen, der aber nicht weiter von ihnen beachtet wurde. Acht Tage später wurde der Kaufmann in der Mitte der Nacht aus dem Schlafe geklopft. Arglos öffnete er die Thür und erblickte zu seinem Entsetzen drei Gensd’armen vor sich. Auf seine Frage, was sie in so später und ungewohnter Stunde von ihm wollten, baten sie ihn, mit ihnen zu gehen, weil sie den Auftrag hätten, ihn zu verhaften.
„Mich verhaften!?“ rief er. „Was für ein Verbrechen habe ich begangen?“
„Darüber sind wir nicht im Stande, Ihnen Auskunft zu geben. Wir thun, was uns befohlen ist, und unser Befehl lautet dahin, Sie mit uns zu nehmen, wenn nicht mit Güte, so mit Gewalt.“
[570] „Gut, doch werden Sie mir gestatten, in Betreff meiner Familie und meiner häuslichen sowie geschäftlichen Verhältnisse noch einige Anordnungen zu treffen.“
„Wir haben keine Befugniß, Ihnen dies zu gestatten. Ziehen Sie sich augenblicklich an, wenn Sie nicht wollen, daß wir Sie unangekleidet mitnehmen.“
Trostlos kehrte sich der Kaufmann um und schritt in Begleitung eines Gensd’armen zu dem Schlafgemache seiner Frau.
„Mein Gott, was bedeutet dies?“ rief sie erschrocken aus, als sie ihren Mann in Begleitung eines Fremden in die Thür treten sah.
„Bitte, mache Dir keine Sorgen,“ entgegnete ihr Gemahl. „Man will mich sofort verhaften, doch darf ich mit um so größerer Ruhe meinem Schicksal und einer baldigen Befreiung entgegen sehen, als ich mir nicht des geringsten Verbrechens oder Vergehens bewußt bin.“
Die Frau kreischte laut auf und fiel in eine Ohnmacht. Auch die Kinder fuhren aus ihrem Schlafe empor und weinten und jammerten, als sie erfuhren, daß man den Vater verhaften wolle. Den Gensd’armen währte die Zeit schon zu lange. Mit Unbarmherzigkeit trieben sie den Kaufmann, an dessen Halse Frau und Kinder jammerten, an, sich zu beeilen. „Es kann nur ein Mißverständniß sein!“ rief er; „ich kehre recht bald wieder zu Euch zurück.“
Er steckte seine Börse zu sich und wurde schließlich gewaltsam von den Schergen aus den Armen seiner Lieben fortgerissen. In den Straßen der Stadt führten die Gensd’armen ihre Pferde am Zügel und gingen neben dem Gefangenen her. Doch sobald das Thor erreicht war, bestiegen sie ihre Rosse und ließen den Gefangenen, der bereits seine fünfzig Jahre zählte, neben sich im tiefen Kothe laufen. Gegen Morgen kehrten sie in einem Gasthofe ein, wo sie frühstückten; sie scherzten und lachten und kümmerten sich wenig um den Schmerz des Gefangenen, dem übrigens die Eßlust vergangen war. Da dieser erklärte, er sei so ermattet, daß er keinen Schritt weiter gehen könne, miethete man auf seine Kosten einen Wagen.
Gegen Abend kamen sie in Kassel an, wo der unglückliche Kaufmann sofort in das Castell gebracht wurde. Es war mehr der Schmerz um seine Familie, der ihn folterte, als die Furcht vor Strafe, weil er sich keines Vergehens bewußt war. In diesem trostlosen Zustande verlebte er vierzehn schreckliche Tage, ohne daß man ein Verhör mit ihm angestellt hätte. Der Seelenschmerz, die Kerkerluft und der Mangel an Eßlust, sowie an gesunden, stärkenden Nahrungsmitteln wirkte so nachtheilig auf seine Gesundheit, daß er ziemlich bedenklich erkrankte. Bongars hatte die Zeit benutzt, sich nach den Vermögensumständen des Gefangenen genauer zu erkundigen. Endlich zu einem Verhöre zugelassen, gab man ihm Schuld, sich gegen die westphälische Regierung entehrende Aeußerungen erlaubt zu haben. Jetzt erst wurde ihm der Grund seiner Gefangennahme klar. Er bat um Verzeihung und wurde dann in den Kerker zurückgeführt; jedoch war man wirklich so menschlich, ihm ein gesunderes Gefängniß und ein Bett zu geben.
Eines Tages trat ein ihm unbekannter Mann in bürgerlicher Kleidung zu ihm in’s Gefängniß und begann also: „Ich habe zufällig in Erfahrung gebracht, daß Sie aus den Armen einer Frau gerissen sind, die Sie sehr lieben. Es muß Ihnen natürlich Alles daran gelegen sein, baldmöglichst Ihre Freiheit wieder zu bekommen und heim zu kehren. Ich nehme Theil an Ihrem Unglück, und wenn Sie mich nicht verrathen wollen, will ich Ihnen ein Mittel an die Hand geben, in kurzer Zeit Ihre Freiheit wieder zu erlangen.“
Wer war froher als der Kaufmann bei solchen lieblich klingenden Worten? „O sprechen Sie!“ rief er aus. „Was soll ich thun? Alles, Alles will ich aufopfern, um nur in den Schooß meiner Familie zurückkehren zu können.“
Der Fremde trat einige Schritte näher zu ihm heran und sagte: „Großer Opfer bedarf es nicht, aber doch einer nicht ganz unbedeutenden Summe. Bitten Sie Ihre Frau, Ihnen 4000 Francs zu senden, und meine Ehre setze ich zum Pfande ein, daß Sie, sobald Sie diese Summe erlegt haben, sogleich wieder auf freien Fuß gesetzt werden.“
Der Fremde überreichte dem Gefangenen Tinte, Papier und Feder und dictirte folgende Worte, die der Kaufmann wörtlich niederschrieb:
- „Sende mir nach Empfang dieses, so eilig es geschehen kann, 4000 Francs. Von dem Augenblicke an, wo ich die Summe erhalte, bin ich frei. Aber sprich kein Wort davon. Du würdest durch Mangel an Verschwiegenheit meine Einkerkerung nur verlängern und meine Befreiung erschweren.
- Kassel. L…“
- Kassel.
Spätestens nach zwei Tagen hätte die verlangte Summe eintreffen können, aber der Kaufmann hoffte vergebens. Wieder öffnete sich das Gefängniß, und der Fremde trat ein. Der Kaufmann beklagte sich über die Saumseligkeit seiner Frau und sprach die Besorgniß aus, daß sie inzwischen gestorben sein könne. Der Fremde aber versicherte ihn, daß sie lebe, theilte dem Gefangenen aber achselzuckend mit, daß der Bote die Anweisung verloren habe, und damit legte er ihm von Neuem Schreibmaterial vor und dictirte Folgendes:
- „Schicke mir durch den Vorzeiger dieses 4000 Francs. Sollte noch eine Anweisung auf Geld bei Dir eintreffen, so zahle sie nicht. Je eher ich die Summe erhalte, je eher bin ich wieder bei Dir.
- Kassel. L….“
- Kassel.
Nach Ablauf von zwei Tagen kam der Unbekannte wieder und brachte ihm seinen Freiheitsbrief mit. Als der Kaufmann dann noch einen Schein unterschrieben hatte, daß er nie von dem ausbezahlten Gelde etwas verrathen wolle, durfte er das Castell verlassen. Zum Ueberfluß gab ihm der Fremde noch den guten Rath mit auf den Weg, niemals über das, was er hier erfahren und gelitten, mitzutheilen; der Arm der geheimen Polizei reiche weit, und es würde ihm dann schwerlich gelingen, so wohlfeilen Kaufs davon zu kommen. „Auch ist es der ausdrückliche Befehl des Herrn Polizeidirectors,“ fügte er hinzu, „die Stadt Kassel, ohne einzukehren, sofort zu verlassen.“
Am folgenden Morgen kam der Befreite auf einem Bauernwagen wieder bei den Seinigen an. Das Wiedersehen mag von der Einbildungskraft der Leser leichter ausgemalt als von mir beschrieben werden. Es stellte sich aber an demselben Tage noch heraus, daß die Frau für die Befreiung ihres Mannes nicht 4000, sondern 8000 Francs bezahlt hatte. War der theilnehmende Unbekannte selbst ein Betrüger gewesen, der die Hälfte der Summe für sich behalten hatte, oder hatte Bongars diesen scheußlichen Betrug allein gespielt und dies Verbrechen dem der Bestechung noch hinzugefügt?
Ein anderer Kaufmann saß sechs Wochen ohne Verhör im Castell. Seine Familie bezahlte die Unterhaltungskosten, aber dennoch wurde er wie ein gemeiner Missethäter behandelt und mit der gewöhnlichen Gefangenkost abgespeist. Als er endlich durch Hunger und Kummer körperlich geknickt plötzlich seine Freiheit erhielt, fragte er bei der Behörde nach der Ursache seiner Gefangenschaft und erbat sich Schadenersatz. Nach einigen Monaten kam der Bescheid, er sei aus Unkenntniß des Vornamens mit einem Andern verwechselt. Von Schadenersatz könne keine Rede sein, weil keine Casse vorhanden sei, aus der solche Zahlungen geleistet würden. Er sei übrigens ernstlich hiermit ermahnt, kein Wort über den Vorfall laut werden zu lassen.
Bongars war übrigens nicht der einzige Blutsauger am Kasseler Hofe. Vom König an bis zum untersten Schergen hinab dachte man an nichts als an Erpressung. Ein Präsident, der Name thut nichts zur Sache, hatte es besonders auf die Juden abgesehen. Die Halberstädter altgläubige Judenschaft hatte sich gegen das Verbot in einem Privathause versammelt und mußte deshalb 1000 Francs Strafe bezahlen. Ueberhaupt mußten die westphälischen Juden jährlich ganz beträchtliche Summen aufbringen. Den Wittwen und Waisen verkaufte man bei dieser Gelegenheit das letzte Stück Bett, wenn sie nicht bezahlen konnten.
Unter allen Schergen und Spionen war ein Deutscher, ein ehemaliger Haarkünstler, der Polizei-Inspector Würtz, der gefürchtetste und verachtetste, der an seiner Frau und den Lustdirnen der Stadt Kassel bei seinem erbärmlichen und gottverfluchten Geschäft geeignete und willige Helfershelferinnen hatte. Wie ein Würgengel schlich er bei Tag und Nacht umher, um sich seine Opfer zu suchen. Tausende sind durch ihn unglücklich geworden. Nicht genug, den Erdboden zu dem Schauplatze seiner fluchwürdigen Menschenjagden zu machen, reichten seine Krallen auch bis in die obern Räume der Häuser, wo er Nachts die Gespräche in Familienkreisen oder kleinen Gesellschaften, auf einer Leiter stehend, [571] belauschte. Wie manche Mutterthräne ist seinetwillen geflossen, wie mancher Seufzer seinetwillen in den eisigen Kerkerwänden des Castells verhallt, wie manches Herz gebrochen, wie manche Unschuld durch ihn selbst oder seine Helfershelfer gemordet!
Er war im ganzen Königreiche bekannt, weil er oft Streifzüge in die Provinz unternahm, doch hatten die Kasseler am meisten von ihm zu leiden und fürchteten ihn auch wie eine Schlange. Er ging stets nach der neuesten Mode gekleidet, hatte ein einnehmendes Wesen und wurde dadurch solchen Personen, die ihn noch nicht kannten, nur um so gefährlicher. Er verstand es vortrefflich, die Rolle eines ehrlichen Mannes zu spielen, und gebrauchte in der Regel den Kunstgriff, auf die westphälische Regierung und Polizei zu schimpfen, um seine Opfer zu ähnlichen Aeußerungen zu verleiten. Zu der Stelle eines Polizei-Inspectors hatte ihm Johannes von Müller verholfen, man weiß nicht, aus welchem Grunde. Zweimal ward Würtz wegen Uebertretung seiner Amtsgewalt und wegen verschiedener Verbrechen seines Amtes entsetzt; das erste Mal fand er, wiederum durch Johannes von Müller’s Fürsprache, in Braunschweig bei der Polizei ein Unterkommen. Als er aber daselbst eine Spielbank aufgehoben und das vorgefundene Geld für sich behalten hatte, setzte man ihn zum zweiten Male ab. Er war aber ein zu guter Spion, als daß dieses Talent von Bongars unbenutzt gelassen werden konnte. Dieser verschaffte ihm denn die Stelle eines Polizeicommissars in Kassel, wo er mit Savagner, dem Generalsecretair der hohen Polizei, sowie auch mit dem Polizeiinspector Darlin einen vertrauten Freundschaftsbund schloß, dessen Aufgabe es zu sein schien, so viele Menschen, wie irgend möglich, ihres Vermögens, ihres Glücks und ihrer Freiheit zu berauben. Nach der Flucht seines königlichen Herrn ist er verschollen.
Es war Alles darauf berechnet, das Volk zu demoralisiren. An dem Thorwege der hohen Polizei war eine Oeffnung, eine Art Briefkasten angebracht, wo in der Nachtzeit verrätherische Anzeigen von solchen Personen hineingelegt wurden, die sich noch scheuten, bei Tage als Ankläger ihrer Mitbürger aufzutreten. Herrschaften mußten sogar den Verrath ihrer Dienstboten fürchten, die mehr oder weniger im Solde der geheimen Polizei standen. Treue und Glauben war verschwunden in der Residenzstadt Jerome’s; Mißtrauen und Verrath waren an ihre Stelle getreten.
Die Todten reiten schnell! Es ist auch, als ob die hohe Polizei eine Ahnung von ihrer kurzen Herrschaft in Westphalen gehabt habe, sonst hätte sie unmöglich so rasend und toll wirthschaften, unmöglich alle Mittel und Wege mit einem Male erschöpfen können, das Volk an den Bettelstab zu bringen. Waren keine „Verbrechen“ aufzufinden, so mußten dieselben geschaffen werden. Von diesem Grundsatze ging man aus. „Man muß Verbrechen erschaffen,“ rief Bercagny, der Generaldirector der Polizei, seinen Leuten donnernd entgegen, als sie ihm eines Tages die Polizeistrafenberechnung mit nur unbedeutenden Einnahmen einreichten. Diese Worte fanden natürlich keine tauben Ohren, die Schergen merkten sich dieselben, sowie das Publikum sich den Wahlspruch dieses Mannes gemerkt hatte: „der Mensch denkt, die Polizei lenkt!“
Auffallend ist es und zeugt von dem Mißtrauen, welches der Kaiser Napoleon gegen seinen unwürdigen Bruder hegte, daß die Pariser Polizei mit der westphälischen in genauester Verbindung stand. Von Paris aus wurden mehrere Personen besoldet, die von allen Vorkommnissen am Kasseler Hofe Bericht erstatten mußten. – Die Zeiten dieser Schmachherrschaft liegen nun bereits ein halbes Jahrhundert hinter uns, die Wunden, die sie uns geschlagen, sind vernarbt; doch, wie es bei alten Kriegern zu geschehen pflegt, fühlen wir sie von Neuem, wenn ein Sturm am politischen Himmel im Anzuge ist. Und es ist gut, daß die Erinnerung an jenes Siechthum in uns von Zeit zu Zeit auf’s Neue geweckt wird, damit wir Vorkehrungen treffen, einem ähnlichen oder größern Unglücke auszuweichen.
Wenn im Spätsommer das Gras bleicht und der rauhe Westwind über die endlosen Fluren Missouri’s fegt, dann hängt es in den angrenzenden östlichen Staaten wie ein leichter grauer Flor vor dem wolkenlosen Himmel, und wie in einen duftigen Schleier verhüllt erscheint die ihres blendenden Glanzes beraubte Sonne.
Höhenrauch nennen die Leute diese sich fast täglich wiederholende Erscheinung, und schreiben dieselbe im Allgemeinen den Prairiebränden zu, welche namentlich im Herbst über weite dichtbegraste Flächen hineilen. Gleichgültig schaut der Stadt- und Landbewohner zu dem Höhenrauch empor, spricht auch wohl von dem anhaltend guten Wetter, auf welches derselbe hindeuten soll; der Scenen aber, von welchen der westliche Wind und der Rauch der Höhen erzählen könnten, und die in ihren Eindrücken auf das Gemüth zugleich furchtbar und erhaben, schreckenerregend und bezaubernd sind, gedenkt nur derjenige, welcher das entfesselte Element in seiner ganzen gewaltigen Pracht kennen lernte und, von den wilden Flammen verfolgt, den entsetzlichen Wettlauf um’s Leben wagte.
Ich befand mich auf der Jagd mit meinen beiden indianischen Gefährten, Hug-ha und Scha-gre-ga-ge, zwei jungen Omaha-Burschen, welche so treue Herzen unter ihrer kupferfarbigen Haut bargen, wie nur je in der Brust eines weißen Mannes schlugen. Wir waren gut beritten, das herrlichste Wetter begünstigte uns, Wild war im Ueberfluß vorhanden, und so fehlte denn nichts, was unsern Ausflug zu einem der angenehmsten zu machen versprach. Ungefähr die Mitte des nördlichen Winkels zwischen dem Missouri und dem Nebrasca haltend, zogen wir in nordwestlicher Richtung dahin; das Dorf der Omahas blieb weit hinter uns zurück, und schon am zweiten Tage gelangten wir so weit, daß, wie auf dem ewigen Ocean, der sonnige Himmel gleichsam wie eine unermeßliche Glasglocke auf der ebenen Fläche ruhte. Kleine Flüsse und Bäche, an den spärlichen Baumgruppen auf ihren Ufern weithin erkennbar, schlängelten sich anmuthig durch die Niederungen, und diesen nachfolgend, fanden wir vielfach Gelegenheit, uns reiche Beute zu sichern. Bald war es ein Hirsch, bald ein Truthahn oder Waschbär, was wir erlegten, und schon am vierten Tage unserer Reise hatten wir die Pferde so mit geräucherten und gedörrten Fleischstreifen, sowie mit Fellen beladen, daß wir dieselben am Zügel führten und am folgenden Tage den Rückweg anzutreten beschlossen.
Es war um die Zeit, in welcher die indianischen Jäger beginnen, Feuer an die Prairien zu legen, um dadurch noch vor Einbruch des Winters frisches Gras zu erzielen. Einzelne Rauchwolken hatten auch in der That schon seit mehreren Tagen vor dem südwestlichen Himmel gehangen, da dieselben aber noch sehr ferne waren, und der Wind mit einer gewissen Beständigkeit die nördliche Richtung beibehielt, so hatten wir keinen Grund zur Besorgniß oder übermäßigen Vorsicht, und nach gewohnter Weise hielten wir einige Stunden Mittagsrast. Wir befanden uns an dem westlichen Rande einer breiten Niederung, welche ein Bach reich bewässerte. Hohes saftiges Gras gewährte den Pferden gute Weide, uns selbst einigen Schutz gegen die noch immer sengenden Strahlen der Sonne, und nachdem wir abgesattelt hatten, streckten wir uns daher hin und verfielen bald in tiefen Schlaf. Zwei Stunden etwa waren in ungestörter Ruhe verstrichen, als uns plötzlich das heftige Schnauben der Pferde weckte; wir sprangen empor und erblickten nicht wenig überrascht schwarze Rauchwolken, welche mit rasender Eile in geringer Höhe über uns hinzogen. Der Wind war herum gesprungen, und geschützt von dem hohen schilfähnlichen Grase, wo wir gelegen, hatte weder der verstärkte Luftzug, noch der Brandgeruch bis zu uns dringen können, was jedenfalls wenigstens die beiden Omahas ermuntert haben würde[WS 2].
Auf den ersten Blick erkannten wir die Gefahr, in welcher wir schwebten, denn es entging uns nicht, daß der Brand uns in kurzer Zeit erreichen mußte, wenn wir nicht durch schleunige Flucht oder durch Anzünden und Verbrennen des Grases in der Nähe [572] uns dem drohenden Verderben zu entziehen suchten. Dumpfes Brausen und Poltern schlug an unser Ohr, als wir zu den Pferden hinsprangen, um die Sattel aufzulegen, aber ebenso schnell nahmen wir wahr, daß es zu spät sei, um die Jagdbeute noch zu retten, und daß es der ganzen Kraft der unbeladenen Thiere bedürfe, um nur uns in Sicherheit zu bringen. Das Gras auf dem marschigen Boden war grün und saftig, und wenn es auch, von dem Brande und der weit vorauseilenden Hitze gedörrt und zusammengeschrumpft, bei der leisesten Berührung der Flammen hoch aufloderte, so wären wir doch nicht im Stande gewesen, in der kurzen Frist einen neuen Brand zu erzeugen. Es blieb nur noch der einzige Weg offen, durch die zwei englische Meilen breite Niederung zu fliehen und da, wo niedriges dürres Gras das Ansteigen des Bodens verrieth, durch schnelles Feuer eine kleine Fläche von allem Brennbaren zu reinigen und zu unserer Aufnahme herzurichten.
Wir ergriffen daher unsere Jagdgeräthschaften, und in der nächsten Minute sprengten wir dahin mit aller Eile, deren die geängstigten Thiere nur fähig waren. Es war ein schrecklicher Ritt, denn hemmend legten sich die Halme, welche unsere Schultern peitschten, um die flüchtigen Hufe; und rückwärts schauend, erblickte ich die wilden Flammen, wie sie, schwarze Dampfsäulen emporsendend, sich knatternd über die nächsten Anhöhen wälzten und mit unglaublicher Schnelligkeit den Zwischenraum zwischen uns verringerten. Tiefer drückten wir die Sporen in die Weichen der keuchenden Pferde, und heftiger fielen die geschwungenen Lassos auf ihre triefende Haut; weit aus griffen die Renner, doch schneller noch als sie setzte der stattliche Hirsch und der geängstigte Hase vorbei, unbekümmert um vereinzelte Wölfe und Füchse, welche, ihrer Raubsucht vergessend, jetzt fast gleichen Schritt mit ihnen hielten.
Weiße Gabelweihen und braune Falken in großer Anzahl durchkreuzten wie spielend den dichten Rauch, sausend schossen sie hinauf und wieder hinab, um nahe vor dem Feuer mit sichern Fängen die kleinen Nagethiere zu ergreifen, die es vergeblich versuchten, dem doppelt drohenden Verderben zu entrinnen. Näher rückten wir der rettenden Anhöhe, aber näher rückten auch die Flammen, und flockenähnlich umwirbelte uns die weißgebrannte Asche. Da stürzte Hug-ha mit seinem Pferde zusammen, ich versuchte anzuhalten, doch „Vorwärts“ gellte Scha-gre-ga-ge, und wie im Fluge überwanden wir die letzten hundert Schritte. Kaum hatten wir den abgestorbenen Rasen erreicht, als wir uns von den Pferden warfen und unverzüglich an’s Werk schritten, einen neuen Brand zu erzeugen. Das Herz aber sank mir in der Brust, als ich unseres Gefährten gedachte, welchen wir, nach meiner Ansicht, feiger Weise zurückgelassen hatten. Mit vorwurfsvollem Ton sprach ich den Namen Hug-ha aus, als ich Scha-gre-ga-ge ein brennendes Stück Papier hinreichte, welches dieser geschickt unter einen Haufen zusammengebogener trockener Halme hielt. „Hug-ha wird kommen,“ antwortete Scha-gre-ga-ge gleichmüthig, „er wird kommen, wenn wir eine Stelle freigebrannt haben, er wird kommen um die Flammen harmlos vorüberziehen zu sehen; er weiß, daß wir auf ihn nicht warten durften, wenn wir gerettet werden wollten; er wird kommen, er wird kommen,“ und mit diesen Worten bog er immer neue Halme niederwärts, welche, im brennenden Zustande sich wieder aufrichtend, das Feuer schnell verbreiteten. Kaum eine Minute war nach unserer Ankunft verstrichen, als wir, die Pferde an der Leine führend, dem neuen abwärts treibenden Brande folgten und unsere Füße auf aschigen Boden und versengte Stoppeln setzten. Wir waren gerettet, doch wo war Hug-ha?
Wie eine Lawine wälzte sich der schwarze erstickende Rauch heran, die Hitze, die wir einathmeten, war unerträglich, doch alle Gedanken an die eigenen Qualen traten zurück vor der schmerzlichen Besorgniß um den nach meiner Ueberzeugung untergegangenen Gefährten. Plötzlich aber vernahm ich heftiges Keuchen, der [573] Rauch theilte sich auseinander, und ich erblickte zu meiner unsäglichen Freude den schlanken Hug-ha, der mit der Büchse auf der Schulter herbeisprang und sein störrisch gewordenes Pferd an der langen Leine auf die leergebrannte Fläche zu zerren trachtete. Wir eilten zu Hülfe, und unsern vereinten Anstrengungen gelang es, das arme Thier in dem Augenblicke zu retten, als die Flammen an ihm hinaufleckten und den schönen, wohlgepflegten Schweif mit Gedankenschnelligkeit kahl sengten.
Während ich nun die Ausdrücke der Freude über Hug-ha’s Eintreffen und unsere Rettung nicht zurückzuhalten vermochte, benahmen sich die beiden Brüder, als ob durchaus nichts Ungewöhnliches vorgefallen sei, und schienen den Verlust des Pferdeschweifes und der Jagdbeute höher anzuschlagen, als unser glückliches Entkommen. Auch verstand ich ihre Zeichen und ihre Sprache genugsam, um zu erkennen, daß sie darüber berathschlagten, in welcher Richtung wir ziehen müßten, um das vor dem Feuer geflüchtete erschöpfte Wild zu finden und eine Verheerung unter demselben anzurichten.
Die Flammen, als sie die von allem Brennbaren gesäuberte Stelle erreichten, hatten sich unterdessen getheilt, und vom wüthenden Sturm gepeitscht, brausten sie zu beiden Seiten an uns vorüber, wie um den jüngst erzeugten Feuerstreifen einzuholen, der, sich schnell ausdehnend, lustig vorauf eilte und Millionen von Funken und verkohlten Grastheilchen emporwirbelte. Die Pferde zitterten und bebten, und in der That war es ein Anblick, der sogar das stärkste Männerherz ergreifen mußte. – Da, wo wenige Minuten vorher üppiges Gras, wenn auch herbstlich gefärbt, die weite Niederung schmückte, und wo samenschwere Halme sich feierlich wiegten, da erblickte man jetzt ein ödes, dampfendes Aschenfeld; und wie um das Bild des Todes zu vervollständigen, ragten hin und wieder geschwärzte Büffelschädel und Hirschgeweihe hervor, welche jetzt, nachdem das bergende Gras verschwunden, von frühern erfolgreichen Jagden zeugten.
Auf der andern Seite dagegen tobte der wilde Brand in seiner ganzen Pracht unaufhaltsa1n dahin; dumpfes Sausen und Knattern begleitete den endlosen Feuerstreifen. Blutroth beleuchtet erschienen die rollenden Rauchmassen, die, von dem heftigen Winde niederwärts gedrückt, den Verderben bringenden Flammen voraufzogen, gleichsam warnend die Geschöpfe, welchen die Mittel fehlten, das entfesselte Element durch sich selbst siegreich zu bekämpfen.
Lange stand ich und blickte mit innigster Bewunderung auf das erhabene Schauspiel; selbst meine indianischen Gefährten schienen nicht unempfindlich gegen dergleichen Eindrücke zu bleiben, denn auf geheimnißvolle Weise flüsterte Hug-ha, indem er auf den Feuerstrom wies: „Das ist der rächende Manitou.“
Die Pferde am Zügel führend, folgten wir langsam einer Regenschlucht nach, wo kleine Rasenflächen, welche der Brand übersprungen und verschont hatte, zum Lagern einluden. Die Dämmerung stellte sich ein, der Wind erstarb, und, nicht mehr abhängig von den Luftströmungen, stiegen die mächtigen Rauchsäulen bis in die Wolken hinein. Als aber nächtliches Dunkel sich auf die Ebene senkte, da prangte der östliche Horizont in stets wechselnder magischer Beleuchtung. Bald hoch auflodernd, bald wie Irrlichter flackernd und hüpfend, je nachdem das Feuer auf üppigere oder kärglichere Nahrung stieß, schlich der Brand langsam über die fernen Bodenanschwellungen; über der noch unberührten Steppe aber wie über den Flammen und dem schwarzen Aschenfelde glänzten mit mildem Lichte die ewigen Sterne.
„Mein Urlaubsgesuch ist bewilligt!“ rief der Kanzleirath Tiphonius und hielt seiner Frau Gemahlin ein officiell zusammengefaltetes Papier entgegen. „Ich kann reisen, wenn ich will, und sechs Wochen fortbleiben.“
„Gott sei Dank!“ antwortete die Kanzleiräthin, eine kugelrunde, gutmüthig aussehende Dame, „Du hast lange genug am Actentisch gesessen, es ist die höchste Zeit, daß Du endlich etwas für Deine Gesundheit thust. Innerhalb acht Jahren hast Du keinen Urlaub gehabt. Jetzt muß etwas Ordentliches geschehen, entweder warme Bäder oder regelmäßige Abreibungen in einer Kaltwasserheilanstalt!“
Der Kanzleirath runzelte die Stirn, streckte pathetisch den rechten Arm aus, machte demnächst mit dem rechten Beine die Stellung eines Tänzers, der eine gehässige Leidenschaft auszudrücken hat, und sagte mit Bitterkeit: „Ich möchte wohl wissen, was daran noch warm zu baden, was daran noch kalt abzureiben wäre!“ Der arme Mann hatte Recht, an ihm war nichts mehr abzureiben, er trug nur noch das trockne Gerüst seiner Persönlichkeit, das fertige Präparat für das anatomische Museum, sein zu Schanden geschriebenes Skelett, mit sich herum.
„Nun, Du wirst doch eine Erholungsreise machen, während ich zu Evelinen nach Pankow ziehe und nach dem Rechten sehe?“ fragte verwundert die Kanzleiräthin, die ihren Mann nur darum so lebhaft von Berlin fortzuwünschen schien, um ein scharfes Augenmerk auf „das Rechte“ zu haben, worunter der nächstens zu erwartende Erstling ihrer an einen wohlhabenden Materialisten verheiratheten und auf der Sommerfrische befindlichen Tochter Eveline zu verstehen war.
„Gewiß werde ich eine Erholungsreise machen, aber nicht, um zu baden, sondern um zu trinken! Ich gehe nach Marienbad,“ sagte Kanzleirath Tiphonius, „ich habe die triftigsten Gründe dazu.“
„Recht so, recht so,“ rief hinter ihm eine süß schmeichelnde Stimme, in der die Klangfarbe eines geübten Supplicantenregisters nicht zu verkennen war, „recht so, das ist im Geheimen auch längst mein Wunsch gewesen. Ich schwieg nur, so lange keine bestimmte Aussicht auf Urlaub vorhanden war. Marienbad, das ist Ihr Brunnen, mein lieber Kanzleirath!“ Die Stimme gehörte dem Hausarzte, einem jener Doctoren, die nach Umständen in Allopathie oder in Homöopathie machen, heute für warmes, morgen für kaltes Wasser enthusiasmirt sind, ihre meisten Curen aber, um wenigstens den Patienten generaliter zu reinigen, mit einem energischen Brechmittel anheben.
„Aber, lieber Sanitätsrath, erbarmen Sie sich,“ rief die Kanzleiräthin, die offenbar ihren abgearbeiteten Mann so lange als möglich am Leben erhalten wollte, „was soll dieser Mann in Marienbad? was soll ihm der scharfe abführende Brunnen? In acht Tagen ist er ja so weit, daß Sonne und Mond ihm durch die Rippen scheinen! Ich bitte Sie um Gotteswillen, schicken Sie ihn nicht nach Marienbad, bei der dortigen Fastenkost geht er mir ganz zu Grunde; ich habe hier ohnehin schon meine liebe Noth, ihn zusammen zu flicken!“
„Wie die Frau wieder spricht –“ sagte Tiphonius sehr verdrossen.
„Bitte, bitte –“ unterbrach ihn der Sanitätsrath, „es handelt sich hier nicht, meine verehrte gnädige Frau, um einen Ueberfluß an Säften, wohl aber um einen Ueberfluß an schädlichen Ablagerungen, sogenannten Anschoppungen im Unterleibe; deshalb Marienbad. Wenn wir Ihren Herrn Gemahl davon befreien, werden alle Functionen wieder ungehindert vor sich gehen, und er wird von Neuem ein starker, gesunder Mann werden; deshalb Marienbad, sage ich noch einmal und werde es immer sagen.“ Und da der Sanitätsrath dieses Gutachten mit hohem medicinischen Pathos abgegeben hatte, imponirte es beiden Ehegatten, ihm, als wissenschaftliche Bejahung seiner eigenen Meinung, ihr, als glücklicher Fingerzeig auf die wahrscheinliche Wiederherstellung aller Funktionen im Organismus des armen Kanzleirathes. Der Sanitätsrath bemerkte mit Vergnügen die gute Wirkung seiner Erklärung und fügte als Epilog hinzu, daß er gegen Abend nach Pankow hinausfahren werde, um nach dem Befinden der jungen Frau zu sehen. Nach diesem schönen gemüthlichen Schlußeffect empfahl er sich, da er eine wichtige Consultation wegen des russischen Fürsten Oposoffski nicht versäumen dürfe.
Die Kanzleiräthin blickte ihm, zufrieden mit einem solchen [574] gewissenhaften Hausarzte, nach, und der Gemahl trat an das Fenster, um den Sanitätsrath in den Wagen steigen zu sehen. Er lächelte, denn jetzt durfte er seinen kühnen Plänen nachleben. Nicht die Sorge um seine Gesundheit trieb ihn nach Marienbad; Kanzleirath Tiphonius strebte nach Höherem, er überließ sich im Geheimen überaus ehrgeizigen Bestrebungen. Wer sich einen Kenner der Büreaukratie nennt, wird wissen, daß auch ein Kanzleirath jener Leidenschaft fröhnen kann, die schon den Catilina in’s Verderben gestürzt; nur war sein Streben nicht auf die Herrschaft über Rom gerichtet, er begnügte sich mit Bescheidnerem. Se. Excellenz der Herr Minister befanden sich in Marienbad, daher sein erbittertes Streben, gleichfalls diesen Badeort zu besuchen, um dort vielleicht seine Absichten auf dem gradesten Wege zu erreichen. Von Bekannten und aus Zeitungen hatte er erfahren, daß die Zeiten der Idylle noch nicht gänzlich entschwunden seien, und daß namentlich in Badeörtern vornehme Personen ohne Stern und in weicherer Gemüthsverfassung unter den gemeinen Creaturen umherwandeln; deshalb hoffte er Se. Excellenz auch für sein Anliegen zu gewinnen. Der Unglückliche litt an den entschiedensten Anschoppungen – bureaukratischen Ehrgeizen; ihm konnte nicht mehr Glaubersalz, ihm konnte nur noch der Minister helfen.
Wir sind weit entfernt, auf den wehmüthigen Abschied des Kanzleirathes von seiner wohlbeleibten Frau Gemahlin und Tochter, auf seine Reiseabenteuer, auf die geistreichen Bemerkungen unterwegs, auf die Feindschaften, die er im Eisenbahncoupé und Postwagen durch Gebehrden ungemessenen Stolzes angezettelt, näher einzugehen; uns liegt nur ob, die Saison des verwegenen Bureaukraten, die Art und Weise, wie er die ihm bewilligte Epoche der Erholung und Muße ausbeutet, mit den gebührenden Farben auszumalen.
Die Höhe seines jährlichen Gehaltes und der gemachten Ersparnisse konnte den Kanzleirath nicht veranlassen, auf Reisen und in dem Curorte ungewöhnlich splendid aufzutreten. Mit stiller Zufriedenheit hatte er schon zu Hause eine wahrscheinlich ausreichende Anzahl Gulden, das Stück zu sechzehn Silbergroschen, erworben und ausgerechnet, daß die Mehrkosten seines Aufenthaltes, in Betracht, daß seine Gemahlin die Saison in Pankow bei der Tochter zubringe, durch das erzielte Agio wohl gedeckt werden könnten. Er miethete deshalb in Marienbad eine jener entfernteren Wohnungen, welche an den waldigen Bergabhängen liegen und im Laufe des Tages einige Kletterübungen nöthig machen, bezahlte die Curtaxe und die Bademusik, deren höfliche Beauftragte jedem Curgaste sofort ihre Aufwartung machen, und traf seine Vorkehrungen, um am nächsten Morgen mit der Cur zu beginnen. Bei gewöhnlichen Patienten hätten diese unfehlbar darin bestanden, ein zierliches Glas von etwa sechs Unzen Gehalt zu kaufen, den Empfehlungsbrief des Berliner Hausarztes an den betreffenden Badearzt abzugeben, der ihn im Winter besucht und um Zusendung von Kranken ersucht hatte, am Abend vor der Cur nur eine „Sprudelsuppe“ und ein Compot von „Zwetschken“ oder „Pflaumen“ zu essen; unser Freund Tiphonius, wenn er uns erlaubt, ihn so vertraulich zu bezeichnen, hatte ganz andere Dinge im Sinn. Zuerst mußte ergründet werden, wo Se. Excellenz der Herr Minister wohne, welche Begleitung er um sich habe, auf welche Weise er den Brunnen trinke, wo er den Nachmittag zubringe und welche Eigenthümlichkeiten der Lebensweise er beobachte. Es war nicht schwer, die nöthigen Erkundigungen einzuziehen.
Für eine große Menge müßiger Menschen liegt der Hauptreiz vielbesuchter Bäder darin, die Vertraulichkeit und das nähere Beieinandersein hervorragender oder vielgenannter Personen dahin auszubeuten, sie auf allen Schritten zu belauschen, Anekdoten über sie zu bilden und dieselben nach Möglichkeit in Umlauf zu setzen. Der ehrgeizige Kanzleirath brauchte nur bei Tische die Bekanntschaft des nächsten Herrn zu machen, der ihm, als der Kellner die „Suppe mit Ulmer Gersteln“ gebracht, prüfend in die Augen sah und unaufgefordert das Salzfaß zuschob, um alle nothwendigen Thatsachen zu erfahren. Herr Tiphonius war nicht der Klügste, was man aus seinem schlechthin abschreiberischen Berufe wohl schon ersehen haben wird, allein man braucht nicht „der Klügste“ zu sein, und kann doch noch sehr klug sein; dieses Axiom durfte man unserem Kanzleirathe getrost nachrühmen. Zwar hatte er, wie es doch alle strebsamen Staatsmänner eigentlich thun sollten, den Macchiavell nie gelesen, allein er hatte doch den „kleinen Macchiavell“, wie ihn auch der letzte Abschreiber in einem Ministerialburean so dringend als das tägliche Brod braucht und nach und nach praktisch erlernt, gehörig inne und beherzigte seine Lehren. Denn wenn der alte und große Macchiavell ausschließlich für Fürsten und Gewaltthäter geschrieben hat und ihnen angelegentlich die besten Maßregeln anempfiehlt, ihre Völker sich gründlich und nachhaltig unterthan zu machen, lehrt der kleine Macchiavell, den wir vielleicht noch einmal zu Papier bringen werden, die armen Subalternbeamten und Papierunterwürflinge, Gehorsam bis an die äußersten Grenzen der aschgrauen Möglichkeit zu leisten, und sich ihren Herren und Chefs durch die verkrümmteste Liebedienerei, ja, wenn es sein muß, selbst – durch Treubündelei angenehm zu machen.
Kanzleirath Tiphonius hatte beschlossen, den kleinen Macchiavell mit allen Requisiten in Scene zu setzen. Der bereitwillige Herr mit dem Salzfaß unterrichtete ihn, noch ehe die Zwetschken umhergereicht wurden, genau über die Lebensweise des Ministers. Er gehörte zu seinen Verehrern, obgleich er nicht im Staatsdienst stand, sondern dem Kaufmannsstande angehörte, aber er las alle parlamentarischen Verhandlungen und schätzte den Minister als einen liberalen und anständigen Herrn. Aus diesem Grunde beobachtete er Se. Excellenz täglich so eifrig, wie Wind und Wolken, und vermochte dem Kanzleirath, der ein wenig erröthend, so weit nämlich die Farbe des Blutes durch den Korduan seiner Physiognomie dringen konnte, ihn merken ließ, daß nur ein sehr wichtiges persönliches Anliegen der Grund seiner Anwesenheit in Marienbad sei, die nöthige Anweisung über seinen hohen Chef zu geben.
„Daß ich ihm als ein loyaler und fleißiger Beamter bekannt sein muß, glaube ich mit Gewißheit annehmen zu können,“ sagte der Kanzleirath, als der Herr mit dem Salzfaß seine Auseinandersetzungen geendet hatte, und sah wie Wallenstein, wenn er im fünften Acte beim Anblick des Jupiter des im Kampf gebliebenen Max Piccolomini gedenkt, melancholisch in die Ferne; „ich habe bei den Wahlen stets für die Candidaten des Ministeriums gestimmt –“
„Wofür Ihnen der liberale Herr Minister schwerlich Dank wissen wird!“
„Ja, bei Gott, Sie haben Recht, Herr von Manteuffel hat ja nicht mehr die Zügel des Regiments in Händen; dann schweigen wir lieber davon!“ flüsterte der Kanzleirath und seufzte tief, seiner politischen, etwas reactionären Antecedentien und Spucknapfstudien des Novembersystems gedenkend.
„Wenn ich Ihnen einen Rath geben kann,“ sagte der Cicerone, „so suchen sie am Morgen auf der Brunnenpromenade an den Herrn Minister zu kommen. Er speist, nachdem er Vormittags die einlaufenden Depeschen gelesen hat, im engsten Kreise in seinen Zimmern. Nachmittags macht er gewöhnlich, um dem verbotenen Schlafe vorzubeugen, eine Spazierfahrt. Gegen Abend erscheint er auf der Promenade, aber sich ihm dann auf irgend eine Weise zu nähern, wäre nicht empfehlenswerth; er wird gewöhnlich durch allerlei vornehme Bekanntschaften in Anspruch genommen. Auch zu einer Visite möchte ich nicht rathen!“
„Nein, das ist auch gar nicht meine Absicht, Alles muß sich auf die ungezwungenste Weise machen,“ sagte tiefsinnig der Kanzleirath; „zu Visiten ist Zeit und Gelegenheit genug in Berlin, aber ich habe meine ganze Hoffnung auf eine scheinbar zufällige Begegnung im Bade gesetzt. Zch strebe nicht nach Ungebührlichem. Was ich will, kommt mir von Gott und Rechtswegen zu, aber ich möchte nicht förmlich und schriftlich darum einkommen; wenn man seine sechsundzwanzig Jahre gedient hat, sieht es besser aus, wenn so etwas Einem anscheinend freiwillig gewährt wird.“
„Darf man vielleicht wissen, was?“ fragte neugierig das Salzfaß.
„Zu seiner Zeit, verehrter Herr, zu seiner Zeit sollen Sie Alles erfahren, oder Sie sehen mich nie mehr wieder; bis dahin dringen Sie nicht in mich,“ sagte mit gedämpfter Stimme der Kanzleirath, drückte dem gutmüthigen Nachbar die Hand, berichtigte seine Schuld an den Zählkellner und verschwand aus dem Speisesaale.
Von da an war sein heißes Bestreben, Sr. Excellenz in den Morgenstunden näher zu kommen. Er stand pünktlich um vier Uhr auf, legte seinen schwarzen Frack an, zog den warmen Paletot darüber, jedoch so, daß die Klappe des Frackes mit dem Bande des rothen Adlerordens den loyalen Preußen verrieth, und lustwandelte von fünf Uhr an auf der Promenade. Um sechs Uhr erschien der Minister und eröffnete seinerseits das übliche Becherspiel. [575] Aber es war unendlich schwer, sich Sr. Excellenz zu nähern; Tiphonius hätte wider alle Hauptregeln des kleinen Macchiavell verstoßen. Der mächtige Herr schien triftige Gründe zu haben, den glaubersalzhaltigen lösenden Brunnen zu trinken, er sah düster aus, als hätte er selbst hier mit fortwährendem geheimem Widerstande seiner Subalternen zu kämpfen; Tiphonius bemerkte wohl, daß es das Beste sei, ihm aus dem Wege zu gehen. Aber etwa zwei Stunden später verschwand der Minister regelmäßig in den Hallen neben der Promenade. Erschien er dann nach einiger Zeit wieder unter den Curgästen, so war er auffallend heiter: wenn man ihn grüßte, dankte er nicht mehr vornehm und verdrossen, sondern mit Herablassung und Liebenswürdigkeit, und warf einigen Begünstigten sogar witzige Bonmots zu; allein die Dauer seines Bleibens während dieses fröhlichen Seelenzustandes war so karg gemessen, daß ihm der Kanzleirath auch jetzt nicht zu nahen wagte. Der Ehrgeiz schärfte jedoch die geistigen Fähigkeiten des Mannes und verlieh ihm Erfindungsgabe; er glaubte eine wirksame Methode, mit Sr. Excellenz ein Gespräch anzuknüpfen, gefunden zu haben.
Zwei, drei Tage hindurch lag er gespannt auf der Lauer, die Gelegenheit war nicht günstig; da endlich schien ihm der große, Alles entscheidende Moment gekommen. Es war acht Uhr, in der Entfernung von etwa fünfzig Schritten kam ihm der allgewaltige Gönner entgegen. Sein Schritt war kurz und hastig, er sah geängstigt, beklommen aus; wußte nicht alle Welt, daß er der wohlwollendste, rechtschaffenste Herr, der treueste Gatte, der ehrenhafteste Edelmann sei, man hätte argwöhnen können, er litte an furchtbaren Gewissensqualen. Auf die Consequenzen dieser räthselhaften Stimmung hatte aber gerade Tiphonius, der teuflische Macchiavellist, gerechnet. Se. Excellenz griffen rasch nach den Rocktaschen, und ihre Mienen verdüsterten sich noch mehr; der scharfsinnige Kanzleirath hatte sich nicht verrechnet. Rasch eilte er in die nahen Hallen, wo nach seinem besten Wissen und Dafürhalten der Minister nach dem allgemein gültigen Localgebrauch Zuflucht suchen würde, und verbarg sich hinter der ersten Thür. Wenige Secunden später stürmte der Gönner herein und riß heftig die Thür auf. Jetzt war der entscheidende Moment da. Der Kanzleirath fuhr mit der Geschwindigkeit einer vulcanischen Eruption aus dem Gemach, überließ unter dem Ausruf: „Mit dem größten Vergnügen!“ dem Gönner den Griff der Thür und zugleich einen Zeitungsbogen, dessen Flächeninhalt vollkommen der obersten Steuerclasse der preußischen Journalistik entsprach, und eilte auf die Promenade zurück, indem er die verhängnißvolle Pforte scharf im Auge behielt.
Se. Excellenz ließen länger als gewöhnlich auf sich warten. Die Bademusik hatte das entzückende Lied der Meermädchen aus Weber’s Oberon fast vollendet, als der Gönner endlich wieder im Freien erschien. Er sah unendlich zufrieden aus, seine Stirn war geglättet, der gewöhnlich trübe, von einer unermeßlichen Geschäftslast gedrückte Gesichtsausdruck erheitert, das offene Auge glänzte, er blickte nach einem Menschen umher, dem er so wohl thun konnte, wie ihm selber war. Da stand Kanzleirath Tiphonius vor ihm. Man erzählt von der Klapperschlange, daß die durch ihren bösen Blick gebannten Vögel geradezu in ihren Rachen eilten; aber es ist für ein menschliches Herz tröstend, dazu ein erfreulicheres Seitenstück mächtiger schöner Menschlichkeit anführen zu können. Gefesselt, unwiderstehlich angezogen durch den seelenvollen Blick des Gönners, eilte der Glückliches ahnende Kanzleirath auf den Minister zu. Dieser schien ihn fast erwartet zu haben. Er dankte auf das Huldreichste, als Tiphonius seinen Devotionsapparat aus Filz schwenkte.
„Habe ich nicht das Vergnügen, einen meiner ältesten Beamten aus der Kanzlei vor mir zu sehen?“ fragte lächelnd der Gönner.
„Zu Befehl, Excellenz!“ antwortete Tiphonius und krümmte sich krampfhaft vor Seligkeit.
„So begleiten Sie mich, mein lieber Kanzleirath, und erzählen Sie mir in Kürze, wie Sie leben,“ sagte der Minister und machte eine gnädig einladende Schwenkung mit der Rechten.
Eine solche Huld hatte unser intriganter Held nicht erwartet; sie überstieg seine kühnsten Erwartungen. Er bildete pflichtschuldig einen Schritt links hinter dem Minister die Arrieregarde und schüttete dem großen Mann unverhohlen sein Herz aus. Mit der langen Dienstzeit hub er an, dann ging er auf die kolossale Arbeit über, variirte das Thema der wankenden Gesundheit und des kleinen Gehaltes und schloß mit einem leidenschaftlich romantischen Allegro über mangelnde Anerkennung. Hätten ihn nicht die mitleidigen Blicke des Gönners ermuntert, er wäre nie so frech gewesen.
„Was kann man für Sie thun, mein lieber Kanzleirath? Sie wissen, im Punkte der Gehaltsverbesserungen bin ich nicht unabhängig; aber reden Sie offen, Sie scheinen etwas auf dem Herzen zu haben,“ sagte lächelnd der Minister.
„Excellenz, kein Geld würde mich so glücklich machen, als das Beiwort Geheimer! Excellenz wissen, es ist der sehnlichste Wunsch jedes richtig organisirten Berliners – wenn ich den Titel: „Geheimer Kanzleirath“ erhalten könnte; das höchste Ziel meines Lebens wäre erreicht!“
Der Minister lächelte, aber er lächelte nur wie ein Menschenfreund. „Wenn ein verdienter Beamter dadurch glücklich gemacht wird, so soll es an meiner Verwendung nicht fehlen! Möge Ihnen die Cur gut bekommen!“ Noch einmal schwenkte er die Hand; der Kanzleirath war entlassen. Der glückliche Mann taumelte vor Entzücken, er wäre zu Boden gefallen, hätte ihn der Herr vom Salzfaß, der ihnen nachgeschlichen war, nicht aufrecht erhalten.
„Was haben Sie erreicht? sprechen Sie! theilen Sie mir Alles mit!“ rief der neugierige Herr.
„Noch heute Abend reise ich ab,“ schrie in bacchantischem Taumel der Kanzleirath und riß sich von ihm los, „ich werde „Geheimer“, ich muß zu meiner Frau zurück, sie muß es zuerst erfahren; meine Saison ist zu Ende! nach Hause! nach Hause!“
Ein Brief von Gerstäcker.
4° nördl. Breite.
Mein lieber guter Freund!
Als ich von Dir Abschied nahm, versprach ich Dir, von unterwegs einmal zu schreiben. – Ich will Dir mein Wort schon von hier aus halten, denn wenn ich meinen Bergsack auch noch nicht geschultert, meine Büchse noch nicht aus ihrem Futteral genommen habe, ist doch schon Manches geschehen, seit wir uns nicht gesehen, worüber ich mit Dir plaudern könnte – jedenfalls werd’ ich’s versuchen.
Als ich die Beschreibung meiner letzten Reise – jener Reise um den Erdball – schloß, geschah es mit den Worten etwa: und der Wandervogel steckt jetzt seine Flügel in die Tasche und ist fest entschlossen, von nun an zu Hause zu bleiben. – Es liegt eigentlich etwas Ironie darin, daß mir diese Worte gerade wieder in der Süd-See einfallen – ein Platz, der doch jedenfalls mit zum „Ausland“ gehört, aber – ich wäre eben kein Wandervogel gewesen, wenn ich hätte von da an so ruhig zu Hause bleiben können, und doch – Gott weiß es – ich bin ungern genug diesmal hinausgegangen. Kommt aber die Zeit, in der ein so unruhiges Blut einmal wieder reif zum „Ziehen“ ist, dann zuckt’s und treibts in den Adern, dann drängt’s und quält’s, und alles Sträuben hilft nichts – man muß fort. Da hab’ ich mich denn auch nicht lange geziert, sondern bin in mein altes Leben und Treiben wieder mitten hineingesprungen – jetzt hab’ ich zu thun, daß ich wieder herauskomme, und damit betäubt man am besten, was sonst dem armen Menschenherzen doch fast zu schwer zu tragen würde – die Trennung von daheim – die Trennung von daheim, ein böses – böses Wort.
Es ist schon ein recht schweres Stück, wenn man sich von den Seinen losreißen muß; wenn die Verhältnisse den Menschen zwingen, seinem Vaterland, seinen Lieben den Rücken zu kehren, und den Wanderstab in die weite Welt hinauszusetzen. Wie weh Einem da um’s Herz wird, ich habe es selber ja erfahren, ich weiß, wie sich’s erträgt. Aber der Mensch hat dann das Wörtchen muß, das ihm über Manches weghilft; und wenn er den Kopf zurückwenden will, geht es eben nicht mehr – er muß, und mit dem Bewußtsein tritt er der Zukunft resignirt entgegen. Anders aber stellt sich das, wenn man nicht gezwungen zu einem solchen Schritt ist, wenn man freiwillig Alles daheim verläßt, was sonst im Stande ist, den Menschen an seine Heimath zu binden, und dabei schon im Voraus genau weiß, welche Entbehrungen, welche Beschwerden, welche Gefahren uns dabei erwarten. Es gehört ein recht fester Wille dazu, dann doch zu sagen: ja! ich thu’s – und es auch wirklich eisern auszuführen. Leicht kann’s auf keinen Fall sein, denn ich halte es für das Schwerste, was ich in meinem Leben ausgeführt, und bin doch gerade nicht immer auf Rosen spazieren gegangen. Jetzt ist aber auch das Schwerste überstanden – der Abschied von daheim, und was nun noch folgen mag von Sonnengluth und Regengüssen, Hunger und Durst und dickköpfigen Indianern, sind eben nur Kleinigkeiten, über die man mit Leichtigkeit hinwegkommt.
Der Reisende selber hat es in der Hinsicht auch wirklich weit besser, [576] als die Zurückbleibenden, denn das Leben draußen, die vielen materiellen Kleinigkeiten, auf die er zu denken hat, nehmen ihn zu sehr in Anspruch, den Schmerz des Abschieds noch lange nachher so tief fühlen zu können, wie die Zurückbleibenden. So lange er noch in einem civilisirten Lande ist, verfolgt er mit dem Geldbeutel, in einem wilden mit der Büchse in der Hand seine Bahn, und – wenn die Abendstunden am Feuer nicht wären. könnte er sogar leichten Herzens durch die Welt fliegen.
Die Abendstunden am Feuer – es ist etwas Wunderbares um so ein Lagerfeuer draußen im Wald, wenn nichts als die Finsterniß eine dichte enge Wand um uns zieht und durch diese hin grell beleuchtete phantastische Baumäste ihre zackigen rauschenden Zweige in diesen Zauberkreis stecken. Die Dämmerstunde daheim ist auch eine Art Lagerfeuer, aber doch nur ein sehr civilisirtes, mag der aufgehende Mond noch so phantastische Schatten durch die Scheiben werfen. Er wirft sie eben durch eine Glasscheibe, und draußen gehen Leute auf der Treppe, unten auf dem Straßenpflaster rollen Wagen, die Magd steckt auch wohl den Kopf in die Thür und fragt, ob man Licht haben will, kurz – wenn man wirklich nicht gestört wird, ist man doch stets in Gefahr gestört zu werden – Eins so schlimm wie das Andere.
Manche lange, lange Nacht hab’ ich so draußen im Wald gelegen, und alle Anzeichen sind jetzt da, daß ich noch manche andere draußen liegen werde. Da arbeitet dann der Geist des Menschen, da gährt’s und kocht’s, da wird’s lebendig in ihm, so still und ruhig Alles draußen ist, und die Erinnerung, des Menschen größter Schatz, die ihm kein Unglück, keine Entfernung rauben kann, führt ihm die liebsten Bilder vor. Wohl dem dann, dem nicht Alles, was ihm lieb und theuer war, nur in der Erinnerung liegt, wohl dem, der auch noch eine Zukunft hat; der er entgegenstreben kann; er wird das Alles leichter, viel leichter überdauern.
Das sind aber Alles eigentlich nur Betrachtungen, mit denen ich Dich nicht länger behelligen möchte. Die besprechen sich auch viel leichter und bequemer, als daß man sie mühsam zu Papier bringt. Eher möchte ich Dir etwas Reelles aus meinem jetzigen Leben bieten, wenn man überhaupt aus einem Zustande, in dem man als Passagier zwischen Himmel und Wasser schwimmt, etwas Reelles bieten kann. Daß wir uns aber in der Wirklichkeit befinden, davon überzeugt uns schon die Royal Steamship Company, die den Preis ihrer Passage nach Pfunden, ich möchte fast sagen Centnern rechnet. Reisen ist überall theuer, nirgends aber theurer als auf Seedampfern, die freilich auch ungeheure Unterhaltung kosten. Ich selber hatte bis dahin noch keinen rechten Begriff davon, denn ich war noch nie auf einem solchen Dampfer gefahren. Denke Dir aber vor Allem, daß der La Plata, mit dem ich von Southampton nach Westindien abfuhr, allein täglich 80–90 Tons Kohlen verbrennt, die Ton zu 2000 Pfd., also eine Masse von 160–180,000 Pfd. täglich, und Du wirft danach viel leichter auf das Uebrige schließen können.
Wer übrigens noch nie auf See war, wird auf einem solchen Dampfer kaum einen Begriff von einer wirklichen Seefahrt bekommen können. Man lebt mehr wie in einem Großen Hotel, um das der Ocean allerdings herumschwimmt, ohne daß Einen dieser aber etwas weiter anginge. Die Bewegung ist dabei sehr mäßig, und wird ja Einer seekrank, so verschwindet er in einer der zahlreichen Kammern und kommt nach einigen Tagen zwar etwas bleich, aber doch sonst wieder ganz menschenähnlich zum Vorschein. Das Schnauben der Maschine geht dabei ununterbrochen, eisern fort, die Räder peitschen die bäumenden Wogen des Oceans, und gegen Wind und Strömung bricht sich der Koloß seine Bahn, – aber das ist Alles nur äußerlich; im Innern bemerkt man nichts davon, und Alles, was sonst eine Seereise interessant macht, verschwindet in dem rasenden Fortgang des Schiffes. Kein Fisch kommt in die Nähe der rauschenden Räder, kein Delphin, kein Bonito, kein Hai, höchstens daß wir einmal ein paar fliegende Fische aus ihrer Ruhe aufscheuchen – keine schwimmende Muschel, keinen Nautilus kann man auffischen, denn der Bootrand ist zu hoch. Das Dampfschiff bietet auch in der That gegen das Segelschiff auf See denselben Unterschied, den auf dem festen Lande die Eisenbahn gegen die gemüthliche Postkutsche zeigt – vorwärts – nur immer vorwärts, und Station St. Thomas, Station Panama – es sind immer nur wenige Minuten Aufenthalt.
Als Antritt meiner Reise ist mir das freilich ganz recht – ich will ja eben rasch in eine fremde Welt, für die Heimkehr aber, wo ich das Erlebte zu verarbeiten habe, werde ich mir wahrscheinlich wieder ein Segelschiff aussuchen, denn in solchem Leben und Treiben kann man seine Gedanken nun und nimmer sammeln.
Auch mit dem Verkehr unter den Passagieren ist es genau so auf einem Dampfer, wie auf der Eisenbahn daheim. Man verkehrt mit dem größten Theil derselben gar nicht und geht Tag für Tag fremd an ihnen vorüber, weil man ja im Voraus weiß, daß man nur wenige Tage mit ihnen zusammen ist – und an der nächsten Station stiebt doch Alles auseinander. So war es auch, als wir in St. Thomas anlegten. Verschiedene Dampfboote legten augenblicklich langseit, die Briefsäcke und verschiedenen Passagiere an Bord zu nehmen. Ein Theil von diesen ging nach Jamaica, ein anderer nach Demerara an der Ostküste Amerikas, ein dritter, und ich mit ihnen, nach Colon, dem Isthmus von Panama, und wenige Stunden später schnaubten wir schon Alle wieder auf unseren verschiedenen Bahnen davon, einander vielleicht im Leben nicht wieder tu treffen.
Ein wunderbares Gefühl war es mir immer unterwegs, diese kleine, für sich abgeschlossene und von jedem europäischen Luxus erfüllte Welt zu sehen, die allem Anschein nach vollkommen sicher und vergnügt ihre Bahn durch die rollenden Wogen verfolgte. In dem prächtigen verzierten Salon bewegen sich die Leute gemüthlich durcheinander, lachen, singen, spielen Karten, erzählen, und ein einziger Stoß von außen, ein einziger Fels im Meer, oder nur der Ruf „Feuer“ durch das erleuchtete Schiff – und welche furchtbare Verwandlung würde der erschaffen! Wohl hängen zahlreiche Boote draußen an Bord, und alle Vorsichtsmaßregeln sind getroffen, auch einer solchen Calamität zu begegnen, wenn sie eben hereinbrechen sollte; aber, du lieber Gott, wie wenig Menschen behalten in einer plötzlich hereinbrechenden Gefahr auch die nöthtige Ruhe, ihr mit kaltem Blute zu begegnen, und mit einer Masse von Passagieren ist es oft nicht möglich, in einem solchen Fall die Ordnung aufrecht zu erhalten. So mag es auch auf der Austria gewesen sein, als der Feuerschrei durch das Schiff dröhnte, und die vor Furcht rasenden Passagiere nach den Booten stürzten. In der Angst, in dem brennenden Schiffe zurückgelassen zu werden, zerstörten sie selber die einzigen Mittel, auf denen sie sich hätten retten können, überfüllten die Boote oder warfen sie selber so unvorsichtig nieder, daß sie gleich von Anfang an Wasser schöpften, und weihten sich selbst dadurch dem Untergang.
Das Alles mag auch uns vielleicht bevorstehen, aber glücklicher Weise kennt der Mensch sein zukünftiges Schicksal nicht. Was auch die Zukunft in ihrem Schooße birgt, es ist für uns noch mit einem dichten Schleier bedeckt, und das leichte Herz des Menschen, die frohe Hoffnung eines glücklichen Gedeihens, die uns fast immer die Seele füllt, hilft uns, daß wir an mancher Klippe und Untiefe unseres Lebens ahnungslos vorüberschiffen. Um das bestätigt zu sehen, brauchen wir auch nicht einmal in See zu gehen, unser einfaches Leben daheim liefert uns hierzu Tausende von Beispielen. Hier aber wie daheim dürfen wir bei einer plötzlich hereinbrechenden Gefahr vor allen Dingen nicht den Kopf verlieren. Hier wie daheim müssen wir unsere Sinne beisammen behalten und ihr fest und kalt entgegentreten – sie hat in dem Falle schon die Hälfte ihrer Furchtbarkeit verloren. Und werde ich selber meine guten Rathschläge befolgen? Ich will es hoffen. Wieder liegt ein bewegtes Leben vor mir – wieder ein ganzer Welttheil, den ich die Kreuz und Quer zu durchwandern gedenke – gebe Gott, daß wir uns im nächsten Jahr so frisch und fröhlich wieder sehen, als wir in diesem von einander Abschied nahmen, und da der alte Gott noch lebt, dürfen wir das ja auch hoffen. Bis dahin aber grüßt Dich herzlich, mein lieber Freund,
Das Schach, nicht mit Unrecht das Spiel für Denker genannt, hat schon seit alter Zeit in unserem Vaterlande, dieser zweiten Heimath des Gedankens, sich hoher Anerkennung und warmer Verehrer, die Tüchtiges in ihm leisteten, zu erfreuen gehabt. Im dreizehnten Jahrhundert von einem Predigermönche, Jakob von Cessolis, zum Thema moralischer Reflexionen erkoren, wurde es später von einem deutschen Fürsten, dem Herzog August von Braunschweig-Lüneburg († 1666), in einem starken Foliowerke theoretisch behandelt und dann durch hervorragende Geister wie Lessing, Kant und A. mit Vorliebe geübt und empfohlen. Ausgezeichnete Meister erster Stärke sind jedoch erst in diesem Jahrhundert erstanden: in Wien Allgaier und in Berlin Mendheim waren die ersten Vorläufer der gegenwärtigen, auch an praktischer Tüchtigkeit in jeder Beziehung dem Auslande ebenbürtigen Generation. Vor Allen sind es die Gründer und Anhänger der sogenannten Berliner Schule, welche nicht nur durch ihre bewundernswerthen theoretischen Leistungen, sondern auch durch entsprechende praktische Stärke bis in’s fernste Ausland hohen Ruhm erworben haben. Zwar sollten mehrere Vorkämpfer, namentlich Bilguer, Bledow und Hanstein, schon frühzeitig auf immer von uns scheiden, und andere Meister, wie Mayet und Anderssen, in neuerer Zeit durch Mangel an genügender Uebung von ihrer früheren Stärke entschieden einbüßen, aber durch Namen wie v. d. Lasa, der Herausgeber des größten Schachwerkes (des Handbuches des Schachspiels) und M. Lange, der Redakteur der Schachzeitung, wird auch heutzutage auf theoretischem und praktischem Felde der deutsche Schachruf über der ganzen Erde in vollem Klange erhalten. Indem wir von Zeit zu Zeit Partien von allen genannten Meistern als Proben ihrer praktischen Tüchtigkeit mitzutheilen gedenken, wollen wir für heute zunächst noch das Interesse der Schachfreunde auf eine unlängst in Leipzig erschienene Schrift hinlenken, welche in höchst anziehender Schilderung ein treues Bild von der erwähnten Blüthezeit der deutschen Meisterschaft, insbesondere der Berliner Schachschule, entwirft. Es sind die „Berliner Schach-Erinnerungen“, herausgegeben von dem Autor des Handbuches, dem gegenwärtigen preußischen Gesandten und Ministerresidenten am Hofe zu Weimar, Herrn v. d. Lasa. Wir entnehmen aus diesem höchst interessanten Werke, das außer dem genannten Inhalt auch noch die originellen Spiele von Greco und Lucena in einer genauen kritischen Bearbeitung zusammenstellt, die nachfolgende Aufgabe und Partie.
Stellung: Weiß. K e 6. S a 6, b 5. B d 6, e 5, e 7, f 6. Schwarz. K e 8. T c 8, h 8. L b 2. Matt in fünf Zügen durch Bauer c 5. Von Greco.
Weiß. | Schwarz. |
1) e 4 | e 5. |
2) f 4 | e f : |
3) S f 3 | g 5 |
4) L c 4 | g 4 |
5) o–o | g f |
6) D f 3 : | D f 6. |
7) e 5 | D e 5 : |
8) d 3 | L h 6 |
9) L d 2 | S e 7. |
10) S c 3 | c 6 |
11) T a e 1 | D c 5 † |
12) K h 1 | d 5. |
13) D h 5 | D h 6 |
14) L d 5 : | o–o |
15) T e 7 : | c d |
16) S d 5 : | S c 6 |
17) L f 4 : | L f 4 : |
18) T f 4 : | D e 7 : |
19) S e 7 † | S e 7 : |
20) D g 5 † | S g 6 |
21) T f 3 | L d 7 |
22) h 4 | T a e 8 |
23) T g 3 | f 5 |
24) D h 6 | f 4 |
25) T g 6 † | h g |
26) D g 6 † und gibt ewig Schach. |
gingen bei Unterzeichnetem wieder ein: 32 Thlr. 18 Ngr. Eine frohe Gesellschaft Deutscher in Karsum, Gouvernement Kief, auf dem Gute des Fürsten Lopuchin, durch F. Heinemann – 1 Thlr. H. v. T. in N. – 13 Thlr. 12 Ngr. Privatschützengesellschaft in Grimmen (Neupommern) – 1 Thlr. 4 Ngr. 4 Ngr. Sängerverein in Zeulenroda.
- ↑ Vergl. die Erzählung des Verfassers in Nr. 19–22: „In den Casematten von Magdeburg“.