Die Gartenlaube (1861)/Heft 33

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 33.   1861.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Ein Deutscher.

Roman aus der amerikanischen Gesellschaft.
Von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)

Die Straße war völlig menschenleer, als Reichardt und Meißner ihr Ziel erreichten, und Letzterer, der mit einem Entschlusse fertig geworden zu sein schien, begann ohne Zögen, an einer der großen Thüren zu pochen; aber nur ein lautes gewaltiges Bellen antwortete. „Ob uns das Vieh nicht einen Strich durch die Rechnung machen wird?“ sagte der Kupferschmied, sich umkehrend; „es ist wie ein Wolf bei Nacht und will nur den Porter, der mit ihm schläft, kennen.“

„Ich meine doch, mich sollte der Kerl noch kennen,“ erwiderte Reichardt herantretend; „vor weiterem Pochen aber lassen Sie mich eine Untersuchung anstellen: ist der Porter zu Hause, so muß der Schlüssel innen stecken!“ Er wandte sich nach der nächsten Thüre, welche den gewöhnlichen Eingang bildete, öffnete sein Taschenmesser und schob dieses in das Schloß: wie überrascht aber wandte er sich wieder zurück. „Die Thür ist offen, Meißner,“ sagte er halblaut, „aber kein Schlüssel da!“

„Richtig, wieder einmal eine Lumpenwirthschaft!“ versetzte dieser herzutretend, „warum wollen die Herren keinen gewissenhaften Deutschen nehmen und stellen einen liederlichen Irischen herein! Der Mensch ist mit einem halben Stiche weggegangen und hat vergessen zu schließen!“ Er versuchte die Thür aufzudrücken, aber ein grimmiges Knurren dahinter ließ ihn davon abstehen. „Ohne Spectakel wird’s schwerlich abgehen,“ fuhr er bedenklich fort, „und die Polizei ist niemals weit von hier.“

„Lassen Sie mich nur,“ gab Reichardt, die Thür fassend, zurück. Down. Watch!“ rief er in kurzem, bestimmtem Tone, und das Knurren verstummte; er öffnete vorsichtig den Eingang, aber kurz vor ihm blickten ihm zwei glühende Augen aus der Dunkelheit entgegen, und ein neues bissiges Knurren schien ihn zu warnen. Nach einem eigenthümlichen Fingerschnipp und zwei schmeichelnden Worten des Eintretenden schien das Thier indessen unsicher zu werden; ein zweifelndes, unzufriedenes Brummen ließ sich hören, und als Reichardt es in bestimmter Weise lockte, kam es vorsichtig schnüffelnd heran, um indessen nach wenigen Secunden der Untersuchung eine Art freudiges Winseln hören zu lassen und den jungen Mann zu umspringen. Nur mit Mühe erwehrte sich dieser der Erkennungsliebkosungen des ungeschlachten Thieres, wandte sich dann aber, diesem die Ohren krauend, nach dem hintern Theile des Raums. „Jetzt, Meißner, rasch den Brief,“ rief er, „ich beschäftige den Hund so lange, und werden wir überrascht, so haben wir nachsehen wollen, weshalb die Thür hier offen gewesen ist!“

All right, Sir!“ rief der Kupferschmied halblaut zurück und eilte die Treppe nach der Office hinauf; der Hund hob bei dem Laute den Kopf und wurde unruhig; ein Ruf Reichardt’s aber, welcher den Raum unter der Treppe öffnete und auf das Bett klopfte, brachte ihn schnell zu dem willkommenen Lager. Nach kaum drei Minuten schon klangen Meißner’s zurückkehrende Tritte, die jedenfalls leise sein sollten, obgleich jede Treppenstufe darunter krachte; noch einmal hatte der Wartende das aufmerksame Thier zu beruhigen, und folgte dann rasch dem Gefährten, der ihn mit einem: „Teufelsgeschichte das! aber Alles in Ordnung!“ empfing, dann aber nach einem Rückblicke auf die unverschlossene Thür halblachend hinzusetzte: „Der Hund ist wahrlich das beste Schloß, ich will an den Kerl denken!“

Reichardt antwortete nicht und ging nur mit starken Schritten dem nächsten, noch erleuchteten Bierlocale zu, wandte sich hier nach dem unbesuchtesten Theile des Raums und nahm mit sichtlicher Ungeduld den erbeuteten Brief aus des Kupferschmieds Hand. Sich auf einen Stuhl werfend, begann er langsam, als wolle er jedes Wort erwägen, die Durchsicht, während des Kupferschmieds Augen an seinen Zügen hingen; ehe aber noch die späten Gäste von den Anwesenden recht bemerkt worden waren, hatte sich der Lesende schon wieder erhoben, nickte dem Gefährten mit einem eigenthümlich glänzenden Blicke zu und schritt, von diesem gefolgt, wieder zur Thür hinaus. „Es sind noch viel bestimmtere Dinge hier, Meißner, als Sie haben herauslesen können,“ sagte er, als Beide die Straße wieder betreten hatten, in hörbarer Aufregung, „und der alte Black muß einen sehr ergebenen Freund haben, um solche Mittheilungen zu erhalten; jedenfalls haben Sie heute Abend den gescheidtesten Streich Ihres ganzen Lebens ausgeführt – und nun vorwärts, vielleicht ist bei Frosts noch Jemand wach!“

„Wird ziemlich Eins werden, ehe wir dorthin kommen!“ brummte der Kupferschmied, nach seiner Uhr sehend.

„Hilft nichts, Meißner, Sie müssen die Nacht mit durch machen!“ war die von rascherem Schritte begleitete Antwort, „wer weiß, ob Sie nicht irgend eine Art Zeugniß abzulegen haben!“

„Der Bill ist immer da, Sir!“ erwiderte der Andere wie in verletzter Würde, „glauben Sie aber, man hat in Aussicht auf eine trockene Nacht keinen Durst, daß Sie sich nicht einmal Zeit zu einem Glase Bier nehmen?“

Reichardt wandte den Blick vorwärts. „Dort winkt noch ein Stern,“ sagte er, nach einer einsamen bunten Laterne an der matterleuchteten Häuserreihe zeigend, „nehmen Sie aber da gleich Vorrath!“

[514] „Ohne Sorge, Sir, sobald der Mensch nur weiß, was ihm bevorsteht.“

Es war wirklich schon eine halbe Stunde über zwölf, als die beiden jungen Männer den Weg nach dem entfernten fashionablen Stadttheile zurückgelegt hatten, und kein einiges Fenster in Frost’s Hause zeigte noch einen Lichtschimmer. Ohne indessen lange zu zögern, zog Reichardt kräftig die Klingel, mußte dies aber noch einige Male wiederholen, ehe sich in dem meist zu Dienstboten Wohnungen benutzten Unterbau des Hauses ein Fenster öffnete. „Wecken Sie sogleich den jungen Mr. Frost,“ sagte der Außenstehende in bestimmter Weise, „geben Sie ihm hier meine Karte und melden Sie, daß ich in dringenden geschäftlichen Angelegenheiten komme! “

„Mr. John Frost ist noch nicht zu Haus!“ klang es zurück.

„So wecken Sie den alten Herrn!“ rief Reichardt ungeduldig.

„Ich weiß nicht, ob ich darf, Sir!“ war die Antwort; eine Stimme aus dem Innern aber schien die Bedenklichkeiten des Sprechenden zu beseitigen, ehe der Angekommene zu einer neuen Antwort gelangt war. Das Fenster schloß sich; eine lange Weile aber verstrich, während Reichardt ungeduldig den kalten Vorplatz stampfte und mehr als einmal sich versucht fühlte, von Neuem die Klingel zu ziehen – der Kupferschmied aber, sich die Häuser im Laternenschein betrachtend, langsam auf dem Seitenwege spazieren ging – ehe sich die Thür aufthat und ein Gesicht sich vorsichtig herausstreckte. „Sind Sie allein, Sir?“ klang es; Meißner aber, welcher beim Oeffnen der Thür herangekommen war, nahm dem Befragten, der nicht sogleich zu wissen schien, was zu erwidern, die Antwort ab. „’s ist nur eine ganz vernünftige Vorsicht,“ rief er, „gehen Sie allein, Reichardt, und lassen Sie mich nur bald wissen, ob ich nothwendig bin!“

Reichardt schlüpfte kopfschüttelnd in das Haus; nach wenigen Minuten aber schon ward auch sein Begleiter von seinem Spaziergang abgerufen, und eine halbe Stunde später trat der Erstere allein wieder heraus, raschen Schritts durch die kalten Straßen den Heimweg suchend.

Reichardt verbrachte fast den ganzen Rest der Nacht ohne Schlaf in seinem Bette. Der alte Frost hatte nach der ersten Erregung, welche seine Mittheilung hervorgerufen, ihn mit einer Herzlichkeit behandelt, die ihm trotz des Dankgefühls, welches den alten Handelsherrn bewegen mochte, doch zu weit gegen seinen „jüngsten Clerk“ zu gehen schien, und die, so wohl sie ihm im Augenblicke, besonders in Gegenwart des Kupferschmieds, auch gethan hatte, doch jetzt von Neuem einen harten Kampf in ihm hervorrief. Er hatte Frost’s Vertrauen, von welchem John so Mancherlei wissen wollte, gerechtfertigt – was konnte ihm aber diese einfache Pflichterfüllung in seinen innern Kämpfen helfen? blieb er denn nicht trotzdem immer der, der er war? Fast erschien ihm die Gelegenheit, bei Fonsride’s Concerttruppe anzukommen, wie ein Rettungsanker vor der Versuchung, in seinen jetzigen Verhältnissen zu bleiben, die er immer mächtiger wiederkehren fühlte, sobald Margaret’s Züge neben des alten Frost’s wohlwollendem Gesichte und John’s launigen Mienen vor ihm aufstiegen; er begriff, daß nur ein männlicher, starker Entschluß ihn aus diesem Zwiste mit sich selbst, aus der immer wiederkehrenden Selbstqual reißen konnte – und als gegen Morgen endlich der Schlaf über ihn kam, stand es fest in ihm, schon am nächsten Tage seinen Austritt aus dem Geschäfte anzuzeigen.

Es war schon fast Mittag am nächsten Tage, und noch saß Reichardt allein im Cassenzimmer. Kurz nach seinem Eintritte hatte ihm einer der übrigen Clerks die Cassenschlüssel mit der Ordre überbracht, Bell’s Stelle während des Morgens zu versehen; aber auch weder von John noch von dessen Vater hatte sich etwas erblicken lassen. Reichardt fühlte sich so müde und abgespannt, daß er kaum einmal daran dachte, zu welchem Resultate wohl die Entdeckung des beabsichtigten Schwindels geführt haben möge; wohl versuchte er einige Male sich seinen Arbeiten zuzuwenden, aber seine Gedanken drehten sich nur immer um sein heutiges Ausscheiden und seine nächste Zukunft. Er war nicht nur völlig mit sich einig, sondern fühlte auch eine Ruhe, als liege Alles, was in ihm einer Erregung fähig war, erschlafft danieder.

Gegen Mittag endlich hörte er John’s rasche Tritte im vordern Zimmer und sah ihn gleich darauf bei sich eintreten. „Wissen Sie wohl, Sir,“ sagte dieser, die Thür schließend, „daß Sie der böswilligste Mensch sind, den ich kenne?“ Reichardt sah überrascht auf und blickte in ein lachendes Gesicht, das sich vergebens zu bemühen schien, den Ausdruck des Ingrimms nachzuahmen. „Ja, thun Sie nur verwundert,“ fuhr der Sprecher fort; „gestern Abend will ich Sie besuchen, muß Sie in einer wichtigen Angelegenheit sehen, und gerade an diesem Abend sind Sie ausgegangen; ich gehe an die verschiedensten Orte, um Sie zu finden, bleibe zum ersten Male nach jenem Abend im Astorhause über ein Uhr aus; und gerade währenddem kommen Sie mit einer so wichtigen Sache in unser Haus, daß ich mich hätte prügeln mögen, nicht meinem alten Papa zur Hülfe an der Seite gewesen zu sein. Ist das nicht die reine Bosheit von Ihnen, Sir? – O Sie Hauptkerl, geben Sie mir einen Kuß, Reichardt!“ rief er plötzlich, wie in ausbrechender Empfindung, und faßte den Deutschen bei beiden Ohren.

„Ist schon Alles gesichert?“ fragte dieser, etwas befremdet von der eigenthümlichen Erregtheit des Andern, die ihm selbst die Rettung des großen Capitals nicht ganz erklären wollte.

„Gesichert? was? Ah, die Versicherungssumme!“ rief der Amerikaner mit einem leichten Erröthen; „ob mir nicht im Augenblicke etwas ganz Anderes durch die Gedanken ging! Glücklich gesichert, Sir! wir hätten aber wohl keine Stunde später kommen dürfen! Es müssen von den Schlauköpfen schon bedeutende Summen auf die Seite geschafft worden sein, nur der heutige Tag war jedenfalls bestimmt, die Insolvenz der Gesellschaft zu erklären. Was wir mit unserer Beschlagnahme erlangt haben, wird uns und auch wohl den alten Black decken, dessen Interesse wir, als einfachen Act der Gerechtigkeit, mit vertreten ließen, Johnson aber mit seiner Getreidespeculation, an der sich sein Buchhalter, glücklicherweise unter eigenem Namen, betheiligt hatte, wird mit verschiedenen Anderen einen harten Schlag erleiden. Wir können es nicht ändern; warum ist er stets überall, nur nicht in seiner Office! Jetzt aber zu Anderem! – Schon Mittag?“ fuhr er sich unterbrechend fort, als in dem vorderen Zimmer das Geräusch der sich erhebenden Clerks laut wurde, „desto besser, so sind wir ganz ungestört. Sie essen heute bei uns, Reichardt, was ich Ihnen hiermit an Stelle jeder formellen Einladung mittheilen will und nun lassen Sie es uns eine halbe Stunde in Vaters Zimmer bequem machen; er wird den ganzen Tag nicht hier sein – kommen Sie!“ und damit wandte er sich, dem Deutschen voran, nach dem angedeuteten Raume, den der Letztere bis jetzt nur einmal und damals mit so ganz anderen Gefühlen betreten hatte.

Reichardt war bei der Einladung zum Mittagstisch blaß geworden und zögerte einige Secunden, che er dem Voranschreitenden folgte. Er wußte, daß jetzt der Augenblick da war, um den Entschluß, der über seine nächste Zukunft entschied, zur That werden zu lassen.

Als er das hintere Zimmer betrat, kam ihm John, sich mit der einen Hand eine Cigarre anbrennend und mit der andern dem Eintretenden die offene Havannahkiste hinhaltend, entgegen, und fast nur mechanisch griff dieser in den Vorrath.

„Dort sind Zündhölzer!“ rief der Erstere, nach dem eleganten Feuerzeug deutend, und warf sich dann in einen der Divans, „jetzt setzen Sie sich hierher und hören zuerst eine Neuigkeit!“

„Ein Wort vorher, Mr. Frost,“ sagte Reichardt, und der Ton seiner Stimme verrieth den Druck, unter welchem er sprach, „ich werde kaum Ihrer Einladung zum Mittagstisch folgen können – und,“ fuhr er mit einem tiefen Athemzuge fort, „ich möchte gleich die Gelegenheit wahrnehmen, um Ihnen zu sagen, daß ich mich entschlossen habe, wieder zu meiner frühern Beschäftigung als Musiker zurück zu kehren. Es bietet sich mir gerade jetzt eine passende Chance dafür, und wenn Sie Mr. Frost bitten wollten, mich ohne jede weitere Frage, die mir aus mancherlei Gründen nur peinlich werden müßte, zu entlassen, so würden Sie mir einen Freundschaftsdienst erweisen, der mich Ihnen zu jedem Danke verpflichtete.“

John hatte sich langsam aufrecht gesetzt, seine Augen schienen mit jedem Worte des Sprechenden größer zu werden, bis er, als Reichardt geendet, diesen regungslos mit offenem Munde anstarrte. Plötzlich aber schnellte er in die Höhe und legte seine Hand auf des Andern Schulter. „Das ist doch unter allen Umständen nur ein toller Spaß, Sir!“ rief er, „und ich muß Ihnen sagen, daß es ein schlechter ist –“

„John, ich bitte Sie herzlich, machen Sie mir das, was geschehen muß, nicht noch schwerer,“ unterbrach ihn Reichardt fast [515] flehend, „ich spreche so ernst, wie vielleicht noch niemals in meinem Leben.“

„Es ist Ihr Ernst, daß Sie von uns wegwollen? jetzt gleich wegwollen?“ fragte der Erstere, langsam jedes Wort betonend, „und auch nicht einmal einen Grund dafür angeben wollen?“

„Habe ich Ihnen nicht gesagt, daß ich mein altes Geschäft wieder ergreifen möchte und soeben eine günstige Chance dafür habe –?“ erwiderte der Deutsche, aber vor John’s festem, klarem Blicke stockte seine Stimme.

„Sie haben es ja nicht gelernt, Flausen zu machen, eben so wenig als ich, Reichardt!“ sagte der Andere nach einer kurzen Pause. „Ich weiß, daß etwas Störendes in Ihrer Seele liegt, ich habe es in so Manchem, das Ihr Wesen zu einem ganz eigenthümlichen machte, wahrgenommen; aber Sie hatten mir versprochen, mein Freund zu sein, und so meinte ich immer, die Zeit werde kommen, wo ich Sie ganz verstehen würde. Ich weiß auch jetzt, daß Sie mit dem alten Bell auf einem Fuße gestanden haben, der Jedem das Geschäft hätte verleiden müssen – er hat es selbst in seiner steifen Ehrlichkeit heraus gesagt und auch seinen Versuch, Sie zum Kirchenmitgliede zu machen, nicht verschwiegen – Bell ist indessen seit heute Morgen beseitigt; er ist in der Marine-Bank zum Cassirer ernannt worden, ein Posten, nach dem er lange gestrebt – wahrscheinlich hat der Kircheneinfluß auch sein Bestes dabei gethan, und er wird endlich seine fromme Wirthin mit ihrem Grundbesitz heirathen. Wenn ich nun auch noch nicht weiß, was Vater beabsichtigt, so glaube ich doch kaum, daß nach dem, was Ihnen das Geschäft seit letzter Nacht schuldig ist, an einen neuen Cassirer gedacht werden wird –“

„Sie sagen da etwas, John, was Sie wohl kaum verantworten können,“ unterbrach ihn Reichardt, in dessen Gesicht das Blut aufstieg und wieder ging; „wäre es aber auch wirklich so, ich ginge doch – müßte gehen, John, und Sie sollen auch nicht vergebens mich an unsere Freundschaft erinnert haben. Mit der Stunde, in welcher ich New-York verlasse, wird mein Inneres klar vor Ihnen liegen, und Sie werden mir Gerechtigkeit widerfahren lassen, werden sagen: Er hatte Recht und er konnte nicht anders!“

In dem Blicke des jungen Amerikaners begann es plötzlich wie eine Art Verständniß aufzusteigen, sein Auge wurde größer und dunkler und mit eigenthümlicher Betonung, sagte er: „Sie wissen jedenfalls schon, daß Harriet Burton hier ist?“

„Harriet Burton?“ entgegnete der Deutsche, merkbar überrascht, „woher soll ich das wissen? Ihre Ankunft würde mir unter andern Umständen allerdings interessant sein – aber was habe ich jetzt mit ihr zu thun?“

John ließ den Blick lang und tief in dem Auge des Andern ruhen. „Reichardt,“ sagte er dann, während sein Ton weich wurde, „Sie erinnern sich vielleicht unseres ersten Gesprächs im Astorhause – fühlen Sie wirklich nichts für das Mädchen? Sagen Sie nur Ja oder Nein, ich weiß, Sie können nicht lügen!“

Einen Augenblick trat es wie eine Art Verwunderung in die Züge des Deutschen ; dann erwiderte er mit einem leichten Lächeln, das alle Gespanntheit aus seinem bisherigen Gesichtsausdruck zu nehmen schien: „Was ich einmal mit Bestimmtheit sage, John, das mögen Sie als sicher hinnehmen: Harriet ist ein vorzügliches Mädchen in jeder Beziehung, aber unsere Naturen passen zu einander wie Feuer zum Wasser, und ich würde mich nie mehr für sie interessiren können, als für jeden andern reichen Charakter.“

„Jedenfalls aber müssen Sie in einer bestimmten Beziehung zu ihr stehen,“ entgegnete der Andere, wie noch nicht völlig überzeugt, „denn trotz der Erneuerung meiner frühern, ziemlich speciellen Bekanntschaft mit ihr war ihre erste Frage nach Ihnen – Margaret hat ihr sicher von Ihren letzten Schicksalen Nachricht gegeben – und als ich Sie gestern noch spät aufsuchen wollte, geschah dies eben nur Harriet’s wegen: sie scheint mir so viel auf Sie zu geben, daß ich ein längeres Gespräch mit Ihnen haben wollte, ehe ich mich bestimmt gegen das Mädchen aussprach.“

„Jedes Gespräch über sie aber, das nicht einmal zu etwas führen könnte, wird unnöthig, sobald ich gehe,“ sagte Reichardt. „Glauben Sie mir doch, John, daß mir mein Entschluß einen langen, bittern Kampf gekostet hat, einen Kampf, den Sie noch völlig verstehen sollen, und so gewähren Sie mir doch den letzten Freundschaftsdienst, um den ich Sie gebeten, und erschweren Sie mir nicht durch andere Angelegenheiten einen Schritt, der der schwerste meines ganzen Lebens ist!“

„Aber –“ Der junge Amerikaner schlug sich mit der Faust auf den Schenkel, dann zündete er langsam die erloschene Cigarre wieder an, wanderte einige Male das Zimmer auf und ab und blieb dann vor dem Deutschen stehen. „Sie können nicht so formlos von hier weg, Reichardt,“ sagte er, „mögen auch Ihre Gründe sein, welche sie wollen. Ich muß erst meinen Vater davon benachrichtigen, und auf jeden Fall nehmen Sie Ihr Mittagsbrod mit uns. Sie werden sich den Mädchen gegenüber, die Sie erwarten, nicht zum auffälligen Sonderling machen wollen, denn ich hätte nicht einmal eine Erklärung für Ihr Ausbleiben. Ich werde mit meinem Vater sprechen, und das Uebrige findet sich nachher.“

Auf Reichardt’s Gesichte spiegelte sich ein Kampf der verschiedenartigsten Empfindungen, bald aber schien sich ein Entschluß daraus hervor zu ringen. „Ich werde kommen, Sir,“ versetzte er, „und wenn Sie jetzt hier bleiben, werde ich sogleich die Zeit benutzen, um mich umzukleiden.“

„Ich halte Sie nicht, wenn Sie nicht bleiben wollen,“ erwiderte John, während ein Ausdruck von Trauer in seinen Mienen aufstieg, „Sie wissen indessen, daß Sie bis drei Uhr Zeit haben!“

„Ich weiß es, aber es ist jedenfalls besser, wenn wir unser Gespräch enden. Ich habe Ihnen gesagt, John, daß Sie mich völlig verstehen werden, und so lassen Sie uns abbrechen.“ Der Redende hielt dem jungen Amerikaner die Hand hin, welche dieser schweigend, aber mit einem leisen Kopfschütteln drückte, und Jener verließ das Zimmer, den Weg nach seinem Boardinghause einschlagend.

Obwohl jetzt der erste, schwerste Schritt für sein Ausscheiden gethan war, so fühlte sich Reichardt fast noch beklommener als vorher. Er hatte in einer Art Trotz gegen seine eigenen Gefühle zugesagt, in Frost’s Hause zu sein, er hatte gemeint, daß die Gewißheit, Margaret zum letzten Male zu sehen und dann allen Kämpfen mit sich selbst entrückt zu sein, ihm die nöthige Sicherheit geben werde, daß Harriet’s Gegenwart ableitend auf seine Stimmung wirken würde. Als er sich jetzt aber das Bild der beiden Mädchen vor die Seele hielt, meinte er noch niemals die Tiefe seiner Liebe für Margaret so empfunden zu haben, wie in diesem Augenblicke, und es überkam ihn ein Bangen vor diesem letzten Begegnen mit ihr, das ihn noch jetzt hätte wortbrüchig werden lassen, wenn es nur irgendwie angänglich gewesen wäre. Erst als er die nöthige Toilette gemacht und, nach der Office zurückgekehrt, den jungen Frost nicht mehr anwesend fand, raffte er sich zu dem erforderlichen Muthe, seinen Entschluß fest und mit der rechten Ruhe durchzuführen, auf. Seine Erklärung dem alten Frost gegenüber, wenn sie nothwendig werden sollte, fürchtete er nicht: er wußte, daß er von diesem vielleicht mißverstanden werden konnte, aber nicht durch Fragen gequält werden würde.

Als es Zeit zum Gehen war, steckte er die Cassenschlüssel zu sich, sagte dem ältesten Clerk im vordern Zimmer, daß er binnen zwei Stunden wieder zurück sein werde, und bald hatte ihn ein Wagen der Pferde-Eisenbahn in die Nähe von Frost’s Haus gebracht. Dort wies ihn der öffnende Diener nach dem vordersten Zimmer, und von einem Sessel am Fenster sah er Margaret sich erheben und ihm langsam entgegentreten. Ein Blick durch den Raum hatte ihn überzeugt, daß er allein mit ihr war, und alle Selbstcontrole in sich aufrufend, sprach er die gewöhnlichen Worte der Begrüßung. Er hatte kaum dabei aufgesehen, aber der leise Klang ihrer Antwort ließ ihn den Blick heben. Das Mädchen stand seltsam bleich vor ihm, während doch ihr großes Auge still und dunkel auf ihm ruhte; nur zwei Secunden lang hingen Beider Blicke ineinander, Reichardt aber meinte darin eine halbe Welt voll Empfindungen in sich aufsteigen zu fühlen; ein Gedanke, keck und vermessen, durchfuhr sein Gehirn: ihr Hände zu fassen, ihr mit aller Gluth seines Herzens zu sagen, was in ihm lebte, was er für sie fühlte; er ging ja doch, was konnte ihm noch Schlimmeres werden? und dann hatte er doch einmal sein Herz geleert aber der Klang der ersten Worte, mit welchen sie ihn anredete, ließ ihn alle kühnen Entschlüsse vergessen.

„Sie wollen uns verlassen, Mr. Reichardt?“ begann sie.

„John sagt. er könne nicht mit Ihnen fertig werden, und hat einen Verdacht, daß Harriet’s Ankunft Sie zu Ihrem Entschlusse gebracht – Niemand weiß doch aber besser als ich, daß sie keinen Einfluß auf Sie übt, und so habe ich, da wir heute eine halbe Stunde später essen werden, auf Sie gewartet –“ sie stockte vor [516] dem Ausdrucke, der in des jungen Mannes Augen lebendig wurde, und ein leichtes Roth stieg in ihren bleichen Wangen auf.

„Miß Frost, ich weiß nicht, wie ich zu der Güte komme, mit der Sie mir begegnen,“ erwiderte er, ohne ein Beben der Erregung in seiner Stimme unterdrücken zu können, „ich bin der jüngste, vielleicht der unbedeutendste Clerk in Mr. Frost’s Geschäfte – was liegt daran, wenn ich gehe?“

Ihr Gesicht nahm einen Ausdruck von Ernst und Trauer an. „Und haben wir Ihnen denn nicht gezeigt, daß wir Sie mehr achten, als es Ihre augenblickliche Stellung vielleicht erforderte?“ erwiderte sie mit einem eigenthümlich tiefen Klang ihrer Stimme, „was ist es denn, was Sie von uns treibt? Ich weiß, daß Vater gern das Mögliche für Ihre Zufriedenstellung thun würde.“

„Aber es giebt eben halbe Unmöglichkeiten, Miß,“ sagte er, seinen Blick mit einer Art Trunkenheit, die ihn überkam, in ihr Auge versenkend; „seien Sie doch barmherzig und fragen Sie nicht länger,“ setzte er in zitterndem Tone hinzu, „ich muß ja gehen, Margaret – ich muß – ich muß!“

Wie ein Blitz leuchtete es bei seinen letzten Worten plötzlich in ihren Augen auf, ein tiefes Roth schoß in ihr Gesicht, dann aber wandte sie sich ab, und Reichardt wußte, daß er errathen war, daß er sich zu weit hatte hinreißen lassen und nun wohl völlig mißverstanden wurde – er hätte kaum gewußt, was im Augenblicke sagen, wenn nicht das Oeffnen der Thür ihn aus seiner momentanen Verlegenheit befreit hätte. Beider Augen wandten sich nach dem Geräusch, und den beiden Frost’s voran trat Harriet Burton in’s Zimmer. Ihr Gesicht war bleicher und magerer geworden, seit Reichardt sie zuletzt gesehen, aber das ruhige, helle Lächeln, das bei des jungen Mannes Erblicken, von einem leichten Roth begleitet, darin aufstieg, verlieh ihr einen wunderbaren Reiz. „Da ist er ja!“ sagte sie ohne alle Befangenheit auf ihn zutretend und ihm die Hand reichend; zugleich aber flog ihr Blick auch nach Margaret hinüber, dann auf Reichardt zurück, und ein Ausdruck von Verständniß begann sich in ihren Zügen geltend zu machen, der den Deutschen in neue Verlegenheit zu stürzen drohte.

„Sie bereiten mir durch Ihr Erscheinen eine Ueberraschung, Miß Burton, die ich für kaum möglich gehalten hätte,“ sagte er, nur um einige Worte zu sprechen.

„Und Sie haben, wie ich höre, eine desto unangenehmere für uns im Sinne!“ fiel sie lebhaft ein, „ich habe aber behauptet, daß hier jedenfalls nur ein Mißverständniß zu Grunde liegen könne, und habe mich vermessen, diesem auf die Spur zu kommen –“

„Lassen wir das Alles bis nach dem Essen und denken vorläufig nicht daran,“ unterbrach sie der alte Frost, „ich hoffe, ein offenes Wort zwischen Mr. Reichardt und mir wird seinen Zweck nicht verfehlen. Lassen Sie uns jetzt zu Tische gehen!“ Er wandte sich halb nach der Thür, und John eilte herbei, um einer der jungen Damen seinen Arm zu bieten. Wie ein halbscheuer Vogel aber kam Margaret herbeigeflattert, sich Harriet’s Arm bemächtigend und diese nach der Thür mit sich fortreißend. Reichardt aber fühlte einen schmerzenden Druck auf seiner Brust – sie hatte seine Begleitung vermeiden wollen.

„Recht artig von Margaret!“ sagte John, halb launig, halb verdrießlich dem Paare nachblickend, „very well, so müssen wir uns einander führen!“ Er fasste den Arm des Deutschen, mit diesem den Uebrigen folgend. „Ich bin schon halb ein glücklicher Mensch, Reichardt!“ flüsterte er in leiser Hast seinem Begleiter zu, „Harriet ist liebenswürdiger als je, und nun um Gotteswillen machen Sie uns keinen schwarzen Strich durch unsern heitern Tag!“

„Alles Glück, John!“ erwiderte der Angeredete nur, während sie in das Speisezimmer traten, und warf hier einen freien Blick umher. Margaret’s letzte Bewegung hatte ihm plötzlich eine Sicherheit und seinem Entschlusse eine Bestimmtheit gegeben, von denen er kaum wußte, wie sie entstanden.

Gestattete schon das Mahl bei seiner amerikanischen Natur und der Gegenwart des aufwartenden Dieners keine belebte Conversation, so schien doch auf der kleinen Gesellschaft noch ein besonderer Druck zu lasten. John hatte zwar einige Witzworte versucht, aber weder bei Harriet, welche das still neben einander sitzende andere junge Paar zu beobachten schien, noch bei dem alten Frost, der sich mehr als je in eigene Gedanken versunken zeigte, Anklang gefunden und endlich nach einem verdrießlichen Rundblick geschwiegen. In Reichardt war es wohl aufgestiegen, als solle er mit einigen Worten den Bann, der augenscheinlich nur seinethalber auf den Uebrigen lag, brechen, zugleich aber kam ihm dies in seiner gegenwärtigen Lage wieder als völlig unpassend vor, und schon nach kürzerer Zeit, als es wohl sonst geschah, erhob sich der Hausherr so schweigsam, als er sich gesetzt. Als aber jetzt Margaret seinem Beispiele folgte und Reichardt an ihrer Bewegung den wiederholten Plan sah, sich an Harriet anzuschließen, schoß es in diesem plötzlich wie ein schmerzlicher Grimm auf, der ihm hätte die Thränen in die Augen treiben können. John hatte sich indessen Harriet’s bereits bemächtigt, und wie in halber Scheu wandte sich die Zurückbleibende nach dem Deutschen.

„Dürfen Sie mir denn nicht noch einen freundlichen Blick gönnen, Miß?“ sagte dieser, langsam neben ihr das Zimmer verlassend, „es ist ja doch das letzte Mal, daß ich zu Ihnen rede!.“

Sie sah nicht auf und antwortete nicht, als sie aber in der Thür des vorderen Zimmers Harriet ihrer wartend erblickte, eilte sie von seiner Seite der Ersteren entgegen. Reichardt preßte die zitternden Lippen aufeinander und nickte dann kurz und bestimmt mit dem Kopfe.

Als er das vordere Zimmer betrat, sah er die Mädchen, von John begleitet, soeben durch eine Seitenthür verschwinden, und nur der alte Frost schien ihn zu erwarten. „Setzen Sie sich ein paar Minuten zu mir her, Sir,“ sagte der Letztere, einen Stuhl heran ziehend, „es ist wohl für uns Beide das Thunlichste, ohne weitere Zögerung zu sagen was zu sagen ist.“ Er ließ sich langsam auf einen der Lehnsessel nieder, und nicht ohne einen leichten Anflug von Beklommenheit setzte sich Reichardt ihm gegenüber.

„Ehe wir zur wirklichen Frage, die ich durch John’s Mittheilung kenne, gehen,“ fuhr der alte Handelsherr, sich zurücklehnend, fort, „muß ich einige Worte vorausschicken. Sie werden wahrgenommen haben, daß Ihr Eintritt in mein Geschäft in etwas eigenthümlicher Weise stattfand, daß er überhaupt nur erfolgte, weil ich Sie gern aus Ihrer damaligen Stellung in eine Ihren Wünschen entsprechende Lage versetzen wollte. Ich darf hier wohl auch hinzufügen, daß ich Sie von dem ersten Tage Ihres Eintritt an nicht wie jeden gewöhnlichen Clerk, später aber immer als den Freund meines Sohnes behandelt, daß ich Ihnen ein Vertrauen gezeigt habe, wie es sich ein junger Mann Ihres Alters bei so kurzer Anwesenheit im Geschäfte nicht leicht zu rühmen hat.“

Reichardt, etwas bleicher geworden, neigte sich zustimmend. „Well, Sir,“ fuhr der Sprechendee ruhig fort, „es gab natürlich Gründe für meine Handlungsweise. Ich hatte Sie in Saratoga nur einmal flüchtig gesehen und nur etwas von Ihrem Wesen und Ihrer Lage durch Margaret erfahren, hörte aber von Ihren spätern Schicksalen in Tennessee. Sie hatten es dort in der Hand, eins der wohlhabendsten, interessantesten Mädchen des Staates zu heirathen und schlugen es aus, durch Gründe bewogen, die auf einen hier zu Lande seltenen Charakter deuteten und eine Gesinnungsweise verriethen, auf welche wenigstens das Geld nie als Verführungsmittel wirken kann. Wie ich diese Gründe und überhaupt Ihren ganzen innern Menschen kennen lernte,“ sprach er weiter, ohne auf Reichardt’s sichtliche Ueberraschung zu achten, „sollen Sie hören. Sie hatten auf Ihrer Dampfbootfahrt nach St. Louis, in einer Art Dankgefühl gegen Harriet, einen Brief an diese begonnen und die Ergießungen Ihres Innern jeden Tag fortgesetzt, und wenn etwas zur Beruhigung des verletzten Gemüths des Mädchens beigetragen, wenn etwas dazu geholfen hat, sie die Tollheit ihres damals beabsichtigten Schrittes erkennen zu lassen, so sind es Ihre Zeilen gewesen. Erst einen Monat später vertraute sie meiner Tochter brieflich die ganze Angelegenheit und sandte die von ihnen empfangenen Blätter mit. Im nächstfolgenden Monate aber sah Margaret Sie die Straße fegen, und als sie Ihre damalige Stellung erfahren, gab sie mir Einsicht in Harriet’s Papiere und drang in mich, Sie auf irgend eine Weise Ihrer unwürdigen Lage zu entreißen.“

Er hielt einige Secunden inne, während sich in Reichardt’s Innerem die widerstreitendsten Empfindungen kreuzten und ihm nur das Eine klar war, daß nach diesen Eröffnungen seines Bleibens in dem Hause um so weniger sein könne.

(Fortsetzung folgt.)



[517]
Das Schmerzensasyl eines Dichters.

Zwischen Jena und Camburg, von beiden Städten gleich weit entfernt, erheben sich am linken Ufer der Saale kühn aufstrebende Felsen, von welchen herab drei Schlösser, grünende Wein- und Gartenanlagen und eine kleine Stadt dem Wanderer freundlich zuwinken. Wer dem Winke folgt, die Steile des Weges nicht scheuend, der betritt droben eine „geweihte Stätte“. Sie ist eine geweihte, wenn anders eine große geschichtliche Vergangenheit eine solche Weihe verleihen kann und wenn das Wort desjenigen wahr ist, der hier am Abend seines Lebens ein Asyl für die Wunden seines Herzens gefunden hat, das Wort Goethe’s, daß „die Stätte, die ein guter Mensch betrat, geweiht ist für alle Zeiten“.

Schloß und Stadt Dornburg an der Saale im Großherzogthum Weimar, das alte Kaiserpalatium, ist diese geweihte Stätte.

Das am 14. Juni 1828 zu Torgau erfolgte Hinscheiden seines

Schloß Dornburg.

hochedlen Herrn und genialen Freundes, des Großherzogs Karl August von Weimar, hatte Goethe, den schon Hochbetagten, so tiefschmerzlich berührt, daß er, um die Stätte der Trauer und die Vorbereitungen zu den fürstlichen Exequien zu fliehn, deren aufregenden Eindruck er nur zu sehr fürchten zu müssen glaubte, die weimarische Residenz verließ und sich am 7. Juli 1828 nach dem großherzoglichen Schlosse Dornburg begab. Und dort, in der Einsamkeit und ländlichen Abgeschlossenheit, an dem Herzen der Trösterin Natur, leitete er den wildanstürmenden Schmerzensquell in die ruhige Strömung philosophischer Resignation.

In der Betrachtung der Anmuth, eines solchen wahrhaften Luftorts verflüchtete sich allmählich der Schmerz des großen Mannes über das Dahinscheiden seines letzten geistesebenbürtigen Freundes – nachdem er 23 Jahr früher, im Maimond des Jahres 1805, schon dem ersten aus der schönen Fürsten- und Dichtertrias nachgeweint hatte – ein Schmerz, der für den nun ganz Vereinsamten so groß war, daß er nach seinem eignen Geständniß erst nach Verlauf von einigen in stillem Schmerzhinbrüten verlebten Tagen und Nächten sich in’s Freie wagte.

Hier arbeitete er an dem zweiten Theile des Faust, von hier datiren sich Briefe an Zelter, und hier schrieb er als Entgegnung auf die Zuschrift, durch welche die junge Großfürstin Marie Paulowna ihm ihre Theilnahme und Tröstung hatte versichern lassen, jenen Brief an den Kammerherrn Obersten von Beulwitz[1], in welchem wir folgende Beschreibung Dornburgs finden, die gleichsam als eine Apotheose dieses schönen Landsitzes gelten kann und die wir hier einzuschalten uns darum nicht versagen können.

„Da sah ich vor mir, auf schroffer Felskante, eine Reihe einzelner Schlösser hingestellt, in den verschiedensten Zeiten erbaut, zu den verschiedensten Zwecken errichtet. Hier, am nördlichen Ende, ein hohes, altes, unregelmäßig-weitläufiges Schloß, große Säle zu kaiserlichen Pfalztagen umschließend, nicht weniger genugsame Räume zu ritterlicher Wohnung; es ruht auf starken Mauern zu Schutz und Trutz. Dann folgen später hinzugesellte Gebäude, haushälterischer Benutzung des umherliegenden Feldbesitzes gewidmet. Die Augen an sich ziehend aber steht weiter südlich, auf dem solidesten Unterbau, ein heiteres Lustschloß neuerer Zeit, zu anständigster Hofhaltung und Genuß in günstiger Jahreszeit. Zurückkehrend hierauf an das südlichste Ende des steilen Abhanges, finde ich zuletzt das alte, nun auch mit dem Ganzen vereinigte Freigut wieder, dasselbe, welches mich so gastfreundlich einlud.

„Auf diesem Wege nun hatte ich zu bewundern, wie die bedeutenden Zwischenräume, einer steil abgestuften Lage gemäß, durch Terrassengänge zu einer Art von auf- und absteigendem Labyrinth architektonisch auf das Schicklichste verschränkt worden, indessen ich zugleich die sämmtlichen, über einander zurückweichenden Localitäten auf das Vollkommenste grünen und blühen sah. Weithin gestreckte, der belebenden Sonne zugewendete, hinabwärts gepflanzte, tiefgrünende Weinhügel, aufwärts an Mauergeländern üppige Reben, reich an reifenden, Genuß zusagenden Traubenbüscheln; hoch an Spalieren sodann eine sorgsam gepflegte, ausländische Pflanzenart, das Auge nächstens mit hochfarbigen, an leichtem Gezweige herabspielenden Glocken zu ergötzen versprechend; ferner vollkommen geschlossen gewölbte Laubwege, einige in dem lebhaftesten Flor durchaus blühender Rosen höchlich reizend geschmückt; Blumenbeete zwischen Gesträuch aller Art. Von diesen würdigen landesherrlichen Höhen seh’ ich ferner in einem anmuthigen Thale so Vieles, was, dem Bedürfniß der Menschen entsprechend, weit und breit in allen [518] Landen sich wiederholt. Ich sehe zu Dörfern versammelte ländliche Wohnsitze, durch Gartenbeete und Baumgruppen gesondert; einen Fluß, der sich vielfach durch Wiesen krümmt, wo eben eine reichliche Heuernte die Emsigen beschäftigt; Wehr, Mühle, Brücken folgen aufeinander, die Wege verbinden sich auf- und absteigend. Gegenüber erstrecken sich Felder an wohlbebauten Hügeln bis an die steilen Waldungen hinan, bunt anzuschauen nach Verschiedenheit der Aussaat und des Reifegrades. Büsche hie und da zerstreut, dort zu schattigen Räumen zusammengezogen. Reihenweis, auch den heitersten Anblick gewährend, seh’ ich große Anlagen von Fruchtbäumen, sodann aber, damit der Einbildungskraft ja nichts Wünschenswerthes abgehe, mehr oder weniger aufsteigende, alljährlich neu angelegte Weinberge.“

Aus diesem ruhigen, wohlgeordneten und die Spuren einer schon früh thätig besorgten Vergangenheit enthüllenden Wesen um sich her abstrahirt sich Goethe den für ein „bekümmertes Gemüth wohlthuenden“ Schlußsatz: „daß die vernünftige Welt von Geschlecht zu Geschlecht auf ein folgerechtes Thun entschieden angewiesen ist.“

Goethe wohnte in dem äußersten, auf der Seite nach Jena zu gelegenen Gebäude, welches früher ein Freigut, aber bereits zur Zeit von Goethe’s Aufenthalt ein Besitzthum des weimarischen Fürstenhauses war. Ueber dem Portale dieses Hauses empfängt uns das schöne lateinische Distichon:

Gaudeat ingrediens, laetetur et aede recedens!
His, qui praetereunt, det bona cuncta Deus!

nach Goethe’s eigener Uebersetzung:

Freudig trete herein und froh entferne Dich wieder!
Ziehst Du als Wandrer vorbei, segne die Pfade Dir Gott!

Diesen menschenfreundlichen Spruch nahm Goethe zum Eingang jenes Beulwitz’schen Briefes und findet in ihm sinnig den Wahlspruch seines verewigten Herrn, seines „Herrn, welcher nach seiner erhabenen Sinnesart jederzeit mehr für die Kommenden, Scheidenden und Vorüberwandelnden besorgt war, als für sich selbst, der, wie der Anordner jener Inschrift, weniger seiner Wohnung, seines Daches gedachte, als derjenigen, welche da zu herbergen, mit Gunst zu verabschieden oder vorbeigehend zu begrüßen wären.“

Das Zimmer, welches Goethe bewohnte, befindet sich im zweiten Stock auf der südöstlichen Seite. Es ist in seiner innern Einrichtung wie ein unantastbares Heiligthum als „Goethezimmer“ getreu wie zu des Dichters Aufenthalt erhalten. Ein kleines Täfelchen erzählt uns, daß Goethe hier vom 7. Juli bis 12. September 1828 gewohnt hat, ein anderes enthält von Goethe’s eigener Hand Notizen über Barometerstände, zeigt uns also den Dichter als Naturforscher.

Einen Haupttheil seiner Studien auch während dieses Landaufenthalts, wie überhaupt in jener spätern Periode seines Lebens, scheinen naturwissenschaftliche Forschungen gebildet zu haben. Darunter namentlich „botanische Betrachtungen“, wozu ihn der reichausgestattete Blumengarten des Schlosses einlud, und „da thut sich“ bei ihm „eine alte wohlfundirte Liebschaft wieder hervor.“ Insbesondere aber füllen – merkwürdig genug – die letzten Dornburger Briefe an Zelter die ausgedehntesten Beobachtungen über – das Wetter. Der große Mann erstrebte nichts mehr und nichts weniger als dem Geheimniß des hundertjährigen Kalendermannes auf die Spur zu kommen. Er sucht die Grundlagen, auf welchen sich die scheinbar so regellosen Erscheinungen des Wetters basiren, zu entdecken und tritt mit Glück als Wetterprophet auf. Wohin geräth nicht die Universalität des menschlichen Geistes! An diese Studien erinnern uns jene noch vorhandenen Barometeraufzeichnungen auf dem Täfelchen, dessen wir oben Erwähnung thaten. Denn an den Stand des Barometers, den er täglich zum Oeftern untersuchte, namentlich an die Vergleichung „seines Steigens und Fallens mit der Physiognomie der Atmosphäre und der Bewegung der Wolken“ knüpfte er hauptsächlich die gedachten Untersuchungen.

Das Zimmer ist hoch, hell und geräumig. Unter dem einfachen Meublement fällt namentlich ein Ofen auf, dessen Aufsatz eine Thurmruine von einer Schlange umwunden darstellt. Der Eintritt zu dem Zimmer ist jeder Zeit durch den jetzigen Bewohner des Hauses, den großherzoglichen Hofgärtner Sckell, zu ermöglichen, der damals Goethe’s freundlichen Wirth machte und in dessen Herzen die Erinnerung an den Goethe’schen Aufenthalt einen unverlöschlichen Heerd hat. Da erfahren wir genau, wie Goethe lebte, wie er um 6 Uhr aufstand, nach dem Kaffee und Frühstück von halb bis 9 Uhr in dem Schloßgarten lustwandelte, nach einem weiteren regelmäßig von einem Glas Moselwein begleiteten Frühstücke dann bis zum Mittagstisch seinem Secretair John dictirte und bis 4 Uhr Nachmittags Besuche empfing. Nach einem weitern kurzen Spaziergang fuhr er im Dictiren fort bis 6 Uhr Abends, wo er statt eines Abendessens regelmäßig ein Glas Wein nebst Zwieback genoß. Nach dieser Erfrischung verkehrte er gern im Gespräch mit vertrauten Freunden, an deren Besuch es ihm selten mangelte. Um 9 Uhr, spätestens eine halbe Stunde vor 10 Uhr ging er zu Bett.[2]

Dieses regelmäßige Leben, das ihm wohl schon sein hohes Alter vorschrieb, hielt er streng ein. Während der ganzen Dauer seines Aufenthalts verließ er Dornburg nur drei Mal, einmal fuhr er in Begleitung Sckell’s nach Großheringen, einem gegen vier Stunden entfernten Dorfe in der Nähe von Sulza, wo er bei dem dasigen Schultheiß Pietzel Einkehr nahm, ein zweites Mal nach Camburg, die dortigen Ruinen in Augenschein zu nehmen, und ein drittes und einziges Mal nach Jena, wo er bei dem Bibliothekar Legationsrath Weller abstieg.

Goethe empfing, wie erwähnt, fast täglich Besuch von nah und fern. Außer seiner Familie, Eckermann und dem gedachten Legationsrath Weller besuchte ihn zum Oeftern der Kanzler Müller und der Landesdirectionsrath Töpfer von Weimar, der Bauinspector Götze von Jena, von Fremden namentlich viele Engländer, worunter der Herzog von Wellington.

Am 12. September reiste Goethe ab, und nur noch zwei Mal vor seinem Tode, in den Jahren 1829 und 1830, kam er, und auch dies auf ganz kurze Zeit, in das ihm liebgewordene Dornburg. Als er das letztere Mal da war, sagte er beim Scheiden zu dem Hofgärtner: „Lieber Freund, es ist wohl das letzte Mal, daß ich Sie besuche, wollen Sie nicht einmal zu mir nach Weimar kommen?“ Sckell entgegnete, daß seine Geschäfte ihm keine Zeit zu einem solchen Besuche übrig lassen würden. „Nun,“ sagte Goethe, indem er ihm mit der einen Hand[WS 1] die seinige drückte, die andere aber gen Himmel hob, „dann sehen wir uns dort wieder,“ – und es ward denn auch sein letztes Mal. – Nur noch einen Sommer schenkte ihm der Genius des Lebens, dann forderte der Tod auch von ihm sein ewiges Recht. Noch eine andere Ahnung begleitete [519] Goethe, indem er schon früher einmal zu dem Hofgärtner Sckell äußerte, es werde eine Zeit kommen, wo sich die Jugend und das Volk gegen seine angestammten Herrscher erheben würde – und zwei Jahr darnach war die Julirevolution und zwanzig Jahre später die des März 1848.

Soviel von Goethe! Aber wie wir Eingangs erwähnten, knüpfen sich an Dornburg auch noch große historische Erinnerungen. Und auch bei diesen können wir uns nicht versagen, etwas zu verweilen. Dornburg ist eine der ältesten Städte in Thüringen. Sie hatte schon im Jahre 937 Stadtrecht und war früher weit größer als heutzutage. Schon in der Goethe’schen obigen Beschreibung wird angedeutet, daß das obere nördliche Schloß in seiner alten Herrlichkeit ein kaiserliches Schloß war. So ist denn auch urkundlich nachgewiesen, daß Dornburg zu Zeiten der sächsischen Kaiser eine kaiserliche Pfalzstadt war. Hier hielt Mathilde, Aebtissin von Quedlinburg, im Jahre 999 in Vertretung ihres in Italien abwesenden Neffen, des Kaiser Otto III., einen Reichstag, zu welchem sie auch die schöne Luitgarde, Markgraf Eckardt’s von Thüringen und Meißen liebliches Töchterlein, mitgenommen hatte, welche vom gestrengen Herrn Vater der Aebtissin Schutz und Obhut anvertraut war, um mit dem rückkehrenden Kaiser verlobt zu werden. Nun aber wollte es das Schicksal, daß das Fräulein dem jungen Sohne eines nordthüringischen Grafen, Namens Werner, von Herzen zugethan, auch früher schon mit ihm versprochen war. Während nun die hochehrwürdige Frau Aebtissin in dem Rittersaal zu Dornburg saß, um mit den Ständen über das Wohl und Wehe des Reiches zu berathen, ersah sich Herr Werner die Gelegenheit, mit einigen Getreuen in Dornburg einzudringen und die mathildische Schutzbefohlene auf schnellem Rosse nach Walberk zu entführen. Vergebens eilten die aufgeschreckten Getreuen des Reiches dem kühnen Räuber nach, es gelang demselben inzwischen die schützenden Mauern des genannten Ortes zu erreichen. Dennoch aber brachte nicht das kühne Wagniß, sondern erst der bald erfolgende Tod des hartherzigen Brautvaters das treu ausharrende Paar an das ersehnte Ziel. Also ein schön Stück mittelalterlicher Romantik! Noch jetzt zeigt man Mathildens vergoldete Bettstelle. Auch im Jahre 1004 wurde von Heinrich II. ein Reichstag zu Dornburg abgehalten, bei welchem es sich namentlich um die Wiederaufrichtung des Bisthums Merseburg handelte. Später kam Dornburg in den Besitz der Schenken von Vargula und Tautenburg, von denen sich dann ein besonderer Zweig als die Schenken von Dornburg bildete. Durch Kauf ging es an die Grafen von Orlamünde und Schwarzburg über, und in dem sogenannten thüringischen Grafenkriege wurde es nach einer fünftägigen Belagerung durch den Friedensschluß vom 26. Juli 1345 ein Lehn der Landgrafen von Thüringen, welche es seit dem Jahre 1358 in völligen Besitz nahmen und Burgmannen drein setzten.

Das vordere Schloß ist gegenwärtig der Sitz eines Justiz- und Rechnungsamtes und Beamtenwohnung. In dem ursprünglich sehr geräumigen, aber jetzt durch Bauten verkleinerten Rittersaale, wo einst die Großen des damals so herrlichen deutschen Reiches rathend und thatend saßen, erschallen jetzt die Stimmen kreischender Männer und Weiber, die sich um eine nichtbezahlte Rechnung oder um ein ausgestoßenes Schimpfwort zanken, und wie grollend schauen von den Wänden hernieder die edlen Häupter aus den Zeiten alter deutscher Herrlichkeit. Sie transit gloria mundi!

Das kleinere Schloß in der Mitte ist in den Jahren 1728 bis 1748 vom Herzog Ernst August in dem pittoresken Geschmacke damaliger Zeit erbaut worden und ist das eigentliche Wohnhaus der großherzoglichen Familie im Falle ihrer Anwesenheit in Dornburg. Und wie in dem ersten vor fast tausend Jahren Reichstage, so wurde in diesem Schlößchen im Jahre 1818 der erste verfassungsmäßige weimarische Landtag, einer der ersten in Deutschland abgehalten.

So vereinigt die Erinnerung auf einem kleinen Stück Erde des Großen und Schönen gar viel. Dir aber, freundlicher Leser, ruft es von dort her scheidend und einladend zu:

Freudig trete herein und froh entferne Dich wieder,
Ziehst Du als Wandrer vorbei, segne die Pfade Dir Gott.“

F. Hbg.





Die Hollandsgänger in Nordwest-Deutschland.

Nicht nur unsere Künste, Gewerbe und Handwerker, sondern auch unser Ackerbau und unsere Bauern haben ihre Wanderburschen. Man findet diese Erscheinung einer von Zeit zu Zeit zum Wanderstabe greifenden Land-Bevölkerung in verschiedenen Theilen Europas. Sie zeigt sich überall da, wo sehr fruchtbare Landstriche von mannigfaltigem Anbau, in denen zur Zeit der reichen Ernte die Arbeit begehrt ist, mit dürftigen, von der Natur vernachlässigten Gegenden, in denen der Arbeiter viele und der Bodenproducte wenige sind, nachbarlich zusammenstoßen.

So zieht alle Jahre im Herbst die arme slovakische Bevölkerung der Karpathen mit Gesang und in froher Aussicht auf Erwerb in die üppigen Landschaften an der ungarischen Donau hinab, um dort den Bewohnern der „goldenen“ Insel Schütt und anderer ungarischen „Paradiese“ bei der Weizenernte zu helfen. So wandern die Thalbewohner verschiedener Alpendistricte aus ähnlichen Gründen und zu ähnlichen Zwecken in die üppige Po-Ebene hinab. Eben so helfen in Spanien die kräftigen, aber armen Bewohner der Gebirge Galiciens ihren castilischen und portugiesischen Nachbarn an den Niederungen der Flüsse. Und aus Irland ziehen die armen celtischen Torfhüttenbewohner alljährlich über’s Meer nach und von Schottland hinüber und herüber, um sich in den reichen Lowlands die Tasche zu füllen.

Auch bei uns in Deutschland haben die Contraste der Natur- und Bodenverhältnisse in verschiedenen Provinzen unter unsern sonst so sehr an dem Boden klebenden Bauern solche Bewegungen erzeugt, die nun schon seit Jahrhunderten Jahr aus Jahr ein so regelmäßig wiederkehren, wie die Schwalben- und Kranichzüge.

Eine der bedeutendsten Wanderungen dieser Art bringt der Gegensatz zwischen den armseligen Haide-Districten und den fetten, ihnen anliegenden Marschländern des nordwestlichen Deutschlands zu Wege. In den wundervollen Triften von Holland und Friesland sproßt in jedem Frühling eine solche Fülle von schönen Gräsern und Wiesenkräutern und darnach im Sommer ein solcher Segen von Raps, Flachs, Weizen und Roggen auf, daß die einheimischen Knechte der reichen „Mynheers“ nicht Alles rechtzeitig und schnell genug einheimsen können. Seit uralten Zeiten haben ihnen daher die Bewohner der deutschen Haiden ihre Arme geboten. Diese, die nicht an das üppige Leben der Marschleute gewöhnt sind, können sich in ihren Dörfern während des an Feiertagen reichen Winters billiger durchbringen, und vermögen daher ihre Dienste für eine geringere Entschädigung zu leisten, als die Knechte, welche die Marschenherren sich in ihrem eigenen Lande zuziehen könnten.

Es ist daraus das in einem großen Theile von Nordwestdeutschland bekannte sogenannte „ Hollands-Gehen “ entstanden. Dasselbe ist in der ganzen Osnabrück’schen Gegend, im nördlichen Westphalen, in der südlichen Hälfte des Herzogthums Oldenburg, in den Grafschaften Hoya und Verden, überhaupt vorzugsweise in allen Landschaften auf der linken Seite der Weser zur Sitte und zu einem eigenthümlichen Erwerbszweige geworden. Es setzt sich aber mit Variationen, wie die Haidestriche selbst, auch noch in’s Innere der Niederlande fort. Auch dort hilft natürlich wieder der einheimische Haidebewohner seinem reichen Nachbar in den Marschen und concurrirt mit den fremden Arbeitern aus Deutschland.

In den Dörfern aller der bezeichneten Striche thun sich im Frühjahr die arbeitslustigen Männer, die noch kein eigenes Besitzthum haben, die jüngeren Söhne der Bauern zusammen und beginnen ihre friedlichen Razzias in das lockende Niederland. Auch kleine Eigenthümer, schon besitzliche und verheirathete Leute schließen sich ihnen wohl an. Denn da in den Marschen andere Culturen herrschen und die Haupternten früher fallen, als auf den Haiden, so können sie, nachdem sie ihre dürftigen Roggen- und Buchweizenfeldchen bestellt haben, die Hütung derselben während des Sommers ihren Frauen und Kindern überlassen und dann noch rechtzeitig zur späten Ernte in der Heimath zurück sein.

Weil das guldenreiche Holland seit alten Zeilen ihr vornehmstes Ziel war, nennt man diese Leute gemeiniglich „Hollandsgänger“, [520] hie und da auch, „Frieslandsgänger“ oder auch wohl kurzweg „Friesen“.

Es giebt verschiedene Gattungen dieser „Friesen“. Denn obgleich ursprünglich wohl nur das Gras-und Kornmähen sie in's Leben rief, so haben sie doch in den aus lauter menschlicher Kunst und Arbeit hervorgegangenen Niederlanden noch manchen anderen lohnenden Zweig der Thätigkeit gefunden. Man kann dort überall einen kräftigen Arm verwenden, beim Torfbaggern, beim Häuserbau, bei den Canalgrabungen, bei den Schleußen und sonstigen Wasserwerken. Der Eine hat sich mehr Talent für dieses, der Andere für jenes angeeignet.

Da alle diese und andere Arbeiten ihre verschiedenen „Saisons“ haben, so setzen daher auch die Hollandsgänger zu verschiedenen Zeiten aus. Einige, die zu Hause viel Muße haben, und die dem Niederländer den ganzen Sommer hindurch erst beim Torfbaggern, dann beim Heuen, schließlich bei der Weizen-Ernte zu helfen denken, begeben sich schon im ersten Frühling, bereits im Anfange Aprils auf die Wanderung, und kommen dann im Spätsommer mit den reichsten Ersparnissen mit einer ganzen Halbjahrs-Ernte zurück. – Die Mehrzahl aber verläßt erst im Anfange Juni zur Zeit der Heuernte Haus und Hof und begnügt sich mit der Aussicht, bei der Rückkehr einen geringeren Sparpfennig in der Tasche zu haben. Die Zahl der auf diese Weise Beschäftigung suchenden Personen läßt sich natürlich kaum feststellen. Doch muß sie sich wohl auf viele Tausende belaufen. Denn es findet sich zwischen der Weser und den Niederlanden kaum ein Geestdorf, in welchem das „Hollandsgehen“ nicht eine mehr oder weniger bedeutende Rolle in dem Leben der Bewohner spielte.

Um durch Association ihre Reisen billiger oder auch wohl gefahrloser zu machen, vergesellschaften sich diejenigen, die sich aus einem Districte zu einem Hollandsgange entschlossen haben, zu kleinen Trupps. Zuweilen verschafft sich ein solcher Trupp einen sogenannten „Botenwagen“, und dieser wird mit den schweren Reiseeffecten, Ernteinstrumenten und Victualien bepackt, namentlich mit den Sensen und den für diese nöthigen Apparaten. Der große Bedarf und Verbrauch von Sensen von Seiten der Hollandsgänger hat in mehrern Haide-Dörfern das Schmiedehandwerk sehr bedeutend gemacht, und es sind im Osnabrück’schen, wie in der Grafschaft Diepholz, zuweilen in ganz abgelegenen Ortschaften, große von Wasser getriebene Hammerwerke entstanden, welche vorzugsweise für die Hollandsgänger arbeiten.

Alsdann bekommt der Botenwagen eine reiche Ladung von Speck und Schinken mit, die während des Winters in den räucherigen Hütten der Haideleute reiften und gahrten, und eben so wenig fehlt es ihm an kohlschwarzem Roggenbrod und Pumpernickel, mit dem die Hollandsgänger in manchen Strichen der niederländischen Weizenesser so viel Aufsehen machen. - Zuweilen betheiligen sich auch wohl ihre Töchter und Frauen mit einer kleinen Speculation an einer solchen Expedition. Sie haben im Winter Garn gestrickt oder Leinwand und sogenanntes „Wolllaken“ gewebt, und sie geben davon und von andern Producten ihrer Industrie und Haushaltung dem Botenwagen eine kleine Portion mit. Der Mann oder Vater sucht es ihnen in dem reichen Niederlande zu verhandeln nur bringt dafür zuweilen ein sehr willkommenes Douceur zurück.

Freilich haben in neuerer Zeit die strengeren Zollgesetze und Douaniers diesen kleinen mit unserer Bauernwanderung verknüpften Handelszweig sehr geknickt und fast getödtet. – Viele aber auch machen von dem nomadischen Botenwagen keinen Gebrauch, nehmen ihre Sensen selber auf die Schulter, hängen sich die Wasserflasche und den Brod- und Specksack über den Rücken und wandern nach dem philosophischen Grundsatz: „omnia mea mecum porto“ leicht geschürzt nach Nordwesten hinaus. – Auf der Reise leben sie natürlich sehr sparsam. In Wirthshäusern kehren sie nicht viel ein, namentlich auf der Hinreise, wo mehr guter Wille, als Mittel vorhanden sind, häufiger schon auf der Rückreise, wo der Holländer die Taschen gefüllt hat.

Wenn das Wetter nicht allzu schlimm ist, so übernachten sie unter freiem Himmel, in einem Walde oder unter einem Baume. Es scheint mir, daß sie eben so wie die Zigeuner seit alten Zeiten ihre bestimmten Striche und Pfade haben, auf denen sie gehen, und ihre gewissen Nachtstationen, die sie zu benutzen pflegen. Wenigstens sind mir aus meinen Streifereien in jenen Gebieten solche Hollandsgänger-Stationen wohl hie und da vorgekommen. So steht zum Beispiel am Rande des sogenannten „Stühe“, eines Waldes im Herzogthum Oldenburg, eine wundervolle, große und uralte Eiche, welche das Volk deswegen die „Holländer“- oder „Friesen-Eiche“ nennt, weil die Hollandsgänger unter ihrem weiten Gezweige und auf der hübschen Wiese, die sie beschattet, auf ihren Reisen zu rasten pflegen. Es mag noch viele andere solche Friesen-Eichen oder Hollandsgänger-Stationen in jenen Gegenden geben.

Wie Alles in der Welt, so werden auch die Unternehmungen der Hollandsgänger durch eine gewisse Gewohnheit und Kundschaft geregelt. Manche von ihnen haben ihre Freunde in Westfriesland, andere im Utrecht’schen, anderen ist Groeningen oder das eigentliche Holland geläufiger. Wieder andere pflegen nach einigen Districten von Brabant zu gehen.

In früherer Zeit ging bekanntlich von allen diesen Ländern eine großartige Bewegung der flanderischen und holländischen Stämme nach Osten aus, die friedlichen Wanderungen der Vlamingen in's sogenannte „Osterland“. Diese Wanderung hatte freilich eine andere Bedeutung als das jetzige Hollandsgehen unserer Haideleute. Die Vlamingen kamen in die Ostländer nicht als zeitweilige Knechte, sondern als culturverbreitende Colonisten und bleibende Ansiedler, die sich als Eigenthümer des von ihnen angebauten und der Wildniß entrissenen Bodens bemächtigten.

Diese Wanderung der Flanderer, Holländer und Friesen nach Osten hat jetzt aufgehört, da alle fruchtbaren Marschgegenden, welche sie lockten, mit Bevölkerung gefüllt sind. Aber vielleicht ist die jetzt stattfindende Bewegung in umgekehrter Richtung aus Osten nach Westen noch ein Nachhall, gleichsam eine kleine Ebbe jener größeren Fluth. Vielleicht spannen sich damals, durch die Ostwanderung vermittelt, jene Bekanntschaften im Westlande und die Einladungen dahin an. Jetzt hat nicht nur jeder östliche Haidedistrict – fast jedes Dorf – dort im Westen seinen Lieblingsdistrict, den es vorzugsweise ausbeutet, sondern auch jeder einzelne Hollandsgänger pflegt in den Marschen seinen Bauer zu haben, mit dem er seit länger bekannt ist, und der seinen „Hinrich, aus Suhlingen“ oder seinen „Dirk vom Dümmersee“ oder seinen „Kort von Borstel“, oder wie der Bursche und sein Dorf eben heißen, zur Zeit der Heuernte erwartet. Oft freilich lösen sich solche Kundschaften auf oder sind von einem Anfänger erst anzuknüpfen. Dann zieht der Hollandsgänger in den Marschen von Gehöfte zu Gehöfte herum und sucht sich da, wo man noch nicht mit Arbeitern versehen ist, unter den möglichst besten Bedingungen anzubringen. Festen Lohn bekommen sie nicht. Vielmehr herrscht in den Marschen und überall in Holland und Friesland die den Fleiß befördernde Sitte, ein Stück Arbeit, z. B. das Abmähen eines Feldes, in Bausch und Bogen zu verdingen, so viel für diesen Kamp, so viel für jenes Feld. Je mehr sie in kurzer Zeit niederbringen, desto mehr verdienen sie.

Da je nach Umständen, je nach der Lage oder Sumpfigkeit des Feldes, je nach der Härte der zu schneidenden Halme, des jungen Grases, des Klees, des Schilfs, des Getreides, die Arbeit schwieriger und mühseliger ist, so gehört viel Klugheit dazu, um dies Alles zu erwägen und abzuschätzen. Und der Umsichtige steht sich natürlich besser dabei, als der, welcher sich von dem kargen Holländer übertölpeln läßt. – Gewöhnlich machen sich zwei oder drei Freunde, die sich gegenseitig ungefähr gleiche Kraft und gleichen Eifer zutrauen, zusammen, berathen sich mit einander und arbeiten gemeinschaftlich an der Abrasirung einer großen Fläche, die sie mit einander in Contract nehmen. Sie thun dabei zuweilen recht glückliche, zuweilen aber auch recht unglückliche Griffe, und sie haben ihre guten und schlechten Jahre.

Wenn das junge Gras recht frisch und saftig steht, geht die Arbeit leichter von Statten, und sie machen einen ordentlichen Profit. Wenn der Frühling aber sehr trocken war und das Gras hart und struppig wurde, oder wenn Mäuse und Maulwürfe den Boden durchwühlten und häufige Erdhügel den Sensen in den Weg warfen und die Arbeiter dies nicht gleich beachteten, dann ist oft das Umgekehrte der Fall. – Waren alle Umstände günstig und das Jahr recht ergiebig, so eilen dann die Hollandsgänger, meistens im Monat August, zu ihren Haiden, die Taschen voll von blanken holländischen Gulden, zurück. – Da sie sich hierbei zuweilen ebenso wie beim Auszuge zusammenschaaren, so langen sie in ihren Dörfern oft in ganzen Trupps, alle die Kinder des Orts, die im Frühlinge auszogen, auf einmal an, und da ist dann großer [521] Jubel und Freude. – Den Ihrigen bringen sie mancherlei Geschenke aus den Niederlanden mit und dazu auch einen hübschen Sparpfennig, als Sorgenbrecher für den Winter.

Auch die Armen werden dabei nicht vergessen, und gewöhnlich wandert einer der 60 oder 80 holländischen Gulden in die Armenbüchse. Dagegen vergißt sie dann auch der fromme Pastor des Orts nicht. Er spricht am Sonntage öffentlich vor der Gemeinde dem lieben Gott seinen Dank aus dafür, daß er die Hollandsgänger glücklich zurückgeführt habe. Und ebenso giebt er ihnen auch im nächsten Frühling zur Zeit des Auszugs seine frommen Kanzelwünsche mit auf den Weg für eine ergiebige Ernte in dem holländischen Aegypten.


Ein Ritt von Lima aus ins Innere.

Reiseskizze von Fr. Gerstäcker.

Es ist eine ganz eigenthümliche Thatsache, daß man die noch so getreue Beschreibung eines fremden, besonders überseeischen Landes mit der größten Aufmerksamkeit lesen mag, und sich doch ein ganz anderes und verschiedenes Bild von dem Lande selber machen wird, als man es später in Wirklichkeit findet. Man mag dabei noch soviel Erfahrung von anderen Ländern auf seiner Seite haben, es hilft Alles nichts; die Phantasie, selbst des trockensten Menschen, spielt uns stets einen Streich, und wir sehen uns dann plötzlich in Scenen versetzt, mit denen wir von vornherein vertraut zu sein glaubten, und die uns doch jetzt vollkommen unbekannt und fremd sind.

So ging es mir mit Peru, dessen Küste ich als dürr und steinig kannte, von dem ich aber geglaubt hatte, daß ich, wenn nur die ersten Hügel überschritten, die ersten Meilen hinter mir, ein herrliches, mit Vegetation bedecktes Land finden würde, und wie hatte ich mich darin getäuscht!

Am dritten Weihnachtsfeiertag, Morgens etwa um zehn Uhr, ritt ich aus und zwar auf einem guten Maulthier, das ich mir besonders zu dem Zwecke in Lima gekauft, meinen Revolver vorn im rechten Halfter, meine Doppelbüchse ebenfalls geladen an der Seite, denn eine Menge Mordgeschichten waren mir von diesem Wege erzählt und ich besonders gewarnt worden, die Tour nicht allein zu unternehmen. Thatsache ist es, daß viele Menschen schon in der Nähe von Lima, aber nicht weiter ab als sechs oder acht Leguas, angefallen und ermordet wurden, und es war deshalb immer besser, sich vorzusehen. Außerdem treiben sich auch, nach Aufhebung der Sclaverei, eine Unmasse von Negern hauptsächlich in Lima und dessen unmittelbarer Nähe umher, und diesen Burschen ist ebensowenig zu trauen, wie den Süd-Amerikanern selber, denn sie sind schon zu lange im Land gewesen, um nicht etwas wenigstens davon zu lernen.

Mein nächstes Ziel, Cerro de Pasco, jene berühmte Silberstadt und auch zugleich die höchste der Welt, für die ich irrthümlicher Weise Quito gehalten, liegt 5000 Fuß höher als letztere Stadt, und zwar 14,500 Fuß, schon an den Wassern des Amazonenstromes und in etwa nordöstlicher Richtung von Lima fort. Der Weg zieht sich auch aus Lima, wenn man die Brücke über den Rimac passirt hat, nördlich hinauf bis zu dem kleinen Bergstrome Chillon, dem er von da an treu bis zu der Wasserscheide der Cordilleren folgt.

In den Straßen von Lima selber sieht man dabei natürlich nur wenig von dem Charakter des Landes draußen, die dürren Küstenhügel ausgenommen, die kahl und nackt herüberschauen und eben nicht viel Tröstliches von der nächsten Umgebung versprechen. Und jetzt verläßt man diese Straße und betritt einen breiten Weg, der ebensogut ein trockenes Flußbett sein könnte, denn er ist mit großen, vom Wasser rund und glatt geschliffenen Kieseln bedeckt, deren Zwischenräume allein mit grauem Staub gefüllt sind. An beiden Seiten ist er mit einer niedrigen dicken Lehmmauer eingefaßt, hinter der hie und da Weiden und auch wohl Fruchtbäume stehen, denn eine der Wasserleitungen, die Lima mit frischem und gutem Wasser versehen, führt hier durch und begünstigt in etwas die Vegetation. Sonst ist Alles kahl, Alles dürr, todt und wüst und nicht ein Vogel – die eklen Aasraben Lima’s ausgenommen – zu sehen.

Draußen am äußersten Thore Lima’s steht noch ein Garten, in dem ein Deutscher einen Schankstand hat; es ist heute noch Feiertag und die schwarz-roth-goldene Fahne weht darüber – gegenüber flattern die italienischen Farben im Wind – eine kleine scherzhafte Illustration, wie friedlich die beiden Flaggen dicht neben einander wehen könnten, wenn jede nur ihr eigenes Wohl im Auge hätte – dahinter beginnt die Oede und hie und da, noch mehr zur Stadt, stehen nur ein paar kleine offene Lehmhütten, in denen Tschitscha, wie altbackenes Brod und Papiercigarren dem reisenden Publicum für schweres Geld zur Verfügung gestellt sind. Wer sich dadurch nicht verführen läßt, reitet weiter und sieht sich plötzlich am Ende des eingezäunten Weges und am Fuße jener dürren Hügel selber, die selbst da, wo sich ein Thal hineinöffnet, nichts, nichts weiter bieten, als Sand, Staub, Steine und hart gebrannte, dürre, rothbraune Erde, auf der die Sonne niedersengend liegt.

Soweit das Auge dabei die ebene Bahn bestrich, war kein menschliches Wesen zu sehen, nur hinter mir her kam in scharfem Trab ein einzelner Cavallerist, dessen Bahn von hier links ab nach einem kleinen Städtchen bog. Er zügelte sein Pferd ein, als er mich überholte, und frug, wohin ich so allein wolle. Ich nannte ihm mein Ziel, das weit hinter den Cordilleren lag, und er schüttelte den Kopf. „Ich solle mich in Acht nehmen“, meinte er, „denn es treibe sich wieder einmal böses Gesindel im Lande umher, dem sie bis jetzt vergebens nachgespürt hätten.“ Damit bog er seitab und verschwand wenige Minuten später in der Staubwolke, die sein eigenes Thier aus dem trockenen Boden schlug.

„In Acht nehmen!“ Ich hatte weiter gar nichts zu thun, zündete mir eine frische Cigarre an und trabte wohlgemuth meine Bahn entlang. Mich drängte es nur, die Nähe der Küste zu verlassen, und zwar nicht der möglichen Räuber, sondern dieser traurigen Scenerie wegen, die ja doch im Innern mit einer mehr freundlichen Umgebung wechseln mußte.

Eine kleine halbe Stunde mochte ich so durch diese Einöde geritten sein, als ich vor mir Staub aufwirbeln sah, und gleich darauf erkannte ich drei Reiter, die auf meinem Wege Lima entgegensprengten. Es waren, wie ich bald fand, Neger, und ich lenkte mein Pferd nach der rechten Wegseite hinüber, sie links an mir vorbeipassiren zu lassen. Eine feste Begrenzung des Weges fand aber hier gar nicht statt, wo die Bahn Hunderte von Fußen breit dalag, die Reiter theilten sich dabei, so daß ich zwei zur Linken und einen zur Rechten bekam, und dicht bei mir zügelten sie plötzlich ihre Thiere ein, während einer der Ersteren seinen Arm ausstreckte und Feuer für seine Cigarre verlangte.

Die Möglichkeit ist nun da, daß es ganz brave und harmlose Menschen waren, die nicht das geringste Böse im Schilde führten. Nach allen früher gehörten Mordgeschichten war ich aber nicht gesonnen, ihnen hier allein, Einer gegen Drei, den geringsten Vortheil über mich zu gestatten, denn „Gelegenheit macht Diebe“. Schon vorher hatte ich deshalb die Hand unter meinem Halfterdeckel, und den Revolver herausnehmend sagte ich dem Manne vollkommen ruhig: „das sei das einzige Feuer, das ich zu vergeben hätte.“

Er prallte mit seinem Maulthiere rasch zur Seite, und die andern Beiden lachten laut auf, ich aber gab meinem Thiere die Sporen, fest entschlossen, mich auf keine weitere Unterhaltung in Arms Bereich einzulassen, und als ich gleich darauf den Kopf nach ihnen zurückdrehte, sah ich, wie sie noch im Wege hielten. Ich wußte aber recht gut, daß sie mir jetzt nicht mehr folgen durften, denn das wäre ein offener Beginn von Feindseligkeiten gewesen, bei denen sie, meiner Doppelbüchse gegenüber, bös den Kürzeren gezogen hätten. Das mochten sie auch recht gut selber wissen, denn ich wurde nicht weiter von ihnen belästigt und hatte sie bald aus dem Gesicht verloren.

Mit meinem Maulthier war ich ziemlich zufrieden, wie alle diese Thiere aber, die vortrefflich in Gesellschaft gehen, war es allein zu faul, und ich hatte die Sporen nöthig. So erreichte ich denn auch bald den kleinen Bergstrom Chillon, dem ich von jetzt [522] an entgegen reiten sollte, und fand an dessen Ufer wenigstens etwas Vegetation, immer aber noch weit weniger, als ich erwartet hatte. Das Thal dazu, dem ich aufwärts folgen sollte, lag zu beiden Seiten des Stromes dürr und kahl, und eine Menge von Einfriedigungen, die aus mauerartigen übereinander gelegten Steinen bestanden, gaben mir Stoff zum Nachdenken, weshalb um Gotteswillen Menschen mit der größten augenscheinlichen Mühe und Arbeit eine Anzahl von Plätzen sorgfältig eingezäunt und abgegrenzt hatten, in denen auch nicht einmal ein einzelner Grashalm wuchs.

Im „Winter“ sollen diese Berge allerdings ein etwas freundlicheres Aussehen haben, denn obgleich es hier nie wirklich regnet, fällt doch dann und wann, wie mir gesagt wurde, ein feiner Sprühregen, der, mit dem Thau der Nächte, das Gras aus dem dürren Boden ruft und die Hänge mit einem matten, durchsichtigen Grün deckt. Möglich, daß dann diese Einfriedigungen zu Weiden werden, in denen sich kurze Zeit ein paar Maulthiere vor dem Verhungern schützen können. Soviel ist übrigens sicher, daß sich Viele dieser Landstriche durch Bewässerung mit nur einiger Arbeit trefflich verwerthen ließen, denn an Wasser fehlt es selbst diesen trockenen Hügeln nicht. Eine Menge von Quellen entspringen darin, und der Fluß oder Bergstrom selber hat Fall genug, ihn nach vielen Seiten hin zu verwenden. Das aber kostete Arbeit, schwere Arbeit, und dazu ist diese faule spanische Race nicht gemacht. Nur den Fremden will sie für sich schaffen lassen und scheint höchstens dazu gut, eine einträgliche Anstellung mit Würde zu verzehren oder den Tag über die Ellbogen auf dem Ladentische abzureiben. Selber thätig sein wollen oder können sie nicht, und weite Strecken Landes, die reiche Ernten tragen könnten, werden deshalb so lange unbenutzt und dürr liegen, bis fremde Hände sich ihrer bemächtigen – was jedenfalls im Lauf der Zeit geschieht.

Ich passirte jetzt einige Haciendas, die, von Quellen und dem Chillon selber begünstigt, Pisang, Orangen, Futterkräuter und Zuckerrohr trugen. Ueberhaupt ist der Boden selber fruchtbar genug, und treffliche Gemüse werden hie und da, besonders von Deutschen, in der Nähe von Lima gezogen. Weiter oben verengte sich aber das Thal mehr und mehr, der vom Wasser getränkte grüne Streifen Land wurde schmaler und schmaler und zog sich endlich nur noch wie ein Band dicht an den Ufern des Bergstromes entlang, während rechts und links die kahlen nackten Höhen wild und traurig in die blaue Luft hineinstarrten und von ihren öden, sonngebrannten, ja gebratenen Flächen eine erstickende Hitze ausbreiteten. Ueberhaupt war der Weg – von keinem einzigen Baum gegen die Sonnenstrahlen geschützt – nichts weniger als angenehm zu reiten, und erst mit anbrechendem Abend wurde es kühl genug, mein Thier zu schärferem Schritt antreiben zu können.

Vor Dunkelwerden erreichte ich endlich eine Brücke über den Chillon, der hier viel zu reißend floß, als daß man ihn mit dem Pferde hätte passiren können. An der andern Seite lag eine Hacienda, Macas, wo ich übernachten konnte, und ich fand dort wenigstens ein gutes Bett, von den Beschwerden des ersten Tages auszuruhen.

An der Brücke wurde mir von einem Chinesen Zoll abgenommen, und ich sah dicht an der Hacienda eine Menge niedriger, schilfgeflochtener, schmutziger Hütten, die von Chinesen wimmelten. Auf meine Erkundigung sagte mir der „Mayor domo“ (der Eigenthümer wohnte in Lima oder befand sich wenigstens gerade dort), daß diese Chinesen sogenannte Culies seien, die einen achtjährigen Contract hätten und nach dieser Zeit frei wären, für sich selber etwas anzufangen oder sich auf eigene Hand zu verdingen. Diese hier hatten schon fünf Jahre ihrer Zeit abverdient, und der Mann versicherte, er sei mit ihrer Arbeit zufrieden.

Die Sclaverei ist in Peru abgeschafft, aber die Sclaven bestehen fort, gerade wie in Ecuador. Diese Söhne des „himmlischen Reichs“ (Töchter kommen gar nicht herüber) werden von „Unternehmern“ in China angeworben, bekommen freie Passage und sehen sich dann plötzlich ganz einfach zum Verkauf ausgestellt, wo man sie an den Meistbietenden für den Preis von 3–400 Dollars, vielleicht auch mehr, wie gerade Arbeiter verlangt werden, abläßt. Ihre Behandlung soll dabei, wie sich das auch kaum anders erwarten läßt, eine sehr schlechte sein; selbst vor körperlicher Mißhandlung schützt sie das Gesetz oder deren Vertreter nicht – es sind ja nur Chinesen – und man sucht aus ihnen in dem kurzen Termine soviel Arbeit als möglich, mit sowenig als möglich Unterhaltungskosten, herauszuziehen.

Die Neger sind frei geworden, und Chinesen wie Indianer haben an deren Statt das Joch übernommen, das sie früher wund drückte. Peru selber freilich hat nichts dabei gewonnen, als eine freie, freche und ekelhafte Bevölkerung der schwarzen Race, und einen Zuwachs von eben so zweideutigem Nutzen in dem, wenn auch fleißigen, doch schmutzigen und lasterhaften Volke Chinas.

Von Macas, bis wohin ich noch ziemlich ebenen Weg gehabt, brach ich am nächsten Morgen früh wieder auf und kam jetzt bald in das eigentliche Bergterrain des Landes. Der Chillon hat einen außerordentlich starken Fall, der gar nicht so selten in kleine Wasserstürze ausartet. Das Thal verengte sich außerdem immer mehr, die Felsen liefen an vielen Stellen schroff und steil bis in das Flußbett nieder, und da die peruanischen Wegbauer nie ein Pfund Pulver verbrauchen, hemmende Felsen damit zu sprengen, so zieht sich der schmale Maulthierpfad denn auch bald steil einen solchen Hang hinauf, bald läuft er gelegentlich, wie es gerade paßt, eben so unerwartet bis zum Wasserrand hinunter, es den Maulthieren überlassend, ihre Bürde unaufhörlich auf- und abzuschleppen.

Dicht bei Macas, am rechten Ufer des Flusses und ziemlich hoch am Berg hinauf in einer wilden Oede von nackten, unfruchtbaren Wänden liegt eine alte indianische Stadt mit einem ganz eigenthümlich gespenstischen Aussehen. Die Mauern scheinen, soweit ich das aus der Ferne erkennen konnte, von Lehm zu sein, trotzdem aber daß die Dächer schon lange verfault und niedergebrochen waren, hatten sie doch in einem Lande, wo man keinen Regen kennt, der Zeit Trotz geboten, und unheimlich starrten noch jetzt die dunklen, augenartigen Fenster und Thüröffnungen, durch die schon lange, lange Jahre kein lebendes Wesen geschaut hatte, aus den weißen leeren Wänden heraus nach dem Wanderer unten. Noch ließ sich der frühere Marktplatz erkennen – noch die Ueberreste einer wahrscheinlich von den Spaniern gebauten Kirche, aber kein Fuß betrat mehr jene öffentlichen Plätze und Straßen, kein Haupt neigte sich mehr in jener Kirche dem unbekannten neugebrachten und furchtbaren Gott, dessen Name in diesem neuen Welttheil mit Blut getränkt und mit Schrecken umgeben worden. Die bleichen, kahlen Mauern, die von dort herüberschimmerten, kamen mir vor wie ein riesiges Menschengerippe, das da drüben in der Sonne dörrte.

Aber auf diesen Wegen kann man sich nicht viel Betrachtungen hingeben, denn man muß das Auge auf den Pfad selber halten, der von jetzt an bald steil aufläuft, bald tief abfällt, wie gerade das Terrain selber toll und wild seine Höhen aufgeworfen oder seine Tiefen gerissen hatte. Vom Wegbau haben die Süd-Amerikaner nur eine sehr unbestimmte Idee, die sich darauf beschränkt, die Bahn für ein Lastthier nur möglicher Weise passirbar zu machen. Schwierigkeiten im Wege wegzuräumen fällt ihnen nicht ein; sie umgehen dieselben, wenn auch auf noch so großen Umwegen, und was ihre Thiere dabei unnöthiger Weise auf- und abklettern müssen, wird gar nicht geachtet. Sprengpulver steht, wie mir gesagt wurde, sorgfältig auf allen Rechnungen, aber wie ein Steinbohrer aussieht, wissen sie schwerlich; wenigstens ist er nie angewandt.

Enger und enger wurde das Thal, aber hie und da zeigten sich jetzt auch einige fruchtbare und angebaute Felder darin, und besonders üppig stand in diesen die Alfalfa, das Futterkraut für die Thiere. Auch Mais und Kartoffeln – denn das tropische Klima lag hinter mir. Uebrigens hatte ich mir vorgenommen, heut noch das von Macas vierzehn Leguas entfernte Oberagilio, ein größeres Städtchen, zu erreichen, um in gutes Quartier zu kommen, und die Nacht brach ein, während sich der Weg noch steil am Fluß hinaufzog. Der Chillon bildete hier fast nur eine Kette von kleinen Wasserstürzen, und wundervoll sah es aus, wie die weiß schäumende Fluth donnernd und kochend aus dem dunklen Schatten der Felsen herausströmte und in tiefen Kesseln dann tief unten wirbelte und gährte. Der Pfad war dabei schmal und rauh, mein Thier mußte halbe Stunden lang über lose Felsstücken hinwegsteigen und selbst oft klettern; Maulthiere haben aber darin einen vortrefflichen Instinct, und man kann sie sich selber vollkommen ruhig überlassen, ja je weniger man selber den Zügel führt, desto sicherer gehen sie. Es wurde aber doch neun Uhr, ehe ich die Stadt selber erreichte, und mit Mühe konnte ich noch Quartier für mich und einen Burschen bekommen, der mein Maulthier für die Nacht in einen der Pastresos (Weideplätze) hinausführte. An ein Bett war ebenfalls nicht zu denken, und ich schlief die Nacht – wie [523] schon so viele in meinem Leben – mit dem Kopf auf dem Sattel, in meinen Poncho eingewickelt.

Der nächste Tag brachte für mich eine freundlichere Scenerie, denn der wilde Strom schien genug Wasserstaub umherzustreuen, den Thalboden feucht und fruchtbar zu halten, auch wurde mir gesagt, daß es hier sehr häufig regnen solle. Ich hatte also die dürren, trocknen Küstenhänge Perus hinter mir und durfte jetzt doch wenigstens auf grüne Hänge hoffen. Es giebt nichts Traurigeres, als durch ein so ödes Land zu reiten.

Die Berge waren auch hier in der That mit grünen und Blumen tragenden Büschen bewachsen, und am Wege selber stand in großen duftenden Sträuchern das reizende Heliotrop (Vanille), das seinen Wohlgeruch mit der frischen Morgenbrise ausstreute. Allerliebste Colibris, purpurroth und grün und von winziger Kleinheit, summten und surrten um die Weidenbüsche des Stromufers, und buntfarbige, zierliche Vögel machten schwache und meist unglückliche Versuche, ein Concert anzustimmen.

Die Vögel Amerika’s haben herrliche Farben, aber nur sehr wenige können wirklich singen, und unsern Waldsängern daheim kommt keiner gleich, den Mocking birdvon Louisiana, der auch die amerikanische Nachtigall genannt wird, vielleicht ausgenommen.

Alfalfa, Mais und Kartoffeln wuchsen hier üppig, blieben aber auf das schmale Thal beschränkt, und nur hie und da hatten sich die Bewohner in die Hänge hinaufgewagt und ordentliche Felder angelegt, die grün und fruchtbar aussahen. Wenn die Leute hier ordentlich arbeiten wollten, könnten sie gewiß genug ziehen, wenig aber brauchen sie nur zum Leben, und über das Wenige hinaus gehen dann auch ihre Anstrengungen nicht, wie man es ja in ganz Süd-Amerika, wie man es bei der ganzen spanischen Race findet.

Gegen Abend überholte ich einen Arriero, der mit Packthieren nach Cerro de Pasco und weiter nach Huánaco zog. Den Thieren waren die kupfernen Gefäße zu einer Branntweinbrennerei aufgeladen, und Einzelne davon trugen riesige kupferne Kessel, die diese Leute mit großer Gewandtheit auf den Packsätteln festzuschnüren wissen. Rauh genug gehen sie freilich mit den ihnen anvertrauten Gütern um, denn rauh ist auch der Weg und rauh das Volk, und was sich eben nicht gutwillig mit den rohledernen Schnüren festigen läßt, muß entweder biegen oder brechen. Den Schaden trägt natürlich der Empfänger, weshalb also auch große Vorsicht damit brauchen? Mehrere der kupfernen Gefäße und Röhren waren schon eingebogen und ein paar der Abzugshähne vollkommen abgebrochen, so daß ich in der That nicht weiß, wie sie das im innern Land je wieder repariren können.

Da ich am vorigen Tage einen sehr weiten Ritt mit meinem Thiere gemacht und es etwas schonen wollte, so blieb ich an diesem Tage bei den Arrieros, natürlich in der Voraussetzung, daß wir wieder irgend ein bequem gelegenes Haus erreichen würden, in dem wir übernachten könnten. Darin sollte ich mich aber getäuscht sehen. Höher und steiler stieg der Weg hinan; fruchtbare, angebaute Felder hatten wir schon gegen Mittag hinter uns gelassen, und viele Strecken mußte ich absteigen und zu Fuße gehen, meinem Thier nur etwas den Weg zu erleichtern. Aber wir erstiegen auch jetzt den scheidenden Bergrücken der Cordilleren, in die wir so allmählich hineingekommen waren, daß ich es gar nicht recht merkte, bis mich die kältere Luft darauf aufmerksam machte.

Einer Menge von Maulthieren und Eseln begegneten wir dabei, oder überholten sie auch, die theils leer von Cerro herunterkamen, theils eine Menge der verschiedenartigsten Waaren hinaufschafften. Ganze Karawanen von Eseln besonders trugen jene schweren eisernen, mit Schrauben versehenen Gefäße, in denen das Quecksilber verschickt wird, das sie in Cerro zur Amalgamation gebrauchen. Große Fässer trugen andere und riesige Kisten, ja eines der unglücklichen Thiere hatte sogar ein ganzes Pianino auf dem Rücken, das es von Lima aus in die 48 Leguas – circa 34 deutsche Meilen – entfernte Bergstadt hinaufschleppen mußte. Wer die Wege selber kennt, sollte das fast für unmöglich halten, aber Maulthiere machen fast Alles möglich, was in ihr Fach schlägt, und nicht sehr rasch, aber vollkommen sicher verfolgen sie ihre Bahn. Manchmal freilich wird es ihnen doch zu viel, und besonders hier oben, wo die Berge nur höchst dürftig Futter tragen und nichts auf der Gotteswelt mehr zu kaufen ist, verlassen sie nicht selten ihre Kräfte. Die Beweise liegen dazu in zahlreichen gebleichten Maulthier- und Pferdegerippen auf den Höhen und besonders an der Straße selber, denn so lange sie nur noch kriechen konnten, gönnte man ihnen keine Ruh. Oft wird ja sogar erst den todten die bitterschwere Last abgeschnallt, die das arme, von Hunger ermattete Thier zu Boden drückte. Arrieros können nämlich oder wollen für ihre Thiere kein Futter kaufen, und sobald sie diese Höhe erreichen, wo deshalb auch nie Jemand einen Vorrath von Futter einlegt, so treiben sie ihren Trupp von Thieren einfach auf die Weide. Wie gesund die aber für sie sein muß, sah ich am nächsten Morgen, wo der ganze Boden weiß mit Reif gedeckt war.

Diese Nacht, die ich vollkommen im Freien zubringen mußte, fror ich furchtbar, denn eben erst aus einem heißen Klima so recht mitten wieder in den Winter hineinzukommen, wollte meinem Körper gar nicht zusagen. Du lieber Gott, ich wußte ja nicht, was mir noch Alles bevorstand, und wie oft ich in den nächsten Wochen das Klima von heiß zu kalt und von kalt zu heiß wechseln sollte. Nahrungsmittel waren außerdem ebenfalls keine zu bekommen. Nicht weit von dort, wo wir absattelten, hatte allerdings ein Schäfer seine kleine, runde, mit Rasen gedeckte Hütte, in der er die Nacht warm genug liegen mochte, aber nichts weiter als etwas sogenannte chupa oder Suppe, die er uns anbot und die ich, mit der frischen Erinnerung an die ecuadorische Kochkunst, hartnäckig verweigerte. Ich führte etwas Brod und Chocolade bei mir und hielt davon mein frugales Abendbrod. Am nächsten Morgen brachen wir ziemlich früh wieder auf, d. h. die Arrieros begannen mit ihren Thieren sehr früh; ehe sie aber allen die Sättel aufgelegt und die Packen festgeschnürt hatten, verging doch eine ziemlich lange Zeit und ein schöner Theil vom Tag. Mir selber wurde dabei die Zeit lang, und sobald ich mein Thier fertig gesattelt hatte (wobei mir die Hände so froren, daß ich sie abwechselnd in die Tasche stecken mußte), sagte ich den langsamen Arrieros adios und trabte frisch in die wilde, öde Bergwelt hinein. Und wie wild, wie öde sah das hier aus; wie kahl und starr hoben sich die nackten, nur dürftig mit einem gelblichen Gras bewachsenen Kuppen empor, zwischen denen nur manchmal eine einzelne stille Lagune der Scenerie einige Abwechselung gab! – und trotzdem war kein einziges wildes, d. h. jagdbares Thier hier zu sehen. Hoch, hoch über mir, aber weit außer einer Kugel Bereich kreisten wohl ein paar Condore, sonst aber – zwei schwarze Bläßenten ausgenommen, die auf der einen Lagune schwammen – war kein einziges lebendiges Wesen zu sehen, und ich und mein Maulthier schienen in der ringsum ausgestorbenen Schöpfung allein übrig geblieben zu sein.

Ein paar Mal, wo es ziemlich steil bergauf ging, stieg ich ab, es dem Thier zu erleichtern, und fand dann zu meinem Erstaunen, daß mir das Athmen sehr schwer wurde. Auch Kopfschmerz bekam ich, oder eigentlich keinen wirklichen Schmerz, sondern nur eine Art unangenehmes Zusammenpressen der Schläfe. Freilich war alle Ursache dazu vorhanden, denn ich befand mich hier, als ich die Höhe endlich erreichte, auf dem höchsten Paß der Cordilleren und 16,000 Fuß hoch über der Meeresfläche. Ich fühlte dabei besonders die beißende Schärfe der Luft, wenn ich den Athem durch die Nase zog, sonst aber von allen jenen Unbehaglichkeiten, von denen mir früher war erzählt worden, nichts. Es soll nämlich gar nicht so selten vorkommen, daß Menschen und selbst Maulthiere einen wirklichen Krankheitsanfall auf dieser Höhe bekommen, eine Art von Seekrankheit, die von furchtbaren Kopfschmerzen und tödtlicher Ermattung begleitet ist. Die davon befallenen Maulthiere stürzen plötzlich nieder, und wenn man sie nach einiger Zeit wieder in die Höhe bringt, zittern sie an allen Gliedern, und können sich vor Mattigkeit kaum selber von der Stelle schleppen, viel weniger noch einen Reiter tragen. Man nennt diesen Anfall, wenn ich nicht irre, hier im Land Vedde, und er muß, nach Allem, was ich darüber gehört habe, weit eher in gasartigen Luftströmungen, als in der wirklichen Höhe seinen Ursprung haben, da er nie eigentlich auf dem höchsten Punkt des Passes, sondern mehr an dem östlichen Hang der Cordilleren vorkommt.

(Schluß folgt.)
[524]
Das erste deutsche Schützenfest.

Das erste deutsche Schützenfest in Gotha ist vorüber, das Werk der Zerstörung an allen Bühnen und Buden, die zum Feste mühsam aufgebaut worden waren, ist vollbracht, die Fahnen und Bögen, durch welche die Gäste geehrt wurden, sind verschwunden. Aber noch lange wird das Fest in der Erinnerung eines Jeden, der ihm beiwohnte, in den Wirkungen leben, die daraus hervorgehen müssen.

Schon der Ort selbst, wo ein volksthümliches Fest gefeiert wird, macht einen festlichen Eindruck, seine Luft ist Festluft, die Gesichter der Menschen sind Festgesichter. So war’s auch in Gotha, wo vom 7. bis 11. Juli d. J. mit dem Schützenfest zugleich ein allgemeines thüringer Turnfest gefeiert wurde. Vom Eisenbahnhof am einen Ende bis zum Schießplatz am anderen Ende der Stadt, von Straße zu Straße zeigte sich Haus für Haus mit Gewinden und Kränzen von Laub, Nadelreisig, Blumen geschmückt; Fahnen, Wimpel, Flaggen jeder Größe und Gestalt wehten von allen Häusern, meistens zwischen kleineren Fahnen in von Landesfarben, Grün und Weiß, oder in dem thüringischen Roth und Weiß eine gewaltige schwarz-roth-goldene; oft sah man die Farben Schleswig-Holsteins; ein Nordamerikaner hatte das Sternenbanner aufgezogen. Hohe Bögen mit Reisig und Fahnen und einem „Gut Heil!“ oder „Willkommen!“ waren an den Eingängen der Hauptstraßen angebracht, einige darunter mahnten zur Einigkeit, andere wiesen in scheibenförmigen Tafeln auf das „eine Ziel“ der Schützen hin. So hatten nicht blos Privatleute geschmückt, sondern auch die Stadt und die Staatsbehörden, alle öffentlichen Gebäude ohne Ausnahme trugen ein Festgewand und bewiesen wohlthuend, wie einträchtig im Ländchen Gotha Behörden und Bürger zusammenwirken. Vor allem prangte das Rathhaus, das Hauptbureau für die Einquartierung, im Schmucke grüner Guirlanden, zahlloser Fähnchen und großer Flaggen.

Es versteht sich von selbst, daß der Festplatz hinter der Stadt nicht zurückblieb. Die „Alt-Schützen-Gesellschaft“ hatte ihre große Besitzung am nördlichen Ende der Stadt dem Feste gewidmet; diese Gesellschaft umfaßt die Schützen Gotha’s, die meisten der ungefähr 90 Unternehmer des Festes gehörten ihr an, und nicht blos die Schützen, sondern fast alle Mitglieder der Gesellschaft hatten sich eifig des Festes angenommen. Der große Platz vor dem Schießhause war in zwei Hälften abgetheilt, und von diesen nur die obere zum Festraume gezogen. Im unteren Raume befanden sich eine Halle für ein Musikcorps, drei Eß- und Trinkbuden und verschiedene Kuchen- und Schaubuden, bestimmt, die Masse des Publicums einigermaßen vom Festraume abzuleiten. Dieser war durch eine Barriere abgegrenzt. Auf deren Mitte stieg ein mächtiger Bogen empor, der auf beiden Seiten die Wappen deutscher Staaten enthielt und auf hohen Masten ihre Flaggen, über allen, zwischen der schwarz-weißen und der schwarz-gelben, eine große schwarz-roth-goldne und darunter auf der einen Seite der Gruß: „Willkommen!“ auf der andern der Zuruf: „Einigkeit macht stark!“ Rechts am Eingange eine Speisewirthschaft von 126 Fuß Länge und 28 Fuß Tiefe, halb innerhalb, halb außerhalb des Festraums. Das große Schießhaus, gerade dem Eingange gegenüber, mit einer einzigen hohen schwarz-roth-goldnen Fahne geschmückt, bildete den Mittelpunkt des Festraums. Es umfaßt drei Säle, von denen der eine unmittelbar vor dem Feste gebaut worden war; im mittelsten großen Saale flaggten von oben herab die Fahnen aller deutschen Staaten, durch ein schwarz-roth goldnes, von zwei deutschen Fahnen ausgehendes Band verbunden. Dieser Saal war zu den täglich stattfindenden Festessen bestimmt und für 300 Gedecke eingerichtet; der eine Nebensaal sollte zu Verhandlungen benutzt werden, der andere zum Speisen à la carte. Um eine Küche von gehörigen Dimensionen zu gewinnen, hatte man Heerde und Geräthe vom Schlosse Friedenstein beigeschafft. Rechts am Schießhause eine große geschmackvolle Trinkhalle, eben erst aufgebaut und noch nicht vollendet, und weiter hinauf an der Anhöhe zwei große Wirthschaften, nebst einer „kohlensauren“ und einer Cigarrenbude sorgten noch, außer einer Bierwirthschaft und einer Conditorei links vom Schießhause für die leiblichen Bedürfnisse. Musikbanden spielten auf zwei Plätzen im oberen Festraume. Man konnte sich also leidlich wohl besinnen!

Einen wahrhaft herrlichen Anblick gewährte oberhalb des Schießhauses der „Gabentempel“. Außer Festgewinden und Blumen zierten seine Giebel zwei schöne Bilder; das eine von Heinr. Schneider in Gotha stellte Barbarossa dar, noch schlafend im Kyffhäuser, aber im Begriff zu erwachen, von Raben umflattert, die davon fliegen, von Gnomen umgeben, die Waffen schmieden, Säbel schleifen, Kugeln gießen; das andere, nach der Schießhütte zu gerichtet, von Emil Jacobs in Gotha transparent gemalt, zeigte das Bild der Germania, wie sie den Schützen die Kränze reicht, die sie aus der Hand zweier Genien empfängt. Der Inhalt des Gabentempels war so reicher Zierden würdig. Vor Allem hatte dazu das Ländchen Gotha beigesteuert, und zwar jede Stadt, fast alle Schützengesellschaften, eine Menge Einzelner, Männer und Frauen. Aber es war überhaupt fast jedes deutsche Land, fast jede deutsche Stadt darin vertreten – nur leider mit Ausnahme Oesterreichs und – man gestatte mir die merkwürdige Zusammenstellung – Liechtensteins. Auch Deutsche im Ausland, in England, in Kurland, in Frankreich und in der Schweiz, sandten werthvolle Preise. Unter den Gebern befanden sich der Herzog und die Herzogin von Coburg-Gotha, der Herzog Albert, Prinz-Gemahl von Groß-Britannien, und der Kronprinz und die Kronprinzessin von Preußen. Die beiden letzteren waren die einzigen unter allen Personen fürstlichen Standes in schönem Bürgersinne des Festes, ohne irgend vom Festausschusse dazu aufgefordert worden zu sein; denn dieser hatte sich geflissentlich enthalten, außer den Herzögen des Landes, deren Theilnahme er gewiß war, Einzelne speciell um ihre Betheiligung zu begrüßen. Die kostbarsten Gaben – wir wollen damit auch die geringsten nicht in Schatten stellen, die der geringe Mann vielleicht mit größerer Aufopferung dargebracht hat, und es ist keine leichte Aufgabe, aus allen Kostbarkeiten die werthvollsten herauszuwählen, aber es dünkt mir nothwendig, um denen, die den Anblick nicht gehabt haben, einen Begriff davon zu verschaffen – die kostbarsten Gaben bestanden in einem Humpen des Herzogs Ernst, einer Whitworthbüchse und einem Pokal des Prinzen Albert, zwei Trinkgeschirren des Kronprinzen und der Kronprinzessin von Preußen, einem Humpen von Frankfurt a. M. mit 50 Zweithalerstücken, einem Taschenchronometer nebst Kette von den Frauen Gotha’s, einem Pokal von der Stadt Gotha, einem Pokal von Hamburg. Allerlei Geschirre von Silber, Pokale und Becher, Löffel, Dosen, Schaufeln, alle Gattungen von Uhren, alle Arten von Porzellan, alle Sorten Pfeifen und Cigarrenspitzen, Waffen jeglicher Gattung und namentlich Büchsen jeglicher Construction, feine Stickereien in Masse fanden sich hier ausgestellt; es fehlte kaum ein Erzeugniß der Industrie, selbst Glasziegel und Uhrglocken konnte der Schütze gewinnen. Wein war in Menge geliefert worden, zum Theil mit der Bestimmung, daß er beim Feste getrunken werde, aber freilich hatte er in den Keller wandern müssen. Noch am letzten Tage langten Festgaben an, einige zu spät. Der Werth alles Vorhandenen mit Einschluß der Gaben an Geld mag sich, gering gerechnet, wohl auf 5000 Thaler belaufen haben.

Aber wir müssen den schönen Anblick, der die Zuschauer beständig auf’s Neue anzog, verlassen, um in die Schießhütte zu gelangen. Sie lag am äußersten Ende des Platzes, 314 Fuß lang von Ost nach West gestreckt und hatte durchgängig 25 Fuß Tiefe. Die Schießstände befanden sich an der nördlichen Seite, an der südlichen die Ladebänke. Zehn Stände hatten 250, zwanzig 400 Fuß rhein. Entfernung. Bei den Ständen zu 400 Fuß hatte das Centrum (Schwarz) 5½ Zoll, bei den Ständen zu 250 Fuß hatte es für das Freihandschießen 4¼, für das Aufgelegtschießen 3 Zoll Durchmesser, der Ring um das Centrum hatte bei den Scheiben zum Auflegen aus 400 Fuß 5½, sonst 9 Zoll Durchmesser. Ueber allen hingen bekränzte Tafeln mit den Namen der Scheiben, und zwar führten die vier Ehren- und Prämienscheiben die Namen „Deutschland“, „Herzog Ernst“, „Thüringen“, „Schleswig Holstein“, ferner die Scheiben auf 400 Fuß die Namen „Prinz-Gemahl Albert“, „Kronprinz von Preußen“, „Deutsche Flotte“, „Blücher“, „Scharnhorst“, „Gneisenau“, „York“, „Schill“, „Lützow“, „Frhr. v. Stein“, „Vater Arndt“, „Theodor Körner“, „Andreas Hofer“, „Vater Jahn“, „Fichte“, „Alex. v. Humboldt“, „Leipzig“, „Waterloo“, die Scheiben auf 250 Fuß die Namen „Barbarossa“, „Hansa“, „Rhein“, „Donau“, „Elbe“, „Oder“, „Weichsel“, „Weser“. Der Schuß kostete auf die Ehrenscheiben 15, auf die anderen Scheiben 10, 5, 4 und 2½ Sgr. Für die Scheibe „Deutsche Flotte“ waren von einzelnen Gebern, namentlich vom Herzog von Schleswig-Holstein Augustenburg, besondere Geschenke

[525]

In der Schießhütte.
Nach der Natur aufgenommen von Professor Schneider in Gotha.

[526] gestiftet werden, nur diese wurden den Schützen zum Preise ausgesetzt und alle Einlagen darauf (der Schuß kostete 10 Sgr.) ohne Abzug bestimmt, zum Bau eines Dampfkanonenbootes für die Nordsee dem preußischen Marineministerium überwiesen zu werden; sie gewährte einen Ertrag von fast 153 Thalern. Aus den vier Ehrenscheiben wurden Festgaben und Geldgewinne ausgeschossen, auf den übrigen Scheiben nur Geldgewinne. Ein Theil der Ehrengaben war zu besonderen Prämien für die bestimmt, welche jeden Tag und während des ganzen Festes die vier höchsten Summen von Treffern erlangt hatten. Das Schießen aus freier Hand war bei der Vertheilung der Festgaben begünstigt.

Die Schießordnung war etwas complicirt. Denn man hatte das Aufgelegtschießen neben dem Freihandschießen zugelassen und bei einzelnen Ständen auch das Diopter und jedes besondere Hülfsmittel ausgeschlossen, es sollte hier vollkommen feld- und jägermäßig geschossen werden. Zum Schießen aus freier Hand wurde Schießen „frei mit erhobenem Arm“ erfordert. Wer auf die Ehrenscheiben schießen wollte, mußte erst einmal Schwarz getroffen haben, auf die Freihandscheiben aus freier Hand, auf die Scheiben für’s Auflegen mit Auflegen; wer dann noch drei Mal aus freier Hand oder sechs Mal mit Auflegen Schwarz getroffen hatte, der durfte noch für jede 3 oder 6 Treffer einen Schuß auf die Ehrenscheiben für die freie Hand oder für’s Auflegen lösen. Für jede 100 Schuß waren 25 bis 30 Gewinne, je nach der Güte der Schüsse, ausgesetzt; die Güte der Schüsse wurde durch Schußmesser und Meßcirkel von besonders erfundener Construction – Erfindungen des einen Mitgliedes des Schießcomités, Helfricht in Gotha – ermittelt. Die obere Aufsicht in der Schießhütte war zwei Personen anvertraut, für jeden einzelnen Schießstand besonders besorgte ein Ordner die Aufsicht nebst dem Ausmessen der Schüsse und der Bestimmung und Austheilung der Gewinne, lauter mühevolle, die höchste Aufopferung erfordernde Aemter! Das Schießamt befand sich in der Mitte zwischen den Ständen für 400 und für 250 Fuß, hier war der Sitz des Schießcomités und von hier aus wurde mit der Zielermannschaft durch eine Correspondenzanstalt eigener Construction schriftlich verkehrt. Die Zieler standen unter der Oberfläche bei den Scheiben, die Gräben für diese waren gegen 8 Fuß tief, hinter den Scheiben Erdaufwürfe, durch Pfähle und Breter gestützt, zur Sicherung der Zieler gegen das Zurückprallen der Kugeln dicht mit Reisig bedeckt; von jedem Schießstande führte ein besonderer Klingelzug zur Scheibe; um eine Verwechselung der Scheiben von den einzelnen Schießständen aus zu vermeiden, waren Reihen von Lärchbäumchen angebracht.

Diese Einrichtungen haben sich im Ganzen bewährt, es ist kein Geringes, daß sich bei so vielem Schießen nicht das mindeste Unglück zugetragen hat. Die „Correspondenzanstalt“ freilich verweigerte einige Male ihren Dienst, weil die Stricke, an denen die Depeschen befördert wurden, durch die Regen vor dem Feste beschädigt worden waren und erneuert werden mußten; und es entstanden dadurch, sowie durch das Zerschießen einiger Klingeln mehrere Pausen. Auch erforderte das Ausmessen der Schüsse für so viele Scheiben, trotz der Einfachheit der Werkzeuge, ein zu großes Personal und eine Aufmerksamkeit, welche nicht leicht längere Zeit ausdauert.

Nachdem wir so die Feststadt und den Festraum beschrieben haben, können wir unsern Einzug halten. Wir mögen kommen, woher es auch sei, an jeder Hauptstraße werden wir von Mitgliedern des Festausschusses, von Schützen und Turnern, von Zielern in rothen Röcken und Mützen feierlich empfangen und begrüßt; am Bahnhof erwartet uns ein Musikchor, auf den Straßen empfangen uns wehende Tücher und froher Zuruf, auf dem Rathhause – da geht es am Vortage (dem 7. Juli) bei dem plötzlichen Zusammenströmen so vieler Gäste bunt her, aber jeder erhält sein Plätzchen! – holen wir unseren Quartierzettel, Zieler begleiten uns zu unseren Wirthen. Ueberall herzlicher Empfang. Wir entledigen uns des Staubs der Reise und eilen auf den Schießplatz, das Terrain zu recognosciren. Noch ist der letzte Hammerschlag an der Schießhütte und sonst hier und da nicht geschehen, denn Regentage haben die Arbeit aufgehalten. Wir begegnen dem Herzog Ernst, der die Arbeiten selbst noch einmal besichtigt; er hat in den letzten Tagen fortwährend mit den Ausschußmitgliedern gewirkt, sein praktischer Blick, sein Geschmack haben dem Feste großen Nutzen gebracht. Wir wandern an den geschmückten Hallen und Häusern hin. Wir betreten eine Restauration – man hat wacker für uns gesorgt – wir treffen andere Gäste, jeden Augenblick vermehrt sich ihre Zahl, hier begrüßt der Pfälzer den Holsteiner, dort der Nürnberger den Rheinländer, da ruft uns selbst ein alter Freund aus der Ferne an; Concertmusik rauscht nach uns herüber, aber wir hören nicht viel davon, weil die Menge fortwährend wächst. Ein dünner Regen treibt uns in die Häuser hinein, schnell vergeht der Abend. Ein müder Nachbar erinnert uns, daß wir nach Hause gehen müssen, denn morgen früh 7 Uhr sollen wir uns zum Festzug versammeln. Wir finden’s probat, denn wir wollen ihn nicht versäumen.

Und wir haben ihn mitgemacht, diesen Festzug! Keiner von uns, darin waren Alle einig – hat jemals einen so schönen Zug gesehen, so gewaltige Eindrücke mit hinweggenommen. Er bildete den Glanzpunkt des Festes und wirkte noch durch die ganze Dauer desselben.

Um 6 Uhr am 8. Juli weckte uns die Reveille, die durch die Stadt zog. Wir begaben uns um 7 Uhr auf den Marktplatz, schon trafen wir eine dichtgedrängte Zuschauermasse, wir stellten uns auf dem uns bestimmten Platze auf. Halb 8 Uhr zogen die Turner heran, ihre Fahnen von Jungfrauen in weißen Kleidern mit rosarothen Schärpen umgeben, gegen 8 Uhr die Festreiterei. Gleich nach 8 Uhr war die Aufstellung vollendet, der Bürgermeister Hünersdorf hielt vom Rathhause aus eine Anrede an die „deutschen Festgenossen“, hieß sie willkommen, sprach den Wunsch aus, das Fest möge das deutsche Nationalgefühl stärken und der Wehrkräftigkeit immer neuen Aufschwung geben, und schloß mit einem Hoch auf Deutschland. Dann erscholl vom höchsten Punkte des Hauptmarkts herab des Festordners Assessor Ewald II. weithin vernehmliches „Vorwärts marsch!“ Der Zug setzte sich unter lautem Hurrah in Gang, alle Glocken der Stadt läuteten, Kanonen donnerten vom Galgenberge und vom Schießplatze, eine unabsehbare Menschenmenge wogte und summte durch einander, alle Fenster, zum Theil die Dächer waren mit Zuschauern besetzt; man glaubt, die Zahl aller Anwesenden, Festtheilnehmer und Zuschauer, habe sich in Folge der Menge der Fremden und des Zuzugs aus der ganzen Umgend auf 2O,000 belaufen, obwohl Gotha nur 16,000 Einwohner hat. Die Zahl der Schützen im Zuge betrug gegen 800, die der Turner gegen 500; gegen 80 Fahnen wurden im Zuge getragen.

Und so, unter beständigem Kanonendonner und Glockengeläute, durch die dicht geschaarten Menschen bewegte sich der Zug sicher dahin, feierlich friedlich, ohne die mindeste Störung, als könnte es gar nicht anders sein. Voran der Festordner mit schwarz-roth-goldner Schärpe hoch zu Rosse, zwei Festreiter zur Seite, dann die Festreiterei, 50 Reiter, alle mit weiß-grünen Schärpen, alle stattlich beritten, ein Musikcorps, eine Abtheilung Communalgardeschützen, der Vorstand des Turnvereins von Gotha, die roth-weiße Fahne des thüringer Turnerbunds, von einem Turner getragen und umgeben von einer aus Turnern bestehenden Abtheilung der Feuerwehr von Gotha in Dienstkleidung, die Deputationen auswärtiger Turnvereine mit Fahnen und Schildern, unter Anschluß der auswärtigen Turner, die Fahne der Turner Gotha’s, umgeben von der Fechtriege, eine Anzahl weißgekleideter Jungfrauen, von den Zugführern der Turner umgeben, die Turner von Gotha, eine Anzahl Studenten, denen ein Trinkhorn vorausgetragen wurde. Ein zweites Musikcorps eröffnete den Zug der Schützen, voran gingen ihre Zieler in rothen Jacken und Mützen, Zielerstäbe, Scheiben und Zielerfahnen tragend, mit Pfeifern; es folgten die Deputationen auswärtiger Schützenvereine mit Fahnen und Büchsen, die auswärtigen Schützen, der Schützenmeister und zweite Vorsitzende des Festausschusses, Sterzing, und der Bürgermeister, drei Knaben in Pagentracht von rothem Sammet, mit Humpen und Pokalen, der Schützenkönig von Gotha im Ornat – einem schweren Gehänge von silbernen Schildern – der Vorstand der Altschützengesellschaft, die Schützen derselben mit ihrer Fahne. Ein drittes Musikcorps reihte sich daran, dem die Männergesangvereine Gotha’s mit ihren Fahnen und Abzeichen und alle Festtheilnehmer, die nicht zugleich Schützen waren, folgten. Eine Abtheilung Communalgardeschützen bildete den Schluß. Zwischen den einzelnen Abtheilungen des Zugs schritten Zugführer mit weiß-grünen Binden und Stäben, alle Fahnen der Turner und Schützen waren von weißgekleideten Mädchen begleitet, die theils schwarz-roth-goldene, theils roth-weiße Schärpen trugen.

Ein wunderbares Schauspiel bot dieser Zug mit seinem bunten [527] Farbenwechsel, mit seinen vielen, oft kostbaren Fahnen, in seinem lebendigen und musterhaft geordneten Hinschreiten. Und eigenthümlich paßten zusammen die jugendlichen Turner – unter denen die Coburger sich durch eine besondere feldmäßige Kleidung, Ausrüstung und Bewaffnung auszeichneten, das Publicum nannte sie „des Herzogs Garibaldianer“, – und die älteren Schützen, bei denen die jägermäßige Tracht mit Uniformen aller Gattungen wechselte; ja, in diesem Zuge durfte man sich die altväterische Gravität unserer Schützengilden und den militairischen Pomp mit Troddeln und Fangschnüren, Epaulettes, gestickten Kragen, Federhüten und Schleppsäbeln wohl gefallen lassen. Der ganze Aufmarsch dauerte volle achtzehn Minuten.

Vom Hauptmarkt, wo der Herzog, mit Hurrah, Hut- und Fahnenschwenken begrüßt, der Aufstellung beigewohnt und einen Theil des Zugs mit angesehen hatte, nahm dieser seinen Weg durch mehrere Straßen am Theater vorbei, über die beiden unteren Märkte nach dem Schießplatze. Dort erwartete ihn der Herzog, umgeben von den nicht beim Zuge betheiligten Mitgliedern des Festausschusses, auf einer Estrade vor dem Schießhause, dem Eingange gegenüber. Jede Abtheilung grüßte beim Einmarsch durch Hurrah und Fahnenschwenken. Die Jungfrauen stellten sich an der Estrade auf, zur einen Seite die Turner, zur andern die Schützen, quer vor die übrigen Festtheilnehmer, die Communalgarde besetzte den Eingang, die Fahnen traten in zwei Reihen zusammen, der Festordner meldete die beendigte Aufstellung dem Herzog-Ehrenpräsidenten, und dieser sprach mit seiner kräftigen, sonoren Stimme die schönen, feierlichen Weiheworte des Festes:

„Geehrte Versammlung! Der Gedanke einer Vereinigung deutscher Schützen rief schon vor Jahrhunderten die Schützengilden zu gemeinsamen Festen zusammen. Aber unaufhaltsam gingen die Wogen der Zeit über die früheren Versuche hinweg. Das Alte sank in Trümmer, ein neues Leben ist erstanden und alten Grundfesten erblüht in jugendlicher Frische ein neuer Gedanke. Das Volk, das edle deutsche Volk, fühlt sich in seiner Kraft. Nach Einigung drängen die Massen, und so schaarten sich auf den ersten Ruf die deutschen Schützen aus allen Gauen und die Turner der engern Heimath um ihre Fahnen, und jubelnd begrüßen wir hier vor uns alle die Fähnlein, die von fern gekommen. Kraft und Geschicklichkeit sollen heute nach Preisen ringen, um den Einzelnen, gehoben durch das Bewußtsein seines Werthes, dem Ganzen brauchbarer zuzuführen. Das Hauptziel des gemeinsamen Strebens sei Wahrung der Ehre und Schutz des großen deutschen Vaterlandes. Zu diesem Gedanken laßt uns einander die Bruderhand reichen! Und hiermit erkläre ich den ersten deutschen Schützentag für eröffnet.“

Wer könnte den Sturm der Freude beschreiben, den diese Worte hervorriefen? Wenn ein Anderer so gesprochen hätte, ein Mann aus dem Volke, sie hätten Eindruck gemacht, Eindruck machen müssen bei allen den festlich gestimmten Menschen; hier kamen sie aus dem Munde eines Fürsten, der im bürgerlichen Kleide im Kreise seiner Unterthanen vor die Festgenossen aus ganz Deutschland hintrat, eines Fürsten von mannhafter Persönlichkeit und zweifellosem Patriotismus, der sich eben dadurch die Achtung des ganzen Vaterlandes erworben hat; man konnte in ihm die Idee dieses Schützenfestes verkörpert finden. Ein tausendfaches Hurrah brach los, nicht enden wollender Lebehochruf auf den Herzog antwortete. Sahen wir schon vorher im Auge manches kräftigen Mannes eine Thräne glänzen, jetzt konnten Viele sich nur noch mit dem Taschentuche helfen. Freudige Rührung, muthige Zuversicht, flammende Begeisterung vereinigten alle Herzen. Für einen Jeden ein unvergeßlicher Augenblick! Sechs Kanonenschüsse verschollen beinahe in diesem Jubel. Mit Mühe wurde so viel Ruhe hergestellt, daß die Männergesangvereine die Hymne des Herzogs, mit einem neuen Text, vortragen konnten. Abermals jubelnder Hochruf! Nun brach der Herzog, vom Ausschuß begleitet, nach der Schießhütte auf. Die ganze Festversammlung folgte und schritt hinter ihm durch die Hallen. Und sogleich begann ein lustiges Schießen.

Oft sind es einzelne Momente, die einer länger dauernden Festlichkeit ein bestimmtes Gepräge geben. So hier. Dieser Zug und die Ansprache des Herzogs ließen unverlöschliche Eindrücke zurück. Es war nun entschieden: diese Feiertage sollten Tage gemeinsamer nationaler Freude sein, aber zugleich den ernsten Gedanken pflegen, daß der „Schütze“ sich dem Dienste des Vaterlandes weihe.

Von Stunde zu Stunde hatte sich die Zahl der Theilnehmer vermehrt, unmittelbar vor dem Feste waren schon über 2600 Männer eingeschrieben, sie mag im Ganzen mit Einschluß derjenigen, die nur an einzelnen Tagen Theil nahmen, wohl bis auf 10,000 Personen gestiegen sein. Als Schützen zeichneten sich gegen 960 Männer in das Schützenalbum ein, aber sehr Viele waren noch außer diesen anwesend. Aus allen deutschen Ländern kamen die Theilnehmer, die meisten aus Norddeutschland, wo kaum eine Stadt von einiger Bedeutung fehlte, die wenigsten aus Oesterreich, nur ein Wiener und ein Steiermärker hatten sich eingeschrieben; von Königsberg und Danzig bis nach Aachen und nach Freiburg im Breisgau, ja nach der Schweiz, von Rendsburg bis nach München war jeder deutsche Gau vertreten, ganz Deutschland war beisammen!

Der Raum des Festplatzes war so ausgedehnt, daß trotz der ansehnlichen Massen, die zuweilen darin verkehrten, nirgends Ueberfülle, Gedränge entstand; und Alles ging friedlich und freundlich neben einander her. Auf diesen Ton der Friedlichkeit war neben der nationalen Idee, welche alle Theilnehmer mehr oder weniger bewegte, der eigenthümliche Charakter der Feststadt nicht ohne Einfluß. Denn Thüringen liegt zwar größtentheils nördlich von dem thüringer Wald und wird deshalb zu Norddeutschland gerechnet, aber der Thüringer zeigt sich vom Norddeutschen vielfach verschieden. Hat er mit diesem etwas Gehaltenes, ruhig Behäbiges gemein, so nähert er sich doch dem Süddeutschen durch offenes und freies, zuthuliches und gemütliches Wesen, sein Blut ist nicht so heiß, wie das des Süddeutschen, aber auch nicht so kühl wie das des Norddeutschen. Gotha selbst zeichnet sich noch vor allen thüringischen Stätten durch eine gewisse Freiheit des Lebens (nicht der Sitte, die man eher kleinbürgerlich streng nennen könnte) aus, die sich schon in der Tracht, noch mehr aber in einem frischen Umgangston kund thut. Daß diese Stadt den Mittelpunkt bildete und aus ihr und ihrer Umgegend die große Masse der Theilnehmer stammte, mußte dem Feste insofern zum Nutzen gereichen, als Süddeutsche und Norddeutsche sich hier gleich wohl fühlen konnten. Die Freundlichkeit der Aufnahme, die von allen Seiten anerkannt wurde, that das Ihrige, um die Gäste mit den Festgebern zu verbinden.

Aus Leuten der mittleren Stände, der bürgerlichen Gewerbe, bestand die große Mehrzahl der Theilnehmer, und das gab dem Feste ein eigenes Gepräge. Wir haben ja festlich-nationaler Zusammenkünfte schon genug gehabt, die Wanderversammlungen unserer Gelehrten waren in der That die Anfänge, wenn sie auch nicht den Namen trugen; bei uns Deutschen geht nun einmal ein großer Theil alles öffentlichen Lebens aus geistiger Arbeit hervor, und die Wissenschaft bricht jenem die Bahn; die Wanderversammlungen der Gelehrten haben sich in anderen Kreisen, z. B. in den Künstlern, fortgesetzt, aber der festlichen Zusammenkünfte für den gemeinen Mann gab es noch sehr wenige, welche die ganze Nation umfaßt hätten; nur das Sängerfest und den Turnertag zu Coburg können wir dahin rechnen, und die Kreise der Schützen und Schützenfreunde sind wieder ganz andere als die der Turner und Sänger. Jene sind nicht so leicht beweglich wie diese, unter ihnen ist der seßhafte Bürger und Landmann, der „Philister“, um mit dem Studenten zu reden, sehr stark vertreten; die Schützengilden haben ihren Boden in alter Zeit, aus der es ihnen schwer fällt, herauszuwachsen. Der Zopf der Uniformen und der Trödel der Orden charakterisirt einen großen Theil derselben.

So war denn eine bedeutende Zahl der Festgenossen nicht eben von vorstechender Bildung. Aber – und darin besteht die schöne und großartige Wirkung nationaler Feste – alle Theilnehmer waren gehoben durch die Gemeinsamkeit selbst, durch die festliche Gemeinschaft so vieler Menschen aus fast allen Gauen des Vaterlandes; durch diese Gemeinschaft trat gewissermaßen das Vaterland mit seinen Hoffnungen und Sorgen, mit seiner Bedrängniß und seinem Ringen vor jeden Einzelnen hin und führte ihn heraus aus den engeren Schranken seiner bürgerlichen Kreise. Und in diesem Lichte des Festes selbst erschien auch der minder bedeutende Mann als ein würdiger Genosse.

Nicht am meisten galt dies wohl von einem Theil derer, die dem Namen nach den wesentlichsten Bestandtheil des Festes bildeten, von den Schützen. Es giebt unter ihnen zwei Classen, die sich auf allen Schützenfesten einfinden, so weit ihre Tasche reicht, und für welche die Schützensprache besondere Namen hat, die „Schießteufel“ und die „Brodschützen“. Jene haben kein anderes Interesse als das Schießen selbst; sie werden davon so beschäftigt, daß ihnen [528] der höhere Zweck des Zusammenseins entschwindet. Und die „Brodschützen“ gehen darauf aus, mit dem Schießen – zu erwerben, ihr Auge ist hell, ihr Arm fest, ihr Blut ruhig, ihre Büchse sicher, aber sie entweihen die Kunst. Neben diesen steht eine dritte Classe, derer, die zwar nicht um des Gewinns, sondern um der Ehre willen schießen, aber auf das Gutschießen einen Werth legen, als böte das Leben nichts Höheres. Es versteht sich von selbst, daß diese drei Classen auch in Gotha nicht fehlten. Und sie empfanden wohl den Hauch der Festluft, die dort wehte, am wenigsten.

Die Art überhaupt, wie geschossen wurde, befriedigte keineswegs alle Wünsche, die sich daran knüpften. Aus freier Hand wurde sehr wenig und im Ganzen mittelmäßig geschossen. Auf die Hauptprämienscheibe für freie Hand mit Zulassung des Diopters auf 400 Fuß geschahen nur 471, auf dieselbe Entfernung mit Auflegen dagegen 886 Schüsse; auf 250 Fuß wurden aus freier Hand (ohne Diopter) nur 492, mit Auflegen dagegen 1102 Schuß auf die Ehrenscheiben abgeschossen, die Stände für freie Hand waren überhaupt so schwach besetzt und diejenigen für das Auflegen so überfüllt, daß das Schießcomité sehr bald einige der Freihandstände zum Auflegen einrichten mußte. Einigen Einfluß hierauf mochte die Bestimmung der Schießordnung haben, daß auf den Freihandständen „frei mit erhobenem Arme“, also nicht mit eingestemmtem Arme geschossen werden solle. Denn ein Theil der Schützen war nur auf das Schießen mit eingestemmtem Arme eingeübt und führte zu schwere Waffen, um mit diesen anders schießen zu können, dies waren namentlich Schützen aus Süddeutschland und aus Bremen. Nachdem einige von ihnen zurückgewiesen worden waren, als sie den Arm einstemmten, trat am 9. Juli Vormittags ein Schiedsgericht zusammen und dieses beschloß, obwohl die Schießordnung keinen Zweifel gestattete, eine Versammlung der Schützen darüber entscheiden zu lassen, ob die getroffene Bestimmung aufrecht erhalten werden solle. Für die Erhaltung sprach, daß das Einstemmen eine besondere Construction der Büchsen erfordert und einen bedeutenden Vortheil dem völlig frei Schießen gegenüber gewährt, daß also beide Schießweisen nicht wohl mit einander auf demselben Stande concurriren konnten, daß Viele sich der Schießordnung gemäß eingerichtet hatten und daß man, wenn man einmal den Zopf des Auflegens abschaffte, nicht zugleich eine Schießweise zulassen wolle, welche abermals besondere Hülfsmittel erforderte. Und diese Gründe gaben den Ausschlag. Der Herzog Ernst selbst leitete die Abstimmung. Bei der Abzählung erklärte sich eine beträchtliche Mehrzahl für die Schießordnung.

(Schluß folgt.)

Blätter und Blüthen

Ein offenes Fürstenwort. „Der Herzog von Gotha und sein Volk. Ein Aufsatz von Eduard Schmidt-Weißenfels nebst einem Antwortschreiben des Herzogs Ernst von Sachsen-Coburg-Gotha.“ Das geht Schlag auf Schlag jetzt - eine wahre Freude für alle Patrioten. Erst das deutsche Schützenfest, dann die großartige Sangesfeier in Nürnberg und nun diese Broschüre eines Fürsten, die wie eine Bombe in’s feindliche Lager fallen wird. Das Schriftchen gehört zu den Zeitblättern von höchster Bedeutung. Wir haben in dem Antwortschreiben des Herzogs Ernst das offene politische Bekenntniß eines Regenten vor uns, in welchem das deutsche Volk mehr und mehr das ausgeprägteste Bild seiner Nationalität anerkennt, und an dieses Selbstbekenntniß schließt der Fürst eine Darstellung der jüngsten politischen Entwickelung seines eigenen Landes, in welchem er über dessen Bevölkerung eine Kritik ausübt, wie sie nach Standpunkt und Entschiedenheit des Ausspruchs ohne Gleichen dasteht.

Mochte der Herzog gefühlt haben, oder nicht, daß sein offenes Bekenntniß zur Nothwendigkeit geworden sei, nicht etwa um seine Feinde zu belehren, sondern um bei sehr vielen Freunden der nationalen Sache die Zweifel an der Bestimmtheit und Makellosigkeit seines politischen Charakters zu beseitigen: in jedem Fall ist durch dieses „Antwortschreiben“ gerade der letztere Zweck vollkommen erreicht. Ein deutscher Fürst von des Herzogs Stellung, der nicht nur unumwunden ausspricht: „Seit meiner frühsten Jugend huldigte ich beinahe instinctmäßig liberalen demokratischen Principien. Ich war im eigentlichen Sinne des Worts das Kind meiner Zeit“ – sondern der zugleich fest und klar darlegt, warum er vollständig mit dem aristokratisch-bureaukratischen Theile der Gesellschaft seines Landes gebrochen habe; ein Fürst, in dessen Person der Adel (und zwar nicht nur der seines Landes, sondern leider überall in Deutschland) „die persönliche Verkörperung der revolutionären Bestrebungen des Jahres 1848 sieht“ – ein Fürst, welcher das gesammte Institut der Kammerherren, Kammerjunker und Hofjunker aufhob, „da diese Chargen usuell nun doch einmal von Bürgerlichen nicht besetzt werden können,“ und damit der Hof („das heißt mein Haus“) nun einem Jedem geöffnet werden konnte, dem er vermöge Talent oder Sitte die Berechtigung zusprach; ein Fürst endlich, der, um seine Stellung dem Lande gegenüber zu charakterisiren, die Formel „von Gottes Gnaden“ zu streichen befahl trotz der sichern Aussicht, daß ihm „dieser offenbar ideelle Bruch mit dem sogenannten Fürstenthum von Gottes Gnaden als großes Verbrechen angerechnet werde“; ein solcher Fürst hat an jeden ehrenhaften deutschen Mann sich das Anrecht erworben, von jedem Zweifel an ihm befreit zu sein.

Ehren wir in diesen politischen Bekenntnissen die Hochherzigkeit und Wahrhaftigkeit des deutschen Mannes, so erfüllt uns die Darlegung des Verhältnisses, in welchem Herzog Ernst als Fürst zu seinem Volke steht, mit der erbebenden Freude, welche stets durch den Anblick eines grundehrlichen, schnurgeraden Wesens in uns hervorgerufen wird; erhebend aber wird die Freude durch den hohen Ernst und die ruhige Klarheit, welche selbst aus den strengsten Urtheilen des regierenden Herrn sprechen. Wie das Volk aus der Fürstenperspective betrachtet sich ausnimmt, davon haben uns Dramen, Romane und diplomatische Actenstücke manches verzerrte Bild entworfen; hier sehen wir zum ersten Male dieses Bild von einer Fürstenhand gezeichnet und müssen bekennen, daß ein solcher Anblick uns noch nicht gewährt worden ist. Mit scharfem Auge mustert der Fürst sein Volk, scheidet es in Gruppen, legt die Beziehungen der einzelnen zu ihm dar, und keiner Partei schenkt er die Rüge, die sie von seinem Standpunkte aus verdient hat; aber auch die Anerkennung hat ihre beruhigenden Stellen in dem Fürstenbriefe.

Am Schlusse desselben scheint der Herzog sich an das gesammte deutsche Volk zu wenden, indem er sich vor dem Gedanken verwahrt, als ob er sich bei der Kritik der heimathlichen Zustände eine Ausnahmsstellung angewiesen. „Ich bin frei davon,“ sagt er, „meine Person vom Volke zu trennen, ich rechne mich vielmehr zu ihm und fühle mit ihm. Und gerade weil es mir gelungen ist, von Jugend auf den Standpunkt zu verlassen, von dem die meisten meiner Standesgenossen das Volk und dessen Treiben beurtheilen, verlange ich um so Edleres und Höheres von der Gesammtheit.“ – „Sicher,“ so schließt er, „ist es verwerflich, nach einer Popularität in dem allgemein gebräuchlichen Sinne zu ringen und auf Kosten der gestellten Aufgabe sich künstlich populär zu machen. Aber eben so irrig ist es zu glauben, daß ohne die warmen Sympathien des Volkes, also ohne Popularität im richtigen Sinne, jene patriotischen Männer dennoch im Stande sein könnten, segenbringend die Massen zu führen. – Das Volk muß die Namen seiner Führer heilig halten, es muß sie selbst vor Verunglimpfung schützen und darf nie vergessen, daß gegenseitiges Vertrauen von gegenseitiger milder Berücksichtigung unzertrennlich ist.“

Man kann vom deutsch-nationalen Standpunkt aus nichts dringender wünschen, als daß dieses offene Fürstenwort bei Fürsten und Völkern Deutschlands recht tiefe Beherzigung finde! Wäre dies möglich, dann könnte aus ihm eine segenbringende That werden.

H.

  1. Ein Abdruck dieses Briefes findet sich bei Vogel, Goethe in amtlichen Verhältnissen. Jena 1834
  2. Aus jener Zeit erzählt man sich die folgende Anekdote: Eine junge Engländerin, qlühende Verehrerin Goethe’s, kam nach Weimar, um dort den Dichter persönlich aufzusuchen und zu sprechen. Zu ihrem nicht geringen Erschrecken erfuhr sie da, daß Goethe nach Dornburg gereist sei und von dort auch nicht bald zurückkehren werde. Einige Stunden darauf saß sie im Postwagen nach Jena und kam endlich erschöpft und ermüdet in Dornburg an, fest entschlossen, den nächsten Morgen den bestimmten Besuch zu machen. Es wird allgemein bekannt sein, wie sehr Goethe durch Besuche, die oft der langweiligsten Art waren, in Anspruch genommen wurde, Oft gab er dann seinen Leuten Befehl, Niemanden zu ihm zu lassen, aber die Zahl der Besucher minderte sich deshalb nicht. Viele derselben wußten dann durch Geschenke an die Kammerdiener sich Zutritt zu verschaffen, und so war es auch mit unserer Heldin, die kein anderes Mittel fand, um zu ihrem Zwecke zu gelangen. Sie wurde in das Empfangszimmer geführt. Ein Sturm der verschiedensten Gedanken bewegte sie; der Moment, den sie so sehnlichst erwartet hatte, war da. Jetzt trat Goethe herein und grüßte mit leichter Verbeugung. Aber war es nun die Größe des Augenblicks oder die Hoheit des Mannes, der sie unverwandt betrachtete und sich an dem Eindruck, den er auf sie machte, zu ergötzen schien – kurz, die junge Dame verlor alle Fassung und stand verwirrt, keines Wortes mächtig vor dem Dichter. Ein böser Genius schwebte über ihr! Da endlich raffte sie sich auf. Unbehülflich lenkte sie das Gespräch auf das Wetter, sprach von der Unbeständigkeit der Witterung und wurde nicht satt, Betrachtungen über den gerade herabströmenden Regen anzustellen. Goethe, auf’s Aeußerste gelangweilt, schützte Geschäfte vor und empfahl sich kurz. Die junge Dame war unglücklich. Einer solchen Art hatte sie sich diesen Besuch nicht geträumt. Was sollte sie ihren Freundinnen in England davon erzählen? Sie war einschlossen, ihren Fehler wieder gut zu machen und einen zweiten Besuch, falle dieser nun auch aus wie er wolle, zu wagen. Nach mancherlei Schwierigkeiten gelang es ihr angenommen zu werden. Goethe empfing sie auf das Freundlichste, unterhielt sich viel mit ihr von Literatur und war so artig, daß sie es endlich wagte, ihm ihr Album zu überreichen und ihn zu bitten, dasselbe durch einige Zeilen zu verherrlichen. Er nahm es lächelnd, schrieb, und unsere Heldin eilte mit demselben, nachdem sie sich beim Dichter mit den größten Danksagungen verabschiedet hatte, in ihr Wirthshaus. Wer beschreibt aber ihren Schreck, als sie dort angekommen die folgenden Worte las:

    „Es regnet, wenn es regnen soll.
    Es regnet seinen Lauf.
    Und wenn’s genug geregnet hat.
    Dann hört es wieder auf!“

    D. Red.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Hund