Die Gartenlaube (1861)/Heft 24
Deutsche Herzen, deutscher Pöbel.
Im verflossenen Sommer besuchte mich der Verwandte eines Freundes aus Deutschland. Es war ein sehr ernster Mann, im Anfang der dreißiger Jahre. Er war nicht immer so ernst gewesen. Ein Tag, eine Stunde kann die Stimmung eines Menschen für sein ganzes Leben begründen. Er erzählte mir Folgendes:
Ich war ein lustiger Student. Wir fuhren von der Universitätsstadt nach der benachbarten grösseren Stadt zum Theater. Eines Tages im Sommer war ich mit einem Freunde hingefahren; wir hatten uns verspätet, so daß wir, um nicht zu viel zu versäumen, sofort nach unserer Ankunft, ohne weiter Jemanden zu sprechen, uns zu dem Schauspielhaus begeben mußten.
Es wurde ein Lustspiel gegeben; das Haus war voll, wie gewöhnlich. Nur in einzelnen, gerade den vornehmsten Logen war es leer, die höchste Adels- und Beamten-Aristokratie fehlte. Das Fehlen der Stammgäste gerade und der höchsten Classen fiel uns auf. Wir fanden indeß keinen Bekannten, den wir nach der Ursache hätten fragen können. In unserer Nachbarschaft wurde darüber gesprochen, aber nur Weniges, das uns keinen Aufschluß gab.
„Wo ist denn heute die Generalin mit ihren Töchtern, Herr Lieutenant?“
„Wie? Sie wissen nicht, Herr Assessor? Die wohnen einem interessanteren Schauspiele bei.“
„Ah, dort sind sie!“
„Allerdings. Auch die Präsidentin ist da und die schöne Comteß Gleichen.“
Sie sprachen noch von Mehreren, die zu dem „interessanteren Schauspiele“ gegangen seien. Was für ein Schauspiel es war, sagten sie nicht; Jeder setzte voraus, daß der Andere es kenne, und Jeder kannte es.
Das Theater war spät zu Ende. Mein Freund und ich kehrten zu unserem Gasthofe zurück und hofften dort zu erfahren, was alle Welt in der Stadt zu wissen schien. Der Gasthof lag vor dem Thore der Stadt, und um ihn schneller zu erreichen, hatten wir Seitenstraßen eingeschlagen, die zu den abgelegensten der Stadt gehörten, schon bei Tage wenig besucht und in der weit vorgerückten Abendstunde fast leer waren. Wir hatten mehrere zurückgelegt, und anfangs war uns noch hin und wieder Jemand begegnet, seit einer Weile aber schon war der Laut unserer eigenen Schritte der einzige Ton, den wir vernahmen, und gesehen hatten wir in den dunklen Gassen schon lange nichts mehr. Wir hatten oft, auch zur Nachtzeit, diese Straßen und Gassen durchwandert. Es wohnten nur geringe Handwerker und Arbeiter da, Leute, die vom frühen Morgen an den ganzen Tag hindurch ihre schwere, saure Arbeit haben und am Morgen früh zu dieser Arbeit wieder bei der Hand sein müssen; da legen sie sich denn auch früh am Abend zur Ruhe. Aber hin- und wieder hatte man doch Leben gesehen und gehört. Die Stille des heutigen Abends glich einer unheimlichen Todtenstille.
Auf einmal mußten wir unwillkürlich unsere Schritte anhalten. Eine Seitenstraße durchschnitt die Straße, in der wir gingen. Ein Schritt kam daraus hervor, ein schneller, leichter, flüchtiger Schritt. An der Kreuzung der Straße brannte eine Laterne, eine matte, hochhängende Oellampe. Aber wie schwach sie brannte, sie zeigte eine hohe, dunkle Frauengestalt, die an uns vorüberschritt.
„Teufel, eine schöne Gestalt!“ flüsterte ich meinem Freunde zu. „Und wie leicht und schwebend der Gang! Und wie war die Haltung!“
„Du bist ein Narr,“ sagte mir mein Freund zurück. „Komm nur.“
Er kannte mich. Wie gern ist ein lustiger Student auch ein leichtsinniger! Und was liebt und sucht der Leichtsinn mehr, als leichtsinnige Abenteuer?
„Ich muß ihr nach,“ versicherte ich meinen Freund.
Er wollte mich zurückhalten.
„Sie geht dem schlechtesten Winkel zu, der verrufensten und gefährlichsten Gegend der Stadt.“
„Meinetwegen.“
„Es muß schon elf Uhr vorbei sein.“
„Meinethalben mag es schon Mitternacht sein.“
Mein Freund kannte mich ganz, er wußte auch, daß ich das, was ich in meinem Leichtsinn mir einmal vorgenommen hatte, ausführen müsse. „Nimm das!“ sagte er nur noch.
Er reichte mir einen Dolch zu, den er in der damaligen nicht ganz gefahrlosen Zeit immer bei sich zu führen pflegte. Er war ein solider, vorsichtiger junger Mann. Wir trennten uns. Er ging weiter die Straße hinunter, ich schlug die Querstraße rechts ein und folgte der Frau. Sie war mit ihrem schnellen, leichten Schritt an uns vorübergegangen; sie hatte nicht nach uns hingeblickt, um so weniger hatte ich in der schwachen Beleuchtung der Laterne ihr Gesicht sehen können. Ich hatte sie bald eingeholt[WS 1]; sie war schneller gegangen, als sie meinen Schritt hinter sich gehört hatte.
Ich war an ihrer Seite. Ihre Gestalt hatte sich mir, je näher ich ihr kam, in schärferen und in schöneren Umrissen gezeigt; sie war groß, schlank, voll. Sie mußte jung sein, wenn auch der [370] leichte Schritt es nicht zeigte. So meinte ich. Ich wollte auch ihr Gesicht sehen. Sie trug einen dichten Schleier.
„Meine Schöne, darf ich Ihnen meinen Arm anbieten?“
„Ich danke Ihnen.“
Sie sagte es kurz und abweisend und deutlich genug.
„Aber daß ich Sie begleite, werden Sie mir erlauben?“
„Ich danke Ihnen auch dafür.“
„Sie sind allein.“
„Und ich wünsche es zu bleiben.“
„Sie gehen einer verrufenen Gegend zu.“
„Um so mehr hätten Sie Veranlassung, mir nicht zu folgen.“
„Ah, wenn Sie mir anderswohin folgen wollten?“
„Mein Herr, verlassen Sie mich.“
„Jetzt wahrhaftig nicht mehr.“
Ich wollte ihren Arm nehmen. „Mein Herr!“ rief sie drohend.
Ich war in der That schon mitten in einem Abenteuer. Mitten in der Nacht in einer abgelegenen, dunklen Straße einer großen Stadt, allein mit einem fremden Frauenzimmer, das einsam die Straßen durchstrich, dem verrufensten Theile der Stadt zuging, einem Quartier, das darum das schlechte Viertel genannt wurde, weil die Hefe der Einwohnerschaft dort lebte und verkehrte. Und dieses Frauenzimmer hatte jene hohe, stolze Gestalt, schwebte in leichter, edler Haltung neben mir; ihr dunkles Kleid rauschte an meiner Seite wie schwere Seide; sie sprach in einem gebildeten Tone; sie wies mich strenge, befehlend zurück. Ich konnte, ich durfte mich nicht zurückweisen lassen.
„Ei, meine Schöne, eine Frau, die um Mitternacht allein durch eine dunkle, einsame Straße geht, muß die Begleitung eines Mannes annehmen, der sich ihr anbietet; ich werde Sie daher nicht verlassen. Ich werde Sie begleiten, wohin Sie nun einmal gehen. Haben Sie Ihr Ziel erreicht, so können Sie dann mit mir machen, was Sie wollen.“
Sie hatte sich besonnen.
„Wohl, mein Herr, die Straße ist auch für Sie frei. Aber ich erwarte von Ihrer Ehre, daß Sie keinen Versuch machen, mich anzurühren.“
„Bis Sie selbst mich um meinen Arm bitten,“ lachte ich.
Sie antwortete mir nicht. Die Gasse, in der wir gingen, war sehr schmal; ein Wagen hätte dort nicht fahren können; sie mußte dicht an meiner Seite gehen.
Auf einmal – sie war rasch, aber nur wenige Schritte vorangegangen – blieb sie stehen.
„Geben Sie mir Ihren Arm, mein Herr.“
„Ah, jetzt schon?“
„Schweigen Sie. Lassen Sie uns langsamer gehen; hier, auf die Seite!“
Sie hatte meinen Arm genommen. Ich mußte sie aus der Mitte der Straße, in der wir gingen, zur Seite, unmittelbar an die Häuser und in deren tieferes Dunkel führen. Es war ein runder, weicher Arm, den sie in den meinigen gelegt hatte. Eine schöne, schlanke, volle Gestalt lehnte sich an mich. Aber der Arm war eisig kalt und die ganze Gestalt zitterte.
„Lassen Sie mich einen Augenblick ausruhen,“ bat sie, „bis jene vorüber sind.“
Wir hatten wieder eine Querstraße durchschritten. Ein Geräusch war uns daraus entgegengekommen, ein gleichmäßiger Tritt von mehreren Menschen – wie der Marsch eines Trupps Soldaten. Gesehen hatten wir in der Dunkelheit nichts. Wir waren schon nahe an dem schlechten Viertel; Straßenlaternen brannten dort gar nicht mehr, sie sind für den Luxus der Städte da, an Sitte und Wohlfahrt denkt man bei ihnen nicht.
Die Tritte kamen an uns vorüber. Es war wirklich eine Militärpatrouille, die in die Straße hinein marschirte. Wir waren zwischen zwei Häuser getreten, um ihnen Platz zu machen.
Ich hatte einmal daran gedacht, während wir in dem tiefen Dunkel allein da standen, die schöne Frau an mich zu drücken, aber ich konnte es nicht. Die Kälte des Armes, das Zittern, die bittende Stimme: „Lassen Sie mich einen Augenblick ausruhen!“ – Alles hielt mich zurück. Ich dachte mir dabei ihr Gesicht, bildschön, aber leichenblaß, aus dunklen Augen flehend und zugleich drohend zu mir gewandt. Ich wollte die dunkle Nacht, den schwarzen Schleier, der es bedeckte, durchbohren; ich sah nichts, aber ihr Zittern war stärker geworden.
„Kommen Sie,“ sagte sie hastig, als die Soldaten vorbei waren.
Wir gingen weiter in die Straße hinein, hinter der Patrouille her. Die Soldaten marschirten im Geschwindschritt, und wir hatten sie nach wenigen Minuten aus den Augen verloren und hörten nichts mehr von ihnen. Wir waren in dem schlechten Viertel angelangt; eine Menge kleiner, enger, krummer und dunkler Straßen durchkreuzten sich hier, lösten einander ab. Sie waren überall völlig leer, wir Beiden waren die einzigen lebenden Wesen darin. Stand jene Militärpatrouille mit dieser ungewöhnlichen Leere in Verbindung? Es war schon damals eine eigenthümliche Zeit. Bei unserer Ankunft in der Stadt hatten wir nur erfahren, daß am Tage vorher fremdes Militair eingerückt sei.
Meine Begleiterin führte mich mit sicherem Schritt weiter; sie schien jede der engen Straßen zu kennen, trotz Gewirre, trotz Dunkelheit. In dieser Gegend der Sünde, des Lasters, der Rohheit, der Verbrechen, des Elends? Sie, die hohe, schöne Gestalt, mit der stolzen Haltung, in dem seidenen Gewände? Auf ein galantes Abenteuer hatte ich längst verzichtet. Ich sah nur immer das blasse, leidende Gesicht, von dem ich dennoch nichts hatte sehen können. Aber wer war sie? Wohin führte sie mich? Ich dachte darüber nach.
Wir gingen schweigend neben einander. Ihr Schritt war hastiger, ungeduldiger geworden. Wir waren tiefer in das Straßengewirr des schlechten Viertels hineingekommen. In der Finsterniß war es bisher auch still gewesen; selten war uns ein Mensch begegnet, er war still an uns vorübergegangen. Es fing an lebendiger zu werden, nicht auf der Straße, aber in einzelnen Häusern. Die Laden der Fenster waren fest verschlossen, nur dann und wann drang ein dünner Lichtstrahl durch die Ritzen auf die Straße; aber hinter den dunklen Läden war es laut. Heisere Männerstimmen lärmten, Frauenstimmen riefen grell dazwischen; Gläser und Krüge stießen an einander.
Aus einem Hause tönte uns Musik entgegen. Oben waren die Fenster erleuchtet, und an dem trüben, schwitzenden Glase sah man tanzende Paare vorüberfliegen. Auf das Haus führte meine Begleiterin mich zu.
„Dahin?“ mußte ich sie erstaunt fragen.
„Ja,“ war ihre kurze Antwort.
Es waren die ersten Worte, die wir, seitdem die Patrouille an uns vorübergekommen war, wieder mit einander gewechselt hatten.
„Ich darf Sie hinein führen?“ fragte ich sie weiter.
„Ich bitte Sie darum.“ Sie sprach die Worte in einem dringend bittenden Tone.
Einen Augenblick hatte ich, bei der Tanzmusik, doch wieder an ein ordinaires Abenteuer denken wollen; der bittende Ton nahm mir den Gedanken. Aber was wollte sie in dem Hause? in der Tanzkneipe?
Wir traten in das Haus; die Thür stand offen, und wir kamen in einen engen Hausflur. Eine trübe Oellampe, die oben an der Wand hing, zeigte, wie schmutzig es überall war, sie zeigte uns auch eine schmale, dunkle Treppe, die nach oben führte; wir stiegen sie hinauf und gelangten wieder in einen schmalen Flur, aber es war hell darin. Eine Seitenthür, die hineinführte, stand offen, man sah in eine Küche, in der ein großes Feuer brannte; es wurde darin gekocht, geschmort, gebraten. Angenehme Gerüche dufteten nicht daraus hervor, aber durch eine Thür gegenüber drangen entsetzliche Gerüche von Schnaps, von Bier, von Tabak. In die Gerüche mischten sich die Töne einer schlechten Musik, eines plumpen, polternden Tanzes, das Rufen von Tanzenden, das Schreien von Zechenden.
Was suchte die Fremde in diesem Hause? In dem hellen Scheine des Feuers stand ihre Gestalt doppelt schön, edel, stolz vor mir. Ihre Kleidung war eine elegante, aber tiefschwarz; man sah keinen weißen, keinen bunten Streifen. Und doch war es keine eigentliche Trauerkleidung. Das Gesicht war noch immer von dem schwarzen Schleier bedeckt.
Aus der Küche trat eine Frau in den Flur. Es war eine häßliche, dicke, schmutzige Alte.
„Sie sind doch noch gekommen?“ fragte sie meine Begleiterin.
„Ist das Zimmer für mich bereit?“ fragte diese zurück.
„Gewiß, Madame.“
„Es ist doch Niemand darin?“
„Kein Mensch.“
[371] „Es kann auch Niemand hineinkommen? aus dem Tanzsaale da?“
„Sie können sich darin einschließen.“
„Wer tanzt dort?“
„Die fremden Soldaten.“
„Sie hatten mir gesagt, es werde hier heute Nacht still sein.“
„Es ist nicht meine Schuld, Madame. Diese fremden Soldaten spielen hier die Herren. Ich wollte sie zurückweisen; sie drohten mit Gewalt.“
„Führen Sie mich in mein Zimmer.“
Die Wirthin kehrte in die Küche zurück und kam gleich darauf mit einem Lichte und einem Schlüssel wieder. Meine Begleiterin hatte mich unterdeß durch ihren Schleier betrachtet.
„Sie bleiben bei mir, mein Herr!“ bat sie mich dann leise.
„Ich bitte Sie, verlassen Sie mich nicht.“
„Ich verlasse Sie nicht.“
Die Wirthin schloß eine Thür seitwärts von der des Tanzsaals auf. Wir traten in eine einfach meublirte, ziemlich reinliche Stube.
Die Wirthin stellte das Licht auf einen Tisch. „Wünschen Sie etwas?“ fragte sie.
„Nein.“
Sie verließ das Zimmer. Sie hatte mich nur einen Augenblick neugierig angesehen, aber ohne alle Frechheit der Neugierde solcher Weiber. Der Fremden war sie mit einer Art von Ehrerbietung begegnet. Jeder Gedanke an ein galantes Abenteuer war aus meinem Innern verschwunden. Aber was wollte, was erwartete die Fremde hier, daß sie mich so dringend gebeten hatte, sie nicht zu verlassen? Und anfangs bei unserem ersten Begegnen hatte sie meine Begleitung so entschieden zurückgewiesen.
Die Stube, in der wir uns befanden, stieß an den Tanzsaal, sie lag aber hinter diesem; sie mußte an der Rückseite des Hauses liegen. Sie hatte nur die eine, auf den Flur führende Thür, durch die wir eingetreten waren. Der Thür gegenüber waren zwei Fenster, die dicht mit Vorhängen bedeckt waren.
„Darf ich Sie bitten, die Thür von innen abzuschließen?“ bat mich meine Begleiterin.
Ich that es. Als ich fertig war und mich wieder nach ihr umsah, saß sie an einem der Fenster. Sie schien mit großer Aufmerksamkeit hindurch zu blicken; sie hatte den Vorhang zur Seite geschoben. Von ihrem Gesichte hatte sie den Schleier zurückgeschlagen. Ich konnte dennoch nichts von ihrem Gesichte sehen. Sie hatte es fest an die Scheiben des Fensters gedrückt. Ich war neugierig, wonach sie so angelegentlich ausschaute. Ich trat an das zweite Fenster. Die beiden Fenster führten auf einen schmalen Hof. Unmittelbar an dessen anderer Seite erhob sich ein hohes, langes, dunkles Gebäude mit Flügeln, Vorsprüngen und Thürmen. Ich kannte es. Ich hatte es oft gesehen, freilich nicht von dieser Seite, sondern in seiner Hauptfront, die an der um die Stadt führenden Promenade lag.
„Das ist ja das Zuchthaus!“ rief ich überrascht.
„Ja, es ist das Zuchthaus,“ erwiderte die Fremde kalt und eintönig, und es war mir, als wenn der Ton mir in das Herz schneide.
Meine Augen mußten weiter forschen, was sie in oder an dem dunkeln Gebäude suchen möge. Ich hatte es bald entdeckt. Gerade unseren beiden Fenstern gegenüber und fast in derselben Höhe mit ihnen war in dem Zuchthause ein hohes, breites Fenster. Man sah durch dasselbe in einen weiten, sehr hell erleuchteten Raum. Weiter aber konnte man nichts unterscheiden. In dem Raume mußte eine große Hitze herrschen. Das Fenster war von dickem Schweiße bedeckt, der verhinderte, irgend einen Gegenstand auf dessen anderer Seite klar zu erkennen. Nur eine Menge von Gestalten glaubte man in dunkeln, ungewissen Umrissen zu gewahren. Stimmen von Menschen, manchmal von mehreren zugleich, ein paar Mal einem allgemeineren Gemurmel oder Gesumme ähnlich, schienen die Anwesenheit vieler Menschen in dem Raume zu bestätigen.
Dahin waren Auge und Ohr meiner Begleiterin gerichtet, angelegentlich, gespannt. Ich hatte keine Ahnung davon, was dort vorgehen, was die Fremde durch das Dunkel der Mitternacht, durch die Einsamkeit verrufener Straßen hierher geführt haben, was jetzt ihr ganzes Denken und Sein so völlig in Anspruch nehmen könne. Sie saß, das Gesicht an die Scheiben gedrückt, unbeweglich wie eine Bildsäule da. Und doch konnte sie nichts sehen, als eine in das Unbestimmteste verschwimmende Masse von Gestalten, und nichts hören, als schwache, kaum vernehmbare, vollkommen unverständliche Laute von Menschenstimmen.
Nach einiger Zeit wurde ein Flügel des großen Fensters gegenüber halb geöffnet. Wahrscheinlich war die Hitze in dem Raume groß geworden. Man unterschied eine Menge Menschen. Sie befanden sich in einem weiten Saale, an dessen weißen Wänden Lampen brannten. Sie saßen in langen Reihen, mit dem Rücken nach uns gewandt. Es waren Herren und Damen zu unterscheiden, Damen, wie es schien, in reichen Toiletten, Herren vielfach in Uniform.
Mir fiel unwillkürlich jene Aristokratie ein, die heute im Theater gefehlt hatte und einem anderen, interessanteren Schauspiele beiwohne. In der That schienen sie vor einem Schauspiele zu sitzen. Ganz hinten in dem Saale standen mehrere Lichter auf einem Tische. Hinter und zu beiden Seiten neben den Lichtern sah man neue Gestalten. Sie bewegten sich nicht. Aber von dort her kamen Stimmen; dort hinten an dem Tische wurde gesprochen. Ich konnte unter den Personen, die sich dort befanden, nur einen starken Mann besonders unterscheiden. Er schien zu stehen, während die Uebrigen saßen. Bewegungen seiner Hände zeigten, daß er sprach. Zu verstehen war auch jetzt nichts.
Das Fenster war nach der Seite hin geöffnet, wo meine Begleiterin saß; sie konnte vielleicht mehr sehen, als ich. Sie war plötzlich aufgefahren. Dann hatte sie leise ihr Fenster geöffnet; nur wenig, nur ein paar Zoll weit, um eben hindurch horchen zu können. Ich vernahm an meinem Fenster darum nicht mehr. Doch nach einer Weile hörte ich deutlich ein lautes Gelächter. Es kam aus den Reihen der vornehmen Herren und Damen, der Zuschauer und Zuhörer. Die Fremde fuhr heftig von dem Fenster zurück.
„Es ist entsetzlich!“ rief sie.
Als ich nach ihr hinblickte, hatte sie schon wieder horchend und schauend das Gesicht an das Fenster gepreßt. Auf einmal flog sie wieder zurück. In dem Saale drüben war, wie ich deutlich hatte erkennen können, ein alter Mann mit wenigen schneeweißen Haaren erschienen. Er hatte sich dem starken Herrn genaht, der an dem erleuchteten Tische stand und zu sprechen schien. Er hatte diesem etwas überreicht, wie es mir vorkam, ein Papier. Ich glaubte wahrzunehmen, wie in dem Saale zuerst ein allgemeines Geflüster, dann eine tiefe Stille entstand. Die Blicke der Zuschauer schienen nur auf den Greis und den starken Herrn gerichtet zu sein. Es war wirklich ein Papier, das dieser von jenem erhalten hatte. Er öffnete, er las es. Die tiefste Stille währte in dem Saale fort. Der Lesende ließ plötzlich die Hand mit dem Papiere sinken. Er sah nach Jemandem hin. Er verließ seinen Platz. Ich konnte nicht sehen, wohin er gegangen war.
Meine Begleiterin stieß einen Schmerzensschrei aus.
„Allmächtiger Gott! Es ist Alles vorbei!“
Sie war von ihrem Fenster zurückgeflogen. Sie kam auf mich zu. Ich sah zum ersten Male ihr Gesicht. Es war völlig entschleiert. Meine Phantasie hatte in dem finsteren Straßenwinkel mir dieses Gesicht bildschön, aber leichenblaß, mit dunklen, drohenden Augen gezeichnet. Wie weit war sie hinter der Wirklichkeit zurückgeblieben! Nie habe ich ein edel schöneres und leichenblasseres Gesicht gesehen, nie aber auch in einem Gesichte mehr Schmerz und Leid und Angst und Zorn.
Sie war noch jung. Sie konnte in der Mitte der zwanziger Jahre sein. Und diese Frau hatte ich leichtfertig verfolgt! Mit ihr hatte ich ein galantes Straßenabenteuer bestehen wollen! Ich stand beschämt vor ihr. Meine Scham konnte nur durch den festen Entschluß ausgelöscht werken, mich ihrem Dienste zu weihen, mochte sie von mir fordern, was sie wollte. Sie sah mich mit den dunkeln Augen bittend an.
„Mein Herr, auch Sie haben in den Saal drüben geblickt?“
„Ja, Madame.“
„Sie haben den alten Mann gesehen, der eintrat?“
„Ich habe ihn gesehen.“
„Ich habe eine Bitte an Sie.“
„Befehlen Sie über mich.“
„Der alte Mann ist mein Diener. Ich muß ihn sprechen. Er weiß nicht, daß ich hier bin. Führen Sie ihn zu mir. Eilen Sie. Wenn Sie links um dieses Haus gehen, so kommen Sie durch eine kleine Gasse an ein Gitterthor, das Sie unmittelbar zu jenem Theile des Zuchthauses führt.“
[372] Ich war schon auf dem Wege und fand ihn, wie sie ihn mir bezeichnet hatte. Durch das Gitterthor sah ich einen weiten Hof, einen Hinterhof des Zuchthauses. Er war durch Laternen hell erleuchtet. Ueberall zeigte ihr Schein mir Soldaten, die in Gruppen oder in Reihe und Glied standen. An dem vergitterten Thore befand sich ein Doppelposten. Ein Unterofficier, der daneben stand, hatte mich in der leeren Gasse herankommen sehen.
„Wohin wollen Sie?“ fragte er.
Ich konnte, zumal bei dem Anblick des mit so großer Strenge militairisch bewachten Zuchthauses, keinen Zweifel mehr über die Bedeutung des Schauspiels haben, dem ich, ohne es zu verstehen, aus der Ferne beigewohnt hatte, das meiner Begleiterin das Herz zerschnitt, das für jene eleganten Herren und Damen interessanter als das Theater gewesen war, das ihnen jenes laute Gelächter abgelockt hatte. Der blassen Frau war es ein entsetzliches Lachen gewesen. Errieth ich, warum? Die Unglückliche! Wir lebten damals in einer furchtbaren, entsetzlichen Zeit. Sie traf vernichtend deutsche Männer – und auch wie manches edle deutsche Frauenherz. In der Brust des deutschen Studenten aber schlug zu jener Zeit kein deutsches Mannesherz, lebten nicht einmal Gefühle für deutsche Männer, und die Frauen waren für ihn nur zu leichtfertigen Abenteuern da. Ich war nicht anders gewesen, als die Andern, aber mit einem Male war eine tiefe Umwandlung in mir vorgegangen.
„Das Standgericht hält hier seine Sitzungen?“ fragte ich den Unterofficier.
„Ja.“
„Ich wünschte dort Jemanden zu sprechen.“
„Wen?“
„Einen Bekannten im Zuschauerraume.“
Der Mann musterte mich durch das eiserne Gitter. Er schien nichts Verdächtiges an mir zu finden. Das Verfahren war ein öffentliches. Er schloß das Thor auf und ließ mich eintreten.
Das Standgericht wurde in einem Seitenflügel des Zuchthauses gehalten, in einem Eckzimmer. Die schmalere Seite desselben war dem Hause zugekehrt, aus dem ich kam, und die Dame, die ich hingeführt, und ich hatten durch das nach jener Seite befindliche einzige Fenster hinein sehen können. Die breitere Front zeigte eine Reihe beleuchteter Fenster. Unter ihnen trat ich durch das Portal in das Gebäude. Auch im Innern standen überall Schildwachen. Sie standen die Treppe entlang, die ich hinaufsteigen mußte, bis oben zu den Thüren des Saales. Oben trat wieder ein Unterofficier an mich heran.
„Wollen Sie in den Zuschauerraum?“
„Ich suche den alten Bedienten, der vorhin in den Saal gelassen wurde.“
„Ah, er hatte dem Vertheidiger etwas zu übergeben?“
„Richtig.“
„Er ist noch drinnen. Sie können hier auf ihn warten.“
Der Unterofficier war ein höflicher Mann.
„Darf ich unterdeß in den Zuschauerraum eintreten?“ fragte ich ihn.
Er öffnete mir die Thür, an der wir standen. Ich trat in den Saal des Kriegsgerichts.
Ich befand mich in dem Zuschauerraume, mitten zwischen dem vornehmen, eleganten Publicum, das hier einem interessanteren Schauspiele zusah, das vorhin so laut und so lustig über dieses Schauspiel hatte lachen müssen. Aber mein Blick glitt an diesen aristokratischen Herren und Damen vorüber, um den Mann aufzusuchen, um dessen Leben es sich hier handelte, der hier zum letzten Male kämpfte um seinen Kopf, und über dessen Todeskampf jene hatten lachen können. Ich fand ihn. Es war ein großer, schöner, junger Mann; er stand mit dem feinen, aber kräftigen, ausdrucksvollen, aristokratischen Gesichte klar und ruhig da. Sein Auge weilte furchtlos auf seinen Richtern. Die Masse der vornehmen Zuschauer würdigte er keines Blickes.
Eine deutsche Schriftstellerin.
Wir bringen heute, namentlich unseren Leserinnen, die einfache Lebensgeschichte einer Frau, die sich, ohne selbst recht zu wissen, wie ihr geschah, in der Reihe deutscher Schriftstellerinnen gefunden und in den Kreisen der deutschen Frauenwelt sich viele Herzen erobert hat.
Bei Sternen erster Größe bleibt ihr Leben wie ihre Werke ein Besitz für das Jahrhundert, eine unerschöpfliche Fundgrube noch für lange künftige Jahre. Erscheinungen von zweiter Bedeutung, solche, die nicht gewaltige Harfen stimmen können, um neue Töne hervorzurufen für kommende Geschlechter, die aber so glücklich waren, im Vorübergehen eine Saite anzuschlagen, die in vielen Herzen wiederklingt, – sie werden sammt ihren Werken vergessen sein, eh’ die Zeit gekommen, in der man ein Menschenleben im rechten unparteiischen Lichte anschauen kann; darum ist der Wunsch des Publicums wohl berechtigt, von solchen Sternen zweiter Größe bei Zeiten Näheres zu erfahren. Was man aus solch einem Leben mittheilen und verlangen kann, das können eben nur die äußern Umstände sein und soviel von dem innern Bildungsgang, als nöthig ist zu erklären, wie sie wohl auf den Weg gekommen, auf dem wir sie kennen gelernt.
Ottilie Wildermuth ist am 22. Februar 1817 geboren, als das älteste Kind des Criminalrath Ronschütz zu Rottenburg am Neckar, einer kleinen würtembergischen Oberamtsstadt. Schon im Jahr 1819 kam ihr Vater als Oberamtsrichter nach Marbach am Neckar, Schiller’s freundlicher Geburtsstadt. Alle Erinnerungen der Kindheit und Jugend knüpfen sich für sie an diesen anmuthig gelegenen Ort, in dem sie bis zu ihrer Verheirathung lebte und die Freuden eines glücklichen Elternhauses mit drei jüngern Brüdern theilte.
Die äußerst einfachen Lehranstalten der kleinen Stadt boten wenig Hülfsmittel für die geistige Ausbildung eines aufgeweckten und lernlustigen Kindes; die Versuche, das Mädchen mit dem ältesten Bruder Latein lernen zu lassen, hatten keinen glänzenden Fortgang, woran vielleicht mitunter die pedantische Methode der Lehrer Schuld trug, die nicht begriffen haben, daß ein Mädchenkopf anders angefaßt werden muß als ein Knabengeist, der wohl schon zum Voraus logischer und gründlicher angelegt ist. Wie die kleine Ottilie so glücklich war in ihrem ersten Lehrer, der ihr im vierten Jahre schon Lesen und Schreiben ohne alle Schwierigkeit beibrachte, ihren besten Freund, den Vertrauten all ihrer kindischen Angelegenheiten zu finden, so hat sie der lateinischen Lehrstunden nebst Lehrern immer nur mit großer Abneigung denken können und beklagte gar nicht, daß sie vom Bruder, als er zur Schule kam, so rasch überflügelt wurde, daß von gemeinsamen Lectionen keine Rede mehr sein konnte.
So blieb es denn mit den Grundlagen des Wissens sehr mangelhaft bestellt; die Volksschule that ihr Bestes, indem sie neben gründlicher Kenntniß der Orthographie, des Rechnens und Lesens ihren Schülern alle Jahre auf’s Neue die geographische Anschauung der fünf Welttheile beibrachte, ferner die Thatsache, daß Europa drei Kaiserthümer und vierzehn Königreiche habe, und ihnen schließlich noch einen Umriß der würtembergischen Geschichte gab.
Es wurden verschiedene Versuche gemacht, der Kleinen zu weiterem Unterricht in der Geschichte und andern dienlichen Wissenschaften zu verhelfen, und es wurden dazu junge Theologen in Anspruch genommen, die als Vicare sich im Orte aufhielten. Da aber diese meist nur kurze Zeit zu Marbach verweilten, ihren Geschichtsunterricht aber höchst gründlich bei Aegypten, Assyrien, Babylon und Ninive begannen, so kam das arme Kind gar nicht aus diesen alterthümlichen Zuständen und fabelhaften Namen heraus, und mußte sich erst später mit Hülfe historischer Romane einigermaßen in’s Mittelalter und in neuere Zustände einleben.
Es wurde beschlossen, daß sie einem Onkel, einem benachbarten Landgeistlichen, der bei einer sehr lebendigen, regsamen Natur Freude am Unterrichten fand, mit seiner eigenen Tochter von gleichem
[373]Alter, mit der sie schwesterlich die Freuden und Leiden der Kindheit theilte, übergeben werden sollte.
Da wanderte sie denn in lichter Früh über den Berg hinüber und kehrte Abends nach Haus, oder sie verlebte ganze Wochen in dem Dorf, das durch ein alterthümliches Kloster, durch allerlei heimliche und unheimliche Plätzchen und verborgene Wiesengründe, an die sich zahlreiche Geistersagen knüpften, viel Anregendes für eine junge Phantasie hatte. Der Onkel verfuhr auch nicht eben systematisch bei seinem Unterricht, aber sein ganzes Wesen wirkte belebend und anregend; schade, daß er, ehe Ottilie dreizehn Jahre alt war, in eine entfernte Gegend versetzt wurde, – so blieb auch dies Wissen Stückwerk.
Was so an gründlicher Schulbildung versäumt blieb, das wurde theilweise ergänzt durch den fast unbewußten Einfluß gebildeter, geistig lebendiger Eltern. Der Vater besaß bei sehr vielseitigen Kenntnissen, bei warmem Interesse für jede Kunst, die ihn in dem bescheidenen Maßstabe seiner Mittel zum Beschützer aller schönen Künste in seiner Umgebung machte, eine äußerst lebendige Darstellungsgabe; die Mutter hatte durch ein reiches, tiefes Gemüth, eine lebhafte, heitere Phantasie, durch lebendigen Sinn und treues Gedächtniß für Dichtungen Alles, was eine warme Natur anregen und entwickeln kann.
Junge Künstler, reisende Sänger, sogar Declamatoren und Bauchredner, ja, zum Entsetzen der Mutter einmal eine musicirende Zigeunerbande kehrten in dem Vaterhause ein, dessen gastlicher Herr keinen, sei er arm oder reich, unerquickt ziehen ließ. Reisende Schauspielerbanden, die zu Zeiten ihren mangelhaften Tempel in dem Städtchen aufschlugen, übten einen fast magischen Einfluß auf die Phantasie des Kindes, und als sie vollends im zwölften Jahr mit Vater und Brüdern zum ersten Mal das Theater und die Kunstausstellung in der Residenz besuchen durfte, da ging ihr eine neue Wunderwelt auf.
Leichter zu erreichen und gewiß eben so bildend und befruchtend für das innere Leben waren die harmlosen Freuden, die jeder Tag brachte, die goldne Freiheit in zwanglosem Umhertreiben mit den Gespielen durch Feld und Wiesen, die Abendspaziergänge mit Vater und Brüdern und die erlaubten, oft auch geraubten Genüsse, welche die reiche Bibliothek des Vaters bot.
Unter die zahlreichen Liebhabereien des Vaters gehörte auch der Gartenbau. Zwei schöne Gärten waren reich bepflanzt mit den schönsten Tulpen, mannigfaltigen Rosen, blühenden Lauben, kleinen Gehölzen und seltenen Gesträuchen. Wenn auch die prächtigen Pflaumen-, Birn- und Apfelbäume den ersten Reiz für die Kinder hatten, so gab es doch neben dem materiellen Genuß reichen Stoff zu heiterer Arbeit, zu phantastischen Spielen – und köstlicher noch als das Alles waren die stillen Stunden in der grünen, blühenden Einsamkeit, das süße, bilderreiche Traumleben einer Kinderseele, das vielleicht unbewußt mächtiger als Menschenwort und Menschenthat an der Erziehung eines Herzens Theil hat.
Der Verkehr mit der weit verzweigten Familie wurde nach echt schwäbischer Sitte bis in’s dritte und vierte Glied aufrecht erhalten, Onkel und Tanten, Vettern und Bäschen kamen zu kürzern und längern Besuchen und wurden gastirt und bewirthet. Das großelterliche Haus – die Eltern der Mutter lebten im selben Orte – bildete einen äußerst behaglichen Mittelpunkt, die dicke Großmama, des Großvaters zweite Frau, mit dem rothwangigen, gutmüthigen Gesicht verstand so recht, es sich und Andern gut zu machen, und sorgte immer für häusliche Feste, die in der großen Gartenlaube oder in der Staatsstube mit den vielen Familienbildern gehalten wurden, von denen sie viel und lebendig zu erzählen wußte.
[374] Auch mit Pfarrfamilien der Gegend wurde viel freundschaftlicher Verkehr unterhalten, da der Vater, dessen von Natur heiteres, innerlich weiches Gemüth sich gedrückt fühlte von dem harten, schweren Beruf des Juristen, vorzugsweise den Umgang mit gebildeten Geistlichen liebte und suchte. Vor allem war es ein ganz nahe gelegenes Dörfchen, drüben über dem Neckar zwischen grünen Obstwäldern gebettet, dessen freundliches Pfarrhaus ein liebes Ziel viel fröhlicher Spaziergänge war – es war so lieblich hinüberzufahren über den blauen Neckar und weiter zu wandeln, bis der grüne Pfad sich im Obstwäldchen verlor.
Eine gesuchte Erzählerin war Ottilie zu jener Zeit, ohne alle Ahnung, daß einst auf diesem Gebiet ein Theil ihres Berufes liegen werde; den Brüdern ließ sie auf dem Spaziergang die Wahl: „Wollt Ihr eine Räuber-, eine Ritter- oder eine Geistergeschichte?“ In den Pausen der Schulstunden, in der Strickschule, in der Gartenlaube oder im grünen Gras unter dem Apfelbaum des Pfarrgartens – überall sammelte sich ein kleiner Kreis um sie, dem sie unermüdet gelesene oder selbsterfundene Geschichten vortrug; auch die Aufführungen auf einem kleinen Puppentheater fanden stets ein zahlreiches Auditorium.
Im sechsten Jahr, als ihr einmal Niemand mehr erzählen wollte, hatte sich die Kleine eingeschlossen in die Stube, um sich mit lauter Stimme selbst eine Geschichte zu erzählen. Sie war sehr erfreut über diese Entdeckung, daß man sich auch selbst erzählen könne, und erinnert sich fast keiner Zeit, wo sie dies nicht versucht hätte, bis in späterer Zeit die Phantasiebilder von ernsten Gedanken verdrängt wurden. Zu ihren ersten poetischen Versuchen fühlte sie sich angeregt durch die liebliche Umgebung ihrer Heimath, – ein paar Naturgedichte, ein paar Verse, um etwas Anderes als die langweilige Vorlage auf die Schulschrift schreiben zu können, ein begeistertes Gedicht an die junge Lebensretterin Susanna Breisacher in Baden, eine gereimte Satire auf die Lateinschüler, mit denen die Mädchenschule in beständigem kleinem Krieg lebte, eine Elegie auf den Tod von zwei kleinen Kindern, Geschwistern, die in einer Woche starben, das waren so ziemlich ihre ersten Versuche vom zehnten bis dreizehnten Jahr. Auch das Loos des verbannten Königs Karl X., von dem sie freilich wenig kannte, als sein trauriges Geschick, rief ein paar Klagelieder um „das graue Königshaupt“ hervor, während sie später mit glühender Begeisterung Polenlieder dichtete.
Das kleine Talent wurde von Eltern und Freunden gerne bemerkt, doch in keiner Weise gesteigert, noch weniger in der Erziehung darauf Rücksicht genommen. Wenn sie später bedauert hat, daß ihr Gelegenheit zu gründlicher Schulbildung fehlte, so hat sie dagegen immer als großen Segen erkannt, daß ihr durch die tüchtige Leitung der Mutter die häuslichen Geschäfte lieb und vertraut geworden sind, die für Körper und Geist die gesunde Grundlage eines Frauenlebens bilden.
Die einzige längere Trennung vom Vaterhause außer kleinen Reisen zu Verwandten und Freunden rings im Lande, war ein siebenmonatlicher Aufenthalt in der Residenz „zur Ausbildung“, wie das vor dem Zeitalter der höhern Töchterschulen bei jungen Mädchen vom Lande noch mehr als jetzt Sitte war. Diese Ausbildung bestand außer französischen Lectionen im Besuch einer Tanzstunde, in Lectionen im Kochen, Bügeln, Kleidernähen; all diese Lehrstunden bildeten heitere Landcolonien, in denen die feinern Töchter der Residenz nur die zweite Rolle spielten, harmlose Mädchenstaaten im Staat, die von Glanz und Geräusch des Residenzlebens wenig berührt wurden. Durch liebe Herzensfreundinnen und Verwandtenhäuser wurde Ottilien auch später noch die Residenz fast zur zweiten Heimath. Große Reisen hat sie nie gemacht, und viel später erst auf der Hochzeitreise zum ersten Mal die Grenze ihres kleinen Vaterlandes überschritten.
Daheim gestaltete sich das Leben des erwachsenen Mädchens noch heitrer und vielgestaltiger, als die Brüder in der Ferienzeit den Hauch eines frischen, geistig regen Studentenlebens mit nach Hause brachten, als die weiten Räume der alten Amtswohnung einen fröhlichen Sammelpunkt bildeten für die zahlreichen Vettern und Bäschen mit denen die Familie gesegnet war, als in den stillern Zwischenzeiten zahlreiche Briefe, kleine Gedichte, scherzhafte Drama’s, welche die kleinen Begebenheiten des Beisammenseins schilderten, hin und wider flogen. Der Vater ließ die Jugendlust gewähren und zog sich höchstens zurück, wo es ihm zu bunt wurde; die Mutter, selbst noch frischen und jugendlichen Sinnes, belebte und erhöhte nur die Freude der Jugend; Sprüchwörterspiele, Landpartien und Wasserfahrten machten die Ferienzeiten fröhlich und wechselreich.
Einen tiefern Reiz als durch diesen heitern Verkehr erhielt das Leben des jungen Mädchens durch die innige Freundschaft mit einer jungen Frau, der treubewährten Freundin, der sie später in dem kleinen Buche „Auguste“ versuchte ein Denkmal zu setzen. Zu jeder Zeit übrigens, neben allem Sinn für heitern Umgang, war ihr die Einsamkeit, stille Gänge in der klaren Morgenfrühe, auf den grünen Hügeln, in den lieblichen Thälern der Gegend der liebste Genuß. Diesen tiefen Zauber der Einsamkeit, den die Jugend unbewußt mit vollen Zügen genießt, sucht wohl das spätere Alter vergeblich, bis wir höher gestiegen, immer höher, und immer stiller geworden sind, so daß wir in Ahnung des Lichtes der stillen Ewigkeit Ersatz finden für die verblichenen Jugendträume.
Die glückliche Gabe der Erinnerung ist, daß sie meist heitre Bilder aufbewahrt. Kommt es vielleicht daher, daß das Helle, Fröhliche mehr auf der Oberfläche des Daseins schwimmt, das Dunkle, Ernste sich mehr auf den Grund senkt und wieder hervorgeholt sein will? So scheint auch diese Lebensskizze sich zu einem Lichtbild ohne Schalten zu gestalten, während es auch diesem Leben, wie jedem, nicht an ernsten, trüben Erfahrungen gefehlt hat.
Es ist schwer, die Schatten, die schon durch die vielgepriesene, vielbesungene goldne Kinderzeit gehen, zu Tage zu legen; – das Kind, dem seine innersten Regungen selbst nicht klar sind, kann sie auch nicht ausdrücken, es wird leichter, als man denkt, verschüchtert, gekränkt, mißverstanden, und doch lassen sich auch die Leiden der Kindheit meist auf den alten Spruch zurückführen:
Wie leicht oder wie schwer die Fehler und Vergehen der Kindheit wiegen mögen auf der Wage der spätern, nüchternen, praktischen Lebensanschauung, das thut nichis zur Sache; jedes Gewissen hat seine eigene Wage, eine Wage, deren Gewichte von höherer Hand geregelt worden sind. Wenn nun auch auf die Freuden dieser Kindheit Leid und Kummer, Reue und Angst schon ihre dunkeln Schatten geworfen, so ist durch sie auch der Zug der ewig treuen, suchenden Liebe gegangen, die sich ausspricht in den schönen Worten: „ich habe dich je und je geliebet, darum habe ich dich zu mir gezogen aus lauter Güte.“
Auch dem reifern Mädchenleben fehlte es nicht an ernsten Mahnungen an die Vergänglichkeit des Irdischen, an das Eine, was Noth thut. Zwei geliebte Freundinnen ihrer Kindheit und Jugendzeit starben in blühendem Alter, die Eine unerwartet schnell, die Andere nach langem, schwerem Hinsiechen. Die vielen stillen Stunden, durch lange Monate an diesem Krankenbette verbracht, gehören zu den ernstesten ihres Lebens, gewiß aber nicht zu denen, deren Erinnerung sie auslöschen möchte.
So konnte sie die leichten Vergnügungen, die man so gewöhnlich Jugendfreuden nennt, harmlos genießen, ohne von ihnen hingerissen zu werden. Die Schlange unter diesen Rosen, mit welcher man so oft der Jugend bange macht, hat sie nicht entdecken können, aber ihre fröhlichsten und glücklichsten Erinnerungen liegen nicht da, und sicher ist es eher ein Gewinn, als ein Abzug an echter, frischer Jugendlust, wenn die äußeren Verhältnisse oder der Gang der inneren Entwickelung den Genuß solcher Freuden ausschließen.
Als Schriftstellerin je einmal aufzutreten, ist Ottilien zu jener Zeit auch nicht im Traume eingefallen. Ernste und heitre Gedichte, jene scherzhaften Dramen, die kleine Ereignisse des Mädchenleben darstellten, waren all ihre poetischen Versuche, die im nächsten Kreise der Freundinnen gehört und vergessen wurden. Eine Schriftstellerin erschien ihr als ein seltsames Ausnahmsgeschöpf, ihr Loos ein interessantes, aber keineswegs ein wünschenswerthes.
Briefe, zahllose Briefe an ernste, an heitere, an sentimentale, an nüchterne, an fromme, an weltlichgesinnte Freundinnen waren das Einzige, was sie schrieb; dazwischen suchte sie da und dort die Lücken ihrer Bildung etwas auszufüllen, sich wenigstens die französische und englische Sprache, für welche letztere sie große Vorliebe hegte, mehr zu eigen zu machen.
Der schnelle Tod eines geliebten Bruders im Jahr 1841 bildete den innern Wendepunkt, der wohl in jedem Leben eintritt; die tiefste Tiefe des Leides, den ganzen furchtbaren Ernst des Lebens und des Todes, aber auch Gottes erbarmende Treue hat sie [375] in jenen Tagen kennen gelernt, mit denen sie ihre Jugend als abgeschlossen ansah.
Im Jahr 1843 verlobte und verheirathete sie sich mit Dr. Wildermuth, Professor der Mathematik und der französischen Sprache am Gymnasium in Tübingen; die Verlobung wurde im Hause ihrer Freundin Auguste gefeiert, deren Mann damals Geistlicher in Tübingen war. Sie that den Schritt in ernster Freudigkeit und hat diese Führung bis auf die heutige Stunde als eine selige und segensreiche erkennen dürfen.
Es war im zweiten Jahr ihrer Ehe, als sie, in Folge eines Scherzes, für ihren Mann und Bruder das erste ihrer schwäbischen Bilder, „eine alte Jungfer“, schrieb, das eine Gestalt aus ihrer Jugendheimath darstellt. Ihr Bruder sandte den Versuch an’s Morgenblatt; die freundliche Aufnahme, die er dort fand, ermuthigte sie zu weitern, und so, gegangen, getrieben, gezogen und gelockt, ist sie allmählich weiter und weiter zu den, einst gefürchteten Loose einer Schriftstellerin gekommen. „Bilder und Geschichten aus dem schwäbischen Leben“, „Aus dem Frauenleben“, „Auguste“ folgten binnen wenigen Jahren hintereinander und erwarben ihr reiche Anerkennung und Liebe. Ottilie Wildermuth kennt das weibliche Herz wie keine andere Schriftstellerin und schildert es wahr, einfach und schön. Ihre „Mädchenbriefe“ sind das Vollendetste, was man in dieser Beziehung lesen kann.
Drei blühende Kinder, zwei Mädchen und ein Knabe, erwachsen um sie her; seit des Vaters Tod hat die geliebte Mutter ihr Haus zur Heimath erwählt und steht ihr bei mit Rath und That, wenn die Anforderungen des Lebens und der Pflichten gar zu mannigfaltig werden wollen.
So hat ihr Leben keine interessanten Begebenheiten, keine großartigen Wechsel aufzuweisen, – dem guten alten Neckar, der schon an ihrer Wiege vorüberrauschte, ist sie getreu geblieben und hofft einst an seinen Ufern eine friedliche Ruhestätte zu finden.
Eine Erinnerung an Friedrich den Großen.
Zwischen vier und fünf Uhr Morgens am 29. August 1753 standen vor der kleinen, nach dem sogenannten Lustgarten führenden Treppe des königlichen Schlosses zu Potsdam eine glänzende Generalität und zahlreiche Suite versammelt.
Die Herren, allesammt zu Fuß, bildeten zwei auffällig von einander geschiedene Gruppen. Die eine hiervon, nur aus wenigen Personen bestehend, hatte die Stellung unmittelbar unter dem Ausgang zu der Treppe eingenommen, die andere, weit zahlreichere reihte sich, einige Schritte mehr zurück, in einem weiten und unregelmäßigen Halbkreis um dieselbe. Weiter abwärts auf dem freien und sandigen Platze hielten nach links, vor einem dort aufgerittenen Zuge der Garde du Corps, ein königlicher Stallmeister und drei oder vier Reitknechte in der königlichen Livrée mit dem Leibpferde des Königs, einem Schimmel, und mehreren Handpferden, nach rechts die Diener der Herren und Ordonnanzen von allen Waffen, diese letzteren, die einen wie die anderen, sämmtlich ebenfalls abgesessen und die Pferde ihrer Herrschaften und Officiere, wie ihre eigenen am Zügel.
Der Morgen versprach einen schönen, wenn auch heißen Tag, doch war die Sonne noch nicht hoch genug gestiegen, um den hier Versammelten lästig zu fallen. Im Uebrigen war der Platz gegen unberufene Neugierige an seinen sämmtlichen Ausgängen durch Doppelposten abgesperrt, eine Vorsicht, die, nebenbei bemerkt, ziemlich überflüssig erschien, da Jedermann in Potsdam die Friedrich von seinem gestrengen Herrn Vater vererbte Eigenheit kannte, nicht gern, und zum allerwenigsten bei seinen militairischen Vornahmen, müßige Gaffer um sich zu sehen, die Loyalität der Bewohner dieser guten Stadt aber damals noch viel zu groß war, um anders als höchstens in Gedanken etwa dem einmal in irgend einer Sache ausgesprochenen Wunsch und Willen des Königs zuwiderzuhandeln.
Unter den vor dem Ausgang zu den königlichen Gemächern versammelten Generälen machte sich in der kleinen, der Treppe zunächst befindlichen Gruppe auf den ersten Blick die bei sechs Fuß hohe, imposante Gestalt eines Officiers in der Uniform eines General-Lieutenants von der Infanterie bemerkbar. Dieser Mann mit seiner straffen, geraden Haltung, der breiten Brust und dem athletischen Gliederbau erinnerte beinahe unwillkürlich an die weltberühmte Potsdamer Riesengarde König Friedrich Wilhelm’s I., als deren vollgültiger Repräsentant er betrachtet werden durfte und welcher er in der That ursprünglich auch angehört hatte.
Selbst abgesehen von seinen physischen Vorzügen wäre übrigens dieser General immer eine bemerkenswerthe Erscheinung geblieben. Sein Antlitz trug den unverkennbaren Stempel einer nicht geringen geistigen Begabung. Muth und felsenfeste Kühnheit, gepaart mit kluger, berechnender Ueberlegung, standen auf seiner hohen Stirn geschrieben und leuchteten aus seinen blitzenden Augensternen wieder. Der scharfgeschnittene Mund, das eisenfeste Kinn, das kühngeschwungene Oval seines vielleicht nur ein wenig zu vollen Gesichts, Alles stand hierzu in Einklang und verstärkte den Eindruck des Außergewöhnlichen bei diesem Manne, einen Eindruck, der selbst durch den Stolz und Hochmuth in seinen Zügen eher noch gehoben als vermindert wurde.
Eine zweite Persönlichkeit neben dem General machte sich zunächst wohl nur durch den Contrast mit demselben, wie überhaupt zu der ganzen hier vereinigten Versammlung, bemerklich. Auf den ersten Blick trat dieser Contrast zwar nur in der fremdartigen Rationalität dieses etwa 36 Jahre zählenden, hoch und schlank gewachsenen Mannes hervor, denn es hätte bei demselben allerdings des ungarischen Nationalcostüms in Blau und Silber kaum bedurft, um ihn als Magyaren zu kennzeichnen. In Wirklichkeit war es jedoch weder seine fremdartige Kleidung, noch der nicht minder fremdartige Schnitt seines Gesichts mit den unstät blickenden dunklen Augen und dem bandartig über die untere Gesichtshälfte gelegten schwarzen Schnurrbart, was ihn so sehr von seiner Umgebung abstechend machte. Es lag dieser Unterschied vielmehr in seinem ganzen Auftreten, in dieser ewigen Unruhe seines Wesens, in der offenbar mit Absicht hervorgekehrten und darum übertriebenen Lebhaftigkeit seiner Bewegungen begründet. Erschienen der General an seiner Seite und die meisten der Umstehenden in dem ruhigen, selbstbewußten Ernst ihres Auftretens als Männer, die ihren Werth fühlten und nöthigenfalls auch geltend zu machen wußten, so trat das Haschen nach derselben Anerkennung bei diesem Fremden zu grell hervor, um nicht gerade die entgegengesetzte Wirkung zu erzeugen. Es blieb jenen so fest auf ihren Füßen stehenden Gestalten gegenüber beinahe unmöglich, diesen leicht beweglichen, windigen Patron für mehr als einen Partisan von zweifelhaftem Muthe und Geschick, oder noch bestimmter ausgedrückt, als einen der militairischen Abenteurer zu beurtheilen, wie sie damals, zu dem Zeitpunkt der ersten Errichtung stehender leichter Truppen bei den verschiedenen europäischen Heeren, von Polen und Ungarn aus zu Dutzenden in alle Welt hinauszogen, um als Führer solcher leichten Geschwader eine Verwendung zu suchen.
Die Gönnerschaft, welche der vorbeschriebene General gelegentlich gegen diesen seinen Begleiter zu erkennen gab, wie umgekehrt dessen unbedingte Unterthänigkeit im Verkehr mit demselben, trugen freilich noch dazu bei, diesen letzten Eindruck fast zur Gewißheit zu steigern. Außerdem aber war auch das Benehmen aller anderen Anwesenden gegen den Fremden völlig geeignet, die tiefe Kluft zwischen demselben und ihnen zu erkennen zu geben. Der Mann besaß augenscheinlich keinen weiteren Anhalt als jenen General in diesen Kreisen, selbst die übrigen Personen in der Gruppe um den Letzteren gaben sich kaum die Mühe, die Bemerkungen, welche derselbe hin und wieder an sie zu richten wagte, anders als durch ein kurzes einsylbiges Wort oder eine stolze, abweisende Zurückhaltung zu erwidern.
Auch in der zweiten, dieser gegenüber befindlichen Gruppe befand sich übrigens ein Mann, und merkwürdigerweise ebenfalls ein Husar, inmitten seiner Umgebung in einer ähnlichen Isolirtheit. Nur durfte die Sache bei diesem fast noch schlimmer angesehen werden, denn er stand ganz allein, und scheu schien Jedermann selbst einer zufälligen Begegnung mit ihm auszuweichen.
Dennoch aber würde ein scharfer Beobachter bald einen wesentlichen Unterschied in dem Verhalten der hier versammelten Generäle und Officiere gegen diesen und jenen anderen Husaren herausgefunden
[376] haben. Im Gegensatz zu der eisigkalten Geringschätzung, womit dieselben den letzteren von sich ausschlossen, sprach sich die verhaltene Theilnahme für den Ersteren in ihren Blicken, wie in den verschiedenen kleinen Hochachtungsbeweisen aus, welche trotz des Bannes, der auf dem Manne zu lasten schien, der eine oder der andere von den Herren demselben gelegentlich zu beweisen doch nicht unterlassen konnte. Nur die beiden obenbeschriebenen Personen, der General und sein Satellit, der Ungar, machten von diesem allgemeinen Verhalten eine Ausnahme. Die Blicke, welche der Erstere zuweilen auf den zweiten leichten Reitersmann richtete, drückten ebensowohl eine unverhohlene Feindseligkeit, wie die offen preisgegebene Freude über dessen Vereinsamung aus, wogegen der Andere, um sich seinem Herrn und Meister gefällig zu erweisen, keine solche Gelegenheit vorübergehen ließ, ohne gegen seinen Gönner oder dessen Umgebung laut genug, um von jenem verstanden zu werden, seinem Witz auf Kosten desselben die Zügel schießen zu lassen.
Wenn die Bedeutsamkeit dieses zweiten Husaren außer der nur mühsam verborgenen Theilnahme auf der einen und den Zeichen einer entschiedenen Feindseligkeit auf der anderen Seite noch eines besonderen Beweises bedurft hätte, so würde beiläufig die Haltung der Herren der größeren Gruppe auch gegen den General dafür haben dienen können. Die Stellung des letzteren war offenbar zu bevorzugt, als daß sie ihn unmittelbar ihren Groll hätten fühlen lasten mögen, aber dessen ungeachtet schien es in der That nicht anders, als ob sie einen Abglanz der Nichtachtung, welche alle gleicherweise den Ungar fühlen ließen, auch auf diesen seinen Beschützer zurückfallen lassen wollten, so fremd und abgeschlossen hielten sie sich von demselben. Es mußte unbedingt eine tiefgewurzelte und langgenährte Feindschaft sein, welche eine so auffällige Erscheinung bewirken konnte, und es blieb aus den finsteren Blicken, welche die Herren gelegentlich unter einander austauschten oder auf ihren gemeinsamen Widersacher richteten, wie aus ihrem befremdlichen Benehmen gegen denselben unmöglich zu verkennen, daß, wenngleich ein durch die Umstände gebotener Zwang sie noch abhielt, offen wider den General und zu Gunsten des zweiten Husaren Partei zu nehmen, sie sich in demselben doch alle zugleich mit verletzt und bedroht fühlten und sehnsüchtig nur des Augenblicks harrten, um jenen ihren Haß und ihren nur mühsam gezügelten Zorn fühlen zu lassen.
Inmitten dieser feindseligen Erregung und der um ihn gährenden Leidenschaften stand seltsam genug gerade nur der Eine, welcher doch gleichsam den Brennpunkt derselben bildete, jener Husar nämlich, vollkommen unbewegt, man hätte, nach der unzerstörbaren Ruhe seines bleichen, doch geistreichen Antlitzes zu urtheilen, fast sagen mögen unbetheiligt. Auch bei den hämischsten Bemerkungen des Ungarn zuckte kein Zug seines Gesichts. Dieser Gegner schien für ihn gar nicht vorhanden zu sein, seine eigene Isolirtheit schien nicht den geringsten Eindruck auf ihn auszuüben, und die Hohnblicke des Generals hätten auf eine Bildsäule kaum eine weniger bemerkbare Wirkung hervorbringen können, als bei ihm der Fall war.
Ohne die Bärmütze, den blauen silberbeschnürten Pelz und rothen Dolman würoe übrigens in dieser kleinen, schwächlichen Gestalt kaum Jemand den kühnen Kriegsmann und zum allerwenigsten den nimmer rastenden, in allen Satteln gerechten Husaren vermuthet haben. Auch das Gesicht mit den eingefallenen Wangen und dem kleinen Stutzbärtchen ließ auf den ersten Blick keinen Zug entdecken, der hierauf etwa zu deuten gewesen wäre. Auf den ersten Blick freilich nur, denn, bei näherer Beobachtung lag lief auf dem Grunde der treuherzig blickenden, graublauen Augen des Mannes ein Feuer verborgen, wie es nur aus einem Heldenherzen wiederleuchten konnte, und Stirn, Kinn, die Züge um den Mund ließen über den Feuergeist, der diesen scheinbar so hinfälligen Körper bewohnte, keinen Zweifel übrig. Indeß eine specielle Personenbeschreibung ist hier unnöthig, dieser Husar war Hans Joachim v. Ziethen. – Ein Schadow, Rauch, Camphausen haben in Stein und Erz, durch ihren Meißel oder Pinsel sein Bild auf die Nachwelt überliefert, und er selber hat durch seine Thaten dafür gesorgt, sein Andenken bei seinem Volke frisch und unvergänglich zu erhalten.
Aus der auf die Treppe führenden Glasthür trat jetzt der König in Begleitung seines Bruders, des Prinzen Heinrich. Friedrich schien verstimmt. Das noch an die Tage der Jugend erinnernde Antlitz des damals erst vierzigjährigen Monarchen wies sich zwar vollkommen ruhig, aber aus den großen, blauen Augensternen zuckte es gar bedenklich, und um seine Mundwinkel spielte der makante Zug, den die Seinen mehr selbst als das Feuer von hundert feindlichen Geschützen fürchteten. Auch über der Stirn des Prinzen lagen tiefe Schatten gebreitet.
„Bon jour, Messieurs!“ erwiderte der König vornehm und kalt die ehrfurchtsvolle Begrüßung seiner Generäle und Officiere.
„Guten Morgen, Winterfeld,“ setzte er, den bis unmittelbar zum Fuße der Treppe vorgetretenen General bemerkend, in viel freundlicherem Tone hinzu.
Der Ungar hatte, als die Herren sich zum Empfange des Monarchen in zwei Reihen ordneten, den Platz neben diesem seinem Gönner geschickt und glücklich zu behaupten gewußt. Ziethen war durch die allgemeine Vorwärtsbewegung, halb wider Willen und jenem fast gegenüber, bis ebenfalls mit in die vorderste Reihe vorgeschoben worden.
Der König würdigle den Letzteren keines Blicks, vor jenem Andern hingegen hielt er im Vorüberschreiten einen Augenblick inne und sagte zu ihm: „Höre Er, Naditschzander, vielleicht wird sich für Ihn heute die Gelegenheit finden, Uns seine Meriten zu erkennen zu geben.“
Die ihm widerfahrene königliche Auszeichnung machte den so Bevorzugten ein paar Zoll höher den Nacken erheben, aber auch sonst äußerte dieser königliche Gnadenbeweis sofort seine Rückwirkung nach hüben und drüben. Einige der Officiere aus der Umgebung des vorgenannten Generals hielten es plötzlich an der Zeit, ihre gegen dessen Schützling bisher beobachtete Zurückhaltung mit einer verbindlichen Höflichkeit zu vertauschen, umgekehrt dagegen stand Ziethen, fast noch unter dem Nachhall der Worte des Königs, wieder völlig vereinsamt. Die so bestimmt gegen denselben zu erkennen gegebene königliche Ungnade hatte aus Furcht, sich zu compromittiren, am Ende auch die Muthigsten aus seiner Nähe zurück geschreckt.
Zum ersten Male zuckte es bei der ihm von seinem Monarchen bewiesenen Geringschätzung wie von einem verhaltenen Schmerz um die Mundwinkel des tapferen Reiterführers. Da, noch unter dem Andauern des allgemeinen Stillschweigens, tönte unvermutet das „Guten Morgen, Ziethen“ des Prinzen Heinrich neben ihm. An dem General Winterfeld war derselbe ganz ebenso wie Friedrich bei jenem, ohne ihn zu bemerken oder zu grüßen, vorübergeschritten.
Ein Zornesblitz aus den Augen des Königs leuchtete zu dem Prinzen hinüber, doch ohne darauf zu achten, fügte derselbe zu Ziethen gewendet hinzu: „General, Ihr müßt mir heute von Rothschloß, Moldau-Tein und Katholisch-Hennersdorf erzählen. Ich war noch zu jung, um an jenen ruhmvollen Tagen Theil zu nehmen, aber nicht wahr, General, es waren das doch ruhmvolle Tage, und es hat da auch schon preußische Husaren gegeben?“
Friedrich hatte sich über diese Frage aus dem Absatz umgewendet, jedoch seine Blicke schienen auf den künftigen Sieger von Freiberg ganz die gewohnte Wirkung zu versagen. Einen Augenblick standen sich die Beiden, der König und sein jüngerer Bruder, Auge in Auge gegenüber, der Eine vor innerer Erregung glühend, der Andere kalt und ruhig, wie wenn der königliche Zorn in gar keiner Beziehung zu ihn, gestanden hätte. Die physische wie geistige Aehnlichkeit zwischen den Zweien war übrigens, trotz der Verschiedenheit der Affecte, selten vielleicht so auffällig als in diesem Moment in die Erscheinung getreten.
Der König faßte sich zuerst. „Ihre königliche Hoheit,“ redete er den Prinzen an, „mögen Dero Wißbegierde auf ein ander Mal befriedigen, für heut beliebt es Uns Dieselben Unserer Person zu attachiren. Messieurs,“ kehrte er sich dann zu den Herren der Begleitung, „der Morgen ist schon weit vorgeschritten, und wir haben heut noch viel zu thun. Zu Pferde denn!“
Friedrich um einige Schritte voraus, sein Bruder um eine halbe Pferdelänge hinter ihm zurück, setzte sich die Cavalcade in Bewegung. Keiner von den Beiden sprach ein Wort, kaum außer dem Thore angelangt, rief jedoch der Erstere, als einen neuen Beweis seiner besonderen Bevorzugung, den General von Winterfeld an seine Seite, dessen Redetalent den Monarchen je länger je mehr ganz gefangen zu halten schien. Bleich vor Wut, über die ihm bewiesene Vernachlässigung ließ der Prinz seinem Pferde den in ihm tobenden Zorn entgelten. Zuvor im Moment des Aufsitzens hatte er übrigens noch Gelegenheit gefunden, Ziethen, zuzuflüstern: „Seid auf Eurer Hut, General, der König ist [377] wüthend auf Euch, er will …“ Der Aufbruch war dazwischen gekommen und der eigentlich wichtige Theil seiner Warnung so dem wackern Reiterführer verloren gegangen.
Der Stoicismus dieses Letzteren erwies sich übrigens doch nicht stark genug, um so schweren und wiederholten Schlägen zu trotzen; er ritt wie in einer Art Betäubung im Zuge. Allmählich richtete er indeß das Haupt wieder auf, und jetzt hätte wohl Niemand den eisenfesten und gefürchteten Kriegsmann in ihm verkennen mögen. Seine Augen blitzten, ein fester, unwiderruflicher Entschluß stand auf seiner Stirn zu lesen. Wenn er sich nach der Abfertigung und Behandlung, die dem Prinzen Heinrich um seinetwillen von Friedrich zu Theil geworden war, und nach den erneuten Gnadenbeweisen dieses gegen seinen Widersacher, den General von Winterfeld, auch selber verloren geben mußte, so wollte er wenigstens seines Namens, seines Rufes würdig von der so lange mit Ehren ausgefüllten Stellung zurücktreten. Jahrelang hatte er in der Hoffnung, das einst besessene Vertrauen des Monarchen sich wieder zugewandt zu sehen, alle die auf ihn gehäuften Kränkungen und Zurücksetzungen schweigend, ohne Murren, ohne Klagen ertragen; jetzt aber, wo diese Hoffnung geschwunden, war plötzlich auch eine völlige Wandelung über ihn gekommen. Einen Mittelweg gab es für diesen einfachen, schlichten Charakter nicht; heute noch, so rief es mit tausend Stimmen in ihm, heute noch sollte die Entscheidung erfolgen.
Es war das überhaupt eine böse Zeit am preußischen Hofe und in der preußischen Armee, so um 1753 herum. Der Einfluß des Generals von Winterfeld auf den König war damals bis zu einem später nicht wieder erreichten Höhepunkt gestiegen, und der General war eifersüchtig auf die ihm unverhohlen entgegengetragene Gunst seines Monarchen, sehr eifersüchtig. Niemand sollte dieselbe mit ihm theilen, jeder von dem dies zu fürchten stand, jeder der sich vor ihm nicht beugen oder seinem aufgehenden Sterne huldigen wollte, war sein Feind, und nichts ließ er unversucht, denselben zum Fall zu bringen. Mehr als einer von den Helden der beiden ersten schlesischen Kriege, so im vorigen Jahre erst noch der berühmte Führer der Dragoner von Bayreuth bei Hohenfriedberg, Otto von Schwerin, waren diesem verdeckten Intriguenspiele bereits zum Opfer gefallen, vor allem aber galt es Ziethen, den der König bis dahin vielleicht am meisten mit in sein Herz geschlossen hatte.
Das Werk war schwierig, aber mit jahrelanger Mühe schien es jetzt endlich der Vollendung nahe. Friedrich sah, Dank diesen ewigen Einflüsterungen, in dem biedern alten Husaren nur noch den einst gelegentlich glücklichen Haudegen, ohne wissenschaftliche Bildung, ohne eigentliche militärische Fähigkeiten noch Verdienste. Sein Regiment, diese berühmten Husaren von Ziethen, deren Name schon den Feinden eine Gänsehaut den Rücken niederlaufen machte, galten ihm nachgerade als das schlechteste Regiment seiner ganzen Armee, die Dragoner von Bayreuth etwa ausgenommen, welche nach der Ansicht des Königs sich seit dem Frieden einer wie alle ebenso dem Suff ergeben hatten, als die Ziethen’schen Husaren seitdem gleicherweise verloddert waren. Und die Schuld dieses letzten Falls lag ausschließlich bei Ziethen, der seine Kerle ebensowenig zusammenzunehmen, als zu exerciren verstand. Der Mann war eben alt und stumpf geworden und taugte zum Husaren den Teufel nicht mehr. General Winterfeld hatte deshalb auch den Naditschzander, einen ehemaligen ungarischen Parteigänger von geringem Namen, nach Potsdam berufen; als Ungar war er Husar von Kindesbeinen an und schien deshalb vollkommen geeignet, die Dinge bei dem Ziethen’schen Regiment und dem preußischen Husarenthum überhaupt wieder in’s rechte Geleise zu bringen. Endlich, was für Winterfeld wenigstens weit wichtiger noch, bei diesem prahlerischen, rohen Gesellen brauchte der General nicht zu besorgen, je von ihm in der königlichen Gunst beeinträchtigt zu werden.
Der König und sein Gefolge hatten auf dem von ihnen eingeschlagenen Wege von Potsdam nach Spandow mittlerweile die Gegend zwischen den Dörfern Gatow und Fahrland erreicht, und hinter diesem letzteren Orte bemerkte man ein starkes Corps Truppen von allen Waffen auf der von dort gegen die genannte Festung sich ausbreitenden Ebene aufgestellt. Das Ziethen’sche Husarenregiment bildete dabei den der anlangenden königlichen Suite zunächst befindlichen rechten, das aus Niederschlesien eigens zu diesem Manöver herangezogene Szekulische Husarenregiment dagegen den nach Spandow gekehrten linken Flügel. Da jedoch der Raum zwischen den beiden Dörfern durch den Bogen, welchen die Havel bei Gatow bildet und den bei Fahrland gelegenen Landsee defiléartig verengt war, befand sich das erstangeführte Regiment mit den übrigen Truppen nicht in gleicher Höhe aufgestellt, sondern gleichsam als eine Art Avantgarde bis nahe der Landstraße vorgeschoben. Die Trompeter und der Pauker, mit den bei Katholisch-Hennersdorf den sächsischen Cürassieren von Obyern entrissenen und seitdem als seltenste den Husaren gewährte Auszeichnung von dem Ziethen’schen Regiment geführten Pauken, hielten vor der Front desselben.
Das ganze hier versammelte Corps mochte etwa bei 20,000 Mann stark sein, obgleich die Zahl der Truppen aber nur eine beschränkte war, so vereinigte sich doch Alles, dies militärische Schauspiel für weit bedeutender als sonst vielleicht erscheinen zu lassen. Die Morgensonne spiegelte sich in den blanken Waffen dieser furchtbaren Bataillone und Schwadronen und hielt mit ihrem Reflex die langen regungslosen Linien derselben wie mit dem Nimbus ihrer früheren und künftigen Thaten umwoben. Der Ruhm der Namen Mollwitz, Czaslau, Hohenfriedberg, Soor und Kesselsdorf schien mit den spielenden Sonnenstäubchen gleichsam noch um diese sich im Morgenwinde blähenden Fahnen und Standarten zu schweben. Dazu der wolkenlose blaue Himmel, die freundliche grüne Ebene hier, der breite, in dem goldenen Lichte des jungen Tages erglänzende Strom dort, mit den pittoresken, waldbewachsenen Höhen an seinem jenseitigen Ufer; die Stadt mit dem mächtig aufstrebenden Thurme ihrer Kirche, aus welcher einst das Licht der Reformation über diese Lande aufgegangen, in der Ferne, und der dunkle Wald im ganzen Umkreise dieses schönen Rundgemäldes, – es war ein Anblick, der sich seiner Wirkung wohl versichert halten mochte.
Auch hatte der König fast unwillkürlich mit dem Betreten der Ebene die Zügel seines Pferdes angezogen. Seine Augen ruhten wohlgefällig auf dem schönen Schauspiel vor ihm, bevor er jedoch noch dieser freundlichen Empfindung Worte geliehen, fielen seine Blicke auf das ihm im ersten Moment noch durch ein vorliegendes Gebüsch halb verborgene Regiment Ziethen Husaren, und die hellen Zornesflammen begannen in seinem Antlitz aufzusteigen.
„General-Wachtmeister von Ziethen,“ rief er zu diesem gewendet, „ich beauftrage Ihn, seinem Oberstlieutenant von Zedmar für die Aufstellung seines Regiments dort in diesem cul de sac meine höchste Unzufriedenheit zu erkennen zu geben. In meinem Leben ist mir noch kein Fall von einer schlechteren Position für ein Husarentroupe zu Gesicht gekommen. Wohin sollen die Kerle denn von diesem mechanten Plätze dort attaquiren? Wenn nun …“ Zu allem Unglück hatten die vorgeschobenen Plänkler jetzt auch die ihnen gleicherweise noch durch das vorliegende Gebüsch verborgene Ankunft des Königs entdeckt und an ihr Regiment zurückberichtet, und die Trompeten und Pauken desselben begannen zu dessen Empfange zu wirbeln und zu schmettern, daß Friedrich sein eigenes Wort kaum zu verstehen vermochte.
Vorlesungen über nützliche, verkannte und verleumdete Thiere.
Meine Herren!
Die Thierclasse, mit der wir uns heute beschäftigen wollen, flößt allerdings einen unwillkürlichen Abscheu ein. Trotzdem daß ich lange und anhaltend, ja mit Vorliebe könnte ich sagen, den Haushalt und die Entwicklung von einigen dieser Thiere studirt habe, so kann ich mich doch einer unangenehmen Empfindung, eines gewissen Schauers nicht ganz in dem Augenblicke erwehren, wo ich eine Schlange oder einen Frosch, oder gar einen Salamander [378] oder eine Kröte in die Hand nehmen soll. Das kalte, leichenähnliche Anfühlen, das bei den letztgenannten Thieren noch durch den unangenehmen Geruch der milchigen, schleimigen Hautausdünstung vermehrt wird; die unheimlichen Bewegungen; der plötzliche Wechsel zwischen regungsloser Apathie und blitzschnellem Fortschießen; das Geheimnißvolle in ihrem Leben und den Aufentshaltorten, welche die Thiere vorziehen; das schleichende, bösartige, giftige Wesen, das nur einigen mit Recht, den meisten aber mit Unrecht zugeschrieben wird – all dies vereinigt sich, um die Reptilien nicht gerade als angenehme Gäste erscheinen zu lassen. Für den Unvorbereiteten namentlich ist das Kältegefühl, das von einem Frosche z. B. ausströmt, das Unleidlichste, was man sich vorstellen kann, und es liegen Beispiele vor, wo mittelst desselben Betrügereien entdeckt worden sind, denen man sonst vergebens auf die Spur zu kommen trachtete.
Ein gewisser Regazzoni durchzog vor einigen Jahren aller Herren Länder und beutete die Leichtgläubigkeit mit Magnetismus, Hellseherei, Somnambulismus und ähnlichen Kunststücken aus, zu deren Ausführung er einige vortreffliche Sujets hatte. Namentlich war eines seiner Weibsbilder ausgezeichnet in Vorstellungen körperlicher Unempfindlichkeit; sie lag in magnetischem Schlafe und gab nicht das geringste Zeichen von Empfindung, selbst wenn man ihr die peinlichsten Schmerzen verursachte. Für den Kundigen konnte dies Resultat stoischen Studiums nicht allzu überraschend sein. Es ist unglaublich, welche entsetzliche Erfindungsgabe zur Selbstquälung Weiber schon dargelegt haben, die sich bemerklich machen wollten. Die Annalen der Medicin sind vollgepfropft von Fällen, wo Schwindlerinnen sich Verletzungen, welche bis zum Rande des Grabes führten, nur deshalb selbst zufügten, um den leichtgläubigen Arzt zu bewegen, eine Broschüre über den außerordentlichen Fall zu schreiben. So ertrug denn auch Regazzoni’s Stoikerin ohne das mindeste Zucken wirkliche Qualen, und weithin erschallte ihr Ruf und derjenige des berühmten Professors, und von allen Seiten trugen die Leute ihre Thaler herbei, um gläubig das Wunder anzustaunen. Aber in Frankfurt ging es zu Ende. Einer meiner Freunde beschloß, den Betrug zu entlarven. Er hatte einen lebendigen Frosch in der Tasche, den er plötzlich der unempfindlichen Schläferin in den Rücken hinabgleiten ließ. Ein Aufschrei, ein Zucken – die Scene war ausgespielt.
Wir haben nun in unseren Ländern nur zwei Arten giftiger Schlangen, die verhältnißmäßig so selten sind, daß nur sehr wenige Menschen sie gesehen oder von ihnen bedroht gewesen sind. Man kann also kaum sagen, daß der Haß, den alle Reptilien auf sich geladen haben, ein wahrhaft naturwüchsiger sei, und in der That sehen wir, daß in den alten deutschen Sagen Frösche, Unken und Kröten gar nicht jene Rolle spielen, die man ihnen heutzutage zutheilen würde. Die verzauberten Prinzen sind häufig in Frösche verwandelt und benehmen sich in dieser Gestalt durchaus liebenswürdig und hülfreich; die Unken stehen mit den Kindern auf sehr vertrautem Fuße und fressen mit ihnen aus einer Schüssel; die Schlangen sind Freunde der Menschen, heißen deshalb Hausunken und holen sich ihr Recht selbst vor des Kaisers Thron; bei den Nordländern hält sogar die große Midgardsschlange die ganze Welt durch ihren Ring zusammen. Erst mit der Einführung des Christenthums ändert sich eigentlich die Scene, indem aus dem Oriente Sagen und Meinungen nach dem Occidente übertragen werden. Die Bibel trägt dazu nicht wenig bei. Die Poesie der alten Juden ist mit Löwen, Schlangen und Heuschrecken angefüllt, Alles eingeführte Artikel, die bei uns zwar fruchtbaren Boden, aber keine naturwüchsige Stelle gefunden haben. Wie kann ein nationaler Germane eigentlich mit Fug und Recht in diesen Bestien etwas Furchtbares erkennen, nachdem er den Löwen nur hinter Eisenstangen oder ausgestopft, die Schlange nur als unschuldige Blindschleichen und die Heuschrecken nur als sanft knackende Grashüpfer kennen gelernt hat! Bei dem Orientalen ist es freilich anders. Er zahlt von seiner Viehheerde regelmäßig den Theil des Löwen und von seiner Ernte denjenigen der Heuschrecken, und sein nackter Fuß muß sich stets wehren vor dem Bisse der Giftschlangen. Ich bin fest überzeugt, daß die kurzen Hörner, die der Teufel auf vielen alten und neuen Bilderwerken trägt und die eigentlich nur wie zwei Wülste an der Stirn stehen, von der Hornviper Cerastes) herrühren, mit welcher die Juden sowohl in Aegypten und beim Auszug durch die Wüste, als auch später auf dem unfruchtbaren, steinigen Fleck Erde, den man ironisch das gelobte Land genannt hat, viel zu kämpfen hatten. In der That gleichen die Hornvipern, die äußerst giftig sind, mit ihren kurzen Auswüchsen über den Augen nichr wenig der traditionellen Personificirung des bösen Princips. Eben so waren die Juden nicht wenig vertraut mit all’ den Gaukeleien, welche die Schlangenbeschwörer, die Psyllen Aegyptens und Indiens noch in unseren Zeiten auf allen Märkten produciren, und der Stab Aarons, der vor Pharao sich zur Schlange wandelt, wird auch heutzutage noch in Kairo und Alexandria producirt, ohne daß ein Aaron oder ein Pharao oder eine besondere Intervention einer wunderthätigen Macht dazu nöthig wäre. Der Haß gegen die Reptilien und ihr übler Ruf kommt also weit mehr von außen her und ist nicht in seiner ganzen Stärke national germanisch.
Nichts desto weniger beruht er auf einem reellen Grunde. Wir besitzen in der That in den gemäßigten Ländern Europa’s, von den Alpen bis nach Schweden hinein, zwei Arten giftiger Schlangen; die größere Kreuzotter (Pelias berus) mehr in dem Norden, die kleinere Giftotter oder Viper (Vipera communis oder aspis) mehr im Süden. Jenseits der Alpen, in Italien, nimmt das giftige Gewürm schon mehr zu, und die schrecklichsten Arten finden sich bekanntlich unter den Wendekreisen.
Unsere beiden einheimischen Arten gleichen sich sehr und erst bei genauerer Untersuchung kann man sie dadurch unterscheiden, daß die kleinere Platten, die größere aber nur Schuppen auf dem breiten Kopfe hat. Auch spielen die Farben der größeren Otter weniger häufig ins Braunrothe und Schwarze, als diejenigen der kleineren Viper, die indessen meistens mehr graulich erscheint. Beide Arten aber sind dicke, kurze Schlangen mit breitem Kopf und zickzackförmiger, dunkler Zeichnung auf dem Rücken, die nur bei der ganz schwarzen Varietät, welche an einigen Orten zuweilen vorkommt, fast gänzlich verschwindet. Denn die Farbe wechselt ungemein vom hellen Silbergrau durch alle Abstufungen des schmutzigen Braun und Kupferroth bis zum gesättigten Schwarz, und namentlich sind es die Weibchen, die um ein Drittel länger und dicker werden, als die Männchen, welche häufiger in dunkele Farben gekleidet sind. Im Norden Deutschlands, wo außer der Viper nur die gewöhnlich größer werdende Ringelnatter sich findet, ist eine Verwechselung der giftigen Vipern mit den ungiftigen Schlangen nicht möglich, wohl aber im Süden, wo es eine ungiftige Natter giebt (Coluber viperinus), welche in ihrer Zeichnung der Viper so ähnlich sieht, daß man die Thiere, wenn sie in Bewegung sind, leicht mit einander verwechselt. Diese Verwechslung begegnete in der That dem Naturforscher Duméril, der wohl über 40 Jahre lang an dem Pariser Pflanzengarten gerade mit dem Zweige der Reptilien betraut und durch Abfassung eines Hauptwerkes in acht Bänden über dieselben berühmt geworden war, gleichsam als Ironie auf seine langjährigen Bestrebungen. Bei einem Spaziergange in einem Walde bei Paris sah er eine Schlange über den Weg gleiten, und getäuscht durch das schlanke Ansehen derselben, sprang er hinzu und faßte sie um die Mitte des Leibes, indem er sie für die unschädliche Vipernatter hielt. Als er aber von der Schlange in den Daumen und Zeigefinger gebissen wurde, sah der 70jährige Mann freilich sogleich seinen Irrthum ein und traf auch sofort einige Vorkehrungen, die aber ein mehrtägiges Unwohlsein nicht verhinderten.
Das beste Unterscheidungszeichen unserer Giftschlangen ist eben der verderbliche Apparat, den sie in ihrem Rachen tragen und durch dessen Bildung unsere Vipern mit den giftigsten Schlangen der Tropen, den Grubenvipern und den Klapperschlangen, in nächste Verwandtschaft treten. Der Rachen ist ungeheuer groß und kann sich stärker ausdehnen als bei irgend einer anderen Schlange; er trägt aber außer den Giftzähnen nur äußerst wenige und schwache Zähne in den Kinnladen, die nicht im Stande wären, eine größere Beute ernsthaft zu verwunden oder fest zu halten. Die Giftzähne selbst stehen einsam auf dem kurzen, sehr beweglichen Oberkiefer, der durch besondere Muskeln in der Weise bewegt werden kann, daß der Zahn beim Schließen des Mundes sich mit der Spitze nach hinten zurücklegt, beim Oeffnen aber sich etwa in einen rechten Winkel mit der Kinnlade stellt. Es ist dies einigermaßen bedeutsam, indem die Schlange nur schwer auf ein gespanntes, pralles Glied mit abgerundeter Fläche, wie z. B. Arm oder Bein, verwundend einhauen kann, während sie dagegen die freieren Glieder, wie Füße und Hände, besonders die Finger und Zehen, mit Vorliebe als Zielscheibe sucht.
[379] Das Zahnfleisch bildet um den Giftzahn eine Art Scheide, welche ihn nebst seinen Ersatzzähnen (denn solche finden sich lose in der Masse des Zahnfleisches hinter dem functionirenden Zahne) beim Schließen des Maules gänzlich einhüllt. Offenbar werden die Giftzähne, auch wenn sie nicht in Gebrauch stehen, von Zeit zu Zeit gewechselt und durch neue ersetzt. Der Wärter der Schlangenmenagerie im Pariser Pflanzengarten erzählte mir wenigstens, daß er in den Behältern der Giftschlangen von Zeit zu Zeit abgestoßene Zähne finde, deren er auch in der That eine ganze Sammlung besaß, und unter welchen er nach Form und Größe sehr gut die Zähne der einzelnen Arten, namentlich der Klapperschlangen, der Brillenschlangen und der berüchtigten Lanzenvipern (fer de lance) der französischen Colonien zu unterscheiden wußte.
Der Mechanismus des Giftapparates ist einfach. Eine traubige, gelappte Drüse, einer Speicheldrüse ähnlich, liegt unter und hinter dem Auge und sendet einen, meistens heberförmig gebogenen Ausführungsgang, der gewöhnlich eine sackartige, als Reservoir dienende Erweiterung hat, in die Wurzel des Zahnes. Dieser ist in seiner ganzen Länge zusammengerollt und dadurch hohl, und der ihn durchsetzende Canal an der haarscharfen Spitze des Zahnes durch einen Spalt geöffnet, sodaß diese Spitze fast derjenigen eines fein geschnittenen Zahnstochers ähnlich sieht. Beim Bisse richtet sich die Schlange gewöhnlich mit halbem Leibe auf und schleudert den Kopf vorwärts, wie eine geschnellte Feder. In dem Augenblicke, wo sie beißt, drückt der Drüsenmuskel diese mit ihrem Reservoir zusammen und spritzt einen Tropfen des tödllichen Giftes in die feine Wunde, welche gewöhnlich aussieht, wie wenn man sich mit einer Nadel leicht geritzt hätte. Die giftige Flüssigkeit selbst sieht wie ein klarer, dünnflüssiger Speichel aus, reagirt etwas sauer, hat einen schwachen, ekelerregenden Geruch und hinterläßt auf weißer Leinwand durch Austrocknung einen schwachgelblichen Flecken.
Es ist eine festgestellte Thatsache, daß dieses Gift, welches unter günstigen Umständen eine rasche Zersetzung der Blutmasse herbeiführt, wie viele andere Gifte nur dann wirkt, wenn es direct in die Blutmasse eingeführt wird. Es äußert durchaus nicht die mindeste Wirkung, wenn es nur auf die Haut, auf die Zunge, oder in den Magen gebracht wird; es zersetzt sich wahrscheinlich augenblicklich entweder in dem Magen oder in der Leber, ohne irgend welche schädliche Wirkung auf den Organismus bei diesem Einführungswege zu äußern.
Furchtbar aber sind allerdings diese Wirkungen, wenn das Gift direct in den Blutlauf gebracht wird, und um so furchtbarer, je kräftiger die Viper, je reichlicher das Gift in dem Behälter, je heißer die Jahreszeit und je mehr durch Erhitzung oder Ermüdung der Mensch selbst zur Blutzersetzung disponirt ist. Aus diesem Grunde mögen namentlich die Schlangen der Tropengegenden um so viel gefährlicher sein, da dort durch die andauernde Hitze das Blut ohnehin zur Zersetzung geneigt scheint. Gewöhnlich schmerzt die Wunde augenblicklich, wie der Stich einer Biene, und kurze Zeit darauf bezeichnet allgemeine Hinfälligkeit, Todesmattigkeit zum Sterben, Unfähigkeit weiter zu gehen, die Vertheilung des Giftes in die Blutmasse und das dadurch bedingte Erkranken des centralen Nervensystemes. Unauslöschlicher Durst begleitet gewöhnlich diese Erscheinungen der allgemeinen Krankheit, die sich mit Diarrhöen, Erbrechen, später mit Delirien verbinden und entweder zu ruhigem Tode führen oder durch heftiges Fieber und reichliche Schweiße sich zum Besseren wenden kann.
Mit dieser allgemeinen Krankheit, die offenbar durch Blutzersetzung bedingt ist, gehen heftige Localerscheinungen Hand in Hand. Das gebissene Glied schwillt manchmal entsetzlich auf, zuweilen selbst verbreitet sich die Schwulst über den ganzen Körper. Die Bißstelle wird blau, schwarz, brandig, das Glied vollkommen unempfindlich, und oft schwindet diese Unempfindlichkeit erst im Laufe von Jahren – ein Beweis der tiefen Einwirkung auf das Nervensystem.
Wie nun sich gegen solchen Schaden wehren?
Zuerst gilt es natürlich, sich der Gelegenheit gebissen zu werden nicht auszusetzen, und dies ist verhältnißmäßig sehr leicht. Die Kreuzotter ist ein träges, apathisches Thier, das Sonne und Trockenheit liebt, steinige mit Gebüsch spärlich bewachsene Halden als Wohnort vorzieht und dort sich in oberflächlichen Verstecken birgt oder regungslos an der Sonne ruht. Sie verfolgt nicht und flieht nicht; sie beißt nur wenn sie angegriffen, gereizt oder geneckt wird, und da dieses meistens nur ohne Absicht geschieht, so sind es gewöhnlich nur Leute, die Reisig, Beeren oder Pflanzen sammeln, welche von ihr in die Hand oder den nackten Fuß gebissen werden. Stiefel und Hosen schützen ganz vollkommen gegen den Biß der giftigen Schlangen; sogar ein Strumpf genügt meistens, den größten Theil den Giftes aufzufangen und die Verwundung fast unschädlich zu machen. Ein Hieb mit dem Stocke oder selbst mit einer schwanken Gerte genügt vollkommen, der Schlange den Rückgrat zu brechen und sie unfähig zu machen zum Angriffe. Mir selbst ist es schon begegnet, daß ich eine Viper tödtete, die ruhig im Wege lag und unbeachtet von der spazierenden Gesellschaft, die vor mir herging, überschritten worden war. Man schaue also wohl um sich, wenn man sich in Gegenden findet, wo sich Schlangen dieser Art finden können, und stecke die Hand nicht an Orte, die man vorher nicht mit den Augen oder dem Stocke untersuchen konnte.
Hat man aber das Unglück gebissen worden zu sein, so ist sicherlich die erste Indikation, den Uebertritt des Giftes in die Blutmasse zu verhindern. Hat man ein Messer oder selbst nur einen großen Dorn zur Hand, so scheue man sich nicht, mit einem gehörigen Schnitte die Wunde weit zu öffnen und das Blut reichlich fließen zu lassen. Es ist besser, an einer tiefen Schnittwunde, als an einem vergifteten Stiche zu leiden. Man befördere den Ausfluß des Blutes soviel als möglich durch Hängenlassen des Gliedes, durch Waschen mit lauem Wasser, wenn es zu haben ist; man wasche und spüle, um herauszubringen, was möglich ist. Kann man das Glied zum Munde bringen oder ist eine andere Person gegenwärtig, so sauge man augenblicklich Blut und Gift aus der Wunde. Wir besitzen moralische Kindergeschichten, in welchen das Aussaugen des Bisses einer giftigen Schlange als die höchste That des mütterlichen Heroismus und der Todeshingebung für das Kind gepriesen wird. So schlimm steht die Sache nicht. Wer gesundes und derbes Zahnfleisch hat, das beim Saugen nicht blutet; wer von Zeit zu Zeit die ausgesogene Masse vollständig ausspuckt, der wird nicht die mindeste Unannehmlichkeit davon tragen, und im entgegengesetzten Falle ist es höchstens einiges Anschwellen der Lippen und der Zunge und etwas Brechneigung, die den Saugenden für sein Wagestück bestraft. Soviel kann man aber doch wagen, wenn es die Erhaltung der eigenen Gesundheit oder derjenigen eines Mitmenschen gilt.
Sodann unterbinde man augenblicklich das Glied oberhalb der Bißstelle so fest als möglich, um den Blutlauf zu hemmen und den Uebertritt des vergifteten Blutes in die gesammte Blutmasse zu verhindern. Der Natur der Sache nach können nur die oberflächlichen Gefäße und die rückführenden Venen der Haut verletzt sein, und es ist gewöhnlich leicht, die oberflächlichen Hautvenen durch ein Band, das man nöthigenfalls aus einem Kleidungsstücke reißen kann, so zusammenzudrücken, daß der Blutlauf fast gänzlich gehemmt ist. Ist dies aber auch nicht vollständig geschehen, so ist doch schon die allmähliche Ueberführung des Giftes in die Blutmasse von großer Bedeutung, indem dadurch die allgemeine Krankheit gewissermaßen vertheilt und gebrochen wird. Castelnau erzählt, daß man in Südamerika an einzelnen Orten die Behandlung des Schlangenbisses in der Art leitet, daß man die Ligatur des unterbundenen Gliedes von Zeit zu Zeit für einen Augenblick öffnet, dann aber wieder zusammenschnürt, um einige Zeit später dieselbe Operation zu wiederholen. Es entstehen bei jeder Oeffnung der Ligatur leichle Convulsionen, die aber bei der Vertheilung auf eine längere Zeit unschädlich vorübergehen, während sie bei dem plötzlichen Eindringen der ganzen Giftmenge überhandnehmen und den Tod herbeiführen würden.
Was man aber auch thun mag, man thue es rasch, ohne national-germanische Gründlichkeit und langes Bedenken. Einen Fetzen vom Kleide herabreißen und den Finger damit umwickeln, das Messer hervorziehen und einschneiden, saugen und ausspucken und wieder saugen, muß das Werk weniger Secunden sein; denn das menschliche Herz arbeitet rasch und in einer Minute ist der Umschwung der Blutmasse vollendet. Stellen sich nach solchem energischen Einschreiten dennoch allgemeine Krankheitserscheinungen ein, so ist es Sache des Arztes, dieselben zu bekämpfen, indem namentlich schweißtreibende Mittel angewendel werden müssen.
[380]
Illustrirte Skizzen aus Rom.
Wenn die Beherrscher der ewigen Stadt, die Päpste, in früheren Zeiten die Stufen zu ihrem Wohnsitz, dem vatikanischen Palast, hinaufstiegen, so geschah dies mit dem stolzen Bewußtsein, daß die gesammte Christenheit sich demüthig vor ihnen beugte und in der Person des „heiligen Vaters“ den Stellvertreter Christi auf Erden verehrte. Vom Vatican aus sandten sie ihre Bannstrahlen herab auf die sündigen Völker, und Kaiser und Könige zitterten vor dem Machtgebote eines greisen Priesters, dem nur eine alte Tradition und der Glaube der Christenheit eine solch unermeßliche Bedeutung verlieh. Wie anders ist es aber seit ungefähr zehn Jahren geworden! Jetzt zittert der heilige Vater in seinem Palaste vor den eigenen Unterthanen, vor dem italienischen Volke, wie vor dem aufgeworfenen Schutzherrn, der Tausende von Söldnern nach Rom geworfen hat, um angeblich die Würde des Papstes und das Ansehen der katholischen Kirche zu schirmen, in Wahrheit aber um den charakterschwachen, der wildbewegten Zeit nicht gewachsenen Pio nono gefangen zu halten und ihm jede freie Bewegung unmöglich zu machen. Wie in den Tagen des Mittelalters, so richten sich auch jetzt wieder, wenn auch in anderer Bedeutung, die Blicke der Völker nach dem vatikanischen Palast zu Rom, denn hier wird sich in nicht zu langer Zeit die hochwichtige Frage über die weltliche Herrschaft des Papstes entscheiden. Es wird daher sicher unseren Lesern einiges Interesse gewähren. Genaueres in Bild und Wort von dieser illustren Wohnung der Päpste zu erfahren, die zugleich Sitz der höchsten Kirchengewalten der katholischen Welt, dann aber auch, wie kein anderer Palast in nur annähernder Weise, für alle Welt der hehrste Tempel der Kunst ist. Was Höchstes von Meisterwerken des Alterthums und aus der goldenen Zeit der Kunst auf uns gekommen, findet sich in den Räumen des vatikanischen Palastes vereint; ebenso ist seine Bibliothek der Wissenschaft und ihren Forschern eine unschätzbare Fundgrube; sie bleibt der heiß ersehnte Zielpunkt so manches nordischen Wanderers.
Den Palast in seiner ganzen ungeheueren Ausdehnung zu überblicken ist fast unmöglich, denn es ist nicht ein einzelner Palast, sondern eine Aneinanderreihung mehrerer an Baustyl und Dimensionen verschiedener Paläste. In drei Stockwerken umfaßt er eine Anzahl großer Hallen und Säle, Prunkgemächer, Capellen, Gallerien, Corridors etc. Dabei zählt man zweiundzwanzig Höfe und über zweihundert Treppen. Wir geben eine Ansicht des Vatikans von dem Plateau vor dem Sanct Peter. Von hier aus überschaut man die Haupttheile, die Wohnung der Päpste selbst; auch gewährt der Palast von diesem Standpunkte den malerischsten Gesammteindruck. Schon die Geschichte seines Baues, die aus den verschiedensten Epochen datirt, läßt schließen, daß er unmöglich ein einheitliches Ganzes, wie andere Prachtarchitekturen, bieten könne. Von Alters her stand neben der Hauptkirche der katholischen Welt, dem Sanct Peter, ein Palast, der abwechselnd mit dem Lateran den damaligen Päpsten zur Residenz diente. Nach ihrer Rückkehr aus Avignon wurde er ihr ausschließlicher Wohnsitz. Papst Nicolaus V. faßte zuerst den Plan, seine Wohnung zum größten und prächtigsten Gebäude der Welt zu machen, und nach seinem Tode, im Jahre 1455, führte Alexander VI. und dessen Nachfolger den Bau weiter fort. Julius II. ließ durch Bramante die Loggien erbauen; es ist dies der auf der linken Seite unseres Bildes sich zeigende Theil des Palastes; die in unseren Tagen mit Bogenfenstern geschlossenen Räume sind diejenigen, in denen Raphael und seine Schüler uns ihre unsterblichen Meisterwerke hinterließen, daher sie auch den Namen der „Loggien Raphael’s“ führen.
[381] An diese Loggien, die gleichsam einen Corridor bilden, schließen sich die Zimmer an, die der Welt unter dem Namen der „Stanzen (Zimmer) Raphael’s“ bekannt sind. Sie enthalten die berühmten Freskomalereien dieses Meisters und geben in verschiedenen Abtheilungen eine Verherrlichung der Idee des Christenthums. Von den vielen Meisterwerken der vaticanischen Gemäldesammlung gedenken wir nur der Transfiguration Raphael’s und der Madonna di Foligno. Die Antiken sind aufgestellt in dem Appartements Borgia (Alexander’s VI.), wo sich auch die gedruckten Bücher der Bibliothek seit 1840 befinden, namentlich aber in dem „Belvedere“ (eigentlich einer Villa Innocenz’ VIII., welche Julius II. mit dem Vatican vereinte und die später erweitert wurde). Hier finden sich die großen Sammlungen: Galeria lapidaria mit mehr als 3000 meistens Grabmälern entnommenen Reliefs; dann das Museo Chiaramonti, von Pius VII. angelegt und mit Statuen, Reliefs etc. angefüllt; dazu gehört der von demselben Papst erbaute Saal, welcher den neuen Flügel des Belvedere (il braccio nuovo) begreift und der an Reichthum kostbarer Marmorarten alle übrigen Säle des Vaticans übertrifft. Keine andere Antikensammlung in der Welt läßt sich jedoch mit dem Museo Pio Clemente vergleichen, denn dasselbe birgt, um nur das Ausgezeichnetste zu erwähnen, den berühmten Torso des Hercules, den herrlichen Apollo, die wundervolle Gruppe des Laokoon, eine Statue des Nils, die kolossale Statue des Antinous und tausend andere Arbeiten, an denen sich das Auge des Kunstkenners nicht satt sehen kann. Es ist dieses Museum der Glanzpunkt des ganzen Vaticans bis auf diesen Tag geblieben. Wenn Julius II. einen Kunsttempel geschaffen, sorgte Sixtus V. für eine der Wissenschaft geweihte Halle und baute die Prachträume der Bibliothek. Man kann sich eine Idee von den dort aufgespeicherten Schätzen der Wissenschaft machen, wenn man bedenkt, daß die vaticanische Bibliothek mindestens 70,000, nach Einigen 200,000, nach Anderen sogar 400,000 Bände enthält, neben denen sich gegen 40,000 Handschriften befinden, die größtentheils zu den ältesten und besten zählen.
Derselbe Sixtus V. erbaute auch denjenigen Theil des Palastes, der die rechte Seite unseres Bildes einnimmt und die gewöhnliche Residenz der Päpste ist. Hier wohnt Se. Heiligkeit, der jetzt regierende Pio nono, während die Eminenz den Cardinal-Staats-Secretairs Antonelli im obern Stockwerke thront. Unter Urban VIII. wurde die prachtvolle Scala regia (Haupttreppe), der officielle Haupteingang des Vaticans, gebaut. Man gelangt zu ihr durch das Säulenportal auf der linken Seite unseres Bildchens. Auf einer vierfachen Folge von Marmorstufen führt die Scala regia zwischen ionischen Marmorsäulen zum Haupteingang und bildet eine Perspektive von wundervoller Schönheit. Hier befindet sich auch die Wache der Schweizergarde, der letzten schwachen Hülfe, auf welche der vielbedrängte Pio nono sich zu stützen versucht. In unseren Tagen ist noch eine neue Seitentreppe hinzugekommen, ein durch die Munificenz Pius’ IX. errichteter Prachtbau, der an der Stelle der früheren Rampe direct in den Hof der Loggien hinaufführt. Dieses Werk ist eben vollendet. Aus der Zeit Urban’s VIII. endlich datirt die große Vorhalle, die Bernini mit so großem Talent ausgeführt hat. Wir sehen auf unserer Zeichnung die eine Hälfte des größten Meisterwerks, das dieser Künstler in der Architektur geschaffen. Die unzähligen Statuen, die den Porticus schmücken, gehören sämmtlich der Schule Bernini’s an, sind aber nur von decorativem Werth. Um schließlich noch einen Begriff von der riesenhaften Ausdehnung dieses Gebäudes zu geben, bemerken wir nur, wie fast alle Quellen die Anzahl der darin enthaltenen Säle, Zimmer etc. auf 11,000 angeben, wohl hinreichend, um den Vatican als die größte aller Residenzen dieser Welt erscheinen zu lassen.
Es liegt im Dunkel des Schicksals verhüllt, wie lange der Vatican noch die Residenz der Päpste bleiben wird. Vielleicht entscheidet schon die nächste Zukunft die brennende Frage, ob nicht der neue König von Italien Rom zu seinem ersten Herrschersitz erwählen wird und darf; dann könnte vielleicht der heilige Vater, seiner weltlichen Krone beraubt, sich gezwungen sehen, seinen Wohnsitz wie früher im Quirinal aufzuschlagen, wenn er es nicht, wie bereits früher, vorzieht, in der Fremde ein Ruhelager zu suchen, auf welches er sein müdes Haupt in Frieden niederzulegen vermag.
Ein Deutscher.
„Sprich jetzt nicht und laß mich ausreden,“ fuhr das Mädchen, fast krampfhaft die erfaßte Hand drückend, fort, als Reichardt eine Bewegung zur Entgegnung machte, „ich weiß ja Alles, was Du sagen könntest; ich aber sage Dir, Max, daß die Regung, welche Dich jetzt zu Deinem Vorschlage getrieben, doch weiter nichts ist, als das Mitleid mit meiner augenblicklichen Lage, daß es unser Beider Unglück herbeiführen hieße, wollte ich leichtsinnig dem Drange des Augenblicks folgen. Laß mich ausreden,“ wiederholte sie leidenschaftlich, als er einen neuen Versuch, sie zu unterbrechen, machte, „ich weiß, daß Du mit voller brüderlicher Herzlichkeit an mir hängst, daß Du im Augenblicke Dein eigenes Glück in dem meinen finden würdest; aber ich bin ein egoistisches Geschöpf, Max, und verlange mehr; wo ich mich in Liebe hingebe, will ich wieder geliebt sein mit derselben Gluth, deren ich selbst fähig bin, oder ich müßte mich innerlich verzehren – und wenn mir die volle Befriedigung meines Herzens nicht werden kann, will ich wenigstens nicht mehr zu geben haben, als ich zurückempfange. Ich bin zweiundzwanzig Jahre alt, Max, Du erst zwanzig und kennst Dich selbst noch nicht. Aber der rechte Augenblick wird auch für Dich noch kommen, und ich würde sterben müssen, wenn ich ein neues Leben in Dir entstehen sähe, das nicht durch mich geweckt worden wäre; Du aber würdest dann, so lange ich noch lebte, die Last verwünschen, die an Dir hinge, selbst wenn Dir Dein gutes Herz das laute Geständniß versagte. Ich wußte es schon in New-York, daß wir einander nicht gehören durften, und es war mir gelungen, mich zum Frieden mit mir selber durchzuarbeiten – laß ihn mir, Max,“ schloß sie mit einem Blicke eigenthümlich schmerzlicher Bitte, als sei sie trotz aller Worte ihrer selbst noch nicht sicher, „wirf mich nicht in neue Kämpfe, die nimmermehr zu unserem Heil führen würden.“
„Aber giebt es denn ein dauerndes Glück in der leidenschaftlichen Erregung, wie Du sie andeutest?“ fragte Reichardt, sichtlich durch den Erguß des Mädchens herabgestimmt. „Ich weiß, daß meine Empfindungen nicht über eine gewisse Höhe steigen, dafür aber kann ich ihrer Dauer sicher sein und mich ruhig dem Wege überlassen, den sie mich leiten. Ich weiß, daß ich meine volle Befriedigung an Deiner Seite gefunden hätte, Mathilde – Dir genügt aber das nicht; und doch suchst Du vielleicht das Glück da, wo es am wenigsten zu Hause ist.“
„Ich suche das Glück nicht und erwarte es nicht – ich bin nicht dafür geboren – ich will aber auch unser Beider sicheres Unglück nicht durch eine kurze Seligkeit erkaufen!“ erwiderte sie mit ihrem frühern, aus tiefer Innigkeit und Trauer gemischten Tone; „Du wirst noch eine andere Gefühlswärme als Deine jetzige kennen lernen, Max; ich aber verlange nichts für mich, als einen Halt, der mir eine unzweideutige Stellung giebt, einen Begleiter, der dieselbe Achtung verdient, die ich für mich fordere, und von meinem innern Leben nicht mehr beansprucht, als sich ihm freiwillig bietet. Das eigentliche Glück mag nicht in einem solchen Verhältniß zu finden sein, aber wenigstens birgt dieses auch keine Täuschung und genügt völlig für den, der mit seinen Wünschen abgeschlossen hat. – Und nun, Max,“ fuhr sie, wie sich innerlich zusammenraffend und ein Lächeln versuchend, fort, „laß uns ruhig denselben Standpunkt wieder einnehmen, auf dem wir unser Gespräch begannen; ich wollte Deine Meinung über meine Lage und ihre Aussichten hören – Du hast Dich von Deinem guten Herzen fortreißen lassen, und ich war thöricht genug zu folgen; das ist vorüber, und jetzt möchte ich wohl wissen, was Du sagen würdest – wenn ich – nun ja, warum soll ich es nicht aussprechen – wenn ich unsern Director erhörte? er würde mehr als mancher [382] Andere den Ansprüchen genügen, welche ich an eine befriedigende Zukunft zu stellen habe.“
Reichardt sah in ihr Auge, das nur unsicher seinen Blick auszuhalten schien, und ein Gefühl von Wehmuth stieg in seinem Herzen auf. Es war ihm, als könne er das Mädchen verstehen, die es vorzog, ihr Herz mit seinen Schätzen zu begraben, als es hinzugeben, wo ihm niemals dieselbe heiße Flamme entgegengeschlagen hätte, und ein Leben der kalten, nüchternen Vernunft zu beginnen – und doch erschien ihm ein solcher Entschluß in der Fülle der Frische und Jugendkraft, welche sie belebten, wieder so unnatürlich, daß dieser nur aus einem Gemüthe entsprungen sein konnte, das mit jeder andern Hoffnung fertig ist!
„Warst Du nicht schon mit Dir einig, Mathilde, ehe Du meine Ansicht verlangtest?“ fragte er.
„Ich bin es jetzt noch nicht, Max,“ erwiderte sie, ihre Sicherheit wieder gewinnend, „aber ich habe eingesehen, daß ich, um zu dem rechten Ziele zu gelangen, Dir meine Fragen bestimmt stellen muß. Antworte nur ebenso, ich habe Dir einen vollen Einblick in die Charaktere und die Verhältnisse gegeben. Der Director mag seine fünfundvierzig Jahre zählen, aber sein Geist ist jugendlicher, als der vieler unserer jungen Männer. Er ist ein durch und durch nobler Charakter und die Kunst seine eigentliche Lebenslust. Er mag mich ebensowenig lieben als ich ihn, aber gegenseitige Achtung und gemeinschaftliche Neigungen bilden wohl einen haltbaren Ersatz für das, was sich oft Liebe nennt. Er ist in mancher Beziehung ein Original, wohl in andern ein halbes Kind, aber vielleicht kann hier meine eigene Selbständigkeit zu einer Ergänzung helfen. – Nun, Max?“ setzte sie nach einer Pause hinzu, als der junge Mann ihr nur mit einem stillen Blicke ins Gesicht sah.
„Warum fragst Du denn noch?“ erwiderte er, wie in halber Gedrücktheit. „Wenn ich nun auch sagte, was sich einer solchen Verbindung entgegenstellen läßt, so könnte es doch kaum mehr sein, als Du Dir selbst längst gesagt haben mußt; im Uebrigen aber ist Dein Entschluß bereits so vorbereitet, und Jeder muß immer selbst am besten wissen, was zu seiner Befriedigung gehört, daß meine Worte gewiß am wenigsten ins Gewicht fallen können –“
„Bist Du unzufrieden, Max, daß ich mich Dir gegeben habe wie ich bin, mit allen Schroffheiten, die wohl in mir sein mögen?“ unterbrach sie ihn, seine Hand von Neuem fassend, „daß ich mir einmal den seltenen Genuß gegönnt, zu sprechen, wie es mir auf der Seele gelastet?“
„Mathilde!“ rief Reichardt, welchen bei dem halbanklagenden Blicke des Mädchens das ganze Mitgefühl für sie wieder überkommen hatte, „es ist ja nur der Schmerz der aus mir spricht, der Schmerz, daß ich kein befriedigendes Glück für Dich schaffen kann, aber auch keines in Deinen Entschlüssen sehe, trotz alle der herausgekehrten lichten Seiten, mit denen Du Dich selbst zu täuschen suchst!“
„Lassen wir die Sache jetzt!“ erwiderte sie, wieder hell zu ihm aufblickend, „es wird spät, und ich verspreche Dir, mich nicht zu übereilen. Ich habe morgen früh den Director zu mir bestellt, aber es liegt noch eine lange Nacht zwischen jetzt und morgen. Sei nach dem Frühstücke wieder bei mir, dann werden wir Beide mit ruhigerem Auge die Dinge betrachten. Und nun gute Nacht, Max!“ – Mit einem stillen Kopfschütteln war Reichardt die Treppe nach den untern Räumen hinabgeschritten. Er fühlte sich unmuthig, kaum wußte er aber, ob in Folge der Zurückweisung seines Antrags, oder aus Sorge über Mathildens Wahl, die ihm noch immer kaum anders als ein Verzweiflungsschritt erscheinen wollte. Jedenfalls war das Bild, welches er sich von der nächsten Zukunft im Zusammenleben und Wirken mit ihr geschaffen, zerronnen, und doch hätte er am wenigsten von ihr ein Hinderniß für die Verwirklichung desselben erwartet. Aber sie war jetzt eine Andere, als er sie in New-York gekannt, und wenn er sich auch nicht in ihrer Liebe zu ihm getäuscht hatte, so bot ihm diese eigenthümliche Natur doch so viel neue Seiten, daß er das schutzlose Mädchen, welches damals seine Schwester geworden, kaum aus ihr herauszuerkennen vermochte.
Er war in den Ausgang des Hotels getreten, überlegend, ob er in seinem erregten Zustande schon das Bett suche, oder noch einen Gang durch die hellerleuchteten Straßen mache, als eine bekannte Stimme neben ihm laut wurde. „Hatten Sie mir nicht einige Fragen vorzulegen, Sir? Sie sehen, daß ich Ihnen gern die Mühe spare, mich zu suchen!“ klang es, und als er den Kopf wandte, sah er in des Agenten Gesicht, das eine ironische Ruhe bewahren zu wollen, aber einen innern Ingrimm nicht verbergen zu können schien. Reichardt hatte trotz Mathildens Mittheilungen noch immer keine Ahnung, weshalb der Mensch sich an ihm reiben zu wollen schien, aber dieser kam ihm in seiner jetzigen Stimmung kaum ungelegen.
„Lassen Sie uns nach dem Speisezimmer gehen, wo wir wohl ungestört sein werden,“ erwiderte er mit einem finstern Kopfnicken und schritt dem Andern nach dem bezeichneten Raume, welcher nur noch von einer halbeingedrehten Gasflamme nothdürftig erleuchtet war, voran. Die die Mitte des großen Zimmern durchschneidende Tafel war noch mit aufgethürmtem Geschirr und einem Haufen Messern und Gabeln, die sich zu einem großen Vorlegemesser wie die Brut desselben ausnahmen, besetzt; Reichardt lehnte sich bequem gegen den Tisch, schlug die Arme in einander und sah mit hochaufgerichtetem Kopfe seinem Gegner, welcher vorsichtig die offene Thür schloß, entgegen. „Ich wünsche einfach zu wissen, Sir,“ fragte der Deutsche, sobald sich der Agent nach ihm kehrte, „was Ihre auffallend höhnische Miene, mit welcher Sie mich seit meinem Eintritt ins Hotel verfolgt haben, zu bedeuten hat, und erwarte, wenn ich sie nicht als sichtliche Beleidigung Ihrerseits betrachten soll, eine genügende Erklärung.“
„Die Erklärung sollen Sie jedenfalls haben,“ erwiderte der Amerikaner, während ein spöttischer Zug um seinen Mund einem bösartigen Ausdrucke seines ganzen Gesichts Platz machte; „im Uebrigen aber steht es Ihnen frei, sich so beleidigt zu fühlen, als Sie Lust haben; ich bin völlig bereit, für meine Worte einzustehen!“
„Ich höre, Sir!“ sagte Reichardt, die Augen zusammenziehend und sich fester gegen den Tisch stützend. Der Mensch schien einen ernstlichen Streit mit ihm zu suchen, und wenn auch der Deutsche gern einen solchen vermieden hätte, so war er doch fest entschlossen, sich in keiner Weise zu nahe treten zu lassen.
„Very well, Sir“, entgegnete der Andere finster. „Sie treten hier als Bruder der Miß Heyer auf; zufällig weiß ich aber, daß zwischen Ihnen und der Lady gerade so wenig Verwandtschaft besteht, als zwischen uns Beiden hier – ich kann Ihnen sogar, falls Sie Ihre Lüge zu behaupten gedächten, meinen Gewährsmann nennen, es ist einer Ihrer Freunde, der mit Ihnen und der Lady über See gekommen ist, ein Kupferschmied Meißner, in der Whiskyfabrik von „Johnson und Sohn“ in New-York beschäftigt; und jetzt, Sir, werden Sie mir wohl nicht verwehren, meine Betrachtungen über das wunderbare Geschwisterverhältniß gerade so anzustellen, wie es mir beliebt.“
Reichardt hatte seinem Gegner fest in’s Auge gesehen und kaum merklich die Farbe gewechselt. Jetzt zog er sein Notizbuch hervor, einige Worte darin notirend, und barg es ruhig wieder an seinem früheren Orte. „Wollen Sie mir wohl sagen, wie Sie mit diesem Kupferschmied Meißner zusammengetroffen sind?“ fragte er dann kalt.
„O, Sie haben mit der einfachen Angabe noch nicht genug!“ gab der Agent, grimmig lachend, zurück. „Sie sollen Alles hören, damit Sie sich nicht zu beklagen haben. Es war am Abend nach dem Engagement der Miß Heyer, daß ich in einem deutschen Locale von der vorzüglichen Acquisition, welche mir gelungen, sprach und von einem jungen Manne angeredet ward, der sich nach einem Mr. Reichardt, dem bisherigen Beschützer der jungen Lady, erkundigte. Es konnte mir nur lieb sein,“ fuhr er, das Gesicht zu einem häßlichen Lächeln verziehend, fort, „etwas über die Vergangenheit unseres neuen Mitgliedes zu hören, und ich erfuhr wohl auch Alles, was nöthig ist, um die Art des bisher schon bestandenen Geschwisterverhältnisses zu verstehen. Verlangen Sie noch mehr Erläuterungen, Sir?“
In Reichardt’s Gesicht war langsam ein dunkeles Roth gestiegen, aber er hielt sichtlich an sich. „Sie werden weder Miß Heyer noch mich mit Ihren Andeutungen beschmutzen können,“ sagte er, „nur sich selbst, Sir! Sie lassen ein Verhältniß der schlimmsten Art ahnen und denken doch daran, derselben Lady Ihre Hand zur Ehe zu bieten. Sie beschimpfen sie, während Sie die Antwort auf Ihren Antrag erwarten. Ich kann verstehen, daß Sie bei Ihren Voraussetzungen die Eifersucht gepeinigt hat, seit ich hier bin, daß Sie möglicherweise in mir ein Hinderniß für [383] Ihre Pläne gesehen. Aber nur die bodenloseste Gemeinheit kann unter solchen Verhältnissen zu Werke gehen, wie Sie es gethan. Gegen Sie mein Verhältniß zu Miß Heyer zu rechtfertigen, halte ich völlig unter meiner Würde. Was die Lady betrifft, deren Ehre zu vertreten ich kaum noch ein Recht habe, so wird Ihnen morgen früh die gebührende Antwort werden.“
„Halt an!“ rief der Amerikaner mit funkelnden Augen, als Reichardt Miene machte, seine Stellung zu verlassen. „Sie glauben mir alles Das so ohne Weiteres sagen zu dürfen? Sie fürchten sich, mir das Wort „Lügner“ in’s Gesicht zu werfen und wollen auf Umwegen davon schlüpfen –“
„Bleiben Sie mir vom Leibe, Sir!“ unterbrach ihn Reichardt, nach dem Handgelenk seines Gegners fassend, welcher die Faust dicht vor seinem Gesichte erhoben. Dieser rang einen Moment mit verbissenen Lippen, um seine Hand zu befreien, und nahm dann einen kurzen Ansatz zum Stoße in des Deutschen Gesicht. Eine kräftige Armbewegung des Letzteren warf den Amerikaner zwei Schritte zurück. Zugleich aber fuhren Reichardt’s Hände mechanisch eine Waffe suchend nach dem Tische – er sah den Ausdruck der vollen Wuth in seines Gegners Gesichte, sah diesen mit hochgezogenen Schultern eine Boxer-Stellung annehmen und wußte, daß er dessen Kräften in keiner Weise gewachsen war. Seine Finger fühlten den Griff eines großen Messers. „Bleiben Sie mir vom Leibe, oder es geht nicht gut!“ rief er, als er den Agenten lauernd einen halben Schritt gegen sich thun sah, aber im nächsten Momente schon führte dieser mit vorgehaltenem linken Arme einen Faustschlag gegen den Deutschen – ein kurzer Aufschrei erfolgte, der Angreifer taumelte zurück und brach in sich zusammen; in Reichardt’s Hand aber blitzte das große Vorlegemesser, das er erfaßt und zu seinem Schutze vorgestreckt hatte.
Eine volle Minute lang herrschte Todtenstille in dem düster erleuchteten Raume – nur aus dem „Bar-Room“ herüber klangen lärmende Stimmen und lautes Gelächter – Reichardt stand bewegungslos wie eine Statue, auf den am Boden liegenden Mann blickend. Plötzlich aber schien das volle Bewußtsein dessen, was geschehen, über ihn zu kommen. Sein Gesicht wurde leichenbleich, und das Messer entfiel seiner Hand. „Er hat es selbst gethan, er selbst!“ preßte es sich in heiserem Tone aus seiner Brust. Da fühlte er seine Schulter berührt und fuhr in einem Schrecken, der alle seine Glieder durchzuckte, auf. „Machen Sie, daß Sie fortkommen, Sir,“ hörte er, „ich habe gesehen, wie Alles gekommen ist, aber des schwarzen Mannes Zeugniß gilt so viel als nichts, und Sie werden als Fremder einen bösen Stand haben!“
„Ich hab’s nicht gethan – aber fort, fort, es ist wahr!“ rief der Deutsche, wie von Entsetzen gepackt einen neuen Blick auf den regungslosen Körper werfend. „Helft mir, Bob, helft mir, ich zahle’s Euch gut!“ wandte er sich dann hastig an den Neger. „Schließt die Thür hier und holt meinen Koffer und Violinkasten von Nr. 5. Es ist ein kurzer Weg, um das Gepäck bis zum Flusse zu schaffen, und ich finde sicher ein Boot, das mich mit fortnimmt!“ Er riß sein Portemonnaie aus der Tasche und griff von den beiden Zehndollars-Goldstücken, welche er neben einigem Papiergelde noch besaß, eins heraus und reichte es mit fliegender Hand dem Schwarzen.
„Es wäre schon recht, Sir,“ erwiderte dieser ängstlich mit der Hand zuckend, als dürfe er das Gebotene nicht berühren, „ich kann aber nicht so weit vom Hause weg, ohne vermißt zu werden, und es muß doch auch für den Gentleman hier gesorgt sein – zwei Straßen von hier hält eine Reihe Miethkutschen, bis dahin wollte ich das Gepäck wohl schaffen –“
„Gut, Bob, also bis dahin – Ihr findet dort mich und Euere zehn Dollars!“
Reichardt sah noch, wie der Schwarze die Gasflamme ausdrehte, und hatte dann im fliegenden Schritte das Haus verlassen, den Weg nach der bezeichneten Ecke einschlagend. In seinem Kopfe begann es wirr rundum zu gehen. Nur hier und da noch fiel aus einem der Verkaufslocale ein Schein auf die dunkle Straße, und fast hätte er die kleine Zahl der noch bereit stehenden Wagen passirt, ohne sie zu bemerken. Er stellte sich dicht am Ende des letzten auf und ließ den Blick scharf nach dem Hotel hinabschweifen. In dem erwarteten Schwarzen concentrirten sich im Augenblicke die wenigen Gedanken, welche er noch fassen konnte. Daneben aber schwirrten dunkele Bilder, der vollbrachte Mord, die mögliche Entdeckung, seine Gefangennahme und hülflose Lage im fremden Lande, vor seiner Seele, ohne indessen zur bestimmten Form gelangen zu können, und erst als er eine breite Gestalt mit einer Last auf der Schulter vom Fußwege herüberbiegen sah, war er im Stande, sich der peinigenden Vorstellungen zu entschlagen.
„Hier, Bob!“ rief er, und der Herankommende folgte der Weisung. – „Nur rasch, damit ich nicht vermißt werde!“ flüsterte dieser, den Koffer nach dem Kutschersitz hinaufreichend, und kaum hatte ihm Reichardt den versprochenen Lohn in die Hand gedrückt, als er auch schon im Schatten der Wagenreihe wieder verschwunden war.
„Wohin, Sir?“ fragte der Kutscher, als Reichardt in das Gefährt sprang.
„Nach der Levee – aber schnell. Es können kaum mehr als fünf Minuten bis zum Abgange des Bootes sein!“
„Welches Boot, Sir?“ war die neue Frage, während die Peitsche auf die Pferde fiel.
„Die Mary Brown!“ entgegnete der Deutsche, um nur einen Namen zu nennen, und der Wagen rasselte vorwärts.
Erst als die erleuchteten Dampfschiffe vom Flusse heraufschimmerten und der Wagen hielt, fuhr er aus seinen Gedanken auf, „Hier ist das Boot,“ rief der Kutscher zur Erde springend, „Sie haben nicht viel Zeit zu verlieren!“ Er hatte die Zügel zurückgeworfen, den Koffer erfaßt und eilte mit diesem einem großen Fahrzeuge zu, das bereits in dicken Wolken den Rauch von sich blies. Reichardt hatte mechanisch den Wagen verlassen und blickte auf – – – es war wirklich die Mary Brown, wie die riesige, matt beschienene Inschrift auswies, und mit einer Empfindung, als thue sich plötzlich ein sicheres Asyl vor ihm auf, eilte er seinem Gepäck nach und sprang an Bord. Er hatte kaum den Kutscher bezahlt, als das Boot schon sich aus der Reihe der übrigen Fahrzeuge zu schieben begann, und mit einem Gefühle unendlicher Erleichterung sah er das Ufer sich weiter und weiter entfernen, bis das Boot sich endlich dem Laufe des Stromes nach drehte und bald die letzten Lichter der großen Stadt in der Dunkelheit verschwanden.
Jetzt erst stieg er die Treppe nach dem Salon hinauf; kaum hatte er sich aber von dort nach der Office gewandt, als er seinen Arm gefaßt fühlte. „Was der Donner!“ hörte er, „meinen Sie, wir haben wieder Nebel zu erwarten?“ und das gutgelaunte Gesicht des Capitains sah ihm beim Umblicken entgegen.
„Hoffe es nicht, Sir!“ erwiderte er die ihm entgegengestreckte Hand schüttelnd, „möchte nur ein Stückchen Wegs mit Ihnen wieder zurückgehen!“
„All right, Sie sind zu jeder Zeit als Gast auf der „Mary Brown“ willkommen, Sir, wissen das, Sir,“ war die freundliche Antwort’ „es ist noch keine halbe Stunde her, daß wir von Ihrer Mordsfiedel sprachen – wo ist sie? müssen sie gleich einmal herbeiholen!“
Reichardt hatte in diesem Augenblicke ein Gefühl, als habe ihm Jemand einen Schlag gegen den Kopf versetzt. Die Violine – wo war sie? Jetzt erst entsann er sich, daß er weder beim Aufladen seines Gepäcks, noch beim Abladen desselben etwas davon bemerkt. Was bisher überall seine erste Sorge gewesen, hatte er in der Verwirrung seiner Gedanken aus dem Auge gelassen.
„Einen Moment, Capt’n!“ rief er, „Sie mahnen mich da an eine entsetzliche Nachlässigkeit!“ Er eilte die Treppe hinab, wo sein Gepäck niedergesetzt war; aber außer seinem Koffer war keine Spur von einem anderen Stücke zu entdecken. Die Zähne auf die Unterlippe gebissen sah er in die Nacht hinaus und strebte, sich jede Minute, seit er das Hotel verlassen, wieder zurückzurufen – es war schon richtig, der Neger hatte nur den Koffer nach dem Wagen gebracht, hatte jedenfalls in seiner Eile sich nach weitern Effecten in dem Zimmer gar nicht umgesehen. Der Verlust an und und für sich war in der Lage des jungen Mannes schon von Bedeutung. Ein noch erhöhtes Gewicht aber erhielt er dadurch, daß in dem Innern des Deckels Reichardt’s voller Name verzeichnet und so der beste Anhalt für seine Verfolgung geboten war. Mußte doch auch das Zurücklassen des Instruments an sich schon auf eine übereilte Abreise deuten und den ersten Verdacht auf ihn lenken.
Mit gesenktem Kopfe nahm er seinen Weg wieder nach den obern Räumen und war froh, dem Capitain nicht gleich wieder zu begegnen.
Blätter und Blüthen.
Die Deutschen in Amerika und die jetzige Krisis. St. Louis, 6. Mai. Das was bei Euch im Vaterlande am meisten interessiren muß, die Betheiligung des deutschen Elements an dem großen Kampfe, ist in den meisten Berichten nur oberflächlich angedeutet – und doch ist der Ausgang dieses Kampfes eine wahre Lebensfrage für die amerikanisch-deutsche Bevölkerung; entweder erhält sie dadurch eine Stellung neben dem eingeborenen Elemente, die nicht nur der Form, sondern auch dem innersten Wesen nach gleichberechtigt und so anerkannt ist, als sie nur dem echten Patrioten gebührt – oder sie muß mit dem Untergange der Union zu einem recht- und heimathlosen Bevölkerungstheile werden, auf dessen Nacken der Sieger seinen Fuß setzt.
Um eine klare Einsicht in die Ursachen der jetzigen Ereignisse zu erlangen, ist ein kurzer Rückblick nothwendig, bei dem ich mich indessen nur auf die äußersten Außenlinien beschränken werde. Ist auch das Grundübel, dem alle übrigen entsprungen, das Institut der schwarzen Sklaverei, so hat dieses dennoch durchaus keinen directen Antheil an dem gegenwärtigen Hader, und Alles, was im Gegentheile seitens der südlichen Staaten zu ihrer Rechtfertigung angeführt wird, ist purer Vorwand.
Bis zum Jahre 1852 war in der amerikanischen Politik von keiner nennenswerthen Partei, welche irgend eine bestimmte Maßregel gegen die Sklaverei in ihr Programm aufgenommen hätte, die Rede, und die wenigen damals existirenden Abolitionisten oder Sklaverei-Abschaffer wurden meist als hirnlose Idealisten verlacht. Die Whigs und Demokraten, die man vielleicht als die aristokratische und Volkspartei bezeichnen könnte, liefen in ihren Ansichten nur in Maßregeln innerer Verwaltung auseinander, und selbst die zum Oefteren aufgeworfene Frage, ob neu gebildete Staaten als Sclavenstaaten in die Union gelassen werden sollten, welche zu mehrern Malen Stürme im Congresse hervorrief, trug keine bestimmte Parteifärbung. Erst als bei der Präsidentenwahl 1852 die Partei der Whigs an der Haltlosigkeit ihres Programms zu Grunde ging, entstand aus allen mit der herrschenden demokratischen Partei unzufriedenen Elementen eine Partei, die der Republikaner, welche sich, zur Vereinigung der ganzen Mischung, aus der einen sogenannten Test-Frage vereinigte: Widerstand gegen jede Ausbreitung der Sklaverei auf die noch nicht zu Staaten reifen Territorien.
Die demokratische Partei setzte diesem Programm den Grundsatz der Volkssouveränetät und Selbstregierung entgegen, so daß jeder sich bildende neue Staat selbst zu bestimmen habe, ob Sklaverei in ihm erlaubt sein solle oder nicht – freilich legte jeder Demokrat diesem nie völlig erklärten Grundsatze, dessen Wesen besonders in Bezug auf die Territorien dunkel ist, seine eigene Meinung unter, und die Ansichten darüber schattirten vom südlichen „Feuerfresser“, der sein schwarzes Eigenthum auf jedem Fleck freier Erde von Amerika geschützt sehen wollte, bis zum ehrlichen Rechtsmann, der dem Süden kein Unrecht geschehen lassen, aber auch das, was freier Boden war, nicht versklavt sehen mochte.
Die Deutschen, von dem nativistischen, aristokratischen Geiste abgestoßen, welcher sich in Verbindung mit dem frömmelnden Amerikanerthum in der neuen Partei geltend machte, hatten sich zum Haupttheile den Demokraten angeschlossen, und erst das beginnende schamlose Treiben der demokratischen Parteiführer, die in allen Zweigen der Verwaltung durch die lange Gewohnheit des Herrschens eingerissene Corruption, die öffentlich begangenen geduldeten Diebstähle, die unverdeckten Bestechungen und Verschleuderungen zum Besten einzelner Parteihäupter trieben in den letzten sechs Jahren einen großen Theil der Deutschen zu den Republikanern, und bald begann sich in dieser Partei durch das neu hinzutretende Element ein ganz anderer, kritischer, echt freiheitlicher Geist geltend zu machen, der, wenn auch anfänglich nicht anerkannt, ja sogar angefeindet, sich dennoch immer weitern Durchbruch schuf.
Die Südländer, welche als geschlossene und Hauptmacht der demokratischen Partei die größten und einträglichsten Aemter stets für sich nahmen, alle Gesandtschaftsposten besetzten und mit ihren Söhnen die besten Plätze in der Armee und Marine füllten, die mit einem Worte sich als erbliche Inhaber der Gewalt und der „Beute“ betrachteten, sahen plötzlich die junge feindliche Partei zu einer Kraft heranwachsen, die ihnen drohte, nicht allein die Sklaverei als Hauptgrundlage der Union zu negiren und die Sklavenhalter in ihre Schranken zurückzuweisen, sondern ihnen einstens auch die Herrschaft über das Land sammt den fetten Profiten aus der Hand zu winden, und bereits in den Jahren 54–56 bildete sich unter den Staatsmännern des Südens ein geheimes Einverständniß, die gesammten Sclavenstaaten aus der Union zu sprengen und zu einem selbstständigsn Staatenverbande zu vereinen, sobald die republikanische Partei jemals ans Ruder gelangen sollte. Damals war der Chef des jetzt gebildeten Südenbundes, J. Davis, Kriegsminister im Cabinet des Präsidenten Pierce, und von hier an läßt sich bereits ein ganzes bis jetzt verfolgtes System entdecken, den Süden durch Waffenvorräthe für eintretende Fälle zu stärken, die Vereinigte Staaten-Regierung aber durch Verfallenlassen der Kriegsflotte und der einzelnen Forts möglichst hülflos zu machen. Das letzte Glied in dieser Kette südlicher Machinationen bildete der des Betrugs und Diebstahls angeklagte Kriegsminister Floyd, in Buchanan’s Cabinet.
Bereits bei der Präsidentenwahl 1856 zeigte die republikanische Partei, daß sie zum furchtbaren Gegner der Demokratie geworden, und die Administration den knapp erwählten demokratischen Präsidenten Buchanan, welcher sich völlig dem Süden verkauft zu haben schien, trieb noch jeden einigermaßen rechtlichen und denkenden Menschen im Norden aus dem demokratischen Parteiverbande. Was nicht geradezu Republikaner wurde, schloß sich Buchanan’s erbittertem Gegner, Douglas, welcher, selbst Demokrat, die Schandwirthschaft innerhalb der Partei bekämpfte, an, und mit dieser Zersplitterung war der Sieg der republikanischen Partei im Jahre 1860 gesichert, war aber auch für die südlichen Parteiführer der Zeitpunkt herangekommen, ihren lang vorbereiteten Plan der Trennung auszuführen. Sie wußten, daß noch ein großer Bevölkerungstheil mit demokratischer Gesinnung im Norden bestand, und rechneten so auf einen getheilten Norden einem festvereinigten Süden gegenüber. Süd-Carolina begann bei Erwählung des republikanischen Präsidenten Lincoln den Austritt zuerst, auf die sofortige Nachfolge der übrigen Sclavenstaaten zählend; aber nur der kleinere Theil derselben schloß sich an. Die an den freien Norden grenzenden Südstaaten bedachten wohl, daß ihnen bei einer Trennung ihre sämmtlichen Sklaven über die Grenze laufen könnten, ohne daß eine Möglichkeit der Wieder-Erlangung bleibe, und temporisirten. Die republikanische Regierung aber trat mit einer so unerwarteten Mäßigung auf, verbürgte dem Süden so jedes ihm zustehende Recht, daß sie sofort die Herzen aller nördlichen Demokraten gewann, welche ohnedies durch die im Süden wüthende Pöbelherrschaft mit jedem Tage mehr ihren frühern Parteigenossen entfremdet wurden. Und als Lincoln zur Durchführung der Gesetze und Erhaltung der Union notgedrungen die nördliche Miliz aufrief, da zeigte sich ein Schauspiel, wie es die amerikanische Revolution, wie es die Erhebung des preußischen Volks 1813 nicht in dieser Großartigkeit geboten hatte. Jeder Parteiunterschied war plötzlich verwischt, „die Union“ war das einzige Losungs- und Erkennungswort; was die Waffen tragen konnte, reihete sich zu Regimentern; Geld zur Unterstützung der Regierung floß aus den Banken millionenweise. Jede große Stadt ward ein Armeen speiender Schlund, und selbst der kleinste Ort stellte seine Compagnie – das Blatt hatte sich gewandt: ein großartig vereinigter Norden und ein getheilter Süden stehen sich einander gegenüber – auf der einen Seite ein Volk, tief durchdrungen und begeistert von der Nothwendigkeit, das große Asyl der Freiheit, welches Gott der Menschheit nach langem Kampfe gewährt zu haben scheint, ungeschmälert und unangetastet zu erhalten – auf der andern Seite eine Anzahl herrschgieriger Parteimänner, welche die Gewalt sich nicht entreißen lassen wollen, ihre Staaten durch fanatisirte Pöbelhaufen in Schrecken halten und ihres Selbst-Interesses wegen das heilige Vermächtniß ihrer Väter zu zertrümmern gedenken.
Und bei dieser gewaltigen Erhebung des Nordens waren die Deutschen es vor Allen, welche ein wahrhaft elektrisirenden Beispiel von Patriotismus gaben. Geschäft, Handwerk und Kunst wurden überall verlassen, die Familien der Fürsorge der städtischen Behörden anvertraut; der 48er Geist in seinem ganzen Aufflammen schien in jeder Seele, in jedem Arme wieder lebendig geworden zu sein – und die Amerikaner starrten verwunderten Auges, bis auch der kälteste knownothing von diesem Aufgeben aller Rücksichten um des neuen Vaterlandes willen zur Anerkennung mit fortgerissen wurde und die amerikanischen fremdenfeindlichen Zeitungen einen einstimmigen Hymnus zum Preise ihrer deutschen Adoptiv-Brüder anstimmten.
Noch ist, während ich dies schreibe, der eigentliche Kampf nicht entbrannt, nur Truppenmärsche, Aufstellungen und Besetzungen von wichtigen Positionen werden als Vorspiel des heranziehenden Gewitters gemeldet, aber Jeder weiß, daß die deutschen Regimenter, deren Mitglieder fast sämmtlich gediente Soldaten sind und in Baden, der Pfalz, Ungarn und Schleswig-Holstein bereits Pulver gerochen haben, zu den zuverlässigsten Truppenkörpern der entfalteten Macht gehören. Wird der Kampf für die Union siegreich ausgefochten, dann haben sich die Deutschen ihre Stellung für immer erobert – sollte aber die Union zertrümmert werden, dann werden sie auch um so mehr das Märtyrerthum für die gute Sache zu erleiden haben.
Von einzelnen Namen und interessanten Daten, wie sie mir zu sammeln möglich wurden, gebe ich nun das Folgende. Oberst Blenker (aus der badischen Revolution bekannt) hat in New-York zwei Jäger-Regimenter gebildet – Carl Schurz, der vorläufig die Madrider Gesandtenstelle an den Nagel gehangen, organisirt ein Cavallerie-Regiment in Minnesota – Struve wollte bei einem der deutschen Regimenter als Gemeiner eintreten, wurde aber sogleich zum Ehren-Capitain ernannt – Willich ist Adjutant bei einem Cincinnatier Truppen-Corps – A. Baudissin, schleswig-holstein’schen Andenkens, hat eine Compagnie seiner eigenen Landsleute zusammengebracht – Brickel, Commandeur der badischen Artillerie 1849, hat ein Artilleriecorps mit 4 Sechspfündern und 2 Haubitzen in’s Leben gerufen – Hecker organisirt im südlichen Illinois die Heimathswehr – Duysing (früher in kurhessischen Diensten) commandirt ein deutsches Zouaven-Regiment – Fach, 48er Andenkens, hat ein Artillerie-Regiment, in welchem der Theater-Schriftsteller Max Cohnheim als Officier dient – ein anderes Artilleriecorps hat ein früherer nassau’scher Officier, Hartmann, errichtet– ein Turner-Schützen-Regiment hat sich aus 21 östlichen Städten gebildet und dem bekannten 49er General Sigel das Commando angeboten; dieser aber commandirt bereits ein deutsches Regiment in St. Louis und ist zweiter Commandant des dasigen Arsenals. Auch die deutsche Kunst ist überall vertreten: Bergmann und Noll, zwei der anerkanntesten Musikdirectoren, thun Signal-Hornisten-Dienste – der Sänger Gilsa commandirt ein deutschen Jäger-Regiment – der Theaterdirector Hoym in New-York ist Officier bei den Turnerschützen und der Theaterdirector Börnstein in St. Louis Oberst eines Rifle-Regiments, während die sämmtlichen jungen Schauspieler seiner frühern Truppe unter ihm dienen – die Gesangvereine Teutonia und Germania in New-York bilden ein Schutzcorps (den ins Feld ziehenden Mitgliedern dieser Vereine wurde beim Abschiedsfest eine Stimmgabel geschenkt, damit sie trotz des Schlachtengetöses den richtigen Ton anschlagen können). Deutsche Frauenvereine zur Pflege der Verwundeten schießen wie Pilze aus der Erde, und Aerzte, ja sogar Hebammen bieten ihre unentgeltlichen Dienste den zurückbleibenden deutschen Familien an.
Viele bekannte Namen mögen noch unter der Masse stecken und kommen in der allgemeinen, gewaltigen Aufregung nicht vor die Oeffentlichkeit; die obigen Angaben schon werden aber wenigstens eine entfernte Idee des Geistes geben, welcher das ganze amerikanische Deutschthum durchdringt.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Original: einholt