Die Gartenlaube (1861)/Heft 34

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 34.   1861.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.


Wöchentlich bis 2 Bogen.    Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Ein Deutscher.

Roman aus der amerikanischen Gesellschaft.
Von Otto Ruppius.
(Fortsetzung.)

„Sie übertrafen schon in der ersten Woche die Erwartungen, welche wir von Ihren kaufmännischen Leistungen gehegt hatten. Mr. Reichardt,“ begann Frost auf’s Neue, sich langsam über die Stirn streichend, „Sie gewannen sogar dem alten Bell Interesse ab, so wenig er es Ihnen auch damals wohl hat merken lassen; aber erst nach dem Spielabend im Astorhause, der mir, mit dem früheren zusammen, gewissermaßen ein vollendetes Bild von Ihnen gab, stieg der Wunsch in mir auf, Sie für längere Zeit an uns zu fesseln, und ein hingeworfenes Wort des alten Bell, daß er sich in Ihnen gern einen tüchtigen Nachfolger erzöge, zeigte mir den einzuschlagenden Weg; gestern aber trafen zwei Dinge zusammen, welche meinen Entschluß zur Reife brachten: Bell’s schon eine Zeit lang vorausgesehene, aber jetzt erst erfolgte Ernennung zum Cassirer der Marine-Bank, und die entschlossene, umsichtige Weise, in welcher Sie von dem Geschäfte einen schweren Verlust fern hielten. Ich beabsichtigte, Sie heute mit der interimistischen Führung des Cassirer-Amts zu betrauen, der ich nach kurzer Probezeit natürlich die Bestätigung hätte folgen lassen.“

Er hielt von Neuem inne, vor sich auf den Boden blickend, während Reichardt, bleich, die Lippen wie in einem schmerzlichen, aber festen Entschlusse auf einander gepreßt, das Auge auf seinem Gesichte haften ließ.

„Well, Sir,“ begann der alte Herr aufsehend wieder, und schien mit seinem Blicke jeden Zug in Reichardt’s Gesicht studiren zu wollen, „ich habe Ihnen das Alles gesagt, um Ihnen zu zeigen, wie weit ich in meiner Offenheit gegen Sie gehe, um Ihnen zugleich das Verhältniß, in welchem Sie zu meinem Hause stehen, klar zu machen. Sie wollen weg von uns, Sie haben das als Ihren unwiderruflichen Entschluß angekündigt, und bestehen Sie nach dem so eben Gehörten noch darauf, so werde ich Ihnen sicher nicht das Geringste in den Weg legen – – “ er machte eine Pause und blickte den vor ihm Sitzenden wie zu einer Aeußerung auffordernd an.

„Mr. Frost,“ erwiderte Reichardt, und strebte umsonst einen Druck, der auf seiner Stimme lastete, zu entfernen, „es hätte wahrlich nur der frühern Güte und Freundlichkeit bedurft, um mich hier zu halten, wenn eine Möglichkeit zu bleiben für mich vorhanden, wäre –“ er hielt inne und mußte sich mit Macht zwingen, Frost’s forschenden Blick auszuhalten. Eine leichte Falte legte sich jetzt zwischen die Augenbrauen des Letztern.

Very well,“ erwiderte er, „was ich aber verdient zu haben glaube, Mr. Reichardt, ist wenigstens die Angabe eines irgend plausiblen Grundes. Haben Sie nach meiner offenen Aussprache gegen Sie noch immer kein Vertrauen zu mir gewonnen, so werden Sie wenigstens einsehen, daß man ein Geschäft nicht so augenblicklich ohne Angabe einer Ursache verläßt –!“

Reichardt fühlte sein ganzes Innere zu dem Manne hingezogen, er fühlte sich weich werden, er hätte ihm mögen sein ganzes Herz ausschütten und dann ohne Abschied davon gehen; aber er bezwang sich. „Ich hatte es mir durch John als letzte Freundlichkeit erbeten, Mr. Frost,“ sagte er, „ohne weiter an mich gestellte Fragen gehen zu dürfen; ich weiß, daß ich mich der Verkennung dadurch aussetze, aber ich kann und darf es im Augenblicke nicht ändern –!“

Very well, Sir,“ erwiderte Frost, sich wie in leichtem Unmuthe erhebend, während Reichardt seinem Beispiele folgte, „ich, kann Sie nicht zwingen zu reden; indessen – trotz der Bestimmtheit Ihres Entschlusses will ich dies noch nicht als Ihr letztes Wort ansehen. Ueberlegen Sie bis heute Abend, und dann möge es Ihnen noch immer freistehen, mir die Cassenschlüssel abzuliefern oder in eigenem Verwahr zu behalten. Ich werde Sie nach dem Geschäftsschluß hier erwarten.“

„Ich werde zur Zeit hier sein, Sir! “ erwiderte der Deutsche, der nicht den Muth in sich fühlte, einem solchen Verfahren gegenüber kurz abzubrechen, sich leicht verneigend und wandte sich, von dem Andern einige Schritte geleitet, nach der Thür.

Wie ein Stein begann es sich auf Reichardt’s Brust zu legen, als er das Haus verlassen und der nächsten Eisenbahnlinie zuschritt. Er wußte, daß das Glück zum zweiten Male in seinen Weg getreten war, daß er nur die Hand ausstrecken durfte, um sich die Thür zu den besten Kreisen der Gesellschaft, zu einer erfolgreichen Carriere zu öffnen; daß, wenn er von sich stieß, was sich ihm jetzt bot, von Neuem ein haltloses Leben ohne Ziel und ohne eigentliche innere Befriedigung vor ihm stand – und doch schien es ihm jetzt mehr als je eine Unmöglichkeit, in seiner bisherigen Stellung zu bleiben. Was Harriet aus Laune oder einer Wallung ihres südlichen Blutes für ihn gethan, als sie ihn einer unwürdigen Lage entriß, das war von Margaret aus Erbarmen und Mitleid geschehen; in seiner jetzigen Stellung war er gewissermaßen ihr Geschöpf, und nur zu gut meinte er jetzt ihr heutiges Wesen verstehen zu können. Wie sollte er ihr gegenüber ausdauern, ohne sich selbst aufzureiben? Er mußte ja gehen! Was ihm aber die Ausführung seines Entschlusses am schwersten machte, das war die [530] Freundlichkeit des alten Frost, der er so gern genug gethan hätte, wenn er nur gekonnt hätte!

Er hatte den Eisenbahnwagen bestiegen, war in die Nähe des Geschäftshauses gelangt und hatte dieses erreicht, ohne sich dessen nur recht selbst bewußt zu sein, und erst als er beim Eintritt in die Office einige bereits wartende Geschäfte zu erledigen fand, raffte er sich zum Bewußtsein der nächsten Gegenwart auf. Er hatte eben seinen Platz im Cassenzimmer wieder eingenommen und wollte sich auf’s Neue seinen Gedanken überlassen, als sich die Thür langsam öffnete und des Kupferschmieds Gesicht sich vorsichtig hereinbog. „Ausgezeichnet, daß Sie allein sind, Professor!“ rief dieser halblaut und schlüpfte in’s Zimmer; „müssen übrigens hier verdammt gut angeschrieben stehen; die Herren da vorn haben mich mit einer Artigkeit hereingewiesen, die ich kaum einem von ihnen zugetraut hätte.“

Reichardt, welchem in seiner gedrückten Stimmung der bekannte Ton wie eine Herzstärkung an’s Ohr schlug, erhob sich lächelnd und zog einen Stuhl herbei. „Etwas Neues, Meißner?“ fragte er. „Weiß nicht, was Ihnen von meinen Neuigkeiten noch neu ist,“ erwiderte Jener, sich niederlassend, „hätte mich ihrethalber auch nicht hier herauf gewagt, wie der Kranich unter die Pfauen; ich komme wegen etwas Anderem, wegen des alten Mr. Black, den die Freude wieder ganz auf die Beine bringt, freilich nicht so geschwind, als er gestern umfiel. Es war mein Erstes heute Morgen, als ich nicht mehr bei der Teufelsgeschichte nothwendig war, nach seinem Hause zu gehen – ruhig wieder in’s Geschäft zu gehen, hatte ich, ehrlich gestanden, noch keinen rechten Muth – schenkte dem Doctor klaren Wein ein, und der gab dem alten Manne tropfenweise so viel davon, als er auf einmal vertragen konnte, und ich sage Ihnen, schon die erste Portion brachte ihn zu richtigen klaren Sinnen zurück – zuletzt aber saß er mit gefalteten Händen da, und die Thränen liefen ihm hell über die Runzeln, und –“ der Erzähler unterbrach sich mit einer Grimasse und schlug mit der Faust auf sein Knie, „das Wasser trat mir beinahe selber in die Augen, denn so was hätte ich mein Lebtag nicht bei ihm zu sehen erwartet, – ich hörte dann aus ein paar Worten, daß es all sein Erspartes gewesen, was auf dem Spiele stand, und daß er sich, wenn das Geschäft gut ausgefallen, damit hätte zur Ruhe setzen wollen. Well, ich mußte hinter dem Bett hervor und erzählen; er wollte wissen, wie es mit Johnson’s stände – ich hatte wohl etwas munkeln hören, mochte’s aber nicht sagen, und dann mußte ich ihm versprechen, Sie zu ihm zu bringen, sobald Sie abkommen könnten – es schien ihm viel daran zu liegen, daß Sie kämen. Zuletzt gab er mir noch einen Auftrag an William Johnson, und jetzt hatte ich doch wenigstens einen Grund für mein Ausbleiben. Als ich in die Office trete, geht William Johnson mit langen Schritten auf und ab, während die andern Beiden mit trübseligen Gesichtern an den Pulten sitzen. „Da ist er!“ ruft der Aelteste und kommt auf mich zu, als wolle er mich verschlingen.

„Wo sind Sie im Geschäft, Sir?“ schreit er. – „Im Geschäft von Johnson and Son, Sir!“ sage ich ruhig. – „Und wenn Sie eine Entdeckung machen, so theilen Sie diese andern Häusern auf Kosten Ihrer Principale mit? “ – „Wenn Einer von den Herren Johnsons in der Office oder auch nur anderwärts zu finden gewesen wäre,“ sage ich, „so hätte ich ihnen meine Meldung gemacht, ich habe lange genug nach den Herren suchen lassen. Mr. Black wußte nichts von seinen Sinnen, und so hielt ich es für das Beste, meinen Freund Reichardt im Geschäft von Augustus Frost um Rath zu fragen. Der Brief war im Uebrigen nicht an Johnson and Son gerichtet, sondern an den alten Mr. Black, der ganz zufrieden mit dem ist, was ich gethan.“ – „Ah, Reichardt! dieser Mensch schon wieder! nun ist mir Alles erklärlich!“ sagt er, es war aber ein richtiges Zischen, mit dem er es von sich gab, und daneben habe ich selten noch so viel Haß in einem Auge gesehen – weiß der Herrgott, was er gegen Sie haben mag; „well, Sir,“ sagte er weiter, „so mögen Sie sich auch von dem Mr. Reichardt für die Zukunft beschäftigen lassen!““

„Und wenn ich es nicht thue, so werde ich jedenfalls ein Unterkommen für Sie schaffen, mit dem Sie zufrieden sein sollen,“ unterbrach ihn Reichardt, der mit reger Theilnahme der Erzählung gefolgt war, „was Frost’s für mich nicht mehr thun können, das sollen sie an Ihnen thun, und ich weiß, daß mir der alte Gentleman unter den obwaltenden Umständen meine letzte Bitte nicht abschlagen wird!“

„Das ist wenigstens einmal ein Wort, das dem Herzen wohlthut,“ erwiderte Meißner, dem Andern die breite Hand hinhaltend, „ich denke indessen in keine Verlegenheit zu gerathen. Der alte Mr. Frost muß sich wohl selbst abgefingert haben, was mir passiren könne, denn er sagte mir, als er mich heute Morgen wegschickte, wenn ich Unannehmlichkeiten haben sollte, möchte ich mich nur bei ihm melden. Aber –“ unterbrach er sich, „was sprechen Sie denn da von Ihrer letzten Bitte und so weiter? Sie werden doch um Gotteswillen nicht Ihre Mücken von gestern Abend noch im Kopfe haben?“

„Es steht genau noch so wie gestern Abend, Meißner!“ versetzte Reichardt, das Auge auf sein Pult senkend und mit der Feder Striche auf dem vor ihm liegenden Papier ziehend.

„Aber sie werden Sie nicht gehen lassen!“ rief der Kupferschmied. seine Stimme dämpfend, eifrig. „Ich habe diese Nacht hier und da ein paar Worte zwischen dem alten und jungen Herrn fallen hören, die Ihnen, denke ich, von selbst die Tollheiten austreiben werden!“

„Ist Alles schon durchgesprochen,“ erwiderte der Andere, mit einem trüben Lächeln den Kopf hebend, „ich soll Cassirer werden – aber ich kann nicht, Meißner, und werde heute Abend austreten.“

Der Kupferschmied sah dem Freunde zwei Secunden schweigend in’s Gesicht. „Nun, so gehen Sie denn –! Heiliges Gewitter!“ rief er wie in ausbrechendem Unmuthe. „Adieu!“ setzte er plötzlich hinzu und erhob sich rasch, um das Zimmer zu verlassen.

„Ich weiß noch nicht, wo Mr. Black wohnt, Meißner!“ sagte Reichardt.

Der Andere unterbrach wie nur widerwillig seine Bewegung. „Glaub’ kaum, daß es dem Alten jetzt noch viel Freude machen würde, Sie zu sehen!“ sagte er, sich nur halb zurückwendend, „aber sagen Sie mir, wo ich Sie heute Abend treffen soll.“

„Nicht heute Abend, aber morgen früh will ich Sie bis zehn Uhr in meinem Boardinghause erwarten.“

Der Kupferschmied nickte verdrießlich und schritt ohne jedes weitere Wort hinaus. Reichardt sah ihm einen Moment nach und wandte dann den Kopf mit einem tiefen Athemzuge seinem Pulte zu; nur wenige Minuten aber hing er jetzt seinen Gedanken nach, dann raffte er sich plötzlich auf und begann eine sorgfältige Ordnung aller geschäftlichen Papiere vorzunehmen; zuletzt griff er nach einer am Tage zuvor unbeendigt gebliebenen Arbeit und hatte bald in der Vollendung derselben seine ganze Aufmerksamkeit concentrirt.

Erst als die Zeit des Geschäftsschlusses herankam, erhob er sich wieder, überblickte noch einmal prüfend das Zimmer, stellte jeden Stuhl gerade und verließ dann sichern Schritts die Office.

Eine Viertelstunde später zog er an Frost’s Hause die Klingel – er war entschlossen, seinen Abschied möglichst kurz, wenn auch mit herzlichen Worten abzumachen, bei seiner Abreise von New-York aber sich ohne Rückhalt schriftlich gegen John auszusprechen, und in voller Fassung öffnete er jetzt die Thür nach dem Vorderzimmer.

Von einem der Divans erhob sich Harriet bei seinem Eintritt und legte das Buch, mit welchem sie beschäftigt gewesen zu sein schien, bei Seite; aus ihrem Blicke aber, mit welchem sie ihn begrüßte, meinte Reichardt fast einen Wiederschein ihres frühern kecken Muthwillens sich entgegen blitzen zu sehen. Es war ihm unangenehm, das letzte schwere Geschäft, zu dem er einmal vorbereitet war, nicht ohne Verzug abmachen zu können. „Ich dachte Mr. Frost hier zu treffen –“ sagte er.

„Und sind sicherlich ganz glücklich. Sir, mich an seiner Stelle zu finden,“ lachte sie, „nehmen Sie Platz – oder,“ fuhr sie fort, sein Zögern bemerkend, „darf ich Ihnen vielleicht selbst einen Stuhl herbeiholen?“

Er war genöthigt, ihren Arm zu fassen, um sie von der wirklichen Ausführung ihres Anerbietens zurückzuhalten. „Quälen Sie mich jetzt nicht, Miß Harriet,“ bat er, „und sagen Sie mir, ob ich Mr. Frost sprechen kann!“

Ihr Lachen verschwand. „Haben Sie wirklich vorher nicht eine Viertelstunde für mich, Sir? “ fragte sie, und Reichardt glaubte es fast wie Vorwurf in ihrem Auge zittern zu sehen. „Sie wollen Frost’s verlassen – ich habe kein Urtheil über Ihre Beweggründe; aber bin ich Ihnen denn so unangenehm, daß Sie mir vor Ihrem Gehen nicht zwei Worte gönnen mögen?“

„O Miß, wie falsch verstehen Sie mich!“ rief er in einem [531] Anfluge von Verlegenheit. „Mr. Frost hatte mich genau zur jetzigen Zeit hierher bestellt –! “

Very well, so sind wir schon mit einander in Ordnung,“ unterbrach sie ihn, und ein leises Lächeln trat in ihr Gesicht, „Mr. Frost wird nicht vor einer halben Stunde hier sein, Sie mögen also ruhig Platz nehmen und sich eine Viertelstunde mit mir langweilen!“ Sie hatte sich wieder bequem in den Divan niedergelassen, ihr Buch wie ein Spielzeug zwischen die Finger nehmend, während der junge Mann nothgedrungen nach einem Stuhle griff. Nachdem er sich niedergelassen, trat eine Pause ein, welche er in seiner jetzigen Stimmung am wenigsten auszufüllen vermocht hätte.

„Lassen Sie mich Ihnen gleich eine Erklärung geben, Sir,“ begann endlich das Mädchen, als wolle sie einen lästigen Zwang von sich werfen, während ein leichtes Roth in ihr Gesicht stieg; „ich wäre Ihnen nicht entgegen getreten, wie ich es gethan, wenn Sie ein anderer Mann wären, als der Sie sind, und wenn ich Ihnen jetzt von Grund meines Herzens für das, was Sie mir schrieben, danke, so erwidern Sie kein Wort darauf, aber geben Sie mir Ihre Hand und sagen Sie mir, daß Sie Harriet Burton’s Freund geblieben sind.“

„Miß Harriet,“ versetzte er, eigenthümlich von ihrem weich gewordenen Tone angeregt ihre Hand ergreifend, „war es denn etwas Anderes als die wärmste Dankbarkeit und Freundschaft, was mich zum Schreiben drängte? und warum soll ich Ihnen dieselben Gefühle nicht stets bewahrt haben?“

„Gut, Sir, und so lassen Sie es zwischen uns bleiben.“ erwiderte sie groß in sein Auge sehend und seinen Händedruck leise erwidernd, „ich denke, Harriet wird jetzt anfangen kalt und vernünftig zu werden, wie andere anständige Leute. – Aber,“ fuhr sie wie von einem andern Gedanken berührt fort, „sind Sie nicht verwundert über meine Vergnügungsreise nach dem Norden, fast mitten im Winter? – und doch,“ setzte sie, seine Antwort unterbrechend, hinzu, „sind Sie die recht eigentliche Ursache davon. – Warten Sie,“ unterbrach sie ihn auf’s Neue, „die Angelegenheit, in die Sie so tief eingeweiht gewesen, interessirt Sie jedenfalls, wenn ich sie auch nur mit wenigen Worten andeute. – Sie haben es wohl längst errathen,“ fuhr sie nach einer kurzen Pause fort, „daß Ihr ganzes Unglück in unserer Stadt nur durch die Machinationen von Curry und Young hervorgerufen worden war; nach Ihrer Abreise nun entstand eine Art Rückschlag in der öffentlichen Meinung, die Meisten schämten sich dessen, was geschehen; mehr aber als gegen Curry richtete sich der stille Unwille gegen Young, dessen thätige Theilnahme zur Aufreizung des Mob bekannt war; Curry wurde wegen seines Schwarzen als der Beschädigte mehr entschuldigt. In unser Haus kam Keiner von ihnen meines Wissens mehr, sie mochten vermuthen, daß ich im Besitz von wenigstens einem Theile ihres Geheimnisses war, und ich hatte Ruhe. Da kündigt plötzlich Young seinen Bankerott an, und zugleich durchläuft eine Sage die Stadt, daß er den Pastor Curry eines entsetzlichen Verbrechens angeklagt habe; der Pastor aber, als er habe festgenommen werden sollen, sei verschwunden gewesen und habe einen Brief hinterlassen, worin er Alles ableugne und die ganze Beschuldigung Young’s nur als einen Versuch, von ihm Geld zu erpressen, hinstelle. Young aber ließ seine Schwester vernehmen; Bob, der frühere schwarze Kirchendiener, ward, obgleich er schon bald nach dem Mob nach einer Farm im Lande geschickt worden war, herbeigeschafft, und Curry durch die Zeitungen verfolgt – seine eigene Gemeinde hatte eine Belohnung auf seine Habhaftwerdung ausgesetzt. Da – an demselben Tage, an welchem die Beschreibung seiner Person erschienen war, hatte ich noch spät Abends am Piano gesessen und versucht, die Melodie des deutschen Liedes, welches Sie bei uns gesungen, mir wieder in’s Gedächtniß zurückzurufen, und gehe im Mondlichte, das durch die Treppenfenster schien, nach dem obern Corridor hinauf, um nach meinem Zimmer zu kommen – da höre ich plötzlich ein leichtes Geräusch an der Thür, die zum Balkon führt, und herein tritt lautlosen Schritts eine Gestalt – ich erkannte sie auf den ersten Blick – es war Curry. Leise schleicht er bis zu der Thür von Mrs. Burton’s Zimmer und klopft zweimal in eigenthümlicher Weise – er war wohl nicht erwartet worden, denn er mußte eine lange Weile harren, eine Weile, in der ich glaubte, das Pochen meines Herzens, müsse mich verrathen; endlich aber nach einem dritten Klopfen öffnet sich das Zimmer, und er schlüpfte hinein.

„Ich stand noch eine geraume Zeit, die Hand gegen das Herz gedrückt, rath- und thatlos,“ fuhr die Erzählerin nach einem tiefen Athemzuge fort. „Ich hätte meinen Vater wecken sollen, aber ich hätte es nicht über mich gewonnen, selbst ihm eine Nachricht, die ich kaum hätte in Worte fassen können und deren Folgen ich nicht abzusehen vermochte, zu hinterbringen; ich war so unentschlossen und zaghaft, wie noch selten in meinem Leben, und schlich endlich leise nach meinem Zimmer. Aber ich schlief die ganze Nacht nicht, und wenn ja einmal ein halber Schlummer über mich kommen wollte, schreckte mich das leiseste, zufällige Geräusch wieder auf.

Ich war am Morgen sicher, daß Curry noch im Hause war. Beim Frühstück meldete eine unserer Schwarzen, daß Mrs. Burton wegen Unwohlsein ihr Zimmer nicht verlassen möge; Vater war an dergleichen Launen längst gewöhnt und nickte nur still mit dem Kopfe – ich aber erkannte schnell den Stand der Dinge, und eine unsägliche Unruhe über das, was mir zu thun obliege, überkam mich.

Soweit ich meinen Vater kannte, wußte ich, daß ein öffentlicher Eclat ihm seinen Frieden für lange Zeit nehmen mußte, daß er bei Entdeckung des Geschehenen seine Frau wohl zu irgend einem stillen Uebereinkommen zwingen, sich aber schwerlich öffentlich von ihr trennen werde; daneben aber fühlte ich auch, daß meinerseits ein ferneres Zusammenleben mit dieser Frau völlig unmöglich war. Ich hatte zwei Tage zuvor Briefe von Margaret und John erhalten, und als sich mir jetzt die Nothwendigkeit aufdrang, für die Zukunft nach irgend einem Halte außerhalb des väterlichen Hauses zu suchen, war ich mir auch über mein nächstes Handeln bald genug klar. Ich verbrachte fast den ganzen Morgen damit, meinen Vater schriftlich von dem Nöthigen zu unterrichten und den Schritt, welchen ich zu thun Willens war, zu rechtfertigen. Als er aber Nachmittags wie gewöhnlich nach der Farm ritt, packte ich meinen Koffer, ließ die kleine Kutsche anspannen und mich zu einer Freundin zwei Meilen von der Stadt fahren, wo der Postwagen passiren mußte. Meinen Brief hatte ich auf Vaters Schreibtisch, auffällig in’s Auge springend, zurückgelassen – und jetzt bin ich hier, um,“ setzte sie mit einem halben Seufzer hinzu, „wahrscheinlich das väterliche Haus und den schönen Süden sobald nicht wieder zu sehen. Was während meiner Reise dort vorgegangen ist, soll ich erst noch erfahren. – So!“ begann sie von Neuem, als wolle sie einen aufsteigenden trüben Gedanken von sich schütteln, „indessen ist das Alles noch nicht die Hauptsache, die ich Ihnen mittheilen und in der ich Ihre Ansicht als Freund hören möchte: Sie sind der einzige Unparteiische, zu dem ich jetzt sprechen kann: Sie verlassen heute schon das Haus, und so darf ich mich Ihnen um so eher anvertrauen.“ Sie machte, die Augen niederschlagend, eine kurze Pause, als wisse sie nicht recht, wie mit ihrer weitern Mittheilung zu beginnen. „John sagt,“ fuhr sie endlich fort, die Blätter des Buchs in ihrer Hand durch die Finger laufen lassend, „Sie seien sein bester Freund – hat er Ihnen etwas in Bezug auf mich vertraut?“ Nur einen Moment schlug sie das Auge zu ihm auf und ließ es dann wieder sinken.

„Er hat zu mir von seiner innigen Verehrung für Sie gesprochen, Miß.“ erwiderte Reichardt, welcher jetzt erst den Zweck des herbeigeführten Gesprächs zu errathen glaubte, „er hat auch wohl die Hoffnung, seinen schönsten Wunsch erfüllt zu sehen, geäußert – “

„Und was würden Sie mir rathen?“ unterbrach sie ihn, noch immer ohne aufzusehen.

„Ich soll Ihnen dabei rathen?“ rief Reichardt überrascht, „haben Sie denn nicht den besten Rathgeber an Ihrem eigenen Herzen? “

Sie blickte rasch, mit einem eigenthümlichen Lächeln zu ihm auf. „Und warum folgen Sie nicht Ihrem Herzen, Sir, wenn der Rathgeber so untrüglich ist?“

Der junge Mann verfärbte sich leicht. „Ich verstehe Sie nicht, Miß!“ sagte er nach einer augenblicklichen Pause.

„O, meinen Sie wirklich auch gegen mich den Geheimnißvollen spielen zu können?“ erwiderte sie. „Betrügen Sie sich selbst und die ganze Welt,“ fuhr sie, sich plötzlich erhebend, fort, während ein wunderbarer Glanz in ihr Auge trat, „Harriet Burton aber betrügen Sie nicht, Sir, und Harriet will Sie glücklich wissen! Ich darf Ihnen Eins sagen, und ich will es,“ fuhr sie erregt fort, ihre Hand leicht an den Arm des sich erhebenden Deutschen legend, „John ist noch der einzige Mann auf dieser Erde, den ich mir jetzt in näherer Verbindung mit mir denken könnte; [532] aber Sie möchte ich auch keinem andern Weibe gönnen, als nur meiner Margaret!“

„Miß Harriet, um Gotteswillen!“ rief Reichardt und die Sprache schien ihm im plötzlichen Schrecken versagen zu wollen; in ihrem Augen aber, das dunkel und groß auf seinem Gesichte ruhte, zitterte es wie eine gewaltsam unterdrückte Empfindung.

„Sie sollen Vertrauen zu mir haben, Sir, oder ich nehme es mir!“ sagte sie, während ihre Hand von seinem Arme glitt: „die größten Seiten Ihres Charakters scheinen nur da zu sein, um Unglück anzurichten, aber ich werde es diesmal verhüten! Warum wollen Sie fort, Sir, wenn Sie nicht meinen, Ihr Herz habe Ihnen einen schlimmen Streich gespielt, dessen Folgen Sie mit Aufopferung Ihres Glückes vorbeugen müssen? Sagen Sie doch, daß das, was mir mein Gefühl im ersten Moment gesagt und meine Augen dann bestätigten, falsch war, sagen Sie es doch, wenn Sie können!“

„Miß Harriet,“ erwiderte Reichardt, der mit Macht die ihn erfassende Verwirrung niederzukämpfen suchte, „wenn Sie nicht wollen, daß ich sofort und unverrichteter Sache das Haus verlasse, so ziehen Sie weder mich noch meine Verhältnisse in unser Gespräch –“ er mußte vor einer Erregung, die alles Blut nach seinem Herzen zu treiben schien, innehalten.

Das Mädchen sah ihm zwei Secunden lang schweigend in das bleiche Gesicht. „Ich will Ihnen nur einen kurzen Vorfall erzählen, und dann mögen Sie gehen,“ erwiderte sie ruhig. „Ich konnte mir heute Nachmittag schon im Voraus denken, was das Ende Ihres Gesprächs mit Mr. Frost sein würde, und trat, mit mir selbst fertig, da ich die Denkweise des alten Herrn ziemlich genau kenne, hier in’s Zimmer, als Sie eben das Haus verließen.

„Er will nicht reden,“ rief er mir entgegen, „und wenn ich auch sicher glaube, daß er einen genügenden Grund für sein Handeln hat, so frappirt mich doch dieses ängstliche, lichtscheue Verbergen seiner Gedanken.“ – „Wollen Sie meine Ueberzeugung hören?“ sagte ich; „er liebt Margaret, Sir, fühlt sich zu schwach, um dagegen anzukämpfen, und hält sich doch auch selbst für zu gering, um eine Hoffnung hegen zu dürfen!““

Reichardt’s Hand faßte wie in einem Krampfe den Arm der Sprecherin, während seine Augen sich fast unnatürlich erweiterten. „Harriet, Sie haben das nicht gethan,“ rief er mit einer Stimme, die ihrer ganzen Kraft beraubt schien, „sagen Sie nein, Sie wissen nicht, was Sie damit angerichtet hätten!“

„Wir wollen das abwarten. Sir, so schlecht sich auch sonst meine irdische Natur zur Schutzengelrolle eignet!“ erwiderte sie, ohne Zucken den Druck seiner Hände aushaltend, während es leise wie ein melancholisches Lächeln über ihr Gesicht glitt. „Mr. Frost,“ fuhr sie dann in ihrer frühern Weise fort, „sah mich überrascht mit großen Augen an, ohne ein Wort zu reden: bald aber klärte sich sein Gesicht zu einer Miene voll sonderbaren Ausdrucks aus: „ganz deutsch!“ sagte er vor sich hin und begann einen Gang durch’s Zimmer zu machen. „Haben Sie schon eine ähnliche Aeußerung gegen Margaret gethan?“ fragte er dann. vor mir stehen bleibend. – „Ich glaube, es wäre unvorsichtig gewesen, Sir!“ sagte ich. Er nickte schweigend. „Und was sagen Sie dazu, Harriet?“ begann er nach einer Weile wieder. – „Nichts, Sir, als daß Margaret in ihm das beste Loos ziehen würde!“ – „Also meinen Sie, daß auch Margaret –?“ – „Ich meine nur, daß sie Alles ahnt, Sir, und sich umsonst gegen ihre eigenen Gefühle sträubt –““

„Nein, nein!“ unterbrach sie Reichardt, der mit stockendem Athem jedes Wort von ihren Lippen aufgefangen hatte, „Sie wissen ja nicht – o mein Gott, mein Gott!“

„Also leugnen Sie doch wenigstens nicht mehr,“ rief sie mit plötzlich aufleuchtendem Gesichte, „und nun sagen Sie mir doch, ob sich etwa Margaret Ihnen zuerst hätte erklären sollen, oder ob Sie von Mr. Frost die vorherige Versicherung erwarteten, daß die Liebe zu einem reichen Mädchen in Amerika durchaus nichts Ungehöriges sei? sagen Sie mir doch, ob es nicht eine Feigheit ist, seinem Glücke den Rücken kehren zu wollen, nur weil man nicht den Muth hat, es zu erringen?“

„Feig?“ erwiderte er, unfähig seine Empfindungen länger zu beherrschen; „haben Sie denn wohl einen Begriff von einem Kampfe gegen sich selbst, Miß, oder kennen Sie alle die Umstände, die einen Entschluß wie den meinigen herbeiführen mußten?“

Very well,“ sagte sie mit einem Lächeln, das wie ein Siegeszeichen in seinem Gesichte aufstieg, „so werden Sie jetzt also alle Ideen, Ihre Stellung zu verlassen, aufgeben und vorläufig hier ruhig warten, bis ich wieder zurück bin!“ Sie wandte sich ohne weiteres Wort nach einer Seitenthür und verschwand dort.

Als sich Reichardt allein sah, überkam es ihn wie eine völlige Verwirrung aller seiner Gedanken, in der er sich nur der einen Frage klar bewußt war: Wohin ging sie? was beabsichtigte sie? Wie ein Wirbel ging bald die Erkenntniß, daß er völlig verrathen war, bald Harriet’s Gespräch mit dem alten Frost, dessen Ende er nicht erfahren hatte und sich nicht vorzustellen vermochte, bald der Gedanke an Margaret selbst, die sich so scheu von ihm gewandt, durch seinen Kopf; er hätte aus dem Hause stürzen mögen, um allem Kommenden auszuweichen, und doch fühlte er es zugleich tief in seiner Seele wie die Ahnung eines unaussprechlichen Glücks aufsteigen, die alle seine Nerven durchzitterte; bei jedem Geräusch im Hause zuckte er zusammen, und er dachte nicht einmal daran, nach Fassung zu ringen, hatte er doch keinen Begriff, was es sein könne, das als das Nächste ihm entgegentreten werde; aber es währte geraume Zeit, ehe seine Spannung sich lösen sollte. Da öffnete sich endlich leise dieselbe Thür, durch welche Harriet sich entfernt hatte, und Reichardt meinte jeden Nerv in sich beben zu fühlen, als er Margaret, bleich wie er selber, eintreten sah. Langsam, das große Auge ernst auf ihn gerichtet, kam sie heran, um ihren Mund indessen spielte es wie eine mühsam niedergehaltene Bewegung. „Harriet sagt mir, daß ich noch ein Wort zu Ihnen reden möchte, und Sie würden bleiben,“ sagte sie halblaut – dann schien ihre Stimme zu versagen: aber auch Reichardt. der sein Herz voll zum Springen fühlte, hätte jetzt nicht ein Wort zu sprechen vermocht, und so standen sie Blick in Blick, bis plötzlich ein Strom von Thränen in ihre Augen schoß, und sie, sich wegwendend, wieder davon eilen wollte. In dem Deutschen aber waren alle zurückgedrängten Empfindungen aufgewallt, und mit einer fast unwillkürlichen Bewegung hatte er ihre Hand gefaßt.

„Margaret, Miß Margaret, um Gotteswillen!“ rief er, ohne des Widerstrebens mit dem sie sich ihm zu entziehen suchte, zu achten, „sagen Sie mir doch, was ich thun soll, und ich werde es thun: ich will bleiben, ja ich bleibe, sobald Sie es verlangen, und müßte ich selbst dabei zu Grunde gehen – aber sehen Sie mich an, damit ich Muth dazu erhalte, gehen Sie nicht wieder so von mir, Margaret!“

Er fühlte ihren Widerstand ersterben, noch eine kurze Zeit blieb ihr Kopf abgewandt, dann aber hob er sich und mit einem wunderbar gemischten Ausdruck von Schämigkeit und hingebendem Vertrauen kehrte sie ihm das durch Thränen lächelnde Gesicht zu. Wieder standen sie Aug’ in Auge, seine beiden Hände hielten fest die ihre zwischen sich; es war ihm, als müsse er aufjauchzen und sie fest in seine Arme schließen, und doch bannte ihn der Zauber dieser unberührten Jungfräulichkeit, der wie ein Duft über sie ausgegossen schien, zurück in seine Schranken.

„Und warum bekam ich heute Mittag keinen Blick von Ihnen?“ fragte er endlich.

„Sie wollten ja gehen!“ erwiderte sie, fast mit den Worten zugleich aber brachen von Neuem die Thränen aus ihren Augen, und hastig sich losreißend eilte sie aus dem Zimmer.

Reichardt starrte ihr nach, wie in halber Verzückung: plötzlich aber streckte er, als müsse er mehr Raum in seiner Brust schaffen, die Arme weit von sich und schlug dann beide Hände vor sein Gesicht. Mitten im Gefühle seiner jungen Seligkeit indessen kam ihm der Gedanke an den alten Frost, dem er in seiner jetzigen Erregtheit unter keinen Umständen hätte entgegentreten mögen. Es drängte ihn hinaus, allein zu sein und erst klar mit sich zu werden, ehe er die übrige Welt an sich herantreten ließ, und schon nach wenigen Minuten hatte er das Haus verlassen, planlos und nur mit den Vorfällen der letzten Stunde beschäftigt in die Straßen hinein schreitend. Erst nach geraumer Zeit hob er den Kopf wieder und blickte lächelnd in der bereits einbrechenden Dunkelheit um sich, als ihm ein vorstehendes Gebäude den Weg versperrte und er sich in einem Gewirr enger Gassen fand, welche er nie zuvor kennen gelernt: schon der von einer Laterne beleuchtete Name der nächsten Straßenecke indessen zeigte ihm, daß er nicht weit von Meißner’s Boardinghaus sein könne, und wie von einem freundlichen Gedanken berührt schlug er raschen Schritts den Weg dahin ein.

„So, da sind Sie ja doch!“ rief Meißner, der im Augenblicke [533] beschäftigungslos, müßig in der leeren Gaststube saß, dem Eintretenden entgegen; schwer war es aber zu unterscheiden, ob sein Willkommen ein freudiger oder unmuthiger war, so schienen sich beide Empfindungen in seinen Zügen zu mischen: „haben Sie heute bei der Gnädigen nicht ankommen können?“

„Bei der Gnädigen?“ fragte Reichardt lachend.

„Gerade so!“ erwiderte der Andere, sein Gesicht unwillig verziehend, „ich habe mir Ihre Sache genau überlegt, und ich will Ihnen sagen, daß ich Sie jetzt vollkommen verstehe. Sie sind in das Frauenzimmer verliebt, und vielleicht um so mehr, weil sie jetzt einen alten Mann hat; deshalb gedenken Sie wahrscheinlich mit den Leuten zu gehen und lassen Ihr ordentliches Geschäft und Ihre guten Aussichten im Stiche.“

Reichardt konnte sich einer leichten Betroffenheit über die Auslegung, welche sein bisheriger Plan bei der Ausführung gefunden hätte, nicht erwehren, die aber schnell vor dem Glücke, das seine Seele füllte, verschwand. „Wissen Sie. daß es sehr unrecht ist, Meißner, einem Menschen dergleichen Dinge unterzulegen?“ sagte er, in sichtlicher Laune sich einen Stuhl herbeiziehend, „denken Sie nur, in welches Licht Sie mich damit stellen müssen.“

Der Kupferschmied warf einen halben Blick in sein Gesicht.

„Die Wahrheit wird meistens unrecht genannt,“ brummte er, „und Sie werden sie freilich jetzt nicht zugestehen!“

„Meißner, ich gehe ja aber gar nicht und bleibe, wo ich bin!“

Der Andere hob rasch den Kopf und sah dem Sprechenden scharf in die lachenden Augen. „Wollen Sie mich jetzt zum Narren machen oder haben Sie das heute Nachmittag gethan!“ rief er nach einer Pause.

„Keins von Beiden,“ erwiderte Reichardt mit dem vollen Ausdrucke des Glücks, „es ist nur eben ein Unterschied zwischen Nachmittag und jetzt. Es ist noch Alles geblieben, wie es war, Meißner, und doch hat sich auch wieder so viel geändert!“

„Ei, so geben Sie Räthsel auf, wem Sie wollen, mir aber müssen Sie beichten!“ rief der Kupferschmied aufspringend und faßte den Freund bei beiden Schultern; „kein Pardon!“ fuhr er fort, als der Andere abwehrend beide Arme gegen ihn ausstreckte, „denken Sie etwa, man quält sich Ihrethalber umsonst mit sich selbst herum und verdirbt sich den ganzen Tag?“

„Still jetzt, Meißner,“ entgegnete Reichardt ernster werdend und erhob sich, „Sie sollen Alles erfahren, sobald ich reden darf, und so fragen Sie jetzt nicht weiter. Vorläufig kommen Sie mit mir, damit wir ein ordentliches Abendbrod nehmen und eine Flasche Wein trinken; dann aber gehen wir zum alten Black.“

„Ab und zur Ruhe gewiesen, ich konnte mir es schon denken,“ brummte der Andere, die Arme sinken lassend; „aber auch gut! es dient wenigstens als Probe für eine uneigennützige Freundschaft!“

Mit einem kräftigen Kopfnicken eilte er davon, um seine gewöhnliche Umkleidung vorzunehmen.

Als Reichardt spät am Abend nach seinem Boardinghause zurückkehrte, ließ er sich noch Feder, Tinte und Papier nach seinem Zimmer bringen und schrieb an Mathildens Mann, daß seine Verhältnisse es jetzt nicht gestatteten, das ihm gemachte Anerbieten anzunehmen. An seine ehemalige Gefährtin selbst aber legte er einige Zeilen herzlichen Abschieds und freundlicher Wünsche für ihre fernere Zukunft bei, zugleich die Hoffnung aussprechend, ihr auf ihren beiderseitigen Lebenswegen einmal wieder zu begegnen. Er ging noch selbst nach dem Schalter der nahen Postoffice, um der Besorgung des Briefs am nächsten Morgen sicher zu sein. In seine Wohnung zurückgekehrt, begann er hier langsam auf und ab zu schreiten, bis er nach einer Weile, sich die Stirn reibend, mitten im Zimmer stehen blieb. Die Erregung, welche die letzten Ereignisse in ihm hervorgerufen, war vorüber, und fast wollten jetzt, wo er den letzten Schritt gethan, der ihn in seinem bisherigen Wirkungskreise festhielt, leise Zweifel in ihm aufsteigen, ob er nicht zu voreilig gehandelt. Was ihn wie in einem Zauber gefangen gehalten, während er es durchlebt, begann jetzt eine völlig verschiedene Färbung anzunehmen, und je genauer er das Geschehene betrachtete, je weniger vermochte er eine aufsteigende bängliche Ungewißheit von sich zu weisen. Hatte er doch nicht ein einziges Wort von Margaret, das ihn zu größern Hoffnungen als bisher berechtigte; von Mr. Frost’s Meinung seinen Gefühlen gegenüber kannte er nichts, als die sonderbare Miene, welche jener bei Harriet’s Mittheilung gezeigt hatte und die sich zuletzt nach allen Richtungen hin deuten ließ; und wenn er sich auch mit seinen Gedanken an Harriet klammerte, die ihn sicher nicht aus seinem Schweigen getrieben und ihm Hoffnungen gemacht haben würde, wenn nicht ein bestimmter Grund zu den letzteren vorhanden gewesen wäre, so hatte er doch schon selbst erfahren, wie leicht sich das Mädchen von einer Idee zum bestimmten Handeln fortreißen ließ, ohne die wirklich bestehenden Verhältnisse zu berücksichtigen. Langsam entkleidete er sich und suchte sein Bett, um sich von Neuem die Bilder des Tages vor die Seele zu rufen. Da trat ihm plötzlich Frost’s Aeußerung: „Ganz deutsch!“ in die Erinnerung und daneben Harriet’s spöttelnde Frage, ob er erst die allseitig genügendsten Versicherungen verlange, ehe er sich entschließe, nach einem Glücke zu greifen; – „ist es nicht Feigheit?“ klang es dann in seinen Ohren. Nein, er war nicht feig, er wäre kräftig und entschlossen in jedem andern Falle gewesen: und mochte es auch „deutsch“ sein, zu zagen, wo es galt, in eigener Sache keck nach dem Höchsten zu greifen, so würde er das jetzt wohl von sich werfen, wenn nur Margaret –! Ehe er den Gedanken indessen geendet, stand das in Thränen lächelnde Gesicht, wie es sich nach ihm gehoben, vor seinem innern Blicke, sah er in diese Augen, deren Ausdruck ihm einen Himmel in die Brust geworfen – er grübelte nicht weiter, aber tief in die Seele das vor ihn tretende Bild aufnehmend, war es seine letzte bewußte Vorstellung, ehe er entschlief. –

Es war ein eigenthümliches Gefühl, das sich Reichardt’s bemächtigte, als er am andern Morgen das Cassenzimmer betrat und von Bell’s bisherigem Arbeitsplatze Besitz nahm. Bei seinem Erwachen war ihm die neue Wendung seines Schicksals fast wie ein Traum erschienen, in dem seine am Abend zuvor durchkämpften Zweifel wie ein dunkler Punkt standen. Aber sich kräftig aus seiner Gefühlswelt aufraffend, hatte er sich den Stand der Dinge klar vor Augen gestellt, hatte erkannt, daß, möchten sich auch die ihn umgebenden Verhältnisse für oder gegen seine Hoffnungen gestalten, er ohne bestimmte Ursache nicht von Neuem zurücktreten könne, und vorläufig Allem, was sich aus den gestrigen Vorfällen entwickeln werde, ruhig entgegensehen müsse – und mit der gewonnenen Klarheit war auch seine ganze Seele durchwärmend, das Bewußtsein seiner neuen Stellung und der sich jetzt vor ihm eröffnenden Zukunft in ihm wach geworden. Demohngeachtet traten ihm bei seinem Eintritt in die Office alle Empfindungen, mit welchen er dieselbe gestern verlassen, wieder lebendig entgegen, und er konnte sich einer leichten Beklommenheit nicht erwehren, wenn er an das erste Begegnen mit dem allen Frost, dem er jedenfalls eine Erklärung schuldig war, dachte. Er war längst mit den ihm obliegenden Pflichten vertraut, aber er mochte demohngeachtet noch keine Hand an die von Bell abgeschlossenen Bücher legen, ehe nicht das erwartete Zusammentreffen vorüber war, und so blätterte er die vor ihm liegenden Papiere durch, ohne doch mit einem Gedanken bei der vorgenommenen Beschäftigung zu sein, aber jeden Tritt, der in dem vordern Zimmer laut wurde, belauschend.

Fast eine halbe Stunde mochte er in diesem Zustande verbracht haben, als er die Eingangsthür zur Office klappen und gleich darauf eine Stimme laut werden hörte, und „das ist er!“ murmelte er vor sich hin, seine ganze Fassung möglichst zusammenraffend.

Reichardt hatte sich erhoben, als Frost sichtbar wurde. Der erste Blick in das Gesicht des Eintretenden aber zeigte ihm, daß dieser von irgend einem geschäftlichen Gedanken ganz in Anspruch genommen sein mußte, und fast schien es, als wolle er ohne Aufenthalt nach dem hintern Zimmer gehen. Kurz vor der Thür des letztern erst hielt er, wie sich besinnend, seinen Schritt an und wandte sich langsam dem jungen Manne zu. „Ich war gestern leider verhindert, Ihren Entschluß entgegenzunehmen,“ sagte er, während sich ein seltsames halbes Lächeln um seinen Mund legte, „ich sehe aber, wir sind mit einander in Ordnung, und so wird es sich ja bald zeigen, wie weit das neue Arrangement unsern beiderseitigen Erwartungen entspricht. Notiren Sie sich vorläufig von heute ab denselben Gehalt, welchen Bell bisher bezogen.“ Er hielt inne und blickte, wie einen besonderen Gedanken verfolgend, in das Gesicht des Deutschen. „Johnson war heute schon bei mir,“ begann er nach kurzem Schweigen von Neuem. „und verlangt als [534] einen Act der Billigkeit, daß ich seine Forderung an die Versicherungsgesellschaft mit zur Liquidation kommen lasse, da die Nachricht von dem beabsichtigten Betruge gewissermaßen durch die Vermittelung seines Geschäfts an uns gelangt sei. Der alte Black hat, soweit es sein Interesse betrifft, bereits seine Zustimmung gegeben und wird dafür unter Einlegung seines Capitals als Partner in Johnson’s Geschäft treten, aus welchem der Vater, der ohnedies nicht viel mehr von dieser Welt zu hoffen hat, ausscheidet.

Jetzt fragt es sich, was sollen wir thun?’ Reichardt war mit aufmerksam gehobenem Kopfe und sichtlichem Interesse der letzten Mittheilung gefolgt. „Die Forderung läßt wohl eine doppelte Auffassung zu, Sir,“ sagte er jetzt, während sich sein Gesicht höher färbte. „Tritt uns Johnson nur als Geschäftsmann gegenüber, so halte ich sein Verlangen für eine reine Absurdität. Er hat durch Geschäftslässigkeit verfehlt, was wir durch Glück und ein rasches Benutzen der günstigen Chance gewonnen – das ist das einfache und allein richtige Verhältniß in der Sache, das für den Kaufmann wohl jedes weitere Wort unnöthig macht. Anders vielleicht mag sich dieses gestalten, wenn Johnson als Freund Ihres Hauses Ihre persönliche Rücksicht beansprucht, hier aber hört natürlich jedes Urtheil eines Dritten auf.“

„Gut, und was würden Sie in dem letztern Falle an meiner Stelle thun?“ fragte der alte Herr lächelnd.

Nur einen Augenblick ging es wie eine leichte Verlegenheit über Reichardt’s Gesicht. „Ich glaube nicht, Mr. Frost,“ erwiderte er dann, „daß ich die Verhältnisse genug kenne, um mich nur in die angedeutete Lage versetzen zu können.“

Frost nickte, während sich der frühere eigenthümliche Zug seinem Lächeln wieder beigesellte. „Ich will Ihnen gestehen,“ sagte er, „daß ich nicht die geringste Neigung hätte, von der gesunden kaufmännischen Ansicht, welche Sie soeben ausgesprochen, abzuweichen, wenn ich nicht Rücksicht auf Black nehmen möchte, einen alten, treuen Arbeiter, dessen ich mich schon seit Beginn meiner Carriere entsinne und der mehr werth ist, als vielleicht alle drei Johnsons zusammen. Das, was unser Geschäft verlieren muß, wenn wir Johnson zur Liquidation seiner Forderung zulassen, steht in keinem Verhältniß zu den Folgen, welche dessen Verlust für ihn und somit für Black’s alte Tage haben könnte – sie würden fast sicher den Fall des Geschäfts bringen. Indessen lasse ich gern der begründeten Meinung eines Vertrauensmannes, wie Sie es durch Ihre neue Stellung geworden sind, ihre Geltung, und so werde ich das Opfer, was zu bringen ist, auf mein Privat-Conto nehmen. Sobald Johnson kommen sollte, weisen Sie ihn zu mir!“

Er nickte leicht und wandte sich nach seinem Zimmer. Reichardt’s Brust aber war bei dem Ende des Gesprächs weit geworden und hob sich jetzt unter Empfindungen, wie er sie bisher in dem Maße noch nie gekannt. Er meinte in diesem Augenblicke sich für den Mann, der von ihm gegangen, wie für die ihm anvertraute Stellung in jede Gefahr stürzen zu können und lange noch stand er, mit dem Lächeln tiefster, glücklichster Befriedigung vor sich hinsinnend, ehe er, langsam den Kopf hebend, sich seinen neuen Arbeiten zuwandte.

Es war Mittag, als sich die Thür nach dem Vorderzimmer öffnete und John geräuschvoll eintrat. „Ich bin wirklich so sehr mit andern Dingen beschäftigt gewesen, Will, und bin es noch, daß ich kein Wort von der ganzen Sache weiß,“ hörte ihn Reichardt sagen; „wenn Vater mit dem Cassirer hat sprechen wollen – hier ist er, reden Sie zu ihm!“

Der Dasitzende blickte auf und sah in William Johnson’s Gesicht, welcher, hinter dem jungen Frost eingetreten, soeben wie in unangenehmer Ueberraschung den Kopf nach dem Deutschen wandte. „Mr. Frost hat jedenfalls von Ihrem wirklichen Cassirer gesprochen!“ sagte der Letztere, das Gesicht kurz nach seinem Begleiter kehrend.

„Das ist er, Mr. Reichardt, Sir!“ erwiderte John mit einem Lächeln, das nicht ohne einen Anflug von Schadenfreude war, „Mr. Bell hat seinen Platz jetzt in der Marine Bank. Machen Sie Ihr Geschäft ab, und ich werde einstweilen nach dem meinigen sehen!“ Er schritt rasch nach dem Vorderzimmer, Johnson in sichtlichem Kampfe mit sich selbst zurücklassend. Reichardt hatte nur einen Blick in das sich ihm wieder zuwendende Gesicht geworfen, meinte aber Alles, was in der Seele dieses gedemüthigten Mannes vorging, mitzufühlen, und hätte in seiner glücklichen, gehobenen Stimmung nicht noch eines Sandkorns Schwere neuer Demüthigung hinzufügen können. „Wenn es sich um die Versicherungs-Angelegenheit handelt, Sir,“ sagte er in freundlichem Tone. „so bin ich allerdings davon unterrichtet, indessen finden Sie Mr. Frost in seinem Zimmer, und Sie sind bereits erwartet.“ Zwischen Johnson’s Augenbrauen machte sich jetzt ein eigenthümliches Zucken bemerkbar, als wisse er nicht, welche Miene anzunehmen. „Dank Ihnen, Sir,“ versetzte er endlich, schien aber augenscheinlich noch eine Frage auf den Lippen zu haben. Wie in einem raschen Entschlusse indessen wandte er, den Kopf zurückwerfend, sich plötzlich ab und öffnete die Thür zu Frost’s Zimmer, kaum war er verschwunden, als sich auch John’s Gesicht wieder in der vordern Thüröffnung zeigte. „So!“ rief dieser halblaut, nach einem vorsichtigen Rundblick eintretend, „mich auch noch um anderer Leute Dinge zu kümmern, wenn ich selbst nicht weiß, wo mir der Kopf steht! Für’s Erste habe ich mit Ihnen zu reden, Reichardt, und zwar sehr ernsthaft,“ setzte er die Stirn runzelnd hinzu, „es ist längst Mittag, und so werde ich Sie nach Ihrem Boardinghause begleiten.“

„Doch nichts Gefährliches?“ fragte Reichardt, sich lächelnd zum Gehen fertig machend.

„Kommt auf die Umstände an, Sir!“ war die Antwort, mit welcher Jener dem Deutschen nach dem Ausgange der Office voranging. Auf der Straße angelangt schritt er, wie um ein Gespräch im Gehen zu vermeiden, seinem Begleiter immer um einen halben Fuß voraus, und Reichardt konnte sich endlich einer leichten Spannung, was der Grund dieses ungewöhnlichen Benehmens sei, nicht erwehren. Sie fanden den Parlor des Boardinghauses, wie gewöhnlich während der Mittagszeit, leer, und der Deutsche zog zwei Stühle zum Kaminfeuer, schweigend die Mittheilungen des Andern erwartend. Ohne sich aber zu setzen, legte John die Hand auf die Schulter seines Gesellschafters und sah diesem scharf in die Augen. „Sie haben Ihren Entschluß, uns zu verlassen, aufgegeben,“ begann er, „und ich weiß nur, daß ein Gespräch mit Harriet einen bedeutenden Antheil daran hat. Reichardt,“ fuhr er fort, während eine stille Gluth in sein Auge trat, „ich bin soeben dabei, mir das Glück oder Unglück meiner ganzen Zukunft zu gründen. Sagen Sie mir, was Sie zu Ihrem ersten plötzlichen Entschlusse und zu dem jetzigen schnellen Aufgeben desselben bewogen hat. Sie sind es mir durch Ihr gestriges Versprechen schuldig, und ich weiß, daß Sie mich, Ihren besten, aufrichtigsten Freund, nicht belügen werden.“

Reichardt sah verwundert in das erregte Gesicht des Sprechenden. „Was kann denn mein Entschluß mit Ihrem Glück oder Unglück zu thun haben?“ fragte er. „Sprechen Sie Ihre Gedanken aus, John, und ich will Ihnen so ehrlich antworten, als Sie es nur wünschen können.“

„Weichen Sie mir nicht aus,“ rief der Andere, wie ungeduldig, „zeigen Sie mir die rechte Ehrlichkeit und antworten Sie mir gerade und offen!“

Ein tiefes Roth stieg langsam in das Gesicht des Deutschen. „Sie wissen nicht, was Sie von mir, der sich noch selber kaum klar ist, verlangen,“ erwiderte er nach einer Pause, „demohngeachtet will ich ohne Rücksicht gegen mich Ihrer Forderung genügen; erkennen Sie aber dann, John, daß das, was ich zu sagen habe, viel besser unausgesprochen geblieben wäre, so wissen Sie, daß Sie selbst mir keine Wahl gelassen haben.“

(Schluß folgt.)
[535]

Ein Kaiser im Exil.

Von Schmidt-Weißenfels.

In den Hauptstraßen der Neu- und Altstadt der schönen alten Königsstadt Prag sieht man, mit Ausnahme der Sommerzeit, fast täglich gegen Mittag einen reich verzierten Wagen, von herrlichen Rossen langsam dahin gezogen. Der Kutscher, in grotesker Livree, in Schuhen und weißen Strümpfen, kurzen Sammethosen, gelbem Rock und mit riesigem Dreimaster auf dem gepuderten Haupt, thront in seiner Majestät hoch oben auf dem Sitz. Niemand befindet sich im Innern des Wagens; aber unweit davon, auf dem Trottoir, bemerkt man einen stattlichen Diener in derselben Livree, wie sie der Kutscher trägt, und zweien Herren in einfach bürgerlicher Kleidung – augenscheinlich den Besitzern der Karosse – in langsamem Tempo und mit der üblichen vornehmen Lakaienmiene folgend. Rechts und links grüßen die Vorübergehenden respektvoll einen von diesen beiden Herren; es ist ein kleiner Greis – der Kaiser Ferdinand I. von Oesterreich. Sein Begleiter ist einer der Kammerherren, die zugleich seine Wächter abgeben.

Ferdinand I., obwohl jetzt 68 Jahr alt und von jeher schwächlich an Körper wie an Geist, ist doch in seinen Bewegungen noch keinesweges als hinfällig zu bezeichnen. Rastlose Arbeit in der Jugend bildete die Keime seiner Kränklichkeit aus, und als er 1835 Kaiser wurde, war er geistig und körperlich so leidend, daß man seine Auflösung in Bälde voraussetzte. Aber er erholte sich mit den Jahren mehr und mehr, und viel mag dazu beigetragen haben, daß er seit seiner Thronbesteigung wenig mehr als die Form der Regierung repräsentirte und alle Geschäfte in vormärzlicher Zeit, so gemüthlich wie man eben damals verwaltete anstatt zu regieren, von einem Regentschaftsrath erledigt wurden, der aus Erzherzog Ludwig, Fürst Metternich und Graf Kolowrat bestand.

Des alten Kaisers Kopf zeigt den echten sogenannten Ferdinandeischen Typus auf: eine große hervorspringende Stirn, ein nach dem Kinn fast zugespitztes Gesicht, halbaufgeworfene Lippen und eine lange gerade Nase ohne Schönheitslinie. Wie träumend, immer vor sich hinsehend und doch niemals den scheuen matten Blick auf Etwas haften lassend, geht der kleine alte Herr willig wie ein Kind, und sichtlich auch wie ein solches geleitet, an der Seite oder am Arme seines Kammerherrn, der mit ihm plaudert und dem er wie mechanisch antwortet. Hier und da, namentlich an den Schaufenstern von Delikatessenhandlungen, bleibt der Kaiser stehen und so lange, bis sein Begleiter ihn wieder fortzieht, selbst oft wider des Kaisers Willen. Ferdinand I. hat nicht einmal als Privatmann im Exil die Freiheit, zu thun und zu lassen, was er will. Er ist immer noch der Kaiser, über dem der Kammerherr steht, der seine Instructionen hat. So wandert er ein Stündchen durch die Straßen der Stadt, mit einer Mitleid erregenden automatischen Behendigkeit fast unaufhörlich seinen Cylinderhut von dem mit spärlichem Silberhaar bedeckten Haupt ziehend, mehr aus Instinct als durch den Blick vergewissert, daß man ihn grüße. Viele kennen ihn nicht, beachten ihn nicht in seiner unscheinbaren, schlichten Erscheinung, und Wunder konnte es nicht nehmen, daß einmal ein nach Prag verschlagener Natursohn der Pußta, der erfuhr, daß der Kaiser da spazieren gehe, ehrfurchtsvoll den großen Lakaien in urwüchsigem Loyalitätsgefühl anfiel, weil er diesen wegen seiner Gravität und seines bunten Aufputzes für die Majestät hielt. Ein anderer Sohn des stolzen Magyarenvolkes bewies seine Verehrung für den „König“ zwar der rechten Person, aber ebenfalls so urwüchsig, daß er Fiasco machte. Als er den Kaiser kommen sah, zog er flugs auf offener belebter Straße seine Attila aus und breitete sie auf dem Straßenpflaster aus, indem er dabei dem stutzenden und scheu sich abwendenden „König“ leuchtenden Auges seine Eljón zurief. Die guten Prager, der Kaiser selbst und auch sein Kammerherr hielten den Magyaren für toll, und die herzukommende Polizei brachte ihn bei Seite. Erst hier demonstrirte der Ungar, daß er seinem Könige die höchste Verehrung nach der Sitte seines Volkes dargebracht, indem er ihn bat, über seine hingelegte Attila zu schreiten.

Der Hradschin ist der Ort, wo Ferdinand I. die Residenz seines Exils genommen.

Wer kennt sie nicht, diese Harad, diese stolze Burgstadt der einstigen Könige von Böhmen? Wer hätte nicht den Hradschin Prags rühmen gehört? Vom Ufer der breiten Moldau, welche die Stadt in zwei Hälften theilt, erhebt sich amphitheatralisch auf einem jener Berge, welche die Moldau begleiten, der alte, palast- und klosterreiche Stadttheil der Kleinseite, die Stirn gekrönt mit der wundervollen Fronte der tausendfenstrigen Burg, der Harad Otakar’s, an deren Ecken noch die alten Wachthürme hervorspringen. Der Hradschin giebt Prag jene imposante architektonische Wand, welche, in Verbindung mit dem Berggürtel und dem schön geschwungenen Strom des Flusses, den Anblick der böhmischen Hauptstadt zu einem der entzückendsten macht, so daß ihr Humboldt den dritten Platz unter den am herrlichsten gelegenen Städten des Continents zuerkannte. Vom Hradschin selbst schwelgt das Auge in der Pracht des Städtebilds der hundertthürmigen Praga, die weithin sich ausbreitet in die Ebene, umkränzt von den „Minarets der Christenheit“, den Dampfschloten der Industrie.

Die Burg sieht in ihrer steinernen Majestät auf diese alten Paläste und Kirchen, sprechende Zeugen einer versunkenen Vladikenzeit. In der alten Harad residirte einst das Geschlecht Otakar’s; hier fand 1618 der Fenstersturz statt, der den Anfang des dreißigjährigen Krieges machte, dessen Ende das reiche Böhmen als eine Wüste fand, getränkt mit dem Blut der alten Czechengeschlechter und der Protestanten, die der habsburgische Kaiser ausrottete, weil sein zusammengeheirathet Land zu klein war, um Einen Gott auf zwei Weisen anzubeten. Oede und verlassen stand dann diese Burg Jahrhunderte lang – kein König thronte dort mehr. Erst in neuester Zeit zog wieder ein Fürst hier ein, ein alter, vom Throne herabgenöthigter, ein Exil suchender Kaiser: Ferdinand I., der seither letzte gekrönte König von Böheim und von Hungarn.

Es hat ihn wohl gekränkt, den alten Mann, daß der Sturm des Revolutionsjahres 1848 ihn vom Throne wegfegte, um einem jungen Herrscher, der selber die Zügel des zum Abgrund eilenden Reiches führen konnte, Platz zu machen. Ferdinand I. liebte Wien und liebte es trotz der Ereignisse des Jahres 1848 – es brachte ihm Thränen in die Augen, als er nach der Thronentsagung aus Wien fort mußte, um es nie wieder zu sehen. Ein Kind an Gemüth, bedauerte er, all diese schöne Herrlichkeit des Herrscherdaseins aufgeben zu müssen, diese gewohnte Pietät Aller vor seiner Person, die lärmenden oder ihn sonst wie erheiternden Ehrenbezeigungen, welche die Beschäftigung seiner Monarchenstellung vornehmlich gebildet, fortan nun entbehren zu sollen. So viel es geht, hält er denn auch noch heute auf diese Ovationen, die man ihm als regierendem Kaiser gebracht; er will noch heut als Kaiser respectirt werden, trotzdem er nicht mehr regiert, und geschieht irgend Etwas nicht nach seiner jeweiligen Laune, so bricht seine Empfindlichkeit darüber oft drastisch genug durch. Geht er in der Stadt, wie gewöhnlich, wenn er in Prag ist, spazieren, so ist sein Vergnügen, sich gegrüßt zu sehen und wieder zu grüßen, an der Hauptwache vorbeizugehen, um sich zu vergewissern, daß die Truppen ihm noch die schuldigen Honneurs machen. Seine Freude an Militärmusik wirb ihm so oft wie möglich bereitet. Wenn er aus der Burg geht oder nach Hause kommt, schlägt der Tambour den Wirbel, und die Wache macht die Ehrenbezeigungen. Allmorgentlich spielt eine Musikbande unter seinem Fenster. An seinem Geburtstag wird ein großer Zapfenstreich geschlagen und durch die Soldaten ihm ein Fackelzug gebracht. Dies Alles sind die Erheiterungen, die der alte Kaiser nicht entbehren kann.

Sein übriges Leben verfließt regelmäßig unter der Beschäftigung mit seinen Lieblingsneigungen. Ferdinand I. ist ein leidenschaftlicher Blumenfreund und ein Botaniker von wirklicher Bedeutung. Es scheint, als wenn Metternich, der sich selbst viel darauf einbildete, ein Naturforscher zu sein, und der die Jugend des Thronfolgers leitete, ihm diese Passion eingeflößt habe. Jeden Morgen besucht der alte Herr den Garten im Hirschgraben bei der Burg und unterhält sich eine Stunde lang eifrig mit den Blumen, bis ihn der Kammerdiener zur Promenade führt oder zum „Arbeiten“, worunter einige Verträge über sein Hauswesen, über Almosen und dergleichen begriffen sind. Sein Mittagsmahl ist von regelmäßiger Einfachheit und besteht aus fünf Speisen. Gewöhnlich haben seine Kammerherren ihm gern oder ungern gesehene Gäste dazu gebeten, wie den Cardinal Schwarzenberg, der Nachbar des Kaisers ist, Domherren, Stiftsdamen etc. [536] Abends treibt der Kaiser Musik, für welche er eine außerordentliche Vorliebe hat; auch hierzu wird ihm Gesellschaft geladen, welche natürlich meist aus musikalischen Elementen besteht, die sich aus allerlei Ursachen mit der Last solcher Soireen befreunden. Dies dürfte ziemlich aller Verkehr sein, wenn man einige Audienzen abrechnet, die Ferdinand I. noch unterhält. Zwischen ihm und seiner Familie in Wien herrscht aus erklärlichen Ursachen eben kein inniges Verhältniß. Der Kaiser kann es nicht verwinden, daß man ihn über Nacht bei Seite geschoben, und die regierende Familie hat kein Bedürfniß, den alten gutmüthigen Fürsten darüber weiter zu trösten. Sehr selten, daß ein Mitglied der kaiserlichen Familie aus Wien bei der Durchreise den früheren Herrscher besucht; nur seine Stiefmutter pflegt alljährlich bei ihm einige Tage zuzubringen, und ebenso der Erzherzog Karl, der mit ihm zugleich als präsumtiver Thronfolger zu Gunsten seines Sohnes Franz Joseph am 2. December 1848 abdankte. Beide Brüder haben eine ungemeine Aehnlichkeit, und die Anhänglichkeit, welche der bejahrte Erzherzog für den Kaiser Ferdinand hat, bietet diesem während des mehrtägigen Besuchs Gelegenheit, sein Herz mit den kleinen Sorgen vertrauensvoll ausschütten zu können. Auch läßt man bei dieser alljährlichen Gelegenheit den Kaiser an des Erzherzogs Karl harmlosen Vergnügungen Antheil nehmen; namentlich gestattet man, daß er alsdann das Theater besuche, von dem man ihn sonst „der Aufregung wegen“ und zum Kummer des dafür passionirten Greises fern hält. Es muß ein lustiges Wiener Stück mit Ballet und Gesang gegeben werden, denn der Kaiser wie sein Bruder haben nur daran ein ausgesprochenes Vergnügen und lachen in ihrer kleinen Loge sich herzlich über den Komiker und seine Witze satt, in jener alten patriarchalischen Ungenirtheit, die sonst immer, trotz aller Etiquette, der kaiserliche Hof bei der Berührung mit dem Volke zeigte und die jetzt verschwunden ist. Der diesjährige Besuch des Theaters brachte dem Kaiser unerwartet eine Ovation, welche in Wien gerade nicht angenehm berührt haben mag. Das Publicum begrüßte den greisen Fürsten mit einer ungeheuchelten Innigkeit und lauten Hochs und Zivios, die sichtlich den Kaiser in Rührung versetzten. Es war eine unter den jetzigen Verhältnissen bedeutungsvolle Demonstration für die Autonomie des „Königreichs Böhmen“. Ferdinand I. war ja der letzte gekrönte König desselben!

Den Sommer pflegt der Kaiser auf seinen Herrschaften Reichstadt oder Ploschkowitz in Böhmen zuzubringen. Letztere Herrschaft hat ihn bei der neuen Gemeindewahl im Februar d. J. zum Bürgermeister erkoren, und der Kaiser nahm dies suffrage universel auch an, ebenso wie der jetzt auf Brandeis in Böhmen herrschende Ex-Großherzog von Toscana das seiner Bauern. So fanden beide Fürsten hier ihre Anerkennung und herrschen als Bürgermeister.

Die kindliche Naivetät des Kaisers Ferdinand ist sprüchwörtlich. Sie ist sein Charakter, und eine Menge Anekdoten könnte man erzählen, um sie zu kennzeichnen. Als der bekannte Claviervirtuose Dreyschock einmal bei ihm spielte, war der Kaiser ganz entzückt über diese Fertigkeit des Spiels. Natürlich rechnete der Virtuos außer anderem Lohn auch auf außerordentliche Complimente Seitens des Fürsten; doch was sagte dieser, als der Spieler zu Ende war? – „Sie müssen recht schwitzen, nicht wahr?“ – Ein ander Mal ließ sich der Kaiser photographiren und nachdem er sich hatte erzählen lassen, wie sein Verhalten dabei sein müsse, ergriff er schelmisch-lächelnd den Arm des Photographen und sagte zu ihm in seinem gemüthlichen Wiener Dialekt: „Na, i wer schon hübsch artig sein!“ – Auch eine andere Anekdote ist nicht uninteressant. Als man Ferdinand I. nach dem italienischen Kriege von 1859 den Inhalt des Friedensvertrages mittheilte, wonach die Lombardei von Oesterreich abgetreten wurde, bemerkte er: „Na, so hätt’ ich’s halt auch noch g’troffen!“

Auch seine Güte ist sprüchwörtlich. Der Kaiser, dessen ganzes Wesen ein kindliches zu nennen ist, hat unaufhörlich das Bedürfniß zu geben, und die Masse seiner Geschenke, sein ausnehmend weiches Gemüth, erwarben ihm nicht ohne Grund den Beinamen des „Gütigen“. Aber wie es einer solchen Natur entspricht, „erfließen“ die Geschenke und Almosen ohne Bewußtsein über die Wirkung derselben, und die Umgebung des Kaisers läßt ihn auch nur nach ihrer Anleitung dieses Herzensbedürfniß befriedigen. Bei dem ungeheuren Privatreichthum Ferdinand’s kann es nicht auffallen, daß er fast täglich mehrere hundert Gulden verschenkt; aber diese eminente Summe, welche so jährlich aus seiner Schatulle fließt, wirkt verhältnißmäßig nur sehr unbedeutend als wirkliche Wohlthat. Wohl werden viele Arme und Verdiente, die sich die Protection der Umgebung erwerben, bedacht; aber die große Summe wird doch nur der Kirche für allerlei, oft wahrhaft unnütze Dinge gegeben. Um jedes Altarbild, jeden Umbau einer Kirche oder Verschönerung derselben wendet man sich an Ferdinand I., und selten vergeht eine Woche, in der die „Prager Zeitung“ nicht ein Register über Geschenke von je einigen hundert Gulden für solche Zwecke veröffentlicht. Der Kaiser will glücklich machen, will schenken von seinem Ueberfluß, und da seine Umgebung ihm allein die Anleitung dazu giebt, so unterstützt er überwiegend nur deren Protectionen und Tendenzen, die mit denen des Priesterthums nicht wenig verwandt sind.

Letzteres, immer beeifert, sich fette Opfer auszusuchen, hat zwar nie rechte Allmacht über den alten Kaiser erhalten, der trotz aller Einwirkungen doch immer einen unverfälschten, gesunden Menschenverstand sich bewahrte; aber so viel haben die geistlichen Herren doch erreicht, daß der exilirte Monarch äußerlich Alles thut, was sie wünschen, die Messe besucht, ihre Gesellschaft erträgt und ihre Anordnungen, oft mit den ihm eigenthümlichen kaustischen Glossen, respectirt. Dagegen ist ihnen, namentlich den Jesuiten, die Gemahlin Ferdinand’s vollständig ergeben. Sie wurde als sardinische Prinzessin an dem Hofe ihres Vaters, des ersten Victor Emanuel, danach erzogen, um im Alter empfänglich für alle Anforderungen der Geistlichkeit zu sein. Die neuesten Ereignisse, der Krieg Sardiniens gegen Oesterreich und Rom, hat sie, die nie vergaß, daß ihr Vaterland Italien sei, vollends den religiösen Exercitien anheimfallen lassen, und Beten und Fasten ist ihre einzige Beschäftigung geworden. Zwischen ihr und dem Kaiser herrscht, wie früher, so noch jetzt, die strengste Etiquette, und die beiden Gatten haben fast gar keine Berührung familiärer Art mit einander. Nur nach dem Diner pflegt der alte Kaiser eine Schale mit Früchten zu nehmen und damit nach dem Zimmer seiner Gemahlin zu gehen, um dieselben in traulichem Gespräch mit ihr zu verzehren. Aber wie oft wird auch dieses Beisammensein durch die Beichtväter der Kaiserin verhindert! Der Kaiser findet häufig die Thür zu den Gemächern seiner Gemahlin verschlossen, und lautlos, aber schelmisch vor sich hin lächelnd kehrt er nun wieder zurück; er weiß, daß der Kaiserin von ihren Jesuiten Buße und Fasten auferlegt worden ist, und sie, gehorsam dem Befehle der Priester, jede Berührung mit der Außenwelt alsdann strenge vermeidet.




Ein Ritt von Lima aus ins Innere.
Reiseskizze von Fr. Gerstäcker.
(Schluß.)

Der eigentliche Gipfel der Cordilleren zeigt sich aber hier keineswegs so scharf und entschieden ausgeprägt, wie weiter südlich und östlich von Valparaiso, wo man den wirklich scheidenden Gebirgsrücken in einer halben Minute passiren kann. Hier ist die Höhe weit mehr gebrochen und in kleine Hügel und Tiefen abgetheilt; sogar eine Lagune hat sich dort oben gesammelt, und ich fand eigentlich erst, daß ich den wirklichen Hauptgipfel erreicht hatte, als ich plötzlich wilde, mit Schnee bedeckte Hänge vor mir sah, deren weiße Flächen tiefer hinabreichten, als ich mich selber befand. Die Schneegrenze, d. h. die Linie des ewigen Schnees, die in der Schweiz etwa auf 9000 Fuß liegen wird, wenn auch einzelne von ihren Gletschern bis 8000 herunterreichen, liegt wunderbarer Weise unter und nahe den Wendekreisen viel höher als unter der eigentlichen Linie selber, denn sie beträgt unter dem Aequator 15,000 und unter jenen 16–17,000 Fuß. Woher das kommt, ist noch nicht erklärt, wenn auch für Amerika allein eine Erklärung leicht [537] würde. Gerade unter dem Aequator und in wenigen Graden davon liegen hier nämlich eine Menge sehr hoher, schneebedeckter Berge, und unter ihnen der riesige Chimborazo, der fast mit einer Masse von 10,000 Fuß in die Schneeregion hineinreicht. Natürlich verbreiten diese ausgedehnten Schneefelder auch eine viel größere Kälte als dort, wo diese Kuppen nur vereinzelt emporragen, und müssen deshalb die Schneegrenze auch tiefer in das niedere Land drücken. Die nämliche Erscheinung, wenn auch natürlich in kleinerem Maßstab, haben wir schon mit der Schweiz und Tyrol, denn in dem letzteren Land, das keine so weite schneebedeckte Flächen hat, wie das erstere, liegt die Schneegrenze ebenfalls höher, und 9000 Fuß hohe Kuppen tragen hier nur im Winter Schnee, und auf dieser Höhe noch das zarteste und süßeste Alpengras.

Von hier ab senkte sich der Weg bald wieder bis zu etwa 14,000 Fuß nieder, führte aber nicht wieder, wie ich gehofft hatte, in fruchtbare Thäler hinab, sondern hielt sich auf diesen Höhen, die man hier punas nennt, und wo nur allein ein dürftiges, vom Reif nicht selten wie gesengtes Gras Schaf- und Llamaheerden am Leben erhält. Die Schafe haben wahrhaftig kein leichtes Brod, wenn sie sich an diesen Hängen ihre Nahrung suchen wollen, und die Llamas halten sich lieber in den tiefer gelegenen und sumpfigen Stellen auf, die das Schaf vermeidet. Denn das Llama hat breite Hufe oder vielmehr Schalen, mit denen es nicht so tief in den weichen Boden einsinkt, kann auch vielleicht eher das im Wasser wachsende und mehr sauere Gras vertragen, als das Schaf.

Diese Cordilleren sind die eigentliche Heimath des Llamas, das aber nicht mehr wild angetroffen wird, sondern überall in zahmen Heerden beisammen lebt. Das Vicuña dagegen, eine kleinere Gattung, kommt hier noch wild vor, und läßt sich entweder nicht zähmen, oder ist auch vielleicht zu schwach, irgend eine Ladung zu tragen. Früher soll es auch Guanácos gegeben haben, deren eigentliches Vaterland Patagonien bis zum 30. Breitengrade hinauf ist, diese sind aber jetzt ausgerottet oder nach dem Süden hinuntergetrieben, wo man sie noch in zahlreichen wilden Rudeln findet.

Die alten Ynkas, deren Erinnerung jetzt nur noch im Munde des Volkes lebt, während ihre einfachen Bauwerke selbst noch bis auf unsere Tage dem Zahn der Zeit getrotzt haben, hielten nicht selten große Jagden auf das Vicuña und zwar auf eine höchst eigenthümliche Weise, indem sie dieselben „verlappten“. Nach allen Beschreibungen nämlich scheinen sie wirkliche Federlappen gehabt zu haben, mit denen sie, wo sie ein Rudel dieser Vicuñas trafen, dasselbe einkreisten und den Ring immer enger und enger zogen, bis sie die einzelnen Thiere mit dem Lasso sichern oder mit ihren Pfeilen tödten konnten. Die Federlappen waren dabei gar nicht so hoch, aber kein Vicuña wagte es sie zu überspringen; nur wenn sich ein oder mehrere Guanácos mit im Rudel befanden, was ziemlich häufig scheint der Fall gewesen zu sein, so war die Jagd vergebens, denn diese letzteren übersprangen die Lappen, und sobald eines dieser Thiere hinübersetzte, blieben die Vicuñas auch nicht zurück, sondern folgten dem Beispiel. Die Indianer hüteten sich auch deshalb wohl ein Rudel einzukreisen, bei dem sie eines der klügeren Guanácos spürten.

Das wilde Guanáco hat eine bestimmte Farbe, wie überhaupt fast alle wilde Thiere – das gezähmte Llama dagegen findet sich von allen Farben, schwarz, weiß, braun, grau, gefleckt, ja selbst getigert, und es giebt kaum etwas Bunteres auf der Welt, als eine Heerde dieser hübschen, langhalsigen, zottigen Thiere, die nicht scheu, aber doch erstaunt den schönen Kopf emporwerfen, wenn ein einzelner Reiter auf diesen Höhen die stille Oede ihrer Weiden unterbricht. Es giebt aber gewiß nichts Herzigeres und Lieberes auf der ganzen Welt, als so ein junges Llama mit seiner seidenweichen und dichten Wolle, und ich hätte Gott weiß was darum gegeben, wenn ich eines dieser prächtigen kleinen Dinger hätte mitnehmen können. Aber ich hatte Mühe genug mich selber vorwärts zu bringen, und überhaupt können die Llamas auch das heiße, trockene Land der Küste gar nicht recht vertragen. Sie kommen allerdings dann und wann in einzelnen Heerden selbst bis nach Lima hinunter, aber man treibt sie stets wieder so rasch als möglich zurück in das höhere, kältere Land, das ihre eigentliche Heimath ist und dessen rauher Luft zu begegnen, sie einen ganz anständigen warmen Pelz auf dem Leibe tragen.

Mein Maulthier hatte sich oben in der feinen und dünnen Luft ziemlich gut gehalten; beim Bergsteigen schien ihm nur auch die Luft etwas zu fehlen, denn es schnaufte schwer und blieb oft stehen, sich auszuruhen. Um es nicht zu sehr anzustrengen, machte ich deshalb einen kurzen Tagesmarsch und blieb in dem ersten Tambo, der unten am Fuß des oberen Rückens ziemlich einsam in den Bergen lag. Diese Tambos, kleine, niedrige Lehmhütten, die in größeren Städten wohl auch dann und wann ein Bett für den Fremden und Reisenden haben, sind in dieser Wildniß natürlich nur einfache Nachtquartiere, in denen man höchstens Abends eine Kartoffelsuppe und – wenn man Glück hat – ein Stück Fleisch, aber sonst nicht die geringste weitere Bequemlichkeit findet. Wenn man schlafen will, wird einem für die Nacht ein halbes Dutzend trockener Schaffelle anvertraut, auf denen man wenigstens vor der Feuchtigkeit des Bodens geschützt ist; sonst muß man, wie gewöhnlich, seinen Sattel zum Kopfkissen, seinen Poncho zur Decke nehmen, und wenn die Luft recht kalt und eisig über die Schneeberge herüberstreicht, kann man nach Herzenslust unter der dünnen Decke schütteln und frieren.

Ueberreinlich sind dabei diese Nachtquartiere ebenfalls nicht, und wenn es nicht unumgänglich nöthig ist, sollte man sich nie in der Nähe des Heerdes aufhalten, wo die Suppe bereitet wird – vorausgesetzt nämlich daß man etwas eigen in Bereitung der Speisen wäre. Dennoch ist es kein Vergleich mit dem Innern von Ecuador, denn im Vergleich mit den Bewohnern dieses Landes sind die Peruaner wahrhafte Holländer. Das Hauptnahrungsmittel dieser Höhen sind Kartoffeln, die aber auch aus mehr „tropischen“ Gegenden eingeführt werden müssen, und Schaffleisch; Mais bekommen sie ebenfalls dann und wann herauf und dörren ihn mit Fett, wo er ihnen als Brod dient.

Von diesem Haus aus Casacaucha, wo ich übernachtete, brach ich am nächsten Morgen wieder ziemlich früh auf, ein kleines Städtchen Ualjay zu erreichen. Der Weg dorthin, der noch immer auf der Puna fortführte, war aber heute sehr schlecht, denn obgleich hoch in den Bergen und an grasigen Hängen hinführend, zeigte sich der Boden so weich und sumpfig, daß mein Maulthier ein paar Mal zu versinken drohte und von da an nur mit der äußersten Vorsicht weiter gebracht werden konnte. Allerdings hat der Staat, da dies der Hauptweg der ganzen Republik ist, den Weg verbessern und an den schlimmsten Stellen ordentlich pflastern lassen. Da dies aber nur mit sehr rauhen Steinen geschehen konnte, die noch dazu kein festes Lager fanden, so drückten sie sich natürlich theils in den sumpfigen Boden ein, theils schoben sie sich auseinander, und eine schönere Gelegenheit, die Beine eines Maulthiers zu zerbrechen, giebt es wohl auf keiner Straße der Welt.

Unterwegs sah ich nichts als zahlreiche Schaf- und Llamaheerden. Die Schäfer wohnen in kleinen, runden Hütten, deren etwa vier Fuß hohe Mauer von Steinen aufgebaut ist, auf denen ein spitzes Dach von dick aufeinander gelegten Binsen ruht. Als Brennmaterial dient ihnen dabei der an sumpfigen Stellen abgestochene und in der Sonne getrocknete Rasen, und sie haben im Innern aus Lehm roh zusammengeklebte und von ihnen selbst aufgestellte Oefen, die so trefflich geformt sind, daß sie tüchtig ziehen und eine höchst wohlthätige Temperatur im Inneren verbreiten. Rings im Inneren der Hütte läuft dann eine Bank von eben solchen Rasenstücken aufgestellt, die über Tag zum Sitz und Nachts zur warmen Lagerstätte dient. Der Rauch zieht natürlich durch das Dach, oder wo er eben sonst einen Ausweg findet – Schornsteine kommen nicht vor.

Ualjay erreichte ich etwa drei oder vier Uhr Nachmittags, und da ich von hier aus noch etwa acht Leguas bis Cerro hatte, beschloß ich hier die Nacht zu bleiben. Ein guter Tambo sollte ebenfalls im Ort sein; vergebens frug ich aber dort um Nachtquartier, vergebens hielt ich bei jedem nur einigermaßen anständigen Haus, das ich in dem kleinen Städtchen fand, quarto zu bekommen; Niemand wollte den Fremden beherbergen, und no hay quarto lautete der Bescheid. Wäre ich nun ein schüchterner, junger Reisender gewesen, so hätte ich jedenfalls diese Nacht müssen unter freiem Himmel zubringen – keinenfalls etwas Angenehmes, da es etwa eine Stunde später scharf zu graupeln anfing. Ich hatte aber schon genug von der südamerikanischen Race gesehen, um zu wissen, wie man sie behandeln muß, und sowie ich meinen Rundritt gemacht und nirgends ein Nachtquartier gefunden, ritt ich vor das beste Haus der Stadt. Dort stieg ich einfach ab, schnallte meinen Sattel ab und trug ihn in das Haus, stellte meine Büchse in die Ecke und erklärte dem Besitzer der mich vorher selbst ziemlich [538] barsch abgewiesen, daß ich eingezogen sei. Er schien das auch vollkommen in der Ordnung zu finden, über meine vorherige Anfrage wurde kein Wort mehr gesprochen, und der Mann war von da an so freundlich, wie er sein konnte. Ich bekam sogar etwas sehr Seltenes, für mein Maulthier etwas Hafer und Mais, denn draußen auf der Weide war wenig oder nichts für dasselbe zu finden.

Außerdem entdeckte ich eine Tienda, in der ich ein Licht, etwas Brod und ein Blech mit Sardinen in Oel kaufen konnte. Chocolade und etwas guten Cognac hatte ich selber bei mir, und wenn der Leser wissen will, wozu ich solche lucullische Vorbereitungen an einer solchen öden Stelle machte, so muß ich ihm einfach sagen, daß es Sylvesterabend war, den ich an diesem Ort allein und einsam verbrachte. Natürlich wollte ich ihn auf eigne Hand feiern und mir wenigstens einen ordentlichen Grog brauen, die Gesundheit meiner Lieben und Freunde daheim zu trinken.

Wie denn die Zeit kam, daß daheim die Mitternachtsstunde schlug, und während ich im Geist die fröhlichen Paare daheim in den erleuchteten Sälen dahinfliegen sah, während ich manches stillen traurigen Stübchens gedachte, in dem sich gute Menschen ein herzliches Prost-Neujahr entgegenriefen – während ich wußte, wie – doch das Alles läßt sich eben nicht so mit Worten sagen, wie man es in einer solchen Stunde fühlt; als es aber daheim zwölf Uhr war, und während in Ualjay der Hagel auf das Dach niederraschelte und auf das hölzerne Vordach der Verandah schlug, lag ich ausgestreckt auf meinen Schaffellen, den Kopf auf dem Sattel, den dampfenden Grogbecher neben mir, und ein herzlicher gemeintes Prost-Neujahr hat Niemand aus der weiten Fremde in die Heimath gesandt, die guten Menschen dort zu grüßen.

Sonst schlafe ich sowie ich den Kopf auf den Sattel drücke – heute ging’s nicht, und lange noch lag ich träumend und wach, rauchte eine Cigarre nach der anderen und blies den Dampf in das neben mir stehende flackernde Licht hinein; der Mensch kann nämlich, wie bekannt, nicht im Dunkeln rauchen, so sonderbar das auch für einen Nichtraucher klingen mag. Sobald man den Dampf nicht sieht, weiß man nicht, ob Pfeife oder Cigarre brennt, und demzufolge wäre der Genuß des Rauchens also in der That nur eine Einbildung.

So lag ich, bis es auch in Ualjay schon sicher lange zwölf Uhr war, aber hier blieb Alles still und stumm. Das alte Jahr war vorüber und ein neues fing an, das etwa wußten die Leute, und Weiteres kümmerte sie nicht. Wie hätten sie auch mit irgend einem bestimmten Gefühl das alte Jahr scheiden sehen sollen, da sie überhaupt gar kein bestimmtes Gefühl für Zeit haben! Sie wissen, daß das Jahr 365 Tage hat, das ist Alles, wie rasch diese fliegen oder wie langsam, bleibt sich völlig gleich, denn sowie ein Tag vorbei ist, kommt ein anderer, der genau so aussieht und ganz denselben Werth hat, wie sein Vorgänger. Wozu die Tage etwa zu gebrauchen wären, und daß sie doch vielleicht selber in die Welt gesetzt sein könnten, derselben etwas zu nützen, fällt ihnen gar nicht ein.

Daß wir Europäer diesen Zeitabschnitten vielleicht ein wenig zu viel Nachdenken widmen, ihnen vielleicht etwas zu große Bedeutung zulegen, mag vielleicht sein, aber so ein neues Jahr ist doch auch immer wieder ein Riesenschritt dem Grab entgegen, nach denen gemessen unsere Bahn nicht eben lang erscheint, und daß Einem bei einem solchen Schritt dann noch eine ganze Menge von anderen Dingen einfallen – wer kann’s dem armen Menschenherzen verdenken?

Mein Licht wehte endlich nieder, und als ich am nächsten Morgen aufwachte, stand die Neujahrssonne schon hoch am Himmel. Da ich übrigens keine Neujahrsvisiten zu machen hatte, störte mich das wenig, und ich stand langsam auf, meine Chocolade zu kochen und dann mein Thier zum Weitermarsch zu satteln.

Als ich die Thür öffnete, schien und blitzte die Sonne auf die weißbereiften und behagelten Wiesen und Dächer – Schnee und Eis unter 11 Grad südlicher Breite in Peru, wo, allen authentischen Bildern nach, die Leute als einzige Kleidung einen Schurz von rothen und gelben Federn und eine ebensolche Krone tragen. Wetter noch einmal, wie fest ich mich in meinen Poncho einwickelte und wie oft ich die Finger wärmen mußte, bis ich den Sattel wieder aufgeschnallt hatte!

Was half es mir jetzt, daß ich den Winter unter den Tropen zubrachte? Ich fror hier mit meinen verhältnißmäßig dünnen Kleidern mehr, als ich in Deutschland im kältesten Winter gefroren haben würde. Die aufsteigende Sonne leckte aber bald den Reif von den Hängen, und erst einmal im Sattel, wurde mein Thier, wie ich, bald warm genug.

Von hier aus führte der Weg bis Cerro de Pasco nur durch eine weite Pampa – eine fast ununterbrochene Hochebene, auf der das Maulthier wacker austraben konnte. Trotzdem daß hier die eigentliche Regenzeit schon länger eingesetzt, war ich bis jetzt noch glücklich verschont geblieben, und selbst die jene Ebene durchströmenden Flüsse standen so niedrig, daß ich sie alle an den verschiedenen Fuhrten passiren konnte.

Ganz merkwürdig ist die Scenerie, die sich dem Reisenden bietet, wenn er das enge Thal hinter sich läßt, in dem Ualjay noch liegt. Dort öffnet sich die Pampa vor ihm, und rechts und links weichen die niedrigen Berghöhen mehr und mehr zurück. Diese bestehen aber hier aus den wunderlichst geformten Steinen und Felsblöcken, die sämmtlich aussehen, als ob sie theils gemeißelt, theils durch Menschenhände sorgfältig aufeinander geschichtet wären. Dazu ist der ganze Berg nicht etwa Fels, sondern Rasenboden, aus dem die einzelnen Steine förmlich heraus zu wachsen scheinen, und was für sonderbare Gruppen bilden sie! Hier steigt ein einzelner Pfeiler wohl sechzig bis achtzig Fuß hoch vollkommen isolirt empor, dort sind vier oder fünf Felsblöcke zu einer Art riesigen Menschenfigur, die einen weitausstehenden Hut trägt, aufgeschichtet, und alle möglichen fabelhaften Ungethüme kann sich die nur einigermaßen lebhafte Phantasie aus diesen zerrissenen Gestalten und Formen zusammenstellen.

Man soll nie in der Welt etwas aufschieben – als ich dort vorbei kam, wollte ich mir ein paar der sonderbarsten Gruppen abzeichnen, verschob es aber auf den Rückweg, und als ich zurück kam, regnete es gerade an der Stelle, und ich mußte machen, daß ich nach Ualjay hineinkam. Hier traf ich mit einer kleinen Reisegesellschaft zusammen, die ebenfalls von Lima kam und nach Cerro de Pasco wollte. Es war ein Kaufmann von dieser Stadt, mit seiner jungen Frau, einem kleinen fünfjährigen Burschen vor sich auf dem Sattel, und ein älterer Herr, der sie begleitete – möglicherweise der Schwiegervater.

Unterwegs fanden wir einen jener kleinen Haidevögel, die sich ziemlich zahlreich in der Steppe finden. Sie sind etwa von der Größe einer Lerche, mit der sie auch sonst viel Aehnlichkeit haben, und weiß und schwarz gefleckt. Dies eine harmlose Thier flatterte um uns her, und wir sahen, wie es eines seiner Jungen, das noch nicht recht flügge war, wegzubringen suchte. Die junge Frau äußerte den Wunsch, den kleinen Vogel zu haben, und der gehorsame Gatte willfahrte dem. Die arme Mutter flog mit ängstlichem Flügelschlag und Klageruf hinter uns drein, als ob sie den Raub zurückerbitten wollte. Ich sagte der jungen Dame, daß sie unmöglich das kleine hülflose Thier am Leben erhalten könne, ihre einzige gleichgültige Antwort darauf aber lautete: „ich weiß es“, und sie behielt das arme Thierchen in der Hand, bis es die Mutter lange in Verzweiflung aufgegeben hatte und sie müde war, es zu tragen – dann warf sie es auf die Steppe hinaus, dort zu verschmachten.

Es war eine noch junge, ganz hübsche Frau, aber ich hätte von da an kein freundliches Wort – nicht einmal ein artiges –mehr mit ihr wechseln können. Keinenfalls hatte sie ein Herz, wie sie sich denn auch um ihr eigenes Kind den ganzen langen Weg nicht ein einziges Mal bekümmerte.

Hier begegneten wir einer Masse von Arrieros und besonders Llamatreibern, denn Cerro de Pasco ist eine nicht unbedeutende Stadt, die außerdem Nichts selber erzeugt, sondern Alles, bis auf das Letzte, aus der Umgegend zugeführt bekommen muß. Nur das Silber, um dafür zu bezahlen, liegt um sie her im Bauch der Erde, und die Menschen haben sich in einer kalten Einöde angesiedelt, um es heraus zu wühlen,

Pasco war die frühere Minenstadt, etwa drei Leguas von dem jetzigen Cerro entfernt, die Minen aber dort erwiesen sich schlecht, und die Bewohner von Pasco zogen sich meist alle nach den reicheren Minen von Cerro hinüber, wo sie sich häuslich niederließen. Da aber Cerro ursprünglich von Pasco kam, nannten sie die Stadt, wie es auch daheim nicht selten unsere Schriftsteller thun, Cerro de Pasco. – Pasco besteht solcher Art noch immer fort; wir konnten es vor uns an einem kahlen trockenen Berghang liegen sehen, aber nur noch wenige Einwohner sind dort, mehr aus alter Gewohnheit wie eines wirklichen Nutzens wegen, kleben geblieben, [539] und weder Handel noch Gewerbe blühen in der Mutterstadt, die das junge silberreiche und deshalb geadelte Cerro lang überflügelt hat. Auch ein paar Haciendas sahen wir unterwegs, aber die Eigenthümer derselben müssen sich auf dieser Höhe einzig und allein auf die Viehzucht beschränken, denn allen Feldfrüchten sind die Nachtreife, die hier das ganze Jahr eintreten, stets verderblich. Auf dieser Höhe kann natürlich weder Sommer noch Winter einen Einfluß haben, und wenn die Sonne auch im Sommer, wo sie über Kopf steht, am Tag etwas wärmer scheinen mag und etwas mehr Schnee von den Gebirgen wegfrißt, so bleibt die Luft doch immer kalt und dünn, und die Nächte sind immer dem Frost und Reif preisgegeben.

Einen wundervollen Anblick hatten wir aber auf dieser Hochebene, denn als sich gegen Mittag der auf den Flächen lagernde Nebel hob, sah ich das herrlichste Panorama von Schneegebirgen um mich her, das sich auf der Welt denken läßt. Diese schneebedeckten Kuppen schienen allerdings von dort aus, wo wir uns befanden, nicht übermäßig hoch – lag doch die Ebene selber wenigstens 14000 Fuß über der Meeresfläche –! aber wie ein weißer zackiger Gürtel spannten sie sich um uns her, oft tüchtige Hörner in die Wolken reckend, um deren scharfgerissene Spitzen dünne, schleierartige Nebel hingen. Thätige Vulcane schienen übrigens nicht darunter zu sein, wenigstens konnte ich nirgends die dunklen Rauchsäulen erkennen, die in Ecuador so manches Schneegefilde überhängen.

Die Pampa bildet hier solcher Art einen von mächtigen Hängen eingeschlossenen Kessel, der ebenfalls eine mehrere Leguas im Umfang haltende Lagune trägt. Alle die Wasser aber, die hier entspringen, nähren schon den Amazonenstrom und fließen in ihm dem atlantischen Meere zu. Diese Lagune weit zur Rechten lassend, zieht sich der Weg, während die Stadt Pasco ebenfalls an dem rechten Hügelhang liegen bleibt, mehr nach links hinüber, und etwa um drei Uhr Nachmittags erreichten wir die Minenstadt Cerro de Pasco.



Das erste deutsche Schützenfest.
(Schluß.)

Eine Zeit lang schien es, als könnte aus diesen Verhandlungen über die Stellung beim Schießen ein Zwiespalt entspringen, der alte Hader zwischen Norden und Süden! Es bedurfte manches Zusprechens, um das heiße Blut der scheinbar Zurückgesetzten zu besänftigen; der Herzog selbst war eifrig bemüht, jeden Einzelnen zur Unterordnung zu bestimmen. Es wurde durch ihn und den Ausschuß vorgeschlagen, einzelne Stände zum Schießen mit Einstemmen einzuräumen, auch Festgaben dafür auszusetzen. Aber die Süddeutschen setzten eine Ehre gerade in die Concurrenz und wollten von besonderen Ständen nichts wissen. Es stand immer noch kritisch. Da erhob sich bei der Festtafel Berthold Auerbach und sprach in seiner zugleich sinnigen und markigen Art Worte voll Nachdruck und Eindruck. Er verglich zuerst Schriftsteller und Schützen in ihren Mitteln, der Feder und der Büchse von Stahl, und in dem Wege, auf welchem sie ihre Ziele erreichen, dem vielmaligen Drucke, dessen die Schriftsteller, dem einen Drucke, dessen der Schütze bedürfe. Dann forderte er für beide das rechte eine Ziel. Ob eingestemmt oder mit freiem Arm, das gelte gleichviel, der treffe in’s Schwarze, der sich füge und unterordne. Hätten die Süddeutschen sich um einer solchen Bagatelle willen ausgeschlossen, so hätten sie das „deutsch“ aus ihrem Namen streichen sollen. Das sei des Uebels Kern: „tausend Wege und keine Bahn, tausend Meinungen und kein Gehorsam!“ Gewaltig war die Wirkung dieser Worte, überall klangen sie an und hallten sie nach, nicht blos bei der Festtafel, wo nach diesem Redner kein andrer aufzutreten wagte, sondern in der Schießhütte, auf dem ganzen Festplatze, wo Einer dem Andern davon mittheilte. Der Schriftsteller hatte in’s Schwarze getroffen! Nur einzelne Wenige entfernten sich, bei weitem die Meisten blieben und fügten sich, und Manchem gelang es auch so, wie er nicht gewohnt war zu schießen, eine Festgabe zu erringen,

Jeden Vormittag vertheilte der Herzog selbst die als Prämien ausgesetzten Festgaben an diejenigen, die an den vorausgegangenen Tagen die meisten Treffer erlangt hatten. Fröhlich ging es dabei her. Denn von mehreren Seiten war für diesen Zweck ein Festtrunk geliefert worden, feine Biere von Culmbach und Gotha, vorzügliche Weine von Schweinfurt, von Hallgarten im Rheingau (vom Gute des alten Itzstein – der Geber, Dr. Eisenlohr, empfing ein dankendes Telegramm), von Pfälzer und von Wormser Schützen. Der glückliche Gewinner mußte seine Eroberung hoch empor halten über die dicht um den Gabentempel gedrängten Zuschauer und wurde mit Zuruf begrüßt, die vertheilten Becher empfingen ihre Weihe im Festwein, einen Pokal Liebfrauenmilch leerte der Herzog auf das Wohl der Stadt (Worms), wo solcher Wein gedeihe. Wie erwähnt, waren auch denen Festgaben ausgesetzt, die während des ganzen Festes am meisten in’s Schwarze getroffen hatten; diese Gaben, sowie die für die vier Hauptscheiben und die Scheibe „deutsche Flotte“ bestimmten Ehrengaben wurden am Abend des letzten Tags, gleichfalls vom Herzog persönlich, den Gewinnern eingehändigt. Unermüdlich hielt dieser dabei bis in die späte Nacht aus.[1] Der Wein floß auch da noch in Strömen. – Einige Schützen trugen fast Berge von Gewinnen davon, und wir hörten darüber manche Klage, daß die Schießordnung dies nicht genug verhindert und damit den „Brodschützen“ zu große Vortheile eingeräumt habe. Als die sichersten und eifrigsten Schützen mit freier Hand bewährten sich de Leuw aus Arnheim und Keil aus Sondershausen ohne Diopter (jener schoß auch da ohne Diopter, wo dasselbe gestattet war), und Dorner aus Nürnberg mit Diopter. Beim Aufgelegtschießen that sich ein Schütze – wenn ich nicht irre, Kummer aus Dresden – dadurch hervor, daß er, nachdem er die Büchse aufgelegt und gezielt hatte, seinen Hut darüber deckte, dann noch eine Zeit wartete und, ohne visiren zu können, abschoß, aber fast regelmäßig in’s Schwarze traf, ein Kunststück, das fast wie eine Satire auf das Schießen mit Auflegen gedeutet werden könnte. Die Glücklichen, welche die besten Schüsse auf die vier Hauptscheiben hatten, waren Trump aus Stutzhaus bei Gotha und de Leuw aus Arnheim aus freier Hand, und Reinhard aus Frankfurt a. M. und Koch aus Kiel mit Auflegen.

Wir nannten es ein nicht allen Wünschen entsprechendes Resultat, daß so wenig aus freier Hand und ohne Hülfsmittel geschossen wurde; denn das ist doch ohne Zweifel die allein wahre Kunst zu schießen, die keiner äußeren Hülfsmittel, keiner besonders construirten Büchse bedarf, um zu treffen, die auch im freien Felde zu jeder Zeit angewandt werden kann. Aber freilich, es war ein erstes deutsches Schützenfest, erst von ihm wird sich eine neue Periode der deutschen Schießkunst datiren, erst wenn über der Schützengilde der Schützenbund steht, wenn die Gilde damit aus dem engen Kreise ihres Herkommens in das fortschreitende Leben der Gegenwart eintritt, erst dann wird die Schießkunst den Wünschen und Anforderungen der Gegenwart genügen.

Indessen wir legen auf das Wettschießen und seine Erfolge nicht zu großen Werth, obgleich es den Mittelpunkt und eigentlichen Zweck des Festes bildete; es kommt auch auf den rechten Hintergrund an. Wir haben der „Schießteufel“ und „Brodschützen“ gedacht; das öffentliche Kampfspiel für sich, ohne das Vorwiegen der nationalen Idee, hat nur die Bedeutung einer Kunstproduction,

[540]

Fechtriege.     Festreiterei.     Turnerfahnen.     Das große Schießhaus.     Der Festzug während der Rede des Herzogs.     Gabentempel     Liedertafeln und Orchester
     Turner.      Festordner Ewald II.     Nach der Natur aufgenommen von Professor Schneider in Gotha.     Gothaische Communalschützen     Schluß des Zuges.
Der Herzog mit dem Comitè.

[541] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [542] eines eitlen, ja den Hader hervorrufenden Spieles. In Olympia konnten Hellenen ihren Siegen über Hellenen Denkmäler setzen, in Olympia wurde einem Nero der Kranz des Siegers gereicht. Den rechten Sinn erhält und bewahrt der Wettkampf nur da, wo die nationale Idee über ihm steht. Diese aber wirkte hier auf den Wettkampf im Schießen vor Allem durch das Zusammenleben in feierlicher Freude. Von den Festtafeln, von den Bällen, von den Zusammenkünften Abends in Häusern und Schenken, vom Zusammensein mit der Jugend der Turner wurde auch in den Schützen jener rechte Geist vaterländischer Gesinnung genährt, belebt und gehoben.

Die Festtafel bildete ja unsere Rednerbühne; an ihr fanden sich die geistigen Bundesgenossen. Um einem Ueberstürzen der Toaste vorzubeugen, war die Einrichtung getroffen, daß ein Mitglied des Festausschusses den Vorsitz führte und jeder, der sprechen wollte, sich zum Worte zu melden hatte, und dadurch gelang es, eine wohlthätige Ordnung zu erhalten. An dieser Festtafel nahmen alle Stände, beide Geschlechter Theil, nicht blos der fidele Bruder, der gemüthliche Zecher, sondern auch manch bedeutender Mann; der Herzog selbst saß am ersten Tage mitten unter den Festgenossen, neben ihm Gustav Freytag. Und es fiel hier manch zündendes, tief ergreifendes Wort. Entsprang doch jedes aus geweihter Stimmung, sprach doch jedes zu begeisterten Herzen! Mehrere Trinksprüche feierten den Herzog, den Helden des Tages, den deutschen Mann und Fürsten, andere galten den deutschen Schützen und dem deutschen Schützenthum – der Herzog selbst erwiderte damit in einer liebenswürdig gewinnenden Weise –, dem Schützenbunde, dem deutschen Vaterland und seiner Zukunft, seiner Eintracht, seiner Einheit, dem deutschen Reich der Zukunft, den Deutschen im Auslande, den deutschen Frauen, den Kurhessen, den Schleswig-Holsteinern, der Schweiz, der deutschen Flotte. Kaum eine Frage der Nation blieb unberührt, alle ihre Wünsche und Hoffnungen, alle ihre Sorgen fanden einen Ausdruck. Von selbst versteht sich, daß die Stadt Gotha und ihre Bewohner, der Festausschuß und seine Abtheilungen und die sich aufopfernden Ordner nicht vergessen wurden. Berthold Auerbach namentlich war’s – einen andern Trinkspruch von ihm haben wir schon erwähnt – der, tief sinnreich von der „im Verborgenen schaffenden Arbeit“ ausgehend, dem Ausschuß ein Glas brachte.

Die Festtafel war auch der Platz, wo uns die Grüße aus der Ferne trafen, von wo aus sie nach der Ferne gingen. Das ganze Deutschland wollte ja mit uns sein und am Feste Theil nehmen, auch wer nicht kommen konnte! Telegramme wanderten hin und her, sie kamen von Potsdam, von Lauenburg, von Oldenburg, wo der kranke Julius Mosen die Worte abgefaßt hatte, aus Stade, aus Gütersloh, aus Emden, aus Ansbach, aus München, aus Hagenow, aus Bern, aus Hamburg, aus Graudenz, aus Midlum bei Cuxhaven; sie gingen an die eidgenössischen Schützen in Nidwalden, die noch am Abend mit dem Zuruf: „seid einig wie wir!“ dankten, nach Kassel an den Präsidenten der aufgelösten zweiten Kammer, Nebelthau, nach Oldenburg mit den Worten:

„Erharret ruhig und bedenkt,
Der Freiheit Morgen steigt herauf,
Ein Gott ist’s, der die Sonne lenket,
Und unaufhaltsam ist ihr Lauf.“

nach Kiel an die Brüder in Schleswig-Holstein, „in Hoffnung einer besseren Zukunft“, nach Windsor an den Prinzen-Gemahl, Herzog Albert, den Kronprinzen und die Kronprinzessin von Preußen, zum Danke für ihre Ehrengaben.

Das heitere und festliche Leben der Tafel setzte sich am Nachmittage und am Abend fort und verbreitete sich gewissermaßen von der Tafel aus mit deren Genossen über den ganzen Festplatz, namentlich am dritten und vierten Festtage; denn die beiden ersten, besonders der zweite, konnten sich nicht entschließen, dem Feste ein freundliches Gesicht zu zeigen. Da wimmelte es durcheinander, Männer und Frauen, Schützen und Turner, Norddeutsch und Süddeutsch, lachend und ernst, jubelnd und gerührt, unter dem Krachen der Büchsen und dem Donner der Böller. Musikchöre spielten auf drei Plätzen, am Nachmittage des dritten Tages trugen die Männergesangvereine Gotha’s die schönsten deutschen Lieder vor. Abends beleuchteten Gaslampen und bunte Papierlaternen den Platz, die Kränze spendende Germania strahlte vom Gabentempel herab, in dem Wäldchen dahinter, unter den Bäumen vorn, in und vor den Trinkhallen und Speisesälen saßen Tausende bei Wein und Bier, da und dort trat ein Redner auf – einer brachte seinen Spruch ein paar Mal – dort stimmte ein flotter Bursche ein Lied an. Und so war’s auch in der Stadt selbst, nach der ein Theil der Gäste zurückströmte, auch dort herrschte in allen Schenkstätten bewegtes Leben. Hauptsächlich war dies an den Abenden des 8. und 10. Juli der Fall. Denn an diesen beiden Abenden versammelten sich die Festgenossen zum Ball im Theater, am ersten Tag zum „Turnerball“, am zweiten zum „Schützenball“. Hier war über das Parquet und das Parterre ein Fußboden gelegt und dadurch eine Verbindung mit der Bühne und ein großer Saal hergestellt worden, alle Logen, alle sonst benutzbaren Räume, auch die Colonnade an der äußeren Seite standen den Gästen offen, glänzende Beleuchtung, eine geputzte Menge, ein reicher Flor frischer Mädchen, endlich die persönliche Gegenwart und Theilnahme des Herzogs übten einen besonderen Zauber. Aber bald waren die großen Räume so überfüllt, daß nur eifrige Tänzer zurückblieben, wir Andern hingegen in freundlichen benachbarten Hallen unterzukommen suchten.

Bei diesen Bällen, wie beim ganzen Fest, machten die Turner, so zu sagen, die leichten Truppen der Armee. Sie hatten am Vormittag des 8. Juli eine Berathung gepflogen, am Nachmittag desselben Tags fand auf dem schön geschmückten Turnplatz hinter dem Friedenstein ein Schauturnen Statt, bei dem sich die Leipziger Turner, die Turnlehrer Metz aus Hannover und Löhnert aus Coburg, sowie einige Turner aus Pösneck, Zeitz und Gotha hervorthaten. Am anderen Tage, trotz des schlechten Wetters, unternahm der größte Theil der Turner eine Turnerfahrt nach dem Thüringer Walde. Wir übergehen deren Einzelheiten und erwähnen nur den feierlichen Empfang in Waltershausen, die freundliche Aufnahme in Schnepfenthal und die Feier am Grabe von Gutsmuths. Am Abend kehrte die Schaar, vom Regen zwar schwer verfolgt, aber nicht in der Laune gestört, nach Gotha zurück, zog mit Musik und Fackeln unter den abgeholten Fahnen auf den Hauptmarkt und beschloß da mit Rede und Lied das Thüringer Turnerfest. Viele reisten alsbald ab, aber viele, namentlich die aus größerer Ferne, blieben auch noch, schwärmten an den folgenden Tagen auf dem Festplatze unter den standhaften Schützen poculirend und jubilirend, neckend und scherzend umher und trugen nicht wenig dazu bei, daß das Fest den Charakter jugendlicher Frische behielt.

So verliefen die Feiertage von Gotha freudig, aber zugleich ernst, in jener Haltung, die nur aus gehobener Stimmung entspringt. Mancher Becher Wein und manches Seidel Bier wurde geleert, aber kaum war ein Betrunkener zu erblicken. Eine Nordamerikanerin, die auf dem Festplatze anwesend war, soll sich beim Anblick aller Trinkhallen und aller Trinker in beständiger Angst nach Betrunkenen umgeschaut und über nichts mehr gewundert haben, als daß sie nicht einen einzigen zu sehen bekam.

Was in den geselligen Zusammenkünften den Grundton bildete und die Stimmung erhob, das suchte durch die Verhandlungen einen klaren Ausdruck zu gewinnen und ein bleibendes Werk zu gründen. Ueber das Maß des Dienlichen gingen die Ansichten zuerst aus einander. Stimmen aus Süddeutschland drängten auf Volksbewaffnung, wenigstens auf militärische Organisation des Schützenwesens, hin. Andere, unter ihnen namentlich die Ausschußmitglieder von Gotha, waren gegen einen so weit gehenden Plan. Sie wendeten mit Recht ein, daß damit von vorn herein über das Ziel hinausgeschossen werde, daß man für jetzt nur die deutschen Schützen zu einem Bunde vereinigen und dadurch um ganz Deutschland ein neues nationales Band schlingen könne, dagegen, wenn man das Schützenwesen jetzt militärisch organisire, um eine Volkswehr dadurch zu begründen, nur einen Theil der Schützen dazu gewinnen und in das Schützenthum selbst, statt es unter einen Hut zu bringen, gleich bei der ersten Wiederbelebung den Keim der Spaltung lege und der ohnedies mißliebigen Sache neue Gegner erwecke; das Schützenthum sei aber auch in seiner jetzigen Gestalt nicht zu einer Volkswehr geeignet und könne sich erst durch die allmähliche Entwickelung, die der Schützenbund mit sich bringen werde, dazu heranbilden lassen; es fehle endlich für die Auswahl einer Schußwaffe zur Zeit an genügenden Erfahrungen. Nach mehreren Besprechungen wurde am Dienstag (den 9. Juli) Abends eine Vorverhandlung improvisirt, um das Ziel des auf den 11. Juli ausgeschriebenen Schützentages festzustellen. Der Herzog selbst führte den Vorsitz und nahm, wie es in der Natur dieser Berathung als [543] einer bloßen Besprechung lag, an derselben den lebhaftesten Antheil, indem er für das Programm des Ausschusses von Gotha in die Schranken trat. Seine glänzende Begabung zeigte sich dabei im hellsten Lichte; mit frisch lebendiger Auffassung und Darstellung verband er die schärfste Kritik und eine Kraft der Dialektik und Analyse, die Jedermann in Staunen setzte; ein solcher Fürst, mußten wir uns sagen, läuft keine Gefahr, sein Ansehen auf’s Spiel zu setzen, wenn er sich dem gemeinen Manne gleichstellt. Ihm gegenüber vermochte denn auch keine andere Ansicht Stand zu halten, und es wurde beschlossen, der Versammlung am Donnerstage nur die Gründung eines Schützenbundes und die Bestellung eines Ausschusses zur Ausführung vorzuschlagen.

Der Herzog selbst eröffnete auch diese Versammlung mit einer meisterhaften Rede, die mit Recht durch alle Zeitungen gelaufen ist. Nachdem er den Schützen, die der Einladung gefolgt waren, in lebendigen Worten gedankt hatte, sagte er: die Zeit, in Worten allein zu glänzen, sei vorüber, das deutsche Volk verlange Thaten zu seiner Kräftigung und Einigung, man spreche von Gefahren, die dem Vaterlande drohen, aber es gebe keine Gefahren, wenn ein Volk stark und einig sei. „Auch wir Schützen,“ sprach er, „haben Veraltetes schwinden zu lassen und mit dem Alles bewegenden Geiste der Zeit vorwärts zu schreiten. Lassen Sie uns vergessen, wo unsere Wiegen stehen, ob im Norden oder Süden, ob im Osten oder Westen Deutschlands; lassen Sie uns einen großen, gemeinsamen, deutschen Schützenbund gründen, einmal, um gemeinsame Normen zu finden für die größern und kleinern Schützenfeste, eine gemeinsame Schützenordnung; zum andern Mal, um die ganze Schaar des großen Bundes der bewaffneten und gut geschulten Jugend gleichsam als eine Reserve der Armee an die Seite zu stellen.“ Er schloß mit der Aufforderung, sich zur Erklärung der Uebereinstimmung zu erheben. Begeistert folgte die ganze Versammlung, die schon vorher während der Rede öfters in Beifallsruf ausgebrochen war, unter lautem Jubel. Der Herzog erklärte den Schützenbund hiermit gegründet und schlug vor, eine der Städte Frankfurt, Bremen und Gotha mit der Leitung der Verhandlung der Versammlung zu beauftragen. Aber v. Heyman aus Bremen trug darauf an, den Herzog um Uebernahme des Präsidiums zu ersuchen, und die Versammlung trat einstimmig bei. Der Herzog nahm den Vorsitz an, indem er die förmliche Leitung der Debatte dem ersten Vorsitzenden des Ausschusses von Gotha, Ministerialrath Braun, übertrug. Der zweite Vorsitzende dieses Ausschusses, Staatsanwalt Sterzing, entwickelte hieraus die Vorschläge desselben im Wesentlichen dahin, daß ein Ausschuß zur Ausführung des eben beschlossenen Schützenbundes gewählt und mit dem Entwurf einer Schützenordnung und der Vorbereitung und Leitung des nächsten deutschen Schützenfestes beauftragt werde. Mehrere Redner wünschten schon jetzt specielle Bestimmungen zu treffen und dabei das Hauptgewicht auf die deutsche Wehrverfassung zu legen; v. Kolb aus Rendsburg verlangte dagegen energisch in durchschlagenden Worten Unterordnung unter den gewählten Führer (den Herzog), einen besseren gebe es nicht, und der Herzog selbst empfahl, das nächste Ziel einzuhalten und nur in allgemeinen Grundzügen festzustellen, den Ausschuß aber aus den Ausschüssen der Städte Frankfurt a. M., Bremen und Gotha zu bilden. Nach einigen Verhandlungen wurden die Anträge des Festausschusses und der Vorschlag des Herzogs angenommen, dann setzte die Versammlung noch den Beitrag jedes dem Schützenbunde beitretenden Mitgliedes zur Bestreitung der Kosten auf 5 Groschen fest und ermächtigte den Ausschuß, sich auch mit Gründung einer Schützenzeitung zu beschäftigen. Als der Herzog hierauf den Schützentag für geschlossen erklärte, scholl ihn, abermals vielfacher Zuruf entgegen.

Zu der That, er hatte sich wohl um die Sache verdient gemacht. Denn es ist ein bedeutendes Werk, dieser Bund der deutschen Schützen; er wird im Frieden mit heiteren Festen alle Stämme Deutschlands vereinigen und aneinander ketten und die Idee nationaler Gemeinschaft unaustilgbar in einem Jeden befestigen, zugleich aber die Möglichkeit geben, daß im Kriege „gleichsam eine Reserve“, ein Landsturm bewaffneter Bürger, der Armee, an die Seite tritt. Und gerade daß der Bund nur in dieser Form, in dieser Beschränkung gegründet worden ist, gerade dies sichert sein Bestehen und Wachsthum und seine Bedeutung. Daß er aber in dieser Form und trotz der verschiedenen Ansichten so einmüthig, unter so großer Theilnahme zu Stande gekommen ist, daran hat die persönliche Mitwirkung des Herzogs Ernst den stärksten Antheil.

In Gotha’s Nachbarschaft, in Langensalza, wurde vor etwas länger als drei Jahrhunderten, im Jahre 1556, ein „Luftschießen“ mit Armbrusten und „Feuerröhren“ gehalten, dem viele Schützen aus allen Ständen, zum Theil aus weiten Entfernungen, z. B. aus Kassel und Leipzig, beiwohnten. Es war das Jahr, nachdem der Reichstag zu Augsburg die neue Confession anerkannt hatte, man feierte damals Religionsfrieden und Religionsfreiheit, und das Fest war, wie der Chronist im classischen Style des 16. Jahrhunderts mit ausdrucksvollen Worten berichtet, „ein Fest der Friedlichkeit und Genügsamkeit und treuherzigen Freudigkeit.“

Nicht so wie jene Schützen konnten wir auf Lorbeeren ausruhen, nicht so harmlos war das Fest von Gotha. Immer klang in die Freude herein die deutsche Noth. Aber daraus entsprang auch die Weihe des Festes, seine ernste Haltung, die Stimmung begeisterter Opferbereitschaft. Und diese Stimmung, diese Weihe wird Keinen verlassen, der mit in Gotha war, Jeder wird sie hinaustragen und weiter verbreiten. Durch die gemeinsame Sprache sind wir nur ein Volk, durch die gemeinsame Ehre sind wir eine Nation. Die Ehre Deutschlands war das Banner dieses Festes der Nation, der Gedanke der Festgenossen. Alles dies scheint mir am Treffendsten ausgesprochen in dem Liede eines unbekannt gebliebenen Verfassers, mit welchem die „Schützenfestzeitung“ eröffnet wurde; es lautet:

Nur Tage noch, wir sind am Ziel
Zum friedlich frohen Waffenspiel!
Um uns des Friedens leuchtende Spuren,
Segen der Arbeit, wallende Fluren.
Böller und Büchsen, Humpen und Becher,
Turner und Schützen, Sänger und Zecher
Lobsingen die Freude.

Doch weckt des Freudenschusses Schall
Den fernen ernsten Wiederhall.
Klingt uns der Schuß nicht Mahnung der Schlachten,
Mahnt er uns nicht an tückisches Trachten?
Tapferer Stolz auf edelste Güter,
Heilige Sorge füllt die Gemüther
Zur Weihe der Freude.

Die Freude kommt aus freiem Muth,
Und Freiheit sprießt aus rothem Blut.
Fröhliche Kämpfer, frisch in die Schranken,
Gaben der Welt wir freie Gedanken,
Daß wir dem Namen Ehre bereiten,
Dem Namen der Ehre.

Dem deutschen Namen, der uns ehrt,
Der Freude und der Treue werth!
Freudige Eintracht festlicher Stunde
Halten wir fest zum ewigen Bunde,
Bleiben ihr treu zum Trotz der Verräther,
Bleiben getreu dem Namen der Väter
Im Bunde der Freude.

Auch schlichtes deutsches Bürgerthum
Erglänzt in lichtem Heldenruhm.
Schlug es nicht einstmals reisige Heere?
Herrschte der Kaufmann doch auf dem Meere!
Gab nicht der Wehrmann blutige Streiche?
Bei dem Soldaten ruht seine Leiche
Im Bette der Ehre.

Wohl zieht nicht jeder mit hinaus
In blutig wilden Schlachtengraus.
Mehr als uns selber, unsere Söhne
Geben wir Preis, in Jugend und Schöne,
Unsere Söhne, waffengewandte,
Zeigen die alte, weltenbekannte
Teutonische Kriegswuth.

[544]

Blätter und Blüthen.

Eine Universal- oder Weltsprache. Da in der Gegenwart die Bestrebungen des Menschen ununterbrochen darauf gerichtet sind, räumliche Entfernungen zu kürzen, die Völker einander näher zu bringen und einen allgemeinen Weltverkehr anzubahnen, so ist es nur als eine natürliche Folge zu betrachten, wenn in Millionen denkenden Köpfen vielleicht hin und wieder der Wunsch auftauchte, es möchte auch die letzte Schranke fallen, welche die Menschen hindert, sich an allen Punkten der Erde als Brüder zu begrüßen, die Schranke der Sprachen. Aber wunderbar muß es erscheinen, daß, während in Süddeutschland, wie die illustrirte Zeitung vermuthet,[WS 1] ein Mann auftritt, welcher die großartige Idee, eine Weltsprache zu schaffen, bearbeitet, zu gleicher Zeit auch ein Norddeutscher seit sieben Jahren thätig gewesen ist, demselben Ziele zuzusteuern, und daß beide Männer in so gänzlich von einander abweichender Weise ihren Zweck zu erreichen suchten, daß an eine Verschmelzung beider Systeme vielleicht kaum gedacht werden kann. Denn während der Süddeutsche auf dem philosophischen Wege tiefsinniger Sprachforschung bemüht gewesen ist, seine Idee in’s Leben zu rufen, war der Sinn des Norddeutschen darauf gerichtet, auf rein praktischem und naturgemäßem Wege eine Sprache zu schaffen, welche durch die außerordentlichste Vereinfachung des grammatischen Baues, durch den angenehmsten Wohlklang der Wörter und durch die größte Leichtigkeit, sie zu erlernen, vollkommen geeignet ist, sich zum allgemeinen Lieblinge der gebildeten Welt zu machen. In seiner Unternehmung haben ihm Zeit und Geschichte den bedeutungsvollsten Wink gegeben, denn so wie das Auf- und Abfluthen siegreicher und unterdrückter Nationen nach Jahrhunderten in England eine Sprache schufen, welche, von Orthographie und Aussprache abgesehen, mit jeder andern europäischen Sprache in ihrer Einfachheit wetteifern kann, so hat auch der norddeutsche Forscher auf dem Wege wissenschaftlicher Vergleichung eine Sprache zu Stande gebracht, die, ohne den Nationalstolz eines Volkes im Mindesten zu verletzen, jeden Europäer durch die ihm bekannten Heimathsklänge ansprechen und durch eine in jeder Beziehung bemerkbare Vervollkommnung fesseln wird. Um die Aufmerksamkeit von mehr als einem Volke auf diese große Idee zu lenken, wird seine Grammatik zur Universal- oder Weltsprache in deutscher, französischer und englischer Sprache erscheinen, und er selbst wird noch vor Verlauf eines Jahres persönlich auftreten, um vor dem Richterstuhle der Wissenschaft von seinem Unternehmen Rechenschaft abzulegen. Wie schon angedeutet worden, hat der Verfasser sich blos die Regeln der Schönheit und Anmuth, der Leichtigkeit und Kürze, der Einfachheit und Biegsamkeit bei seiner Schöpfung zur Richtschnur genommen.

Alle Unregelmäßigkeiten und Ausnahmen, wodurch das Erlernen einer Sprache so außerordentlich erschwert wird, sind gänzlich beseitigt. Es giebt nur ein einziges Hülfszeitwort, und dieses ist in seiner vervollkommneten Form zugleich das Schema für die Conjugation aller übrigen Zeitwörter. Da alle weiblichen Hauptwörter durch die einfache Endform a oder issa von den männlichen Substantiven abgeleitet werten, so hat der Lernende mit einem Schlage die Kenntniß dieser Tausende von Wörtern erlangt, ohne sein Gedächtniß nur im Mindesten anzustrengen. Der bestimmte Artikel, dessen Anwendung durch so viele Regeln in fast jeder europäischen Sprache mit nicht wenig Schwierigkeiten verknüpft ist, fällt in dieser Universalsprache gänzlich weg, und der Einheitsartikel ist nur eingeführt, um die Sprache womöglich noch mehr zu erleichtern. Auch für das Beiwort hat der Verfasser eine so einfache Regel aufgestellt, daß seine Sprache selbst in dieser Beziehung nicht von der englischen übertreffen wird, und durch seine einfache Regel, das Geschlecht der Hauptwörter zu unterscheiden, übertrifft er sogar die Einfachheit der englischen Sprache. Aus eine gleichgroße Einfachheit und Schönheit stößt der Leser beim Prüfen der Zahl- und Fürwörter, und überall berühren hin und wieder die wunderschönen Klänge der altgriechischen oder italienischen Sprache sein Ohr. Was ferner die Verbindung der Wörter und Sätze anlangt, so wird auch hierin nicht eine einzige Nation nur die mindeste Schwierigkeit finden. Ueberall ist der Verfasser von der objectivsten Anschauung ausgegangen, und trotzdem ist die Willkür keines Volkes in der Wahl so beschränkt, daß es ihm durch schwerfällige Regeln unmöglich gemacht wäre, seinen, eigenen Geschmacke in Form und Ausdruck zu huldigen. Was endlich die Aussprache anlangt, so ist das Alphabet so verständlich und einfach, und doch so umfassend und bedeutungsvoll aufgestellt, daß die Wörter und Eigennamen aller europäischen Sprachen vollkommen richtig durch dasselbe ausgesprochen werden können, ohne daß der Lernende dazu eines Lehrers bedarf, ein Vorzug, dessen sich wohl noch keine einzige Grammatik rühmen kann; so wie überhaupt diese Universalsprache fähig ist, jede Schönheit der Form, der Verbindung, des Ausdrucks und der Stellung in sich aufzunehmen; ebenso ist sie im Stande, auf die Vereinfachung und Vervollkommnung jeder andern europäischen Sprache zurückzuwirken, und trotzdem wird ein wissenschaftlich gebildeter Mann sich kaum ein Vierteljahr mit derselben zu beschäftigen brauchen, um sie mit ziemlicher Geläufigkeit zu sprechen. Wenn überhaupt die Idee einer Universalsprache praktisch zur Ausführung kommen soll, so glauben wir, daß der norddeutsche Forscher den richtigen und vielleicht einzig möglichen Weg eingeschlagen hat, um sie mit Zustimmung aller Nationen in’s Leben zu rufen.




Eine Notiz für Angler. In Deutschland wird das Angeln als ein sehr untergeordnetes Vergnügen betrachtet und meistens den Kindern überlassen; allein in England wird ihm ganz ebenso viel Wichtigkeit beigelegt wie irgend einem Zweige der Jagd. Nirgends ist auch die Kunst des Angelns zu größerer Vollkommenheit gebracht worden als in England. Liebhaber dieses Zeitvertreibs machen alljährlich Ausflüge nach Schottland oder nach den englischen Seen oder selbst nach überseeischen Ländern, z. B. nach Canada. Die Lachsfischerei in den Flüssen Norwegens ist durchgängig an englische Angler verpachtet. Eine Bemerkung scheint diesen bis jetzt entgangen zu sein, daß nämlich die Fische der Kleidung des Anglers ganz ebenso große Aufmerksamkeit schenken, wie das Wild der des Jägers. Angestellte Versuche haben ergeben, daß die Fische sich vor Farben fürchten, mit denen sie nicht vertraut sind, und daß sie dunkle Hüte und Röcke und weiße Hemden scheuen, während sie von grüner oder braungrauer Kleidung keine Notiz nehmen. Wer also Erfolg im Angeln haben will. muß sich eine dazu passende Kleidung anschaffen. – In Amsterdam wird nächstens eine internationale Ausstellung von allen nur immer möglichen Fischereigeräthschaften stattfinden.




Poetisches Kochbuch.
(Ein Flamrin. Kalt, mit Vanillesauce.)

Wenn in des Sommerabends linder Kühle
Dein müder Fuß im Kreis der Lieben ruht,
O wie erquickt dann nach des Tagen Schwüle
Ein herzerquickend Labsal Geist und Muth!

5
So laß der Töchter Kochkunst sich entfalten,

Der süßen Speise Vorschrift ist bereit;
Schon seh’ ich sie am Heerde freudig walten
Mit quirlend-rührender Geschäftigkeit.

Und wenn nun abgethan des Tages Mühen,

10
Wenn bei der trauten Lampe Dämmerschein

Des Gärtchens Blumen duftend Euch umblühen.
Dann mag sie oft Euch süße Labung sein


Recept.

Laß eine Kanne Milch am Feuer wallen
Und thu’ – im Sieden – nach und nach hinein:
Sechs Loth gesiebten Zuckers, 6 Loth Mandeln,
Citrone auch, die sei gewiegt recht fein.

5
Dann nimm 6 Loth der allerbesten Stärke,

In kalter Milch vorher gut aufgelöst,
Die rühr’ in’s Kochende mit flinken Händen,
Und rühre, rühre, bis es Blasen stößt!
Rühr’ auch 6 Dotter noch dazu, im Sieden:

10
Nimm’s aus dem Ofen; rühre, eh’s verkühlt,

Den Schnee hinein und schütt’ es, um’s zu stürzen,
In eine Form mit kalter Milch gespült.




Berthold Auerbach’s Volkskalender für 1862. Mit dem 1. September können wir aus dem Verlage von Ernst Keil in Leipzig wieder den Volkskalender von Berth. Auerbach erwarten, den alten guten Freund, den man bislang überall herzlich willkommen geheißen. Er wird sich auch in diesem Jahre der alten freundlichen Aufnahme erfreuen dürfen, da Auerbach, den Forderungen des erneuerten nationalen Geistes Rechnung tragend, nicht minder wie in den früheren Jahrgängen bemüht gewesen, an Stelle jenes zufälligen Allerlei, welches die Kalenderschriften gewöhnlichen Schlages darbieten, eine kräftige Nahrung von Männern der Wissenschaft zu bringen, die der Blüthe und Bildung Deutschlands würdig ist. – Die Illustrationen, von Künstlerhand angefertigt, gereichen dem Büchlein eben so sehr zur Zierde, als sie angenehme Unterhaltung bieten. Mehr als wir vermögen, wird der Kalender für sich selbst sprechen.

Er enthält diesmal: Ein Kalendarium mit 12 Monatsbildern von Kaulbach. – Die Frau des Geschworenen. Eine Erzählung von B. Auerbach mit 12 Bildern von Paul Thumann. – Der Prellschuß von B. Auerbach. – Der letzte Hofmops. Eine humoristische Erzählung von M. v. N. mit 15 Zeichnungen von Ed. Ille in München. – Ein mitteldeutsches Waldrevier (Sonst und Jetzt). Von B. Sigismund. – Fleischspeise und Kraftbrühe von Rudolf Virchow in Berlin. – Flotte und Flagge. Von K. Andree. – Verlorne Dinge von A. Bernstein (Redacteur der Berliner Volkszeitung). – Lege deine Sorgen ab. Eine Mahnung zur Versicherung vom Geheimrath Ernst Engel (Director des Königl. Statist. Bureau's in Berlin). – Der hundertjährige Geburtstag eines echten Deutschen. – Ein Brief vom ersten deutschen Schützenfest.

Die für Preußen arrangirte Ausgabe erscheint bei A. Hofmann und Co. in Berlin.




Bei Ernst Keil in Leipzig erschien und ist durch alle Buchhandlungen zu beziehen:

Eine Gemsjagd in Tyrol

von Friedrich Gerstäcker.

Mit 34 Illustrationen in Holzschnitt und 12 Lithographien nach Originalzeichnungen von C. Trost

Gr. 8. elegant broschirt 3 Thlr. 10 Rgr. – elegant geb. in englische Preßdecken mit Goldschnitt 4 Thlr 5 Rgr.



Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Es sei hier eines spaßhaften Quidproquo gedacht. Eine Schützengesellschaft, ich denke die von Fulda, hatte zwei silberne Trinkbecher mit vier Flaschen Johannisberger zur Ehrengabe gestiftet. Der Wein konnte natürlich im Gabentempel nicht aufgestellt werden, ohne zu verderben, aber symbolisch wollte man ihn doch unter den Geschenken paradiren lassen, der Wein kam also, wo er hin gehört, in den Keller, und an seine Stelle traten vier mit Wasser gefüllte, aber wohl versiegelte und stattlich mit Etiquette versehene Flaschen. In der Eile der Preisvertheilung am letzten Abend fiel es aber Niemandem ein, an diesen Tausch zu denken, und der Schütze nahm richtig seine vier Flaschen Johannisberger-Wasser in Empfang und mit nach Hause. Das Schicksal wollte nun, daß der glückliche Schütze hier ein anderes glückliches Ereigniß, eine Kindtaufe nämlich, zu feiern hatte. Die Gäste sind geladen, der Johannisberger soll die Krone des Festes bilden, gespannt ist die Erwartung. Da, o Schrecken, entströmt den schönen Flaschen ein Stoff, den keine Zungenprobe, keine Analyse anders nennen kann als reines Wasser!

Anmerkungen (Wikisource)

  1. E. L. Rochholz: Wörterbuch einer neuen Universalsprache. In: Illustrirte Zeitung, Jg. 1861, Nr. 942 (20. Juli), S. 47 und Nr. 943 (27. Juli), S. 67. Später erschien in Jg. 1864 noch: Wörterbuch einer Universalsprache (Nr. 1083, S. 223–224; Nr. 1084, S. 239; Nr. 1085, S. 259–262).