Die Gartenlaube (1860)/Heft 44
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No. 44. | 1860. |
Mary Kreuzer.
Mary hatte mit großen, ernsten Augen und erhobenem Kopfe die Worte des Vertheidigers angehört, während ein leichtes Roth in ihr Gesicht getreten war. „Ich habe auf alles das nichts zu verschweigen, aber auch nichts zu bekennen,“ sagte sie, als der Advocat innehielt; „ich habe vor dem Unglücke den jungen Mr. Osborne nicht mehr als drei Mal in meinem Leben gesehen.“ Sie berichtete in kurzen Zügen, wie sie, unfähig englisch zu reden, ihn an der Einzäunung getroffen – wie er sie später auf den Wunsch des alten Kreuzer in seinem Schlitten nach Hause gefahren – und wie er zuletzt ihr auf dem Picknick entgegengetreten. Sie gab sodann von der letzten nächtlichen Begegnung zwischen ihr und dem Gefangenen eine genaue Beschreibung.
Der Advocat hatte, während sie sprach, den Blick auf sie geheftet, als wolle er ihre ganze Seele durchdringen; des Mädchens Haltung schien aber darunter nur immer freier zu werden und an Würde zu gewinnen. „Und so glaube ich, Alles gesagt zu haben, was ich nur zu sagen weiß!“ schloß sie; Osborne aber richtete ungeduldig den Kopf auf und erhob sich.
„Es ist das Alles nichts und es muß gerade herausgesprochen werden,“ begann er, „ein Mädchen wird natürlich nicht von selber reden. Die Welt sagt, mein Junge habe ein Liebesverhältniß mit der Miß hier gehabt, Kreuzer’s Junge habe Beide bei ihren Zärtlichkeiten im Walde ertappt, und so sei das Unglück fertig gewesen. Und wenn ich mir das Weitere dazu rechne, so scheint mir die Geschichte sehr wahrscheinlich. Mein James, um gleich Alles zu sagen, hat an dem einen dummen Streiche nicht genug und erklärt mir ganz einfach, daß er, sobald er frei sei, das Mädchen, das um seinetwillen ihre Heimath habe verlassen müssen, heirathen werde. In Bezug auf die Heirath werden natürlich noch einige Worte geredet werden,“ setzte er ärgerlich lachend hinzu; „es läßt sich davon aber auf das Vorhergehende schließen, und wenn ich wünschte, Miß, Sie wären lieber irgend wo anders hin, als zu uns verschlagen worden, wenn ich aus dem Ganzen nicht viel Rühmenswerthes für eine Person, die eine junge Lady sein will, herausfinden kann, so werden Sie mich jetzt wohl verstehen. Das ist aber nur unter uns gesagt und weil Sie es so verlangten; der Jury gegenüber ist es etwas Anderes; da handelt es sich vor Allem darum, alle Fragen zurückzuweisen, durch welche Ihnen ein besonderes Interesse an meines Sohnes Freisprechung nachgewiesen und so Ihre Glaubwürdigkeit als Zeuge geschwächt werden könnte. – Fragen Sie, Sir, da die junge Lady jetzt wohl genug wissen wird,“ wandte er sich an den Advocaten, „und fragen Sie, wie Sie denken, daß es im Kreuzverhör geschehen mag, Sie werden dann wohl bald klar sehen!“
„Lassen Sie nur das Fragen, Sir,“ fiel Mary ein, in deren bleichem Gesichte die Augen in einem tiefdunklen, feuchten Glanze schimmerten, während ihre Stimme leise bebte; „ich werde sicher auf nichts mehr antworten; ich habe versprochen, mein Zeugniß abzulegen, aber nicht die fortdauernden, absichtlichen Beleidigungen eines Mannes zu ertragen, der mich hätte in Schutz nehmen sollen –“ sie nahm einen neuen Ansatz zum Sprechen, aber als fürchte sie den Ausbruch ihrer Bewegung, erhob sie sich plötzlich und that einige Schritte nach der Thür.
„Halloh, Miß, warten Sie einmal!“ rief Osborne, rasch aufspringend, „es hat kein Mensch daran gedacht, Sie zu beleidigen; aber bei einer Sache, wo es um Leben und Tod geht, muß voll herausgesprochen werden – und zuletzt verlangen Sie wohl auch noch von mir, ich soll zu dem letzten Einfalle meines Jungen Ja und Amen sagen, nur um Sie nicht zu beleidigen?“
Mary war stehen geblieben und hatte sich langsam umgedreht, ihr Blick war wieder klar und fest. „Was ich verlange, ist, daß Sie einem Mädchen, das für Sie gut genug ist, Ihren Sohn befreien zu helfen, das Sie hierher in eine achtbare Familie gebracht, ihre Ehrenhaftigkeit nicht nehmen – das Einzige, was sie besitzt. Sie möchten dem boshaften Geschwätz Recht geben, weil es vielleicht das Bequemste für Sie scheint, dadurch den ausgesprochenen Absichten Ihres Sohnes in den Weg zu treten; ich aber sage Ihnen, Major Osborne, daß ich erst würde gefragt sein wollen, was ich zu einer solchen Absicht sage, deren Erfüllung nur Alles bestätigen müßte, was jetzt über mich geredet werden mag. Ich bin jetzt eine Waise, Sir, die nur auf ihre eigene Kraft angewiesen ist; aber wenn die Erziehung dem Menschen eine Stellung geben kann, so glaube ich dieselbe Stufe einzunehmen und dieselbe Rücksicht zu verdienen, als Ihre eigenen Töchter, Sir, wenn Sie deren hätten. Seien Sie vollkommen wegen der Absichten Ihres Sohnes beruhigt, Mr. Osborne, mein Wort hat er nicht dazu!“
Sie wandte sich ab und ging hochaufgerichtet aus dem Zimmer. Einige Secunden lang herrschte das Schweigen der Überraschung unter den Zurückgebliebenen. „Wie alt ist das Mädchen?“ begann endlich Osborne, der bis dahin den Blick auf die geschlossene Thür geheftet.
„Sie kann nicht viel über sechzehn Jahre sein,“ erwiderte der Hausbesitzer mit einem langsamen Kopfnicken; „sie muß aber
[690] nach dem, was sie uns und meiner Lucy, mit der sie Freundschaft gemacht, erzählt hat, schon viel Unglück erlebt haben, und das macht frühzeitig reif.“
„Ich halte das ganze Gerede über die junge Lady für einen böswilligen Schwatz der Kreuzer’s und ihrer Anhänger,“ begann jetzt der Advocat, „und ich traue meiner Menschenkenntnis; so viel zu, daß ich rathen möchte, nur das als wahr zu betrachten, was sie als geschehen angibt. Ihre Erscheinung und ihre Weise, einer grundlosen Anschuldigung entgegen zu treten, wird viel günstiger auf die Jury wirken, wenn wir der Gegenpartei vollen Spielraum lassen, als wenn wir einzelne Fragen der Anklage unbeantwortet niederschlagen!“
„Gerade meine Meinung!“ warf der Farmer ein, „und ich kann Ihnen nebenbei sagen, Major, daß Ihr James gar keinen übeln Geschmack hat!“
„Danke schön!“ brummte Osborne, „mein Geschmack sind aber diese Deutschen, mögen sie nun aussehen, wie sie wollen, niemals gewesen, und der dumme Junge soll eher an etwas Anderes denken, als an ein Mädchen, das ihr bisheriger Pflegevater in New-York auf der Straße aufgelesen hat!“ –
Mary war nach der Kammer gegangen, welche sie mit der Tochter des Hauses theilte. Bald aber kam diese, ihr verkündend, daß der Major mit seinem Begleiter das Haus verlassen habe – und von diesem Tage an fand Mary in der Familie eine erhöhte Herzlichkeit, eine Theilnahme, welche sich mehr in der Art, ihr zu begegnen, als in bestimmten Worten aussprach. James wurde zwar nach wie vor nicht erwähnt, desto mehr aber stand er vor Mary’s Seele, nicht als Bild geheimer Sehnsucht oder stillen Verlangens, sondern als edler Mensch, der ihr vergelten wollte, was sie um seinetwillen verloren – wenn sie jetzt auch selbst zurückweisen mußte, was sie unter andern Umständen wohl glücklich gemacht haben würde.
So kam der Tag der eröffneten Gerichtssitzung heran, und von dem Major, welchen die Nähe der Entscheidung völlig schweigsam gemacht zu haben schien, abgeholt, wie von ihrer neuen Freundin Lucy begleitet, hatte Mary den Weg nach der Stadt angetreten. Osborne hatte dort, um seinen Advocaten aufzusuchen, die beiden Mädchen im Hotel allein gelassen; bald aber verließ auch die lebendige Lucy, von dem entstehenden Lärm auf der Straße angezogen, das Zimmer. Mary’s Gedanken wandten sich, sobald sie allein war, der bevorstehenden Verhandlung, von welcher sie sich nur einen dunkeln Begriff zu machen wußte, zu; trotz des Unbekannten aber, welchem sie entgegen ging, fühlte sie einen Muth in sich, für die Sache des Angeklagten einzustehen, der ihr ganzes Innere hob und kräftigte.
Kaum einige Minuten indessen mochte sie mit sich selbst beschäftigt gewesen sein, als Lucy mit verstörtem Gesichte zur Thür hereinstürzte. „Um Gotteswillen, das gibt ein Unglück – sie wollen ihn lynchen – komm und sieh selbst!“ rief sie und ergriff die Hand der Freundin, diese mit sich aus dem Zimmer reißend.
Mary verstand nichts, als daß dem Angeklagten ein Unglück drohe, und selbst als sie, bleich von dem sie überkommenden Schrecken, auf dem Balcon des Hotels stand und mit mehreren der Inwohner, die sich dort bereits gesammelt, auf die heranziehende schreiende Menge blickte, konnte sie sich von der eigentlichen Natur des gefürchteten Unglücks noch keine rechte Vorstellung machen.
„Da – sie wollen das Gefängniß stürmen, sie wollen ihn hängen! hörst Du?“ rief Lucy entsetzt.
„Das gibt eine fürchterliche Geschichte. Fast lauter Deutsche, zu denen man nicht einmal eindringlich reden kann, und eine Menge verdächtiges Gesindel darunter, das den Brand nur immer ärger schürt!“ klang die Stimme eines nebenstehenden Mannes; „sie meinen, der Gefangene soll der Untersuchung entzogen werden – die alte Geschichte, sie wollen kurzen Proceß mit ihm machen – in fünf Minuten müssen sie das Gefängniß erbrochen haben!“
Mary überblickte die sich an dem Hotel vorüber wälzenden Menschen, und das Verständniß der drohenden Gefahr stieg mit einer Klarheit, die sie fast erdrückte, in ihrer Seele auf. Ihr Auge flog umher, ob nicht irgendwo eine Macht dem wahnsinnigen Haufen entgegentrete; noch an die europäischen Begriffe öffentlicher Ordnung gewöhnt, schien es ihr unmöglich, daß selbst nur der Versuch zu einem Verbrechen, wie es hier beabsichtigt wurde, ungestraft gemacht werden könne. Aber in sichtlich sich immer steigernder Aufregung bewegte sich die Masse dem Countygefängniß entgegen, das unweit des Courthauses in einer Nebenstraße seine aus Balken gezimmerte, mit einer starken Thür versehene Vorderseite zeigte. Einige Aexte wurden plötzlich in den Händen der vordersten Gestalten, welche die Führer der ganzen Bewegung zu sein schienen, sichtbar; die Zeit konnte schon fast berechnet werden, in welcher die Thür vor dem Andrange zusammenbrechen mußte, und Mary meinte, ihr Herz sich wie in einem Krampfe zusammenziehen zu fühlen. „Soll denn das wirklich geschehen?“ wandte sie sich an die sie umstehenden Männer.
„Es ist eine Schande!“ erwiderte der frühere Sprecher, „aber wer will sich dem Mob entgegenstellen, wenn er sich nicht selbst opfern will?“
Da fiel Mary’s ruheloses Auge auf eine Gruppe, welche sich an einem der Häuser, einige Schritte abseits der wogenden Masse befand, und ihr Blick begann sich mit einem eigenthümlichen Feuer zu beleben. Der alte Kreuzer war es, der lebhaft gesticulirend zwischen drei oder vier Männern stand – kaum zwei Secunden ruhte des Mädchens Auge auf ihm, als sie, wie von einem plötzlichen Gedanken erfaßt, sich nach dem Innern des Hauses zurückwandte und von da die Treppe hinabeilte. Auf halbem Wege kam ihr hier der junge Advocat erhitzt und von Schweiß triefend entgegen. „Ist der Major oben?“ rief er ihr zu und faßte, da sie an ihm vorbei eilen wollte, als hätten seine Worte kaum ihr Ohr berührt, ihren Arm.
„Lassen Sie mich, lassen Sie mich!“ rief sie leidenschaftlich, „oder das Unglück geschieht, ohne daß Jemand helfen kann!“ Seine Hand löste sich, und sie stürzte weiter; er aber folgte, als wisse er nichts Besseres zu thun, dicht an ihrer Seite.
Mit fliegenden Schritten eilte das Mädchen der von ihr wahrgenommenen Gruppe zu und schob die Männer, welche den Alten umstanden, energisch zur Seite. „Vater, um Gotteswillen!“ rief sie, die Hand des sichtlich betroffenen Farmers ergreifend, „wenn Du nicht selbst zum Mörder mit werden willst, so sprich ein Wort zu den Leuten! Auf Dich werden sie hören, müssen sie hören, Du hast das Recht hier und sonst Niemand. Du weißt, Vater, daß ich Dein gutes Kind gewesen bin, das Dich lieb gehabt wie seinen leiblichen Vater und dem Du glauben darfst – Du weißt, wie der Heinrich um’s Leben gekommen ist, und daß Alles Bosheit ist, was in einer andern Weise gesagt wird; jetzt hilf, daß ein wirklicher Mord verhütet werde, der Dir nimmermehr Ruhe lassen würde, wenn Du ihn hättest verhindern können –“
„Ich möchte’s ja wohl, ich verdamme das ganze Treiben, ich hab’s eben gesagt! aber wie kann ich helfen – ?“ rief der Alte, das Auge von dem Mädchen abwendend, und über die tobende Menge, die kaum noch zwanzig Schritte von ihrem Ziele entfernt war, blickend; – da klang ein heller Laut durch den Lärm, und auf der Treppenerhöhung, welche nach der Gefängnißthür führte, erschien eine kräftige Gestalt mit grauem Haar, mit beiden Händen beschwichtigend über die Menge winkend.
„Der Richter – hört ihn!“ erklang es zugleich von verschiedenen Seiten; die Menge schien zu stutzen, und der Lärm minderte sich. Mit möglichster Anstrengung erhob der aufgetauchte Redner seine Stimme, und einige Secunden lang schien es, als solle er Gehör gewinnen; als aber die englischen Laute an die deutschen Ohren schlugen, begann der Lärm wieder zu steigen und wurde bald so arg, als er nur vorher gewesen. „Aus dem Wege mit ihm, er ist gerade so gut gekauft, wie die Andern!“ wurde eine brüllende Stimme laut, und das jetzt folgende Geschrei verschlang die letzten noch hörbar gewesenen Laute des Redners.
Mit zitternder Spannung, Kreuzer’s Hand fest in der ihrigen haltend, hatte Mary den Vorgang beobachtet. „Jetzt komm, Vater, sprich zu den Menschen, oder es wird zu spät!“ fuhr sie auf, als der bisherige Sprecher Miene machte, seinen Platz zu verlassen. Sie hatte in der Verwirrung des Augenblicks englisch gesprochen, und ein plötzlicher Hoffnungsschein ging über das Gesicht des Advocaten an ihrer Seite. – „Du mußt, Vater!“ fuhr sie energisch fort, als der Alte, wie im Kampfe mit sich, den Blick zur Seite wandte, „Du mußt, wenn Du an Dich selber und die Andern zu Hause denken willst; um Deinetwillen geschieht hier Alles, und auf Dich wird es allein fallen, wenn die That geschehen ist!“
„Sie hat Recht, Sir!“ trat der Advocat drängend hinzu; „zögern Sie keinen Augenblick, wenn Sie nicht um des fremden Gesindels willen, das nur des Spectakels wegen die Sache angezettelt hat, sich selber unglücklich machen wollen!“
[691] „Denke an Deinen guten Namen, Vater!“ rief Mary in ängstlicher Bitte; Kreuzer aber hatte den Blick über die ihn umgebenden Männer laufen lassen, hatte gesehen, wie die Augen bei Erwähnung einer möglichen Verantwortlichkeit die Blicke des Advocaten zu vermeiden suchten, wie eine Bewegung sich unter ihnen zeigte, als möchte Jeder bei der ersten Gelegenheit sich zurückziehen, und sein braunes Gesicht überflog ein dunkeles Roth des Aergers. Mit einem finstern Kopfnicken wandte er sich nach dem Advocaten: „’s ist schon recht, lassen Sie uns den kürzesten Weg suchen!“ und in der nächsten Secunde waren Beide, an den Häusern hineilend, zwischen den Menschen verschwunden.
Der Richter hatte nach einem erneuten Versuche, sich Gehör zu verschaffen, soeben mit einem trüben Kopfschütteln seinen Platz verlassen, und ein betäubendes Geschrei folgte seinem Verschwinden, als an derselben Stelle sich das unwillig verzogene Gesicht und die breite Gestalt des alten Farmers erhob.
„Kreuzer, Kreuzer! Hurrah für Kreuzer!“ rief es jetzt von allen Seiten; der Angerufene aber ließ finster den Blick über die Masse schweifen, und kaum schien es der mahnenden Rufe zur Ruhe zu bedürfen, um den soeben noch unstillbaren Lärm in ein erwartungsvolles Schweigen zu verwandeln.
„Hab’ ich hier Bekannte darunter?“ begann jetzt der Alte mit weithin tönender Stimme.
„Ja, ja!“ schrie es massenhaft von allen Seiten.
„Gut, denen spreche ich auch nur, und ich möchte ihnen blos hier laut und deutlich sagen, daß von meiner Seite nicht die geringste Ursache zu dem jetzigen Spectakel und was damit zusammenhängt, gegeben worden ist, und daß Jeder für das, was er etwa hier thut, selber die Verantwortlichkeit auf seinen Kopf zu nehmen hat. Das Unglück liegt schwer genug auf mir, als daß ich noch das, was aus der Geschichte hier entstehen muß, auf mich laden mag, und wer jetzt geglaubt hat, mir eine Freundschaft zu erweisen, der kennt nun meine Meinung. Uebrigens denke ich, wenn ich zufrieden bin, kann’s auch jeder Andere sein, der nicht blos des Krawalls halber hier losschreit und sich nichts daraus macht, ob er ordentlichen Leuten damit eine böse Suppe einbrockt. So, und nun mag Jeder thun, wozu er Lust hat.“
Mit einem kräftigen Kopfnicken trat er zurück und verschwand; die erhitzte Menge aber erschien wie plötzlich mit kaltem Wasser übergossen. Wohl wurden an verschiedenen Orten die frühern aufreizenden Rufe laut, aber die Antwort blieb aus, und die Menschen in ihren Bewegungen wandten sich nicht mehr dem Gefängnisse zu, sondern begannen durch einander zu wogen; die Masse schob sich auseinander, bald trennten sich hier und dort einzelne Haufen ab, denen andere nachfolgten, und in einer Zeit, so kurz wie es nach dem erregten Zustande der Menge kaum für glaublich gehalten worden wäre, hatte sich diese in zahlreiche, eifrig sprechende Gruppen zertheilt.
Eine Viertelstunde später gaben nur noch einzelne, vor den verschiedenen Trinklocalen versammelte kleine Haufen Zeugniß von der stattgehabten Aufregung.
Kreuzer hatte, als er die Treppenerhöhung verlassen, sich nach den Häusern zur Seite der Straße gewandt, um schnell dem Gewühl zu entkommen, fühlte aber kräftig seinen Arm gefaßt. Aufblickend sah er in des Majors Gesicht, in welchem sich noch alle Empfindungen, welche der stattgehabte Auftritt in ihm erzeugt, widerspiegelten. Zu seiner Seite befand sich der Advocat.
„Einen Augenblick nur kommen Sie mit mir, Mr. Kreuzer,“ sagte der Erstere, fast krampfhaft die Hand des alten Farmers fassend, „ich habe nicht verstanden, was Sie gesprochen haben, aber ich sehe es an den Menschen um uns; ich kann Ihnen jetzt nicht so danken, wie ich es möchte –“
„Haben mir nichts zu danken, Sir,“ unterbrach ihn der Alte, seine Hand zurückziehend, „wenn ich hier etwas gethan habe, ist es meinethalber und sonst keines andern Menschen wegen geschehen. Wollen Sie sich durchaus bedanken, so thun Sie’s bei der Mary, ohne die es mir gar nicht eingefallen wäre, ein Wort zu reden, und – ja das wollte ich sagen, weil es gerade so paßt – Sie haben jetzt das Mädchen bei Bekannten untergebracht; machen Sie gut an ihr, was sie durch das Unglück in meiner Familie verloren hat. Ich hätte sie nicht von mir gelassen, wenn es angegangen wäre; es ist ein Kind, so brav, als es nur eins gibt, war aber zu fein für uns, sonst wäre wohl auch Alles anders gekommen. Denken Sie daran, Sir, wenn Ihr Sohn ohne großen Schaden durchkommen sollte, daß Sie an der Mary vergelten mögen, was Sie an den Kreuzer’s nicht gut machen können!“ Er nickte ernsthaft und schritt dann zwischen die Menschen hinein.
„Wenn die Gefahr vorüberzieht, haben Sie wirklich der jungen Lady das Meiste zu danken, Major,“ sagte der Advocat, den Blick über die Menschen schweifen lassend, „und ich denke, das Schlimmste ist vorüber. Sie war die Einzige, welche das rechte Hülfsmittel erkannte, und als sie sich unter die Menschen warf, verstand ich selbst nicht eher, was sie wollte, bis ich sie den Alten fast zwingen sah, zu reden. Aber wo ist sie jetzt? Wir müssen jedenfalls nach ihr sehen! Und hier ist noch ein guter Gedanke,“ fuhr er fort, als Osborne, vor sich nieder blickend, an seiner Seite hinschritt, „der mir bei dem, was Kreuzer über die junge Lady geäußert, durch den Kopf geschossen ist –“ er schien auf eine Aeußerung seines Begleiters zu warten, Osborne aber gab keine Antwort und schritt, als habe er kaum gehört, mitten durch die sich zerstreuende Menge, dem Hotel zu.
Am nächsten Morgen war das Städtchen nicht weniger gefüllt, als am Tage vorher; ein einziger Blick aber belehrte das kundige Auge von der Verschiedenheit zwischen der heutigen und gestrigen Menge. In merkwürdiger Schnelle hatte sich die Nachricht von dem „dutch Mob“ in der ganzen Umgegend verbreitet und das gesammte Amerikanerthum für den Fall herbeigezogen, daß ein erneueter Auflauf der Deutschen stattfinden sollte. Von diesen ließ sich aber kaum hier und da ein Gesicht blicken, und die Gerichtsverhandlung nahm in voller Ordnung vor den gedrängten Zuschauern ihren Anfang.
Mary, unweit des Vertheidigers auf dem Zeugenplatze, verwandte bleich und ruhig den Blick nicht von dem Richter und dessen nächster Umgebung, selbst nicht, als die entstehende Bewegung unter den Zuhörern die Einführung des Angeklagten verkündete. Sie wußte, daß von heute wieder ein neuer Abschnitt ihres Lebens beginne. Der Major hatte gestern die beiden Mädchen, ohne mit einem Worte des Geschehenen zu erwähnen, wieder nach Hause gefahren, und so lebendigen Antheil auch die Mitglieder der Farmersfamilie an den stattgehabten Vorfällen nahmen und der Farmer ihr zum ersten Male erklärte, sie möge sein Haus, komme was da wolle, so lange als ihre Heimath betrachten, als sie einer solchen bedürfe, so fühlte sie doch mehr als je, daß sie es sich selbst schuldig sei, mit der Freisprechung des jungen Osborne, auf welche sie sicher rechnete, die unmittelbare Nachbarschaft zu verlassen. Sie hatte die bestimmte Ahnung, daß sich James von seinem Vater nicht abhalten lassen werde, ihr zu vergelten, was er ihr schuldig zu sein glaubte; die ganze Weise indessen, in welcher der Major sie behandelt, hatte einen Stolz in ihr wach gerufen, der ihr vorschrieb, eher jeden innern Schmerz und jede äußere Entbehrung zu ertragen, wenn sie dadurch die niedrige Meinung dieses Mannes über sie vernichten konnte, als durch ein Nachgeben ihrer eigenen Neigung alle die hämischen lautgewordenen Voraussetzungen zu rechtfertigen.
Die Anklage auf Mord war verlesen, der Gefangene hatte sein „Nicht schuldig!“ erklärt, und die Vertheidigung rief das einzige vorhandene Zeugniß zum Nachweis auf, daß nur ein Todtschlag, und zwar in Selbstvertheidigung erfolgt, vorliege. Mary gab nach ihrer Vereidigung das Geschehene in allen seinen Einzelheiten, und die anschauliche Klarheit, mit welcher dies geschah, verbunden mit der anfänglich leise bebenden Stimme und dem ruhigen, bleichen Gesichte machten auf Jury und Publicum einen sichtlich günstigen Eindruck. Jetzt erhob indessen der Staatsanwalt den Kopf und erklärte, wie Angesichts des nur zu deutlich ausgesprochenen Mißtrauens, das unter den deutschen Bürgern des County’s herrsche, die strengste Untersuchung eine gebieterische Pflicht werde, und begann hierauf das Unwahrscheinliche eines Angriffs, ganz ohne dazu gereizt worden zu sein, wie ihn der Todte gegen einen langjährigen Nachbar ausgeführt haben solle, darzulegen. Nicht allein diese ersichtliche Lücke in dem Zeugniß schwäche letzteres, erklärte er, sondern auch noch ein anderer Umstand. Nach den Ergebnissen der Coroners-Untersuchung habe der Mord in einem von dem Festplatze abseits gelegenen Theile des Waldes stattgefunden. Sicher aber folge eine junge Lady nur dem intimsten Bekannten so weit ab von der Gesellschaft, und die Anklage sei wohl berechtigt anzunehmen, daß ein Verhältniß zwischen der Zeugin und dem Angeklagten stattgefunden habe, welches die Erstere jetzt auf die natürlichste Weise bewege, die eigentliche Ursache des Streits [692] unerwähnt zu lassen. Das ganze Zeugniß sei deshalb äußern und innern Gründen nach von so geringer Bedeutung, daß die Jury sich hüten möge, ein besonderes Gewicht darauf zu legen. Die vollbrachte Tödtung sei von dem Angeklagten bereits zugestanden, und so müsse die Anklage bei einem gänzlich mangelnden annehmbaren Entlastungszeugniß auf ihren ursprünglichen Forderungen stehen bleiben.
Jetzt erhob sich der Vertheidiger und begann die traurige Stellung der Anklage zu geißeln, welche, um die Idee eines eingebildeten Verbrechens aufrecht zu erhalten, kein anderes Mittel wisse, als, trotz des von der Zeugin abgelegten Eides, nicht allein die Glaubwürdigkeit derselben auf die vagsten Voraussetzungen hin zu bezweifeln, sondern sich sogar nicht scheue, in verdeckter Weise die Ehre einer achtbaren jungen Lady, welche, nur ihrem Pflichtgefühle folgend, auf dem Zeugenstande erschienen sei, anzugreifen. Zufällig sei er diesmal im Stande, fuhr er fort, die hohe Respectabilität seiner Zeugin und die gänzliche Grundlosigkeit aller Voraussetzungen seitens der Anklage nachzuweisen, und damit zugleich die Freisprechung des Angeklagten über allen Zweifel zu erheben – wolle das Gericht ihm nur erlauben, einen Zeugen zur Feststellung des ersten Zeugnisses vorzuführen, dessen Glaubwürdigkeit in dem vorliegenden Falle wohl nicht wieder beanstandet werden könne. Er wandte das Gesicht nach dem Zuschauer-Raume, und zwischen den Menschen hervor trat der alte Kreuzer. Ein Summen und Murmeln erhob sich plötzlich, der tiefe Eindruck, welchen seine Erscheinung machte, war unverkennbar. Er leistete ernst den Zeugeneid und sprach dann unter einem tiefen Schweigen der Anwesenden:
„Ich bin aufgefordert worden, als ehrlicher Mann zu sagen, was ich über das junge Mädchen hier weiß, und ich muß es thun, wie auch die Sachen stehen mögen, denn es hat noch niemals ein wahreres und besseres Kind gegeben, als sie ist; das sag’ ich, wenn ich auch, als das große Unglück über mich kam, selbst Unrecht that in meinem Schmerze. Und so sage ich auch, weil es die Wahrheit ist, daß Alles, was da von Liebesgeschichten und dergleichen geredet worden ist, ihr nur im Hasse nachgesagt werden kann. Das Kind ist nicht eine Stunde des Tags aus meinen Augen gekommen, und nach dem Picknik, wo der schreckliche Schlag über uns kam, ist sie nur gegangen, weil ich es verlangte. Ich sage, es ist das Sündhafteste, einer elternlosen Waise, der das Schicksal ihre einzige Heimath, die sie hatte, genommen, auch noch die Ehre und den guten Ruf stehlen zu wollen – mich drängt es, das zu sagen, und mein armer Heinrich, der jetzt nichts mehr von irdischer Rache weiß, wird mir Recht geben, wenn er jetzt hierher sehen kann!“
„Vater Kreuzer!“ rief in diesem Augenblicke Mary aufspringend und die Hand des Alten erfassend.
„’s ist schon recht, Kind,“ erwiderte dieser, seine Linke auf des Mädchens Kopf legend; „es hat nicht sein sollen mit uns, wie ich es mir ausgedacht hatte; das Schicksal hat eine Wand zwischen uns gezogen, über die wir Beide nicht hinaus können. Aber so lange ich es verhindern kann, sollen sie Dir wenigstens Deine Reputation nicht nehmen!“
Er trat langsam in den Zuschauerraum zurück, während Mary ihren bisherigen Platz suchte, und noch eine volle Minute lang schien der Eindruck der Scene jeden Laut unter den Zuschauern niederzuhalten.
Die Anklage hatte auf das weitere Wort verzichtet, die Jury hatte sich nicht einmal von ihren Plätzen erhoben, sondern nach kurzem Wispern das „Nicht schuldig!“ durch ihren Vorsitzenden verkünden lassen, und der Angeklagte war im Nu von zahlreichen Freunden umringt, die, fast ehe noch der Richter die Verhandlung geschlossen, ihn in ihrer Mitte davon führten. Auch der Vertheidiger war dem allgemeinen Zuge gefolgt und Mary sah sich plötzlich allein, bis sie endlich ihre Freundin Lucy sich nach ihr durchdrängen sah.
„O, Mary, es war so rührend, und Du hast so viele Freunde gewonnen!“ rief diese ihre Hand fassend. Jetzt erschien aber auch der Vater der Sprechenden, nahm mit einem herzhaften: „So mußt’ es kommen!“ gegen Mary die Arme der beiden Mädchen unter die seinigen und führte sie zwischen den davon strömenden Menschen aus dem Saale.
„Ich denke, wir lassen jetzt die Osborne’s wo sie sind,“ sagie er, als das Courthaus hinter ihnen lag, „sie werden doch sobald von ihren Freunden nicht loskommen, und das Beste ist, wir fahren gleich nach Hause!“
„Nur noch einen Augenblick, Sir!“ rief Mary, ihren Arm frei machend. Sie sah den alten Kreuzer soeben unweit über die Straße gehen und war mit einigen Schritten an seiner Seite. „Vater Kreuzer, ich habe Dir noch nicht gedankt!“ begann sie, seine Hand ergreifend, „und wie geht’s zu Hause?“
Der Alte sah ihr trübe in das erregte Gesicht. „Du hast nichts zu danken, Kind,“ sagte er, „ich kam ja nur der Aufforderung Eueres Advocaten nach, um wieder in etwas gut zu machen, daß ich in meinem Leide Dich so allein in die Welt hinausgeschickt hatte. – Es geht nicht gut daheim, Mary,“ fuhr er den Kopf schüttelnd fort, „die Mutter, weißt Du, hat sich beinahe nur von der Hoffnung genährt, den James hängen zu sehen; dabei ist sie aber jeden Tag schwächer geworden und liegt nun schon seit ein paar Tagen fest. Sie hat mich gestern und heute in die Stadt getrieben – was aber mit ihr werden wird, wenn sie hört, daß der James Osborne ganz frei ausgegangen – und ich habe doch vor Gott und meinem Gewissen nicht anders handeln können – weiß ich nicht. Ich habe so einen Gedanken, Alles zu verkaufen und hinüber nach Missouri zu ziehen, wo das Land noch besser sein soll als hier herum – wir werden ja sehen, wie Alles kommt!“ Er nickte dem Mädchen trübe zu und schritt seines Weges weiter. –
Mary war mit ihren Freunden auf deren Farm angekommen, aber noch ehe eine Viertelstunde verstrichen war, hielt auch Osborne’s Wagen vor dem Thore der Einzäunung. Ein nervöses Zittern überkam das Mädchen, als sie von ihrer Kammer aus den Major und dessen Sohn auf das Haus zukommen sah. Als aber Lucy zu ihr hereinsprang, um sie von dem Besuche und dessen Wunsche, sie zu sehen, zu benachrichtigen, deutete nur noch eine tiefe Blässe ihre innere Erregung an.
Als sie die Vorderstube betrat, in welcher die Familie die Angekommenen umringte, eilte ihr James mit ausgestreckten Händen entgegen. „O, es war unrecht, Miß Mary, daß Sie sich so schnell davon machten, ohne uns nur ein Wort zu Ihnen zu gönnen!“ rief er. Dann aber, wie von ihrem Ernste betroffen, sah er ihr zwei Secunden lang schweigend in die dunkeln Augen. „Haben Sie denn keinen Gruß für mich, Mary?“ fragte er endlich.
„Es ist vielleicht das Beste, Mr. Osborne,“ erwiderte sie gedrückt, während ein leises Roth in ihre Wangen stieg und wieder ging, „wir haben überhaupt keinen Gruß mehr für einander. Sie erhalten sich damit die Zufriedenheit Ihres Vaters, und ich werde nicht mehr nöthig haben, um meinen guten Namen fürchten zu müssen!“
Sie sah ihm mit einem so bestimmten und doch so schmerzlichen Ernste in die Augen, daß ihm das Wort auf der Zunge zu sterben schien.
„Mary, ich weiß nicht ganz, was Sie meinen. Ich weiß aber doch, daß ich jetzt nicht so von Ihnen gehen kann!“ sagte er endlich, ihr auf’s Neue die Hand entgegenstreckend.
„Gehen Sie nur, Mr. Osborne,“ erwiderte sie, leicht ihre Hand in die seine legend, „und wenn Sie wirklich glauben, mir etwas schuldig zu sein, so lassen Sie dies als unsern Abschied gelten!“ Sie schien noch etwas sagen zu wollen, drehte sich aber plötzlich um und schritt aus dem Zimmer.
Der alte Major hatte mit steif zusammengezogenen Augen die Scene beobachtet. Der Farmer aber, als habe er kaum etwas Anderes erwartet, nickte nur mit dem Kopfe, als sich die Thür hinter dem Mädchen schloß.
Als Lucy der Freundin nach einigen Minuten folgte, fand sie die Kammerthür verschlossen, und erst am späten Nachmittag kam Mary mit rothgeweinten Augen wieder zum Vorschein. – Niemand im Hause aber schien es zu bemerken, keine Andeutung des stattgehabten Auftritts fiel, und erst mit beginnendem Abend drückte Lucy mit vielsagendem Blicke der Freundin ein kleines Couvert in die Hand. „Ich habe es soeben von ihm!“ flüsterte sie und wandte sich wieder davon.
Mary stand und hielt das erhaltene Papier, als dürfe sie kaum die Finger darum schließen. Als sie sich aber allein sah, stieg sie nach der gemeinschaftlichen Kammer hinauf, verschloß die Thür von Neuem und öffnete dann mit einem leisen Beben ihrer
[693][694] Hände das Billet. Sie sah nicht nach der Unterschrift, sie begann langsam, als wolle sie jedes Wort erwägen, zu lesen:
- „Theuere Mary!
- Ich habe mit meinem Vater ein langes, ernstes Gespräch gehabt und begreife jetzt die Gründe Ihrer Handlungsweise, die mich heute Mittag vollkommen zu Boden schlug. Ich reise morgen früh von hier ab und werde Sie in zwei Jahren nicht wieder sehen – was mein Schicksal nach meiner Rückkehr sein wird, liegt einzig in Ihrer Hand.
- Ich habe meinem Vater versprochen, nichts mehr als diese Nachricht Ihnen zugehen zu lassen, und ich will ehrlich gegen ihn sein, damit ich später auch volle Ehrlichkeit von ihm fordern kann.
- Gedenken Sie Ihres
- James Osborne.“
- Gedenken Sie Ihres
Noch als bereits die volle Dunkelheit hereinzubrechen begann, saß das Mädchen auf dem eingenommenen Platze, den erhaltenen Brief in der herabgesunkenen Hand und das Auge träumend durch das offene Fenster gerichtet.
Es war kein Wort über Mary’s fernern Aufenthalt in dem Hause geredet worden, aber unter den Familiengliedern herrschte ein Ton, als verstehe sich ihr längeres Bleiben von selbst. Wohl war es dem Mädchen in den ersten Tagen gewesen, als dürfe sie eine Rücksicht nicht annehmen, die kaum auf etwas Anderes als auf das Mitleid mit ihrer vereinsamten Stellung gegründet sein konnte. Indessen hätte sich eine Aenderung ihrer augenblicklichen Lage nur durch den Uebertritt in ein dienendes Verhältniß herbeiführen lassen, und so wenig sie auch früher den geringsten Anstoß daran genommen, so war es ihr doch jetzt, als müsse ein derartiger gesellschaftlicher Rücktritt ihr eine ganze Zukunft vernichten, die jetzt nur wie ein Traumgebild, das sie nicht zu berühren wagte, in ihr lebte. So schwieg sie und suchte in regem Bestreben sich nützlich zu machen, ihre neue Heimath zu verdienen, und das stille Lächeln der Hausfrau, wenn es in Lucy zu erwachen schien, als wolle sie nicht hinter der Freundin zurückbleiben, wie die launigen, wohlwollenden Worte des Farmers zeigten ihr eine Anerkennung, die ihr mit jedem Tage mehr ihre Sicherheit zurückgab.
Es war drei Wochen später, als an einem Nachmittage der kleine George Kreuzer auf der Farm erschien und in seiner Freude, die frühere Schwester wieder zu sehen, fast des Auftrags vergaß, der ihn hergeführt. Die Mutter sei so krank, berichtete er endlich, und wolle Mary gern sprechen, und Vater lasse recht sehr bitten, daß sie komme. Das Mädchen verfärbte sich einen Schatten, machte sich aber sogleich zum Mitgehen fertig.
Kreuzer mußte nach den Beiden ausgesehen haben, denn er kam ihnen schon auf halbem Wege nach der Einzäunung entgegen.
„Es ist ganz recht, Mary, daß Du kommst,“ sagte er, dem Mädchen trübe die Hand reichend, „ich denke, Mutter wird es nicht mehr lange machen – es sitzt ihr innerlich, weißt Du, wo kein Doctor dazu kann – aber komm herein!“
Mary überschritt die so bekannte Schwelle, und aus dem Bette im Vorderzimmer sah ihr die fast zum Skelett abgemagerte Gestalt der Frau entgegen. Sie machte einen Versuch, sich aufzurichten, als sie das Mädchen bemerkte, fiel aber matt zurück, und die Letztere beeilte sich, den Stuhl neben dem Bette einzunehmen.
„Ich mußte Dich noch einmal sehen, Mary,“ sagte sie mit einer Stimme, die von ihrem früheren Tone nichts als die eigenthümliche Härte behalten zu haben schien, „damit ich meinem Heinrich einen Gruß von Dir bringen kann. Er hat gemeint, Du wolltest nichts von ihm wissen, und der Osborne’s Junge müsse es Dir angethan haben; davon ist das ganze Unglück hergekommen, ich hab’s wohl gewußt. Und nun freut’s mich jetzt, daß ich ihm eine andere Nachricht bringen kann – ’s ist recht brav von Dir, daß Du den Andern hast ablaufen lassen! Er ist jetzt fort nach Europa, hör’ ich – wenn er aber auch an’s Ende der Welt ginge, wird er doch dem Wiedersehen mit meinem Heinrich nicht entlaufen können!“ Sie nickte einigemal still vor sich hin, dann sanken langsam ihre Augen zu, und als Mary sich über sie bog, war sie eingeschlafen.
Das Mädchen erhob sich leise, warf einen Blick durch das Zimmer, welches den gänzlichen Mangel einer ordnenden Hand verrieth, und traf auf den weichen Blick des Alten. „So hat sie bis jetzt noch keinen anderen Gedanken gehabt, als den Heinrich,“ sagte er halblaut; „komm heraus, daß wir sie nicht stören!“
„Ich denke, Vater,“ begann Mary, als sie in’s Freie traten, „ich komme jeden Morgen herüber und sehe nach der Wirthschaft, bis Mutter sich wieder erholt hat.“
„Wenn Du’s wolltest, Kind, es wäre gut für uns Alle!“ nickte Kreuzer, „vielleicht, wenn Alles wieder in rechten Zug kommt, wendet sich dann auch die Krankheit der Mutter; ich weiß sonst nicht, auf was ich noch eine Hoffnung setzen soll!“
„Morgen früh bin ich bei guter Zeit hier,“ erwiderte sie, dem Alten die Hand reichend, und von einem Händedruck begleitet, der fast zu wohlgemeint für ihre feinen Finger war, machte sie sich auf den Heimweg.
Als sie am andern Morgen Kreuzer’s Haus betrat, fand sie die Frau todt und das Haus von den nächsten Nachbarn gefüllt.
Die Zeit verging. Kreuzer hatte wirklich seine früher ausgesprochene Absicht ausgeführt, hatte seine Farm verkauft und die Gegend, die ihm so viel Herzeleid gebracht, verlassen. Sein Käufer aber war Osborne gewesen, und die Deutschen umher behaupteten, der Major habe nur einen so hohen Preis bezahlt, um den Alten bald aus der Nachbarschaft wegzubringen und so alle Erinnerungen an die vergangenen Dinge zu verwischen. Einigermaßen im Einklang damit stand wenigstens, daß der Käufer das Haus abbrechen und den Platz umher zu einem gewöhnlichen Maisfelde umpflügen ließ.
Mary, noch immer in der Familie des amerikanischen Farmers, war zu einer vollen, rosigen Jungfrau herangeblüht, und kein gesellschaftlicher Kreis in der Umgegend galt für vollständig, dem sie mit ihrer Freundin Lucy nicht beiwohnte. Lucy war bereits nach Jahresfrist Braut geworden; so viel begehrliche Augen aber auch auf Mary fielen, so viele halbe, prüfende Worte, trotz des bekannten geringen Vermögens, welches sie besaß, laut wurden, so wenig schien sie doch von dem Vorzug, welchen sie genoß, zu wissen oder auch nur den leisesten Unterschied in Behandlung der jungen Männer, welche sie umschwärmten, machen zu können. Mancher Besuch ward in der Familie mit augenscheinlich bestimmter Absicht abgestattet, aber niemals fiel seitens der „alten Leute“ auch nur das kleinste andeutende Wort gegen das Mädchen.
So war bereits der dritte Sommer herangekommen, welchen Mary in ihrer neuen Heimath verlebte, und sie war eines Morgens im Hinterzimmer mit Ordnung der Hauswäsche beschäftigt, als der Farmer hereintrat und sich mit einem eigenthümlichen Lächeln auf dem nächsten Stuhle niederließ. „Wir haben eine Einladung für morgen,“ sagte er, „und wenn wir Uebrigen auch nichts dagegen haben konnten, so habe ich doch in Bezug auf Sie noch nicht zugesagt. Der älteste Sohn vom Major Osborne, der Lieutenant, ist gekommen, um für eine längere Zeit Abschied zu nehmen; er ist nach irgend einem Fort hinten bei den Indianern commandirt, und so will der Vater zu seinen Ehren morgen noch eine „Partie“ geben.“
Das Mädchen sah starr auf ihre Wäsche nieder und schüttelte langsam den Kopf. „Sie glauben doch selbst nicht, daß ich bei der Einladung mit gemeint sein kann;“ erwiderte sie mit halber Stimme, „und wenn es wäre, so wissen Sie eben so gut, daß ich nach Allem, was mir der Major gesagt, zumal da er es nicht einmal eines Wortes der Entschuldigung gegen mich werth gehalten, nicht hingehen könnte!“
„’s ist schon recht und es war ungefähr, was ich vermuthete!“ nickte der Farmer, „er mag die Pille einmal schlucken. Uebrigens denke ich, Sie werden morgen nicht gar zu lange ohne uns sein!“ Er erhob sich mit einem sonderbaren Lächeln von Befriedigung und verließ das Zimmer.
Mary mochte etwas blässer sein als gewöhnlich, als die Familie am andern Tage nach des Majors Farm abfuhr, aber ihre, sichere Haltung beim Abschied sprach deutlich aus, daß sie der Gründe ihres Handelns sich voll bewußt war.
Fast zwei Stunden hatte sie im Vorderzimmer, eine Nätherei auf dem Schooße, verbracht, bald durch die offene Thür in die sonnige Waldlandschaft hinausblickend und ihren Gedanken nachhängend, bald, wie sich selbst auf verbotenen Wegen ertappend, eilig ihre Arbeit aufnehmend, als sie einen leichten Wagen an dem Thor der Einzäunung halten, und mit einem Gefühle, das wie [695] ein Schrecken ihren ganzen Körper durchzuckte, den Major herausspringen sah. Als der Angekommene in die offene Thür trat, stand sie, bleich wie die Wand, in der Mitte des Zimmers; Jener schien sich indessen kaum viel an das Aeußere ihrer Erscheinung zu kehren.
„Ich muß Ihnen sagen, Miß,“ begann er, während es wie unterdrückter Humor zwischen seinen Augen spielte, „daß ich es für unrecht halte, einem alten Knaben, wie mir, zwei Jahre lang Dinge nachzutragen, die längst vergessen sein sollten. Es war eine böse Zeit, damals, und es mag manches Wort gefallen sein, von dem ich heute nicht einmal mehr etwas weiß. Jetzt geben Sie mir Ihre Hand – ich sage Ihnen, es thut mir leid, was auch damals geschehen sein mag; wir kannten uns eben zu der Zeit noch nicht – und ich werde’s nicht wieder thun!“
Mary sah den so ungewohnten Ausdruck in dem Gesichte des Sprechenden, sah die ihr entgegengestreckte breite Hand, und ein fast krampfhaftes Zittern überlief ihren Körper. „Ich habe nie mehr verlangt, Major, als daß Sie mich mit andern achtungswerthen Mädchen auf eine Linie stellen!“ sagte sie leise, mit Macht versuchend, ihrer Herr zu werden, und legte ihre Hand in die dargebotene.
„So, das ist also abgemacht, jetzt reut mich auch nicht der Weg hierher;“ lachte der Alte in sichtlichem Vergnügen – Mary hatte ihn noch nie lachen hören – „und nun ziehen Sie sich ein anderes Kleid für die Gesellschaft an, ich warte so lange, und dann gehen Sie mit mir!“
Sie hatte das Zimmer verlassen, ohne sich dessen recht bewußt zu sein; als sie aber die Treppe nach ihrer Kammer hinauf sprang, klang es in ihr wie hundert Engelsstimmen. Sie hatte wohl noch nie so schnell als jetzt ihren Anzug beendet, und doch fühlte sie ihren ganzen Körper zittern; sie nahm sich nur noch Zeit, die Magd von ihrer Entfernung zu benachrichtigen. – Erst als sie, von dem flüchtigen Rappen gezogen, sich ein ganzes Stück von der Farm entfernt fand, kam sie zu eigentlicher, klarer Besinnung. Neben ihr saß wortlos der Major, das Pferd zur Eile treibend, aber mit demselben Zucken des Humors zwischen den Brauen, das Mary bei seiner Ankunft bemerkt; die Felder und Walkstrecken flogen an ihnen vorüber, und bald tauchte vor des Mädchens Blicken das große steinerne Wohnhaus auf, das schon, als ihr George zuerst davon berichtet, ihre Phantasie rege gemacht hatte.
Hinter dem Gebäude klang Musik, als der Wagen auf den geschmackvoll mit Ziergewächsen besetzten Vorplatz rollte; ein Knecht sprang herbei, um das Pferd zu halten, und Mary konnte es nicht vermeiden, sich von ihrem Begleiter aus dem Wagen heben zu lassen.
„Jetzt, damit es in der Freundschaft nicht wieder einen Riß gibt, kommen Sie einen Augenblick hierher!“ sagte dieser, des Mädchens Hand fassend. Sie sah sich in die breite, mit hohen Thüren besetzte Vorhalle geführt, eine der letzteren[WS 1] that sich unter seiner Hand auf – „so, wir sehen uns dann bei der Gesellschaft wieder!“ hörte sie noch, dann aber war ihre ganze Seele in ihr Auge übergegangen – in dem Zimmer vor ihr war James neben dem Fenster aufgesprungen.
Sie standen einander gegenüber, Beide dieselben und doch so verändert – sie in der vollen Blüthe der Jungfräulichkeit, aber wohl nie schöner, als in der Ueberraschung des Augenblicks – er männlich gebräunt und mit kräftig sprossendem Barte.
Eine halbe Stunde später suchte das Paar die auf dem waldigen Grunde hinter dem Hause sich vergnügende Gesellschaft auf; aber schon kam ihm der Major, wie von Ungeduld getrieben, auf dem Wege entgegen. Ein Blick in die Augen Beider schien ihm zu genügen, und er faßte derb des Mädchens Hand. „So, Miß Mary, und nun für jetzt kein Wort weiter, ich habe nur meinem James ein ehrlich gegebenes Versprechen gehalten – habe es gern und mit Freuden gehalten, weil der Junge gescheidter war, als sein Alter, und so wollen wir unsere Rechnungen gegenseitig quittiren!“ Er bog sich nieder und drückte einen warmen Kuß auf des erröthenden Mädchens Lippen. – –
Vier Wochen später zog Mary als junge Frau nach der Osborne’schen Farm, deren Bewirthschaftung James nach seiner Rückkehr übernommen.
Von Kreuzer’s wurde nichts wieder gehört, so oft sich auch Mary später Mühe gab, wenigstens den Aufenthaltsort des Alten zu erkunden.
Der Minenkrieg.
Die vor Kurzem erfolgte Demolirung der Festungswerke von Jülich hat der preußischen Artillerie Veranlassung gegeben, bei dieser Zerstörungsarbeit umfängliche Versuche im Minenkrieg anzustellen, eine um so nützlichere Uebung für den Soldaten, als sich dieser Zweig der Kriegführung nur selten in Friedenszeiten umfänglich anschaulich machen läßt. Gleichwohl bildet derselbe einen, wichtigen Theil des Belagerungskrieges, zu dessen Anwendung man immer schreiten muß, sobald Hindernisse etwelcher Art dazu nöthigen, die auf der Oberfläche und bei Tageslichte nicht zu erreichenden Zwecke auf unterirdischem Wege im Schooße der Finsterniß zu erstreben. Wer sollte nicht schon von den Schrecknissen des Minenkrieges gehört haben? Ist doch der moralische Eindruck desselben selbst auf das Gemüth des Soldaten, der sich einem furchtbaren, unheimlichen und ebenso geheimnißvollen als vernichtenden Zerstörungsmittel gegenüber weiß, von solch mächtiger Einwirkung, daß oft das bloße Gerücht vom Vorhandensein von Minen hinreichte, die Entschlossenheit und Todesverachtung des Kühnsten zu lähmen. Wir wollen, veranlaßt durch die in Jülich stattgefundenen Uebungen, versuchen, unsern Lesern in Kurzem einen Blick in das Wesen des Minenkrieges thun zu lassen.
Minen sind bekanntlich unterirdisch eingeschlossene Pulverbehältnisse, welche entweder den Zweck haben, das sie umgebende Erdreich durch die Kraft einer entzündeten schwachen Pulverladung nur in soweit zu erschüttern, daß die in der Umgebung der Mine gelegenen Höhlungen des Erdreichs zusammengequetscht werden (daher der Name Quetschminen), ohne daß die Erschütterung sich bis zur Oberfläche des Bodens fortpflanzt, oder mittelst großer Pulvermassen, die man nahe unter die Erdoberfläche legt, die darüber befindlichen Gegenstände in die Höhe zu schleudern (Demolirungs-Minen). Auf freiem Felde gegen Truppen, z. B. zum Schutz von Verschanzungen angelegt, um lediglich Schrecken und Verwirrung unter den stürmenden Feinden zu verbreiten, wozu gewöhnlich einige Pfund eingegrabenes Pulver hinreichen, nennt man diese Art Minen Flatterminen. Indeß hat man im Felde selten die nöthige Zeit zu solchen umständlichen Vorbereitungen, und so bleibt die Anwendung der Minen im Kriege meist auf den Festungskrieg beschränkt, wo sie vom Angreifer wie Vertheidiger benutzt werden, und zwar von jenem, um sich den Weg zu den Festungswerken zu bahnen und diese dann umzuwerfen, von diesem, um durch Anlage von Contreminen die Angriffsarbeiten zu zerstören und den Angreifer unterirdisch zu bekämpfen.
Fast alle neueren Festungen, so z. B. auch die seit den Befreiungskriegen neuerbauten deutschen Bundesfestungen, sind gleich von Haus aus mit Einrichtungen versehen worden, um vom Haupt-Graben der Festung aus das muthmaßliche Angriffsterrain des Feindes durch Anwendung von Minen diesem auch unterirdisch streitig machen zu können, und so wird voraussichtlich bei einer etwaigen Belagerung dieser Plätze der Minenkrieg eine bedeutende Rolle spielen, trotz oder vielleicht gerade wegen der Vervollkommnung unserer heutigen Fernwaffen, wie noch vor wenigen Jahren die Belagerung von Sebastopol zeigte.
Die erste Anwendung der Pulverminen schreibt man Peter Navarro, einem Spanier in venetianischen Diensten zu, welcher sie 1500 bei der Belagerung von Cephalonia, ebenso gegen die Hafenschlösser von Neapel mir Erfolg versuchte. Von da an kamen die Minen allenthalben zur Einführung und fanden insbesondere bei den Türken großen Beifall. Ihre Minenarbeiten bei den Belagerungen Wiens 1529 und 1683, obgleich rein empirisch betrieben, sind erstaunenswerth und setzten die alte Kaiserstadt in harte Bedrängniß. Die heimtückischen Störungen, welche der Gang einer Belagerung durch den Minenkrieg erlitt, bildeten endlich im Laufe des 17. Jahrhunderts ein vollständiges Kriegssystem
[696] in dieser Gattung aus, das noch heute in seinen Grundzügen besteht, wenn es auch jetzt auf wissenschaftlichen Grundsätzen ruht. Insbesondere war der Nutzen des Zeitgewinns, dieses Hauptaugenmerk des Vertheidigers, der Grund, daß die alten Kriegsbaumeister ihre festen Plätze vielfach mit Minensystemen unter dem gedeckten Weg und dem Glacis, d. h. auf dem Begrenzungsterrain der Festung nach außen, versahen. Man erbaute in dem Hauptgraben, vorausgesetzt, daß er nicht zu bewässern war, am Fuße der dem Feinde zugewendeten Grabenböschung, der sogenannten Contreescarpe, einen rings um die Festung laufenden hallenartigen Gang, die sogenannte Haupt- oder Enveloppengallerie, von welcher bereits fertige ausgemauerte unterirdische Gänge (Zweige, Rameaux) sich aller 40–50 Schritt in das Vorterrain erstreckten. Von diesen Zweigen aus gingen wieder niedrige und kürzere Nebenzweige (Horchgänge) seitwärts aus, die, mit den benachbarten zusammen betrachtet, ein vollständiges Gewebe unter dem Boden bildeten. Da man von den Spitzen der Horchgänge aus auf ungefähr 40 Fuß Entfernung unterirdische Arbeiten des Gegners hören kann, so sind die Horchposten im Stande, die Annäherung des Feindes schon von Weitem zu erfahren, denn der Angreifer kann keinen Schritt thun, ohne in die Wirkungssphäre eines der Horchgänge zu gerathen. Der Mineur des Vertheidigers hat hierdurch einen großen Vorsprung. Er baut vom Ende des Horchganges oder des nächstgelegenen Zweiges seinen unterirdischen Gang dem Feinde weiter entgegen, natürlich nur in Holzverkleidung, bis er dem gleichfalls arbeitenden Feinde so nahe gekommen ist, daß er die Mine glaubt wirken lassen zu können. Diese Wirkung wird immer darauf hinausgehen, entweder durch Anlage einer Quetschmine den Minengang des Angreifers zusammenzudrücken und den Mineur zu verschütten, oder, falls es sich darum handelt, ein Angriffsobject des Gegners, z. B. eine Batterie, in die Luft zu sprengen, eine Demolirungsmine anzulegen.
In beiden Fällen wird nun der Minengang an seinem Ende mit der entsprechenden Pulvermenge geladen (entweder mit Kästen oder Beuteln voll Pulver) und hierauf die Leitung zum Entzünden angebracht; schließlich erfolgt das Verdämmen und Verriegeln der Pulverkammer mittelst einer Wand von Holz, Sandsäcken und Rasen, die so stark sein muß, daß sie von der Wirkung des Pulvers nicht zerstört wird, damit sich diese lediglich gegen das in’s Auge gefaßte Object richtet. Zuletzt erfolgt das Zünden der Mine, wozu man die verschiedensten Vorrichtungen besitzt. Das Einfachste ist die sogenannte Zündwurst, eine mit Pulver ausgestopfte Wurst von Leinen oder Baumwolle, welche ihr eines Ende im Minen-Ofen, ihr anderes in den rückwärtigen Minengängen hat. Der sogenannte englische Patentzünder, ein dünnes Tau, welches im Innern wie das Mark in einem Knochen einen feinen Pulverkern hat, ist eine neuerfundene Abart der Zündwurst und wird, da sie hermetisch und wasserdicht hergestellt werden kann, besonders zum Zünden von schwimmenden und unterseeischen Minen angewendet, wie solche die Russen bei der Vertheidigung von Kronstadt etc. unter der Oberfläche des Wassers angebracht hatten. Außer dieser Zündmethode existiren noch eine Menge anderer mechanischer Zündmittel, z. B. die sogenannte Mausefalle, ferner eine Art Gewehrschloß, dessen Drücker mit einer Schnur abgezogen wird. Doch scheinen alle diese Arten in Zukunft durch die Anwendung der Elektricität und des Galvanismus in Wegfall kommen zu sollen, wie der erste gelungene Versuch dieser Art im Großen von den Oesterreichern 1853 im Lager zu Olmütz und neuerdings wieder in Jülich dargethan hat. Man bedient sich dazu gewöhnlicher Volta’scher Batterien, deren Draht durch den Minenofen geführt wird und durch Einwirkung des elektrischen Stromes mit seinem feinen Platin-Ende in Glühen versetzt wird. Die Entzündung erfolgt sicher und fast augenblicklich, ohne den Mineur einer Gefahr auszusetzen, in die er bei andern Zündmethoden leicht gerathen kann.
Doch ist es nicht allein die Mühseligkeit der Arbeit und die Gefahr beim Zünden, welche den Mineur bedroht. Wir erwähnten, daß es vor Allem auf den richtigen Moment des Zündens ankomme; aber selbst wenn es dem Mineur gelungen ist, dem Gegner hierin zuvorzukommen, erwachsen ihm aus seinem eigenen unheimlichen Siege neue Gefahren. Wenn er die Verdämmung weggeräumt hat, um weiterzuarbeiten, oder auch sonst in die Wirkungssphäre einer früher gesprengten Mine geräth, so strömen ihm die in der Erde zurückgehaltenen schädlichen Pulver-Gase entgegen, die ihn minenkrank machen. Hier kann ihn nur schneller Rückzug retten, denn die mit Erbrechen und Uebelkeit beginnende Krankheit endet oft mit dem Tode. Derartige Gasanhäufungen oder schlechte Wetter verhalten sich oft Jahre hindurch. In Festungen, wo vollständige Minensysteme erbaut sind, hat man deshalb auch besondere Ventilatoren in Vorrath, Apparate, welche mittelst lederner Schläuche frische Luft von außen in die Minengänge treiben und die verpestete Luft zum Austritt nöthigen.
Das gefährliche und dunkle Treiben des Mineurs ist nicht mit Unrecht mit der Thätigkeit des Maulwurfs verglichen worden. Auf den Knieen ruhend arbeitet der vorderste Mann der kleinen Arbeiter-Abtheilung mit einer kleinen Schaufel und gräbt sich ein schmales Loch vorwärts, um die daraus gewonnene Erde in einen Sack zu schütten und diesen seinem Hintermanne zu reichen, der ihn nach rückwärts zum Minengange hinaus befördert. Andere sind beschäftigt, das erzielte Loch sogleich mit Holz auszusetzen, wozu man sich einer Art Thürgerüste bedient, um den Minengang vor dem Einsturz zu sichern. Dies Alles geschieht beim Schein einer Laterne, in beengtester Körperstellung und oft bei Luftmangel, denn ist der Gang über 150 Fuß vom Eintritt der freien Luft entfernt, so ist das Athmen oft ganz unmöglich. Weiß sich der Mineur in der Nähe des Gegners, so tritt noch das Bewußtsein der Todesgefahr hinzu. Aus den dumpf zu ihm dringenden Arbeitsschlägen seines Feindes muß sein geübtes Ohr zu errathen wissen, ob derselbe noch vorwärts gräbt, oder bereits ladet oder gar schon verdämmt. Dann wird mit fieberhafter Hast gearbeitet, um dem Todfeind mit der Herstellung der eigenen Mine zuvorzukommen. Auch kommt es vor, daß die Mineure, wenn sie sich sehr nahe sind, gegen einander weiter arbeiten, um sich im persönlichen Kampfe zu begegnen. Dann gilt es meistens der Erste zu sein, ein Loch in den gegnerischen Bau zu machen, nicht größer, als um eine angezündete Stankkugel in den Gang des Feindes werfen zu können, deren aus Pech, Harz, Federn etc. entquillender Dunst diesen erstickt oder so betäubt, daß er seine Arbeit einstellen muß. Bricht der Angreifer unversehens mit seinen Gängen in das Minensystem des Vertheidigers ein, ein allerdings seltener Fall, so kommt es darauf an, so weit als möglich in den Contregallerien vorzudringen und diese an einer Stelle möglichst nahe an den Eingängen einzuwerfen und dadurch dem Vertheidiger die Benutzung dieser Gänge unmöglich zu machen. Unter Umständen kann es dann zu Kämpfen Mann gegen Mann in den Minen kommen, weshalb in einigen Armeen die Mineure mit Windbüchsen bewaffnet wurden. Nicht selten aber sind die Fälle, daß der glückliche Sieger nicht allein die drohende Gefahr von sich abwendete, und den Gang des Feindes auslud oder zerstörte, sondern sich desselben sogar zu seinem eigenen Vortheil bediente, sich in den Localitäten des Gegners einnistete und die eroberte Mine zuletzt gegen den Feind selbst vorrichtete.
Gewöhnlich wird die Aufgabe des Horchdienstes, den man den unterirdischen Sicherheitsdienst nennen kann, besonders dazu bestimmten Mineuren übertragen, die in den Horchgängen, kurzen, niedrigen Seitenschachten von nur einer Elle Höhe und Breite, auf dem Leibe liegend beim Scheine einer Sicherheitslampe eine kleine auf den Boden aufgestellte Trommel beobachten, auf deren Fell Erbsen gelegt werden, die durch ihre mehr oder minder hüpfende Bewegung vermöge der Erschütterung durch die feindlichen Schläge die Entfernung des Gegners andeuten. Ein anderes sinnreiches Mittel bietet die Beobachtung der schwingenden Bewegung leichter an einem eisernen Häkchen aufgehangener Metallglöckchen. – Doch trügt die verschiedene Festigkeit des Bodens, je nachdem derselbe sandig, thonig oder steinig ist, außerordentlich, und da ein genauer Horchmesser noch nicht erfunden ist, so bleibt die Combination der Meldungen verschiedener Horchposten in benachbarten Gallerien noch immer das sicherste Mittel, um den Schluß zu ziehen, wo und womit sich der feindliche Mineur gerade beschäftigt, sicher ist, daß der Dienst des Mineurs der beschwerlichste, aufregendste und ruhmloseste ist, da die Glorie der Bedeutung seines Wirkens im Dunkel der Nacht und ungesehen von der Mitwelt ihm leider nur zu oft verloren geht. Und wie wichtig doch oft dieses Wirken ist, mag das einzige Beispiel zeigen, daß bei der Belagerung von Sebastopol die russischen Mineure die angreifenden Franzosen während dreier Monate vor der Mastbastion auf einer Stelle festhielten, so daß dieselben es zuletzt aufgaben, dieser Bastion näher zu kommen. Mehrere Belagerungen wurden durch die Anwendung [697] des Minenkrieges um die doppelte Zeit ihrer gewöhnlichen Dauer verzögert.
Man ist bei den einfachen Minensystemen in der Vertheidigung indessen nicht stehen geblieben. In der Absicht, die Anlage der feindlichen Minengänge noch weiter zu erschweren, hat man in manchen Festungen Etagenminen erbaut. Hier sind mehrere Stockwerke von Minen übereinander, die untereinander durch Schächte und Treppen in Verbindung stehen. Man wird dadurch in den Stand gesetzt, ein und denselben Punkt des Glacis mehrere Male hintereinander zu erschüttern oder in die Luft zu sprengen, wenn die untern Etagen nur hinreichend tief liegen und stärker als die obern geladen werden. Doch sind solche Anlagen ungeheuer kostspielig, schwer zu bewachen und können dem Feinde in ihrer Gesammtheit durch Zufall leicht in die Hände fallen; auch kann bei der engen Verbindung aller Theile des Minensystems dasselbe durch einen einzigen Schuft vollständig mit Pulverdampf erfüllt werden. Das großartigste Beispiel eines solchen gigantischen Dachsbaues bietet die Festung Peterwardein, deren einziger Angriffspunkt, eine schmale in die Ebene vorspringende 150 Fuß hohe Landzunge, durch ein Hornwerk vertheidigt ist, unter welchem vier Etagen mit Ziegeln ausgemauerter Minengänge untereinander liegen. Der Verfasser dieses ist zwei Stunden in denselben umhergewandert, ohne sie sämmtlich gesehen zu haben.
Lange Zeit hindurch bewegte sich die Theorie des Minenkrieges auf empirischem Gebiete, bis zu Anfang des 18. Jahrhunderts der spätere General Belidor – damals Lehrer in der Artillerieschule zu la Fère – mit Scharfsinn eine neue Minentheorie aufstellte, die in ihren Haupttheilen noch gegenwärtig gültig ist. Man wußte allerdings aus Erfahrung, daß eine in der Erde eingegrabene und entzündete Mine nach allen Seiten einen gleichen Druck auf das Erdreich ausübe, und nannte den Bereich dieser Wirkung die Trennungssphäre. Geht nun diese Trennungssphäre über die Erddecke hinaus, so zeigt sich die Wirkung der Mine zu Tage, d. h. es wird dann die Erddecke innerhalb dieser Sphäre in Gestalt einer Garbe in die Luft geschleudert und eine Grube gebildet, die bis unter die eingegrabene Pulverladung reicht. Diese gebildeten Aushöhlungen nennt man die Minentrichter, und eine gedachte gerade Linie von der Pulverladung bis zum Erdboden in der Axe des Trichters die kürzeste Widerstandslinie, den Durchmesser der in die Luft geschleuderten Erddecke den Trichterdurchmesser. (Natürlich ist hier nicht von Quetschminen die Rede, die gar keine oberirdische Wirkung haben.) Nun glaubten die alten Ingenieure, daß, wenn man eine Mine noch so stark lade, der Trichterhalbmesser niemals größer als die kürzeste Widerstandslinie ausfallen könne, bis Belidor dieses Vorurtheil durch seine Theorie umwarf und nachwies, daß die Größe der von Minen ausgehobenen Trichter mit den Ladungen zunehme und deshalb ihr Durchmesser weit über das Doppelte der kürzesten Widerstandslinie steigen könne, wobei gleichzeitig auch die Erde ringsum kreisförmig so erschüttert werde, daß alle in derselben befindlichen hohlen Räume, wie z. B. feindliche Minengänge, in diesem Bereich zusammengedrückt würden. Er nannte diese Minen überladene Minen oder Druckkugeln. Ein 1753 zu Bisy angestellter Versuch mit einer nur 12 Fuß tief liegenden, mit 3000 Pfund Pulver geladenen Mine gab einen 66 Fuß weiten und 17 Fuß tiefen Trichter, wodurch die Belidor’sche Theorie die erste Bestätigung im Großen erhielt. Friedrich der Große ließ 1762 bei Schweidnitz durch Lefevre mit bestem Erfolg diesen Versuch wiederholen, und seitdem sind in mehreren der wichtigsten Belagerungen durch Anwendung überladener Minen die Wälle belagerter Festungen eingeworfen und eine zum Sturm gangbare Breschöffnung in denselben erzielt worden, so bei Choczim, Bender (1769), Valenciennes (1793), Bhurtpore im Birmanenstaate (1825). Auch bei dem jüngsten Festungsmanöver in Jülich wurde am 25. Septbr. durch Anwendung einer überladenen Mine von 30 Centner Pulver eine Wallöffnung hervorgebracht, die dann in einem Scheinangriff zur Einnahme der Festung führte. Die beistehende Abbildung mag dem Leser die furchtbare Wirkung einer solchen Explosion anschaulich machen.
Seit der Kenntniß überladener Minen ist der Minenangriff unbedingt in Ueberlegenheit gegen die Minenvertheidigung gekommen. Der Angriff braucht sich nämlich durchaus nicht zu scheuen, sehr große Ladungen anzuwenden, welche Trichter geben; denn die entstandenen Oeffnungen auf der Erdoberfläche dienen dem Angreifer dazu, statt der mühsam auszugrabenden Laufgräben ihm sofort eine Deckung zu verschaffen, die nur zum weitern Gebrauch hergerichtet zu werden braucht, weshalb man gewöhnlich eine ganze Reihe von Trichtern nebeneinander auswerfen läßt, die man dann zu einem Laufgraben miteinander verbindet. Diese Methode ward auch, wo es die Weichheit des Erdbodens zuließ, mit Erfolg von den Franzosen vor Sebastopol angewendet. So nähert sich der Angreifer allmählich der Festung, wirft dann die Contreescarpe durch eine überladene Mine in den Graben, erzeugt sich dadurch einen Niedergang in denselben und kann ebenso den Wall einwerfen, um eine Bresche zu erzielen. Gleichzeitig mit der oberirdischen[WS 2] Wirkung vermehrt sich aber auch die unterirdische, und folglich wird, da dem Angreifer große Ladungen gestattet sind, derselbe auch gleichzeitig einen Theil der feindlichen Contreminen mit eindrücken, also doppelten Vortheil haben. Weil die oberirdische Wirkung dem Angreifer vortheilhaft ist, darum muß sie der Vertheidiger seinerseits vermeiden. Er darf sie nur in Ausnahmsfällen anwenden, z. B. um fertige armirte Breschebatterien in die Luft zu sprengen oder ein nicht mehr zu haltendes Werk für den Feind unbenutzbar und sich durch Wegsprengen unschädlich zu machen. Im Wesentlichen ist also der Vertheidiger auf die Anwendung von Quetschminen reducirt, die er möglichst tief anzulegen suchen muß, um bei der Anwendung von starken Ladungen nicht eine oberirdische Wirkung mitzuerzielen, die nur dem Angreifer zu gute kommen würde. Immer haben aber starkgeladene Quetschminen den Nachtheil, daß sie gar zu leicht die eigenen Minengänge mit zerstören, und der Vortheil des Angreifers beim Gebrauch überladener Minen bleibt also immer bestehen.
Indessen ist trotz der Initiative die Aufgabe des Angreifers eine schwer zu lösende. Einmal muß er einem fertig und tief angelegten Minensystem vom freien Felde aus mit Zeit- und Müheaufwand entgegengehen, und hat er dann auch mit Glück eine Reihe Trichter nebeneinander ausgeworfen, in welchen sich seine Truppen einnisten (logiren) können, so bereitet ihm das weitere Vorgehen mit neuen Gallerien aus dem von ihm gesprengten Trichter neue Schwierigkeiten, da der Boden ringsum durch Pulvergas verpestet ist. – Sehr oft kommt aber der Angreifer eben gar nicht bis zum Sprengen der Mine, oder muß seine Arbeit mehrmals von vorn beginnen, wenn der Vertheidiger ein gut organisirtes Horchsystem besitzt, sich in seinen bei dem Anfang der Belagerung schon fertigen Minengängen ganz ruhig verhält, und die Mine des Angreifers durch eine Quetschmine zusammendrückt, wenn diese ihrer Vollendung entgegengeht. Eine andere Chicane des Vertheidigers besteht darin, daß er durch seine Horcher erforschen läßt, wenn der Feind seinen Galleriebau einstellt und zu laden anfängt. Der Angriffsmineur bedient sich großer Pulverladungen, deren Laden und Verdämmen viel Zeit erfordert. Während nun der Angreifer verdämmt, kann der Vertheidiger aus seinen nächsten Minenspitzen schnell mit einem kleinen Gang vorbrechen, und hat er Glück, so stößt er gerade auf den Pulverkasten des Feindes und leert diesen aus, was man das Ausblasen der Mine nennt, und was jedenfalls zu einer sehr unangenehmen Enttäuschung für den Angreifer führen muß.
Alle diese Schwierigkeiten bringen den Gedanken sehr nahe, daß dem Angreifer der ganze langwierige Minenkrieg erspart würde, wenn es ihm gelänge, dem Vertheidigungsmineur die Eingänge zu seinen Minen abzusperren. Daher ist es schon bei manchen Belagerungen vorgekommen, daß der Angreifer einen Sturm auf den Rand des Festungsgrabens (den sogen. bedeckten Weg) von seinem letzten Laufgraben aus versucht hat, um während der Verwirrung des Gefechts, das gewöhnlich bei Nacht erfolgt, durch mitgenommene Mineurs die Eingänge zu den Contreminen aufsuchen und einwerfen zu lassen, d. h. den Vertheidiger von der Benutzung seiner Minen abzuschneiden. Konnte man sich während 4–5 Stunden der Nacht in dieser Lage behaupten, so senkte wohl auch der Angreifer gleich eine Anzahl nebeneinanderliegender Schachtminen, ähnlich den Brunnen, schnell ab, lud sie mit Pulver und verdämmte die Oeffnung des Schachtes nur durch hineingeworfene, mit Sand gefüllte Säcke. Kommen diese Schachte an die richtige Stelle, was eine genaue Kenntniß des feindlichen Minengewebes voraussetzt, so sind sie allerdings iM Stande, unfehlbar die Enveloppengallerie mit ihren Aesten und Horchgängen einzudrücken und so den Minenkrieg bis zum Grabenrande mit einem Male zu beendigen.
[698] Damit ist aber der Minenkrieg noch nicht zu Ende. Ist der Angreifende bis zum Grabenrande gekommen, hat derselbe vielleicht sogar durch Hülfe der Minen die äußere Grabenseite eingestürzt, so kann er sich auch noch der Minen zur Eroberung der Festungswerke selbst bedienen, indem er, statt durch Brescheschießen, durch Wirkung einer Breschemine einen Wallbruch und Zugang in’s Innere der Festung hervorzubringen sucht. Dann muß der Mineur am jenseitigen Fuße der Mauer, durch eine Bedachung geschützt, in diese hineinbrechen. Bei nassen Gräben läßt man durch die Breschebatterien ein Loch in die Mauer schießen, dann den Mineur auf einem Flosse dahin übersetzen und durch die vorbereitete Oeffnung die Minenladung hinter der Festungsmauer ansetzen, wie dies die Franzosen bei der letzten Belagerung der Citadelle von Antwerpen 1832 ausführten. Man tritt dann in das letzte Stadium, für welchen Zeitpunkt es doppelt nothwendig ist, daß der Vertheidiger bereits vorbereitete Minengallerien zu seiner Verfügung hat, weshalb bei Erbauung der Festungen auf deren Anlage gleich Rücksicht genommen wird. Es liegen Beispiele in der Kriegsgeschichte vor, daß selbst nach erzielter Bresche der Angreifer nicht im Stande war, auf derselben stürmend in das Innere der Festung zu dringen, daß er sich entschließen mußte, auf der Bresche mit Laufgräben Schritt vor Schritt in die Höhe zu gehen, und daß der Vertheidigungsmineur bis zum letzten Augenblicke seine Schuldigkeit that, indem er diese Laufgräben auf der Bresche und auf den Wallgängen in die Luft sprengte oder den stürmenden Truppen Flatterminen auf der Bresche selbst legte. Ein letztes Mittel, sich von verlorenen Werken mit einem Schlage zu befreien, besteht endlich für den Vertheidiger darin, sie mittelst einer bereits vorbereiteten Demolitionsmine in die Luft zu sprengen und hierdurch für sich wie für den Feind zu vernichten, eine heroische That, zu der es indessen gewöhnlich nicht mehr kommt, da Verluste, Mangel an Lebensmitteln und Pulver, wie die Erschöpfung der am Ende bis auf’s Aeußerste angestrengten Besatzung die Belagerung schon früher zu Ende gebracht haben.
„Doctor, wollen Sie nicht morgen einmal mit uns auf die Meisenhütte gehen?“
„Wo liegt denn Ihre Hütte?“
„Drüben im Sächsischen; bei uns dürfen wir nämlich keine Meisen mehr fangen. – Nun, gehen Sie mit?“
„O ja, – doch nur unter einer Bedingung.“
„Und diese wäre?“
„Daß Sie die gefangenen Meisen wieder fliegen lassen!“
„Da müßte ich doch geradezu verrückt sein!“
„Im Gegentheil; Sie würden vielmehr beweisen, daß Sie ein vernünftiger Mensch sind. Wissen Sie nicht, daß die Meisen äußerst nützliche Thiere sind?!“
„Ja, das ist schon recht, nützlich mögen sie sein, – aber sie schmecken gut. Ich bin froh, wenn ich ein paar Schock gefangen habe, und lasse keine fliegen.“
„Und ich meinestheils nehme keinen Antheil an einer Bubenjägerei; denn nur als eine solche kann ich den Meisenfang ansehen.“ – –
Der Mann, mit welchem ich dieses Gespräch führte, nannte sich Forstmann. Er hatte auch wirklich als solcher gelernt und in Tharand studirt; er war wohl auch ein tüchtiger Jäger geworden, – ein Forstmann aber war er nicht! Ich muß gestehen, daß mir der ganze Mensch durch die Worte: „Nützlich sind sie – aber sie schmecken gut!“ zuwider wurde. Wenn mir ein ungebildeter Holzhauer dasselbe gesagt haben würde, hätte ich mir sicher die Mühe genommen, ihn zu belehren: einem Forstmann aber von der unberechenbaren Schädlichkeit einer Meisenhütte vorreden zu wollen, wäre mir als Hohn an jeder deutschen Forstlehranstalt und zumal an Tharand erschienen!
Auch dieser kurze Aufsatz soll keineswegs für diejenigen Waldfrevler, welche wissen, was sie thun, sondern vielmehr ausschließlich für solche bestimmt sein, welche den Meisenfang als ein unschuldiges Vergnügen betrachten, zugleich aber guten Willen besitzen, etwas Vernünftiges nicht allein anzuerkennen, sondern auch nach Kräften zu befördern. Den Lehrern der Jugend und den Eltern lege ich das Nachstehende besonders an’s Herz!
Ich habe zu meiner kleinen Arbeit die obige Ueberschrift weniger deshalb gewählt, um eine Meisenhütte ausführlich zu schildern, sondern vielmehr um einem abscheulichen und echt bubenhaften Waldfrevel den rechten Namen zu geben. Die Hütte selbst ist kaum einer Beschreibung werth. Sie ähnelt einem Würfel von ungefähr sechs Fuß im Durchmesser und wird von Pfählen und Stangen errichtet, mit passenden leichten Stoffen, namentlich mit Schilf, Rohr, Tannenreisern etc. dicht zugebaut und mit einer ganz niedrigen Thüre versehen, durch welche man kriechend aus- und eingeht. Man fängt mit Kloben, d. h. in der Mitte getrennten, mehrfach gefalzten runden Stäben, mit welchen man die Zehen der Meisen, die sich darauf setzen, einklemmt, oder berückt die Thierchen in Dohnen, Sprenkeln, auf Leimruthen, in Meisenkästen etc. und lockt die neugierigen und ziemlich zänkischen Vögel mit einer Pfeife, einer aufgehängten todten – oder einer lebenden Meise welcher man – echt neapolitanisch – einen Faden durch die Nasenlöcher zieht), ja selbst mit einem recht zur Schau gestellten Stückchen Tuch, Pelz etc. herbei. Unter günstigen Verhältnissen erbeutet man so in wenigen Morgenstunden zwei und drei Schock verschiedener Meisen, oder auch wohl Rothkehlchen, Laubvögel, Goldhähnchen, Zaunkönige und Kleiber – lauter nützliche Vögel! – drückt ihnen die Köpfe ein und bereitet aus einem Schock der niedlichen und fröhlichen Wesen ein Leckergericht, welches für das Frühstück eines gedankenlosen Gutschmeckers eben ausreicht. Hiermit ist die Meisenhüttte[WS 3] beschrieben, – nicht aber auch der auf ihr verübte Waldfrevel, von welchem das Nachstehende jeden Unbefangenen überzeugen wird.
In unserem Vaterlande leben neun leicht zu unterscheidende Arten der Meisen: die Kohl- oder Finkmeise, die Tannen-, Hauben-, Sumpf-, Schwanz-, Blau-, Lasur-, Bart- und Beutelmeise, von denen die erstgenannten sechs Arten fast überall und das ganze Jahr hindurch angetroffen werden. Man mag im Sommer oder im Winter, im Frühling oder im Herbst durch Wald und Garten streifen: stets wird man sie, die Immerfrohen, Ewigregsamen beobachten. Mit lautem und leiserem „Zitärrärärärr, Pink, tivüdivüdi, Tuiti, Sisi, sisi, sisi, Zit, Zit“, und andern ähnlichen Lauten durchstreicht das Völklein Wald und Gebüsch, Hag und Hecke, Hain und Garten, untersucht jeden Ast, jeden Zweig, jede Ritze, klettert, gaukelt, hämmert, klopft und arbeitet, zankt sich mit Seinesgleichen und anderen Vögeln, berichtet der ganzen Vogelwelt durch lautes Geschrei und Schelten getreulich das Erscheinen eines Hundes, einer Katze oder irgend welches furchtbaren Thieres, nähert sich aber vertrauensvoll dem Menschen und hält sich gern in dessen Nähe auf. Den Kundigen, nein, jeden Menschen, welcher nur etwas Sinn und Gefühl für Natur und Naturleben hat, erfreut und erheitert die muntre Gesellschaft; dem Beobachter wird sie bald unendlich lieb und werth. Ihre große Klugheit und noch größere Neugierde, ihr Muth, ihre Keckheit, ihre Lustigkeit, Gewandtheit und ihre ewige Unruhe sind aber auch Eigenschaften, welche jeden nicht unvernünftigen Menschen für sie gewinnen müssen. Im Winter thut ihr Anblick im öden kalten Walde jedem Herzen wohl; im Herbst bewirken sie durch ihr ununterbrochenes Rufen und Singen, daß man sich noch einmal den Frühling herbei träumt; im Lenz sind sie die Eifrigsten mit, welche ihn preisen, und nur im Sommer verschwinden sie einigermaßen unter der Menge der anderen Lustgestalten der Vögel. Gewiß, sie haben alle Eigenschaften, um des Menschen Herz für sich zu gewinnen.
Aber was fragt unsere Zeit nach Herz und Gefühl?! Geld! Gewinn! Vortheil! – so heißen die Triebfedern, welche das heutige Geschlecht bewegen. Nun, gerade die Meisen sind es, welche nicht blos dem Einzelnen, sondern ganzen Gemeinden, ja selbst dem größten Staate Geld, Gewinn und Vortheil eintragen, in reichem Maße eintragen können. Man möge nicht voreilig [699] lächeln: ich meine es ernstlich, sehr ernstlich; – denn gerade jetzt, wo die erwachsenen Buben ihr schnödes Frevelwerk am eifrigsten treiben, bin ich ernst, fast wehmüthig gestimmt, wenn ich an den Meisenfang – oder auch daran denke, wie schwer es hält, aus dem Menschen wirklich einen Menschen zu machen.
Zahlen beweisen; sie sollen deshalb hier für mich sprechen. Alle Meisenarten fressen fast ausschließlich Kerbthiere oder deren Larven und Eier und nehmen blos dann, wenn sie diese Kost nicht haben können, mit Sämereien vorlieb. Eier und Puppen der waldverderbenden Kerbthiere bilden immer ihre hauptsächliche und liebste Speise. Die Meisen wissen dieselben zu finden, und wenn sie noch so tief in Ritzen und Spalten versteckt wären. Nun ist es eine anerkannte Thatsache, daß ein Thier um so mehr Nahrung bedarf, je lebendiger, d. h. unruhiger und regsamer es ist, und die Meisen sind aus diesem Grunde wahre Fresser zu nennen, welche eigentlich niemals satt werden. Wir wollen hier nur das geringste Maß anlegen und annehmen, daß eine Meise zur Stillung ihres Heißhungers täglich blos tausend Kerf-Eier und Larven vertilge, – während sie in der That und ohne Magenbeschwerde etwa 1500 Kerbthiereier bei einer einzigen Mahlzeit verzehren kann. Die Rechnung bei ersterer Annahme ergibt, daß jedes Meisenpaar im Jahre 730,000 Kerbthiere, der Land- oder Forstwirthschaft schädliche Thiere vernichtet. Nun aber legt jedes Meisenpaar durchschnittlich wenigstens acht Eier in das Nest, aus welchem acht noch hungrigere Junge schlüpfen, als die Eltern es sind. Nehmen wir nun an, daß diese den Alten noch neun Monate im Jahre (d. h. von ihrer Geburt an bis zur nächsten Paarungszeit) in ihrem Vertilgungskampfe helfen: so ergibt sich, daß die eine Meisenfamilie in einem einzigen Jahre uns von vier Millionen und viermalhunderttausend schädlichen Thieren befreit.
Ein gediegener Aufsatz in Nr. 4 dieses Jahrgangs dieses Jahrgangs der Gartenlaube hat uns belehrt, was es zu bedeuten hat, wenn sich die schädlichen Kerbthiere einmal auffällig vermehren. Es heißt dort, S. 57: „Dieser Raupe (der Nonne) nun, oder vielmehr Milliarden dieser kleinen Raupen ist es gelungen, Verheerungen zu bewirken, wie solche durch andere Naturgewalten in so kurzer Zeit kaum erreicht, geschweige denn übertroffen worden sind. Denn selbst Wasser und Feuer werden in ihrer Macht aufgehalten durch Hindernisse, welche die Raupe mit Leichtigkeit überwindet.“ Und weiter oben sagt unser Gewährsmann:
„Wir nannten das Insect die verderbliche Nonne, weil dasselbe noch ganz neuerdings in dem kurzen Zeitraume von drei Jahren dem Staate und Privatpersonen einen Schaden zugefügt hat, der nicht nach Hunderttausenden – der nach Millionen zu berechnen ist.“
Jeder Kundige weiß, daß diese Worte die volle, buchstäbliche Wahrheit sind; er weiß aber auch, daß der Mensch dem Kerbthiere gegenüber vollkommen ohnmächtig ist. Die Vögel allein sind es, welche den verheerenden Geschöpfen steuern, welche sie bezwingen können, und unter den Vögeln sind es unzweifelhaft die Meisen, welche das Größte leisten! Man denke nur, was es heißen will, wenn blos fünfzig Meisenpaare in einem von der Raupenpest heimgesuchten Walde (welcher sie der Nahrungsfülle wegen bald herbeilocken wird) wirthschaften können; man bedenke nur, daß diese fünfzig Paare täglich allermindestens hunderttausend von den Verderbern vernichten! Selbst wenn alle Umwohner des Waldes aufgeboten würden, Eiernester und kleine Räupchen zu sammeln: sie würden doch niemals das erreichen können, was eine entsprechende Anzahl dieser kleinen Thiere erreichen kann. Ich will hier einige Worte des Grafen Wodzicki, eines sehr eifrigen und tüchtigen Vogelkenners, einschalten. Er sagt:
„Um einen Beweis von den Diensten der Meisen, Goldhähnchen und kleinen Klettervögel zu geben, will ich einige meiner Beobachtungen mittheilen. Eine unendliche Menge von Raupen des bekannten Gartenfeindes Bombyx dispar hatte im Jahre 1848 alles Laub in meinem Garten abgefressen, sodaß die Bäume wie verdorrt aussahen. Im Herbste bemerkte ich Millionen von Eiern, die, von einer haarigen Hülle umgeben, an allen Stämmen und Aesten saßen. Ich ließ sie mit großen Kosten ablesen; aber sehr bald überzeugte ich mich, daß Menschenhände dieser Plage nicht zu steuern vermöchten, und machte mich schon darauf gefaßt, meine schönsten Bäume eingehen zu sehen. Gegen den Winter hin[1] kamen jedoch von Tag zu Tag zahlreichere Schaaren von Meisen und Goldhähnchen herangeflogen; und zu meiner Freude sah ich die Raupennester täglich abnehmen. Im Frühlinge nisteten wohl zwanzig Pärchen Meisen in meinem Garten, während ich in anderen Jahren kaum zwei bis drei Paare derselben gesehen hatte. Im Jahre 1849 war die Plage schon geringer; und im Jahre 1850 hatten die kleinen befiederten Gärtner meine Bäume so gesäubert, daß ich dieselben durch ihre freundliche Hülfe während des Sommers im schönsten Grün sah.“ – „Im Jahre 1842 zählte und berechnete ich an drei hochstämmigen Rosenstöcken meines Gewächshauses über zweitausend Blattläuse. Ich ließ deshalb eine Sumpfmeise in das Gebäude, und diese hatte in wenigen Stunden das ganze Ungeziefer weggeputzt.“
Ich könnte noch genug ähnliche Beobachtungen anführen, wenn es mir nöthig schiene. Kein Mensch kann die Wahrheit obiger Angaben bestreiten, und wenn dies der Fall, auch die unberechenbaren Dienste der kleinen Arbeiter verkennen. Und diese zum Wohle, zur Bereicherung der Menschheit wirkenden Thiere, welche uns heilig sein sollten! vernichten noch heut zu Tage erwachsene, ja selbst sogenannte gebildete Menschen zu Tausenden, um das Vergnügen des Vogelfangs zu haben, um sich wenige Frühstücke bereiten zu können! Ist dies nicht offenbarer Frevel? ist es nicht eine wahre Sünde an der Menschheit, der die kleinen Vögel so große Dienste leisten?! Und es gibt noch Männer, welche sich Forstleute nennen und den von ihnen wissentlich geübten Frevel mit einem albernen Witz entschuldigen wollen?! Und es gibt noch Staaten, welche solchen Frevel zulassen?! Ja, leider ist dies Alles noch heut zu Tage der Fall! Aber eben deshalb sollen und müssen Alle, welche die Kenntnisse und den guten Willen haben, und namentlich die wahren Forstleute und wahren Lehrer diesem Treiben zu steuern und die Wahrheit immer weiter zu verbreiten suchen: Eine Meisenhütte ist der Schauplatz des ärgsten Waldfrevels und der abscheulichsten Bubenjägerei!
Einige eingefleischte Vogelsteller werden wahrscheinlich meinen, daß ich nur so reden könne, weil mir die Freuden des Vogelfangs unbekannt wären. Ihnen kann ich entgegnen, daß ich unter sechzig Breitengraden der Erde mit Lust gejagt und auch mit Lust die Vogelstellern getrieben habe; aber ehrlicher, vernünftiger Vogelfang ist es gewesen, welcher mich begeistert hat, und niemals ein gemeines Morden nützlicher Thiere ohne Zweck und Schonung. Ich kenne die Freuden des Vogelfangs wohl; aber ich kenne doch auch noch größere: die der Hegung und Pflegung der Vögel. Und kaum eine andere Familie der Vögel eignet sich wohl so dazu, den meisten Menschen die Freuden der Hegung zu bereiten, wie gerade die der Meisen. Der Oberförster Braun in Pohlitz bei Greiz und der Oberförster Spittel in Mäusebach bei Roda, zwei ehrenhafte und tüchtige Forstleute meiner Bekanntschaft, hegen und pflegen die Meisen nach Kräften, und wissen gar nicht genug zu erzählen von dem Vergnügen, welches die kleinen Schützlinge ihnen gewähren. Der Eine hat alle Obstbäume seines Gartens hergerichtet für die fleißigen Miether; der Andere läßt kein Stückchen kernfaules Holz zum Brennholz klaftern: das muß ihm vielmehr eine Wohnung werden für die muntern, unermüdlichen Arbeiter!
Soll ich nun denjenigen meiner Leser, welche sich ein recht großes Vergnügen bereiten wollen, einen guten Rath geben, so ist es der: sie mögen es machen wie jene Forstleute! Jede Höhlung in einem Obstbaume kann zu einer Meisenwohnung hergerichtet werden, wenn man das unnütze faule Holz entfernt, welches die Höhlung verengt, das Eingangsloch aber bis auf ein Schlupfloch für die Höhlenbrüter verkleinert, also etwa mit einem Bretchen theilweise vernagelt oder wenigstens mit Lehm verschmiert. Bohrt man dann noch unten einige Löcher ein, durch welche das in die Höhlung dringende Wasser ablaufen kann: so ist die Wohnung für zwei Thierchen fertig und wird sicherlich bald Abnehmer finden. Diese sammt ihrer Brut bezahlen die Arbeit dadurch, daß sie vier Millionen schädlicher Kerbthiere unschädlich machen. Alle halbvermorschte Stöcke und hohle Bäume in Wäldern müssen ebenfalls geduldet werden, damit auch der Wald seine Wohnungen habe.
Ich bitte meine Leser herzlich und dringend, nur einmal solchen Versuch anzustellen, – meinetwegen blos deshalb, damit sie prüfen können, ob ich Recht habe, wenn ich behaupte, daß das Vergnügen [700] der Hegung der nützlichen Vögel das, welches deren Vertilgung gewährt, bei Weitem übertrifft. Jedem aber, welcher Schirmherr dieser lieben Thiere wird, drücke ich im Geiste die Freundeshand, zum Danke, daß er mir hilft, einem Frevel zu steuern.
Aber nicht blos die Meisen müssen wir zu schützen suchen, sondern noch viele andere Vögel. Darüber will ich nächstens noch Etwas sagen, immer wieder unter dem Titel:
Fast zu jeder Zeit gibt es einen oder den andern Schriftsteller, der durch seine Werke das lesende Publicum vollständig beherrscht, trotzdem aber nach wenigen Jahren bereits gänzlich vergessen wird. Für alle Zeit lebt, wie der Dichter sagt, nur der, welcher den Besten seiner Zeit genug gethan hat, und das kann man freilich von jenen Schriftstellern nicht sagen, wenn sie auch die gefeierten Lieblinge der Menge waren.
An das einsame, noch ziemlich frische Grab eines Solchen treten wir hier, denn wie es Pflicht ist, verehrend stets Jener zu gedenken, die Unvergängliches geschossen haben, so ziemt es sich, gelegentlich auch an die zu erinnern, welche durch ihres Geistes Kraft einen großen Theil ihres Volkes, wenn auch nur auf kurze Zeit, an sich zu fesseln vermochten. Wir treten an das Grab Karl Spindler’s, dessen „Jude“ vor einem Viertel-Jahrhunderte sicherlich das gelesenste Buch in Deutschland war und der dauernde Werke würde haben schaffen können, wenn er sich eine gründlichere Bildung erworben hätte und nicht durch das Unstäte und Ruhelose seiner Natur durch seine Arbeiten wie durch sein ganzes Leben gehetzt worden wäre. Seine Phantasie schien unerschöpflich zu sein und sie machte es ihm möglich, sein unersättliches Publicum mit immer neuen Gaben zu erfreuen. Der Schreiber, dem er seine Erzählungen dictirte, vermochte mit der flüchtigsten Feder seinen Worten kaum zu folgen. Und wie seine Romane durch Stoffreichthum sich hervorthun, so liebte der dicke Mann mit derbem Hunger und gesundem Geschmack über alles ein tüchtiges Stück saftiges Fleisch, fette Mehlspeisen, Speck- und Griesknödel, das „edle“ Sauerkraut etc. Auch gehörte er immer zu denen, welche, wie Jean Paul sagt, die tägliche Tinte mit einigem Bier oder Wein verdünnen müssen. Und an gemüthlicher Heiterkeit fehlte es ihm selten, er mochte in Mangel oder in Ueberfluß leben.
Spindler’s Eltern stammten aus Baiern, er wurde aber (am 16. Octbr. 1796) in Breslau geboren, wo damals sein Vater Kapellmeister war, der bald darauf nach Straßburg kam als Organist am Münster. Nachdem der Sohn die Schule durchlaufen hatte, entlief er auch den Eltern und wurde Schauspieler. Als solcher durchzog er Deutschland von einem Ende zum andern. Das waren seine Lehr- und Wanderjahre, in denen er das, was er aus den Büchern nicht erlernt hatte, wie das, was die Bücher nie lehren können, praktisch erlernte, aber auch erkannte, daß es ihm an Talent zum Schauspieler fast ganz und gar fehle. Er hatte sich aber früh schon verheirathet und mußte eine lange Zeit sehr schwerer Noth durchmachen. In dieser schrieb er seinen ersten Roman: „Der Bastard“, der sein großes Talent verrieth und seine Bekanntschaft mit dem seltsamen, aber äußerst rührigen Buchhändler Frankh herbeiführte. Damit war sein Glück – äußerlich gemacht, denn bis zur Mitte der vierziger Jahre sammelte er sich ein Vermögen von etwa 80,000 Gulden. In seiner Familie aber traf ihn schweres Leid. Seine Frau verfiel in eine Art Geistesstörung, die sich anfangs nur in Verschwendung und allerlei Seltsamkeiten kundgab, auch Spindler nöthigte, sich von ihr zu trennen, später aber immer mehr und unheimlicher sich entwickelte. Er unternahm größere und kleinere Reisen, lebte unstät bald hier, bald dort, meist in oder bei Baden-Baden, immer mit neuen Romanen und Erzählungen beschäftigt, bis am 15. Juli 1855, in der Hochzeitsnacht seiner einzigen Tochter, in dem kleinen Badeorte Freiersbach (bei Petersthal im Renchthal) ein Schlagfluß seinem Leben ein Ende machte.
Die Straße führt mitten durch das reizende Dorf Petersthal. Dicht an der Straße steht die Kirche und hinter derselben, am steilen Bergabhange, liegt der schmucklose Gottesacker. Schräg über diesen läuft ein Fußweg. Dicht an diesem Wege steht am obern Ende eines Grabes, auf die hohe Seite gestellt, ein unbehauener Stein, der ein gußeisernes Kreuz trägt und auf dem man den Namen Carl Spindler liest. Grüner, lebensfrischer Epheu wuchert üppig an dem Steine empor. Eine schmale Einfassung an den Seiten und in der Mitte ein kleines Rund von Gras und Vergißmeinnicht ist der prunklose Schmuck des kleinen Hügels, der „letzten Herberge“ eines deutschen Dichters, der einst die Liebe seines Volkes besaß.[701]
Da die wenigen Thaler, die ihm der Verkauf seiner Ochsenfelle eingebracht, verausgabt waren und er nicht Lust hatte, mit Frau und Kind seinen Freunden zur Last zu fallen, unternahm Garibaldi zwei Geschäfte, die jedoch, wenn auch vereinigt, selbst seine geringen Bedürfnisse kaum befriedigt haben würden. Zuerst wurde er Waarenmäkler, der Proben aller Art, von italienischen Nudeln an bis zu Stoffen aus Rouen, mit sich herumtrug. Dann bekleidete er in dem Hause eines gewissen Paolo Semidei das Amt eines Lehrers der mathematischen Wissenschaften, und diese Lebensweise führte er bis zu seinem Eintritt in die orientalische Legion fort. Die Frage von Rio Grande nahte ihrer Lösung, und so bot ihm die orientalische Republik, wie sich damals die Republik von Montevideo nannte, eine Beschäftigung an, welche mehr in Harmonie mit seinen Mitteln und namentlich mit seinem Charakter stand, als die eines Lehrers der Mathematik oder Musterreiters. Man übertrug ihm das Commando über die Corvette la Constitucion, während sich das gesammte orientalische Geschwader unter dem Befehle des Obersten Cosse, das von Buenos-Ayres aber unter dem des Generals Brown befand. Mehrere Zusammentreffen zwischen beiden hatten nur geringe Erfolge, bis endlich ein gewisser Vidal, traurigen Gedächtnisses, das Ministerium übernahm und die mit ungeheuren Summen errichtete und unterhaltene Flotte um ein Lumpengeld verschleudern ließ. Garibaldi wurde hierauf mit der Brigantine Pereira von achtzehn Geschützen nach Corrientes gesendet, das damals gegen Rosas kämpfte und dem er in seinen Bewegungen gegen diesen Dictator helfen sollte. Die ganze Expedition hatte jedoch einen andern, nur dem Herrn Premier-Minister bekannten Zweck: man wollte sich Garibaldi’s entledigen. Schon beim ersten Auslaufen von Montevideo hatte er einen Kampf gegen die Batterie von Martin Garcia, einer am Ausflusse des Uruguay in den Parana gelegenen Insel, zu bestehen, der ihm mehrere Todte und acht bis zehn Verwundete kostete. Drei Meilen von dieser Insel entfernt strandete die Constitucion, leider zur Zeit der Ebbe; es kostete unsägliche Arbeit, das Schiff wieder flott zu machen, aber die muthige Ausdauer der Mannschaft brachte es endlich zu Stande. „Während wir,“ berichtet Garibaldi, „noch damit beschäftigt waren, alle schweren Gegenstände auf die uns begleitende Goelette la Proceda zu bringen, sahen wir die feindliche Flotte auf uns lossteuern; in schöner Schlachtordnung nahte sie von der andern Seite der Insel. Ich befand mich in einer bösen Situation; um die Constitucion zu lichten, ließ ich sämmtliche Geschützstücke auf die Goelette bringen, wo sie übereinander geworfen wurden; sie waren uns daher vollständig nutzlos; so blieb uns nur noch die Brigantine Peresia, deren muthvoller Commandant bei mir war und uns mit der Mehrzahl seiner Mannschaft in unserer Arbeit beistand.
„Inzwischen nahte der Feind mit sieben Kriegsschiffen, voll der begründetsten Siegesgewißheit. Trotz der drohenden Gefahr, in der ich mich befand, überließ ich mich doch nicht der Verzweiflung. Nein, Gott erweist mir die Gnade, mir in den äußersten Nöthen stets das Vertrauen auf ihn zu bewahren; ich überlasse aber gern Anderen, namentlich Seeleuten, zu beurtheilen, in welcher Lage ich mich befand. Hier handelte sich’s nicht allein um’s Leben, auf welches ich in diesem Augenblicke gern verzichtet hätte, es galt, die Ehre zu retten. Diese blutig, aber rein aus dieser schlimmen Lage herauszuretten, war mein fester Entschluß. Es handelte sich nicht darum, sich dem Kampfe zu entziehen zu suchen, sondern ihn in der bestmöglichen Stellung aufzunehmen. Da nun meine Fahrzeuge, leichter als die des Feindes, nicht so tief im Wasser gingen, so ließ ich sie möglichst nahe an die sich mir darbietende Küste bringen, um, da auf dem Flusse Alles verloren war, ein letztes Auskunftsmittel, die Landung, zu versuchen. Ich ließ hierauf, so weit es anging, das Verdeck der Goelette frei machen, um wenigstens einige Kanonen gebrauchen zu können, und erwartete also gerüstet den Feind.
„Das Geschwader, das mich anzugreifen im Begriff stand, wurde von Admiral Brown befehligt; ich wußte daher, daß ich es mit einem der tapfersten Seemänner zu thun haben würde. Der Kampf dauerte drei Tage, ohne daß der Feind es für angemessen hielt, zu entern. Am Morgen des dritten Tages blieb mir zwar noch Pulver, aber die Kugeln waren ausgegangen. Ich ließ daher die Ketten der Fahrzeuge auseinander sprengen, ließ die Nägel, die Hämmer, alles Leder oder Eisen, was die Geschosse ersetzen konnte, herbeischaffen und schleuderte dies dem Feinde in’s Gesicht; so hielten wir uns den Tag über hin. Endlich, gegen Sonnenuntergang des dritten Tages, als ich keine Kugel mehr am Bord, und mehr als die Hälfte meiner Mannschaft bereits eingebüßt hatte, ließ ich Feuer an die drei Schiffe legen, während wir unter dem feindlichen Kanonendonner das Land zu erreichen suchten. Jeder nahm sein Gewehr und den Antheil an den uns verbliebenen Patronen mit. Alles, was von Verwundeten transportabel war, wurde mit fortgeschafft. Was die Uebrigen betrifft, … ich habe schon gesagt, wie’s unter solchen Umständen zu geschehen pflegte.
„Wir befanden uns noch 150 bis 200 Miglien von Montevideo entfernt und auf einer feindlichen Küste. Zunächst suchte die Besatzung der Insel Martin Garcia uns zu belästigen; da jedoch in uns noch das Feuer glühte, in welches uns der Kampf mit dem Admiral Brown versetzt hatte, so empfingen wir sie dergestalt, daß sie an kein Wiederkommen dachten. Hierauf schlugen wir den Weg durch die Wüste ein, während dessen wir von dem wenigen Proviant, den wir mit uns genommen, und von dem, was wir auf der Reise fanden, uns unterhielten. Die Schlacht von Arroyo-Grande war inzwischen verloren worden; wir schlossen uns den Flüchtlingen an und nach fünf bis sechs Tagen des Kampfes, der Gefechte, der Entbehrungen und Leiden aller Art, von denen sich Niemand eine Idee zu machen vermag, trafen wir wieder in Montevideo ein und brachten das rein und unversehrt zurück, was ich, wie man geglaubt, unterwegs einbüßen würde, die Ehre!“
Nach dem Siege von Arroyo-Grande marschirte der Feind auf Montevideo und erklärte, Niemand, selbst nicht den Fremden, die in seine Hände fallen würden, Pardon zu geben. Und in der That wurde Jedermann, der ihm unterwegs aufstieß, enthauptet oder erschossen. Da sich nun in Montevideo eine große Anzahl Italiener befand, die daselbst theils in Handelsgeschäften, theils als Proscribirte lebten, erließ Garibaldi eine Proclamation an seine Landsleute, in welcher er sie aufforderte, zu den Waffen zu greifen und auf Tod und Leben für die zu kämpfen, die sie in ihrer Mitte gastlich aufgenommen hätten.
Inzwischen sammelte Ribeira die Ueberreste seiner Armee, und genehmigte mit Freuden den Vorschlag Garibaldi’s. Diese italienische Legion bekam keinen Sold, sondern Rationen an Brod, Wein, Salz, Oel u. dgl., während man nach beendigtem Kriege den Ueberlebenden, oder den Frauen und Kindern der Legionairs Besitzthum in Ländereien und Vieh versprach. Anfangs vier- bis fünfhundert Mann stark, stieg die Legion bald bis auf achthundert Mann, größtentheils proscribirte Italiener oder Leute, die aus Europa kamen, um hier ihr Glück zu versuchen.
Als die Legion zum ersten Male aus den Verschanzungen herausmarschirte, ergriff sie, man weiß nicht, ob aus Schuld der Führer oder der Soldaten, ein panischer Schrecken, und sie zog sich eiligst, ohne einen Schuß abgefeuert zu haben, wieder in die Verschanzungen zurück. Garibaldi hielt eine heftige Anrede an sie, setzte einen der Bataillonscommandanten ab und schrieb wiederholt an Auzani, der sich in einem Handelshause zu Uruguay befand, und endlich den Bitten des Freundes nachgab, um sich wieder mit Garibaldi zu vereinigen. Mit ihm kam neue Kraft und neues Leben in die Legion; die zeither schauderhafte Verwaltung derselben nahm seine ganze Sorgfalt in Anspruch. Inzwischen hatte man, wohl oder übel, eine kleine Flottille reorganisirt, deren Befehligung man Garibaldi übertrug. Auch in dieser neuen Stellung leistete dieser treffliche Dienste, und zwang namentlich den Admiral Brown, sich mit ansehnlichem Verlust von der Insel de los Ratos zurückzuziehen. Bald darauf treffen wir ihn wieder an der Spitze seiner italienischen Legion, die sich nach ihrem ersten traurigen Auftreten durchaus ehrenhaft benahm. Er versuchte mit ihr, im Verein mit Pacheco, die Truppen Oribe’s anzugreifen, und seine Soldaten hielten sich so brav, daß der Feind nach dreistündigem Kampfe in die Flucht geschlagen wurde. Dies geschah am 28. März 1843. Triumphirend zog Garibaldi wieder in Montevideo ein; [702] seine Legion hatte die Feuertaufe erhalten. Sie erhielt jetzt eine Fahne von schwarzem Stoffe mit dem Bildnisse des Vesuvs, ein Sinnbild Italiens und der in seinem Schooße sich bergenden Revolutionen.
Am 17. November desselben Jahres befand sich die italienische Legion mit Garibaldi auf Postendienst. Nach dem Frühstück stieg der montevideische Oberst Neyra zu Pferde und ritt mit einigen Mann die Linien entlang. Man zielte auf ihn, und tödllich verwundet stürzte er vom Pferde. In demselben Augenblicke machte der Feind eine Charge und bemächtigte sich seines Leichnams, kaum hatte Garibaldi diese Nachricht vernommen, als er sogleich beschloß, die Leiche dieses tapfern Officiers dem Feinde wieder zu entreißen. Mit einigen hundert Mann, die er zur Hand hatte, griff er die Truppen Oribe’s an und bald war er wieder im Besitz des entseelten Körpers. Zwar erhielten die erbitterten Feinde sofort ansehnliche Verstärkungen, so daß Garibaldi rings eingeschlossen wurde; allein auch ihm kam Hülfe zu, und schon nach kurzer Frist war die ganze Legion in’s Gefecht verwickelt. Der Kampf wurde allgemein und dauerte acht Stunden; der Feind erlitt einen ungeheuren Verlust, und abermals kehrte Garibaldi siegreich mit seiner Legion nach Montevideo zurück. Unser Held hatte in diesem Kampfe – so gesteht er selbst – „wie ein einfacher Soldat“ gefochten und wußte daher nicht, was um ihn herum vorgegangen war. Am Abend erstattete ihm jedoch Auzani, dessen besonnene Ruhe und Tapferkeit durch nichts erschüttert worden war, Bericht über alle Einzelnheiten und setzte ihn in den Stand, der Legion im Namen Italiens Dank zu sagen und diejenigen, die sich am meisten ausgezeichnet, zu belobigen und im Range zu erhöhen. Beide Gefechte verschafften aber der Legion eine derartige Achtung bei dem Feinde, daß er, sobald er sie mit dem Bajonnet anrücken sah, nicht länger Stand hielt und das Weite suchte.
Mit gleicher Tapferkeit focht die italienische Legion am 24. April 1844 beim Uebergang über die Boyada, wo sie sechs Stunden lang unausgesetzt im Feuer stand; namentlich zeichneten sich bei dieser Gelegenheit Garibaldi’s Neger aus. Ein Tagesbefehl des General Paz ertheilte der italienischen Legion die größten Lobeserhebungen. Es konnte nicht fehlen, daß solche Thaten kriegerischer Tapferkeit die Blicke der an der Spitze der Republik von Montevideo stehenden Männer auf die italienische Legion und ihren kühnen Führer hinlenkten. Der Präsident der Republik, General Fructuoso Ribeira, erließ daher unterm 30. Januar 1845 ein Schreiben an Garibaldi, in welchem er diesem, „der die italienische Legion so würdig befehligt und sich schon vor dieser Zeit durch die der Republik geleisteten Dienste ein so unbestreitbares Anrecht auf die Dankbarkeit und Erkenntlichkeit Montevideos erworbcn hat,“ sowie den Officieren und der „hochberühmten und tapfern italienischen Legion“ Ländereien und Viehheerden für ihre heroischen Dienste anbot. Garibaldi schlug jedoch im Einverständniß mit allen seinen Officieren diese Ehrengabe aus und erklärte dem Präsidenten im Namen der ganzen Legion, „daß sie, als sie die Waffen ergriffen und der Republik ihre Dienste anboten, nichts Weiteres beansprucht hätten, als die Ehre, die Gefahren zu theilen, welche die Söhne des Landes, das sie gastlich aufgenommen, bestehen müßten; wenn sie so handelten, so gehorchten sie nur der Stimme ihres Innern. Nachdem sie dem Genüge geleistet, was sie einfach als Erfüllung einer Pflicht betrachteten, würden sie fortfahren, die Leiden und Gefahren der edlen Montevideer zu theilen, ohne jedoch einen anderen Preis oder eine andere Belohnung für ihre Arbeit zu wünschen.“
Bis zur Aufhebung der Blokade von Montevideo durch eine anglo-französische Intervention blieb Garibaldi mit seiner Legion die Seele der Vertheidigung und zeichnete sich durch viele kühne Handstreiche zu Wasser und zu Lande aus. Noch einmal, in dem mörderischen Gefecht von San Antonio, tritt der Name Garibaldi’s, Auzani’s und der italienischen Legion glänzend wie kaum ein anderer hervor; schreibt doch Garibaldi selbst darüber an die Commission der italienischen Legion zu Montevideo: „Nicht für eine Welt von Gold würde ich den Namen eines italienischen Legionairs dahingeben,“ und am Schlusse: „Ach! das war ein Gefecht, das verdiente in Erz gegossen zu werden.“ Es war seine letzte große Waffenthat in Montevideo.
Nach der Schlacht von San-Antonio schrieb der französische Admiral Lainé, welcher die La Plata-Station befehligte, einen Brief an Garibaldi, worin er ihm wegen seiner seltenen Umsicht und seines unerschütterlichen Muthes die größten Lobsprüche ertheilte. Dies genügte aber dem Admiral noch nicht, er wollte ihm auch persönlich seine Glückwünsche überbringen. Er landete daher in Montevideo und begab sich in die Straße Pontone, wo Garibaldi wohnte. Diese Wohnung, ebenso ärmlich, wie die des letzten Legionairs, konnte nicht verschlossen werden und stand Tag und Nacht für Jedermann offen, „namentlich für Wind und Regen,“ wie sich Garibaldi selbst äußerte, als er diese Anekdote erzählte.
Es war Nachts. Admiral Lainé warf die Thüre zu, und da das Haus nicht erleuchtet war, stieß er sich an einen Stuhl. „Holla!“ rief er jetzt, „muß man denn hier unbedingt den Hals brechen, wenn man Garibaldi besuchen will?“
„He, Frau,“ rief jetzt Garibaldi seinerseits, ohne die Stimme des Admirals zu erkennen, „hörst Du nicht, daß Jemand im Vorzimmer ist? leuchte!“
„Womit soll ich denn leuchten?“ entgegnete Anita, „weißt Du nicht, daß keine zwei Kreuzer im Hause sind, um ein Licht zu kaufen?“
„’s ist wahr,“ erwiderte Garibaldi philosophisch.
Er stand auf und öffnete die Thüre des Zimmers, in dem er sich befand. „Hierher,“ rief er, „hierher!“ damit seine Stimme, in Ermangelung des Lichts, dem Besuchenden zum Führer dienen möchte. Admiral Lainé trat ein. Die Dunkelheit war aber so groß, daß er seinen Namen nennen mußte, damit nur Garibaldi wisse, mit wem er es zu thun hatte. „Admiral,“ redete er diesen jetzt an, „Sie werden mich entschuldigen; als ich aber meinen Vertrag mit der Republik von Montevideo abschloß, vergaß ich, unter den festgesetzten Rationen eine Ration Licht zu specificiren. Wie Ihnen nun bereits Anita gesagt, bleibt das Haus, da wir keine zwei Kreuzer haben, um ein Licht zu kaufen, im Finstern. Zum Glück setze ich voraus, daß Sie gekommen sind, mit mir zu plaudern, und nicht, mich zu sehen.“
Und in der That plauderte der Admiral mit Garibaldi, ohne daß er ihn erkennen konnte. Er verabschiedete sich später und stattete noch dem General Pacheco y Obes, dem Kriegsminister, einen Besuch ab, bei welcher Gelegenheit er diesem das Erlebte erzählte.
Der Kriegsminister, der soeben ein Decret über Garibaldi und seine Legion erlassen hatte, nahm sogleich hundert Patagonen (fünfhundert Francs) und schickte sie an Garibaldi. Dieser wollte seinen Freund Pacheco durch Zurückweisung des Geldes nicht verletzen; aber am nächsten Morgen, mit Tagesanbruch, nahm er die hundert Patagonen und vertheilte sie unter die Wittwen und Kinder der bei San Antonio gebliebenen Soldaten; für sich selbst behielt er nur so viel, als zum Ankauf eines Pfundes Lichte gehörte, wobei er seine Frau aufforderte, fein sparsam damit umzugehen, falls der Admiral Lainé ihm einen zweiten Besuch abstatten würde.
Das obenerwähnte Decret bestand in einem Tagesbefehl des Kriegsministers[WS 4]und verordnete, „um den heldenmüthigen Waffengenossen, die sich auf dem Schlachtfelde von San Antonio unsterblich gemacht haben, einen hohen Beweis der Achtung zu geben, welche die republikanische Armee von Montevideo, die sie in diesem denkwürdigen Treffen wie sich selbst verherrlicht haben, für sie hegt,“ daß sämmtliche Truppen sich in Montevideo in Parade aufstellen, durch eine große Deputation Garibaldi und der italienischen Legion eine Schrift der obersten Staatsgewalt überreichen und dann in Ehrencolonne vor der italienischen Legion defiliren sollten, während die Corpschefs unter dem Rufe: „es lebe das Vaterland! es lebe Garibaldi und seine tapfern Cameraden!“ salutirten.
Jene Schrift bestimmte, daß auf das Banner der italienischen Legion nachstehende Worte mit goldenen Buchstaben gestickt würden:
der italienischen Legion unter Garibaldi’s Befehlen
am 8. Februar 1846.
Ferner räumte sie der italienischen Legion den Vorrang bei allen Paraden ein, verordnete, daß die Namen der in dem genannten Treffen Gefallenen auf eine Tafel verzeichnet im Regierungspalaste aufgehangen würden und jeder Legionair am linken Arme ein Schild tragen sollte, auf welchem ein Kranz die Inschrift umgab: „dem unüberwindlichen Mitkämpfer, 8. Februar 1846.“
Fürwahr eine Auszeichnung, wie sie wohl selten einem republikanischen General und seinen tapfern Streitern zu Theil geworden ist!
[703] Wie arm auch Garibaldi war, so fand er doch eines Tages einen Legionair, noch ärmer als er selbst. Der arme Teufel hatte nicht einmal ein Hemd. Garibaldi führte ihn in einen Winkel, zog hier sein Hemd aus und gab es ihm. Als er nach Hause kam, bat er seine Anita um ein anderes. Anita schüttelte aber den Kopf. „Du weißt doch,“ sagte sie zu ihm, „daß Du nur eins hast; hast Du’s weggegeben, desto schlimmer für Dich.“ Und nun blieb Garibaldi ohne Hemd, bis Auzani ihm ein neues verschaffte.
Aber Garibaldi war auch unverbesserlich.
Eines Tags hatte man ein feindliches Schiff gefangen genommen. Garibaldi vertheilte die Beute unter seine Gefährten. Nach geschehener Theilung rief er seine Leute zu sich, einen nach dem andern, er befrug sie über ihre Familienverhältnisse. Den Bedürftigsten gab er einen Theil von seiner Beute. „Nehmt das, es ist für Eure Kinder!“ Es fand sich außerdem eine ansehnliche Summe Geldes auf dem Schiff vor, aber Garibaldi sendete sie an den Schatz von Montevideo und weigerte sich, auch nur einen Pfennig davon anzurühren. Einige Zeit später war der Beuteantheil so gut vertheilt, daß ihm für sein Haus nicht mehr als drei Kreuzer blieben.
An diese drei Kreuzer knüpft sich eine Anekdote, welche Garibaldi selbst Dumas erzählt hat.
Er hörte eines Tages sein Töchterchen Teresita laut aufschreien. Da er das Kind anbetete, so lief er herbei, um zu sehen, was es gäbe. Es war eine Treppe herabgefallen und hatte sich das Gesicht blutig aufgeschlagen. Garibaldi, der nicht gleich wußte, wie er es trösten sollte, besann sich auf die drei Kreuzer, welche sein ganzes Hausvermögen bildeten und die man für wichtige Ereignisse aufbewahrt hatte. Er nahm seine drei Kreuzer und eilte ein Spielzeug einzukaufen, welches sein Kindlein beruhigen könnte. Vor der Thüre begegnete ihm ein Diener des Präsidenten Joaquin Suarez, der ihn im Auftrag seines Herrn zu einer wichtigen Mittheilung abholen sollte. Er begab sich daher sogleich zum Präsidenten, vergaß den Grund seines Ausgangs und hielt mechanisch seine drei Kreuzer in der Hand. Die Conferenz währte zwei Stunden, denn es handelte sich wirklich um wichtige Gegenstände. Nach Verlauf dieser zwei Stunden kehrte Garibaldi nach Hause zurück; das Kind war besänftigt, Anita dagegen äußerst unruhig. „Man hat die Börse gestohlen!“ rief sie ihm zu, sowie sie ihn erblickte.
Jetzt erst dachte Garibaldi an die drei Kreuzer, die er noch in der Hand hielt. – Er war der Dieb.
Um diese Zeit vernahm Garibaldi, daß Pius IX. auf den päpstlichen Stuhl erhoben worden sei. Man weiß, wie sich die Anfänge seiner Regierung gestalteten. „Wie Viele,“ so schreibt Garibaldi, „glaubte auch ich an eine Aera der Freiheit für Italien. Ich beschloß sogleich, um ihn in den hochherzigen Entschlüssen, die ihn belebten, zu unterstützen, ihm meinen Arm, wie den meiner Waffengefährten anzubieten. Diejenigen, welche an eine systematische Opposition meinerseits gegen das Papstthum glauben, können leicht aus dem Schreiben, das ich im Verein mit Auzani an den Nuntius Seiner Heiligkeit richtete und welches obengenannte Bitte enthielt, ersehen, daß dem nicht so war; meine Hingebung galt der Sache der Freiheit im Allgemeinen, auf welchem Punkte der Erde sich auch diese Freiheit Bahn brach. Man wird jedoch einsehen, daß ich meinem Lande den Vorzug gab und bereit war, unter demjenigen zu dienen, der berufen schien, der politische Messias Italiens zu werden.“ Allein Garibaldi und Auzani warteten vergebens auf Antwort vom Nuntius oder vom Papst, dennoch beschlossen sie mit einem Theile ihrer Legion nach Italien abzureisen. Ihr Zweck war, die Revolution da zu unterstützen, wo sie bereits in Waffen stände oder sie wachzurufen, wo sie noch schlief, z. B. in den Abruzzen. Leider hatte jedoch keiner von Allen einen einzigen Kreuzer in der Tasche, um die Ueberfahrt bestreiten zu können.
„Ich nahm,“ lassen wir Garibaldi wieder selbst berichten, „meine Zuflucht zu einem Mittel, das bei edeldenkenden Herzen stets anschlägt: ich eröffnete eine Subscription unter meinen Landsleuten. Die Sache ging vorwärts, allein einige schlechte Seelen suchten unter den Legionairen einen Theil gegen mich einzunehmen und diejenigen, die mir zu folgen geneigt waren, davon abzuschrecken. Man redete den armen Kerlen vor, ich würde sie einem sichern Tode entgegenführen, das von mir beabsichtigte Unternehmen sei unmöglich und es sei ihnen ein ähnliches Loos wie das der Brüder Bandiera vorbehalten. Dies hatte zur Folge, daß sich die Furchtsamsten zurückzogen und nur 85 Mann bei mir blieben, von welchen uns noch 29, als sie schon eingeschifft waren, verließen. Zum Glück waren jedoch die, welche bei mir blieben, die Tapfersten, fast alle Waffengenossen aus dem Kampfe von San Antonio. Ueberdies nahm ich einige zuverlässige Orientalen mit mir, und unter diesen meinen armen Neger Aguyar, der bei der Belagerung von Rom fiel. – Die Subscription, an welcher sich vorzüglich ein in Montevideo ansässiger Genuese, Namens Stefano Antonini, betheiligte, ging gut von Statten. Ihrerseits erbot sich die Regierung, uns mit allem, was in ihrer Gewalt stände, zu unterstützen; ich wußte jedoch, wie arm sie war, und wollte daher von ihr nur zwei Kanonen und achthundert Flinten annehmen, die ich auf unsere Brigg schaffen ließ. Allein im Augenblick unserer Abfahrt begegnete uns mit dem Commandanten des Biponte Carolo dasselbe, was die Franzosen zur Zeit der Kreuzfahrt Balduin’s von den Venetianern erfuhren, die sie nach dem gelobten Lande zu schaffen versprochen hatten. Seine Forderung war so groß, daß wir Alles, bis auf unsere Hemden, verkaufen mußten, um ihm gerecht zu werden, sodaß während der Ueberfahrt Einige aus Mangel an Kleidern auf ihren Lagerstätten bleiben mußten.
„Wir hatten bereits eine Küstenstrecke von dreihundert Stunden zurückgelegt und befanden uns beinahe auf der Höhe der Orinocomündungen, als auf einmal, während ich mich eben mit Orrizoni belustigte, Meerschweine vom Bugspriet zu harpuniren, das Geschrei: „Feuer!“ erscholl.
„Vom Bugspriet auf den Schiffsschnabel, vom Schiffsschnabel auf das Verdeck springen und mich am Netz herabgleiten lassen, war das Werk eines Augenblicks. Beim Vertheilen der Lebensmittel hatte der Austheiler die Unvorsichtigkeit begangen, Branntwein aus einem Fasse mit dem Lichte in der Hand zu ziehen. Der Branntwein fing Feuer; der Austheiler verlor den Kopf und statt das Faß wieder zuzuschlagen, ließ er den Branntwein stromweise herausfließen. Die Speisekammer, die von der Pulverkammer durch eine kaum zolldicke Planke getrennt war, bildete einen wahren See von Feuer. Hier sah ich recht, wie leicht auch die Muthigsten der Furcht zugänglich sind, sobald sich die Gefahr ihnen in einer andern Gestalt zeigt, als sie sie zu sehen gewohnt sind. Alle diese Menschen, welche Helden, Halbgötter auf dem Schlachtfelde waren, liefen, rannten gegen einander und verloren den Kopf, zitternd und verstört wie Kinder. Nach Verlauf von zehn Minuten hatte ich, von Auzani, der beim ersten Lärmschrei aus seinem Bett gesprungen war, unterstützt, das Feuer gelöscht.
„Der arme Auzani hütete in der That das Bett, nicht weil er gänzlich von aller Bekleidung entblößt gewesen wäre, sondern weil er schon heftig von der Krankheit ergriffen war, an welcher er bei seiner Ankunft in Genua sterben sollte, an einer Lungenschwindsucht. Dieser bewundernswürdige Mensch, an dem sein grimmigster Feind, wenn er anders einen Feind hatte haben können, auch nicht einen einzigen Fehler zu finden vermochte, wollte, nachdem er sein Leben der Sache der Freiheit gewidmet, daß seine letzten Augenblicke noch seinen Waffengefährten nützlich würden; täglich half man ihm, das Verdeck zu besteigen; als er nicht mehr heraufsteigen konnte, ließ er sich herauftragen, und hier gab er, auf einer Matratze hockend und sich oft auf mich stützend, den Legionairen, die sich um ihn im Hintertheil des Schiffs versammelt hatten, Unterricht in der Strategie. Dieser Auzani war ein wahres Wörterbuch der Wissenschaften, und es würde ebenso schwer sein, alle die Sachen aufzuzählen, die er wußte, als eine zu finden, die er nicht gewußt hätte.
„Zu Palo, ungefähr fünf Miglien von Alicante, stiegen wir an’s Land, um eine Ziege und Orangen für Auzani zu kaufen. Hier erfuhren wir durch den sardinischen Viceconsul einen Theil der Ereignisse, die sich in Italien zugetragen; hier vernahmen wir, daß die piemontesische Constitution proclamirt worden sei und daß die fünf glorreichen Tage von Mailand stattgefunden hätten; lauter Dinge, die wir seit unserer Abfahrt von Montevideo, d. h. seit dem 27. März 1848, nicht wissen konnten. Der Viceconsul erzählte uns, daß er italienische Fahrzeuge mit der tricoloren Flagge habe vorbeifahren sehen. Sofort entschloß ich mich daher, die Fahne der Unabhängigkeit aufzupflanzen. Ich führte die Flagge von Montevideo bei mir, unter welcher wir segelten, und jetzt hißte ich an der Gabel unseres Schiffes das sardinische Banner [704] auf, das aus einem halben Betttuch, einem rothen Mantel und dem Rest grüner Aufschläge unserer Schiffsuniform improvisirt wurde.
„Am 24. Juni, am Johannistage, kamen wir vor Nizza an. Viele waren der Ansicht, daß wir ohne genauere Nachrichten nicht landen sollten. Ich wagte mehr als irgend einer, da noch die Todesstrafe auf mir lastete. Dennoch zauderte ich nicht, oder vielmehr ich hätte nicht gezaudert, denn von Leuten, die auf einem Boote heranruderten, wiedererkannt, verbreitete sich sogleich mein Name, und kaum war dies erfolgt, als ganz Nizza nach dem Hafen stürzte und ich mitten unter lauten Beifallsrufen die Festlichkeiten annehmen mußte, die uns von allen Seiten angeboten wurden. Sobald man erfuhr, daß ich in Nizza war und den Ocean durchschifft hatte, um der Sache der italienischen Freiheit zu Hülfe zu eilen, strömten Freiwillige von allen Seiten herbei. Ich hatte jedoch für den Augenblick Pläne, die ich für besser hielt. Dasselbe, was ich vom Papst Pius IX. gehalten, glaubte ich auch vom Könige Carl Albert; anstatt mich ausschließlich mit Medici zu beschäftigen, den ich nach Via-Reggio abgesendet, um daselbst die Insurrection zu organisiren, glaubte ich, da die Insurrection bereits organisirt und der König von Piemont an der Spitze der Erhebung stand, nichts Besseres thun zu können, als diesem meine Dienste anzubieten.
„Ich nahm Abschied von meinem armen Auzani, einen um so schmerzlicheren Abschied, als wir Beide wußten, daß wir uns nicht wiedersehen würden, und so schiffte ich mich wieder nach Genua ein, von wo aus ich ins Hauptquartier des Königs Carl Albert eilte. Der Ausgang bewies mir, daß ich Unrecht hatte. Wir verließen uns, der König und ich, Einer mit dem Andern unzufrieden, und ich kehrte nach Turin zurück, wo ich Auzani’s Tod vernahm. Ich verlor die Hälfte meines Herzens, den besten Theil meines Geistes. Italien verlor einen seiner hervorragendsten Söhne. O Italien! Italien! unglückliche Mutter! welcher Trauertag war der für dich, als dieser Bravste der Braven, dieser Treueste der Treuen dem Lichte deiner schönen Sonne die Augen für immer verschloß! Beim Tode eines Mannes, wie Auzani, sage ich dir es, o Italien! Die Nation, die ihm das Leben gegeben, muß aus der Tiefe ihres Innersten einen Schmerzensschrei ausstoßen, und wenn sie nicht weint, wenn sie nicht wehklagt, wie Rahel in Rama, so ist diese Nation weder der Sympathie noch des Mitleids würdig, sie, die weder Sympathie noch Mitleid für ihre hochherzigsten Märtyrer hatte!
„Ja, Italien! Wenn der Allmächtige das Endziel Deiner Leiden bezeichnet haben wird, so wird er Dir Auzani’s senden, die Deine Söhne leiten werden bei der Vertilgung Derer, die Dich in den Koth treten und Dich tyrannisiren!“
Deutsche Landsleute in Italien. Ich hatte eben den wunderbar herrlichen Dom Siena’s zum zweiten Male durchwandert und mich an dem Bauwerk und seiner unglaublich reichen Ausschmückung im Innern so satt und müde gesehen, wie man es nach stundenlangem Betrachten von Bildern und Sculpturen immer wird. Ich sehnte mich nach frischer Luft und „etwas Grün der Bäume“. Langsam schlenderte ich der Lizza zu, dem baumbepflanzten, statuengeschmückten Spaziergange Siena’s. Die Hauptallee führte mich auf den Eingang zu der ehemaligen kleinen Festung, deren veränderte Bestimmung eine hübsche Inschrift rechts davon an einer triumphbogenartigen Wand folgendermaßen in italienischer Sprache angibt: „Diese von Cosmus von Medici im Jahre 1561 zur Sicherung der Herrschaft erbaute Burg hat Peter Leopold von Oesterreich im Jahre 1778, nachdem er die Treue der Sieneser wahrgenommen, dem öffentlichen Vergnügen bestimmt.“
Unter Betrachtungen über die fides Senensium betrat ich den inneren Raum der Citadelle, der jetzt von Baumgängen und Gartenanlagen eingenommen ist. Plötzlich fesselte ein Mann in einer Uniform, wie ich sie bis dahin in Italien noch nicht gesehen hatte, meinen Blick. „Rothe Hosen!“ dachte ich, „das muß ein Franzose sein! Aber wie kommt der hierher? Die französischen Hülfstruppen vom vorigen Jahre sind ja längst wieder zurückmarschirt. Hat man ihn etwa vergessen, wie jene unabgelöst gebliebene Schildwache in der Anekdote?“ – Ich sah mich um und erblickte zwischen dem Grün der Büsche noch mehr der rothen Hosen. In dem Augenblick gingen zwei Spaziergänger an mir vorüber, aus deren Gespräch ich die Wörter Roma und desertori auffing. – „Aha!“ dachte ich, „die sind also von jenen französischen Soldaten, in denen endlich das Bewußtsein von der schmählichen Rolle erwacht ist, die Louis Napoleon sie in Rom als Beschützer jenes mittelalterlichen Popanzes, Papstthum genannt, spielen läßt!“ Damit ging ich auf den nächsten der Rothhosen zu.
„Vous ètiez soldat francais, Monsieur?“ fragte ich.
„Entschuldigen Sie,“ war die zu meinem Erstaunen in deutscher Sprache gegebene Antwort, „aber französisch spreche ich nicht, ich bin ein Daitscher!“
„Aber, zum Teufel!“ fragte ich nicht wenig verblüfft, „was ist denn das für eine Uniform, die Sie da tragen? das ist doch eine französische!“
„Entschuldigen Sie, sie ist vom zweiten päpstlichen Fremdenregiment, Härr, mer seind von Perutsche[2] däsärtirt.“
Jetzt war mir Alles klar, und ich konnte mich nicht genug wundern, daß ich diese Erklärung des Vorhandenseins rother Hosen in Siena nicht selbst gefunden hatte. Und siehe, aus allen Alleen rings umher kamen sie heran, Einer nach dem Andern, auch Leute in dunkelblauen Hosen, und sie grüßten verlegen in allen Mundarten, die in Firmenich’s „Völkerstimmen Germaniens“ vertreten sind, und schließlich waren es ihrer sechszehn deutsche Landsleute, die mich umringten, und wir bildeten hier, so weit von Frankfurt, Erfurt, Olmütz und Coburg-Gotha, und ohne Genehmigung des verehrlichen Vorstandes des deutschen National-Vereins ein kleines einiges Deutschland.
Interessant waren die Ergebnisse meiner Forschungen über die näheren Heimathsverhältnisse dieser deutschen Brüder. Von den 16 ungetreuen Paladinen Sr. Heiligkeit waren die verhältnißmäßig meisten, nämlich vier, aus dem unglücklichsten deutschen Lande, dem die neue preußische Aera trotz ihrer schönen Worte in vollen zwei Jahren noch nicht zum alten guten Rechte von 1831 hat verhelfen können. Drei Repräsentanten zählte das andere Hessen, die übrigen kamen aus Baden, Württemberg, Baiern, Sachsen etc. Nur ein einziger Preuße war darunter, ein hübsch aussehender, nicht ganz ungebildeter Mensch aus dem Magdeburgischen, aber auch durch diesen Einzigen bewährte Preußen sein „legitimes Uebergewicht“ in Deutschland: er nahm sofort das Wort und führte die Unterhaltung mit mir ganz allein, nur hier und da durch eine Zustimmung oder Ergänzung seitens der Mittel- und Kleinstaaten unterbrochen.
Unter den mannigfachen Enthüllungen, die mir zu Theil wurden, überraschte mich eine außerordentlich.
„Sie sind doch Katholiken?“ warf ich beiläufig, wie als ob das „Ja“ sich von selbst verstände, die Frage hin. Nicht ein Einziger von den Sechszehn war es!
„Aber mein Gott, was hat Sie dann aber bewogen, sich dem Papste zu verkaufen?“
Da waren es denn die Noth, die Werber, das Handgeld gewesen! Als Handwerksburschen sich in der Fremde umhertreibend, ohne Arbeit und ohne Geld, waren sie in das Garn der päpstlichen Agenten, die mit dem Köder von Versprechungen nicht karg gewesen waren, gerathen.
„Ja,“ sagte einer der Süddeutschen, „wenn man uns nur Wort gehalten hätte! Mir haben sie in Marseille 108 Franken Handgeld versprochen, und im Ganzen habe ich 85 Bajocch’[3] „gefaßt“. Das Uebrige haben sie mir für die Reise, die Kost und die Ausrüstung abgezogen.“
Dümmer konnte man doch diese letzten Retter der sinkenden Hierarchie nicht behandeln! Was mir von dem zum Theil höchst elenden Zustande der päpstlichen Armee, dem Mangel an brauchbaren Officieren, der lockern Disciplin, der tiefen Verstimmung vieler der Angeworbenen, dem lächerlichen Babylonismus des Commando’s – es ward in drei Sprachen, italienisch, französisch und deutsch, commandirt – kurz von der Unzuverlässigkeit der ganzen Schöpfung Lamoriciere’s erzählt wurde, das haben seitdem die Ereignisse in Umbrien und den Marken als begründet herausgestellt.
Mit schaudernder Theilnahme hörte ich auch hier aus dem Munde von Nahestehenden, von Augenzeugen, ja vielleicht Mitschuldigen, die volle Wahrheit aller der Gräuel, die man von der Einnahme Perugia’s im vorigen Jahre gemeldet hat, bestätigen. Gerade der oben erwähnte Preuße hatte in dem verruchten Jägerregiment gestanden, das den blutdürstigen Anweisungen jenes nichtswürdigen Schlächters Schmid von Uri so vollkommen Folge geleistet hat. „Nun will ich meinen Jungens auch ’mal ein Vergnügen machen!“ soll er, ähnlich wie einst Tilly vor Magdeburg, gesagt haben, als er die fürchterliche Bande über die beklagenswerthe Stadt losließ. Es ist wahr, versicherte man mir, daß Kinder gemordet und Frauen bis auf den Tod mißhandelt worden sind; es ist wahr, daß man Männer zu den Fenstern hinausgestürzt, die noch lebenden Körper mit Spiritus begossen, diesen angezündet und die brennende Masse mit cannibalischem Geheul durch die Straßen der Stadt geschleift hat!
Der Urheber dieser Scheußlichkeiten, jener auf ewig gebrandmarkte Oberst Schmid, den der Vater der Christenheit zur Belohnung für jene Unthaten zum General gemacht hat, ist seitdem der italienischen Befreiungsarmee in die Hände gefallen, aber die allzu humane Regierung Victor Emanuels hat ihn laufen lassen, statt ihm den Proceß zu machen, wie er einem Mordbrenner dieser Art gebührt hätte. So viel wir wissen, hat der über die Schweizergrenze entlassene Soldknecht seither keine andere Unannehmlichkeit erfahren, als die einer ihm in Genf gebrachten stürmischen Katzenmusik.
Was die sechszehn „lieben Landsleute“ betrifft, so schied ich von ihnen mit der Frage, ob ihre Abenteuerlust durch die gemachten Erfahrungen hinlänglich abgekühlt sei, um fortan nach dem alten, guten Spruche vom „im Lande bleiben und sich redlich nähren“ zu leben. Ein sechszehnfaches Ja war die Antwort. Ich sah die Armen noch einmal wieder, als ich nach Florenz zurückkehrte, sie wurden mit demselben Bahnzuge unter Bedeckung italienischer Carabiniers nach Livorno geschafft, um von dort über Genua, Turin und die Schweiz in die Heimath befördert zu werden.