Die Gartenlaube (1861)/Heft 4

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1861
Erscheinungsdatum: 1861
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[49]

Der Festungs-Commandant.

Erzählung von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


Trenck erzählte von seiner ersten Jugend. Sie war schon bewegt und stürmisch gewesen. Seinem Vater, der als österreichischer General in Italien gestanden, hatte seine Mutter, eine geborene Freiin von Kettler zu Harkoffen, aus dem herzoglichen Hause von Kurland stammend, ihn zu Reggio am 1. Januar 1711 geboren. In seinem vierten Jahre schon hatte er mit seines Vaters geladenen Pistolen sich zu schaffen gemacht und eins derselben gegen die Wand abgefeuert, so daß die rückprallende Kugel ihn im Schenkel verwundete; mit fünf Jahren hatte er, den blanken väterlichen Pallasch in der Hand, seine Brüder gegen die Obstweiber auf dem Markt angeführt und die Hökerinnen in die Flucht getrieben, um ihre Vorräthe plündern zu können. Als er heranwuchs, reihten sich ihm Abenteuer an Abenteuer. Als junger Mensch hatte er auf den großen und werthvollen Gütern seines Vaters in Slavonien im Jähzorn einem Verwalter den Schädel gespalten, weil der Unglückliche sich weigerte, ohne des Vaters Genehmigung ihm Geldsummen zu seinen Ausschweifungen auszuantworten. Dann war er geflohen, war in russische Dienste getreten, hatte die Gunst des Feldmarschalls Münnich durch seine tollkühne Tapferkeit erworben und in einer Affaire wider die Türken einen russischen Reiterobersten, der ihm aus Feigheit nicht im richtigen Moment zum Angriff zu schreiten schien, vor der Front des eigenen Regiments durchgepeischt und vom Pferde gehauen; er hatte dann das Regiment sich nach gerissen in den Feind, und es zum vollständigsten Siege geführt. Zum Tode verurtheilt, hatte er durch den Feldmarschall Münnich Begnadigung erhalten, aber eine zweite ganz ähnliche That der schreiendsten Insubordination hatte ihn gezwungen, Rußland zu meiden. Er hatte nun daheim seine Talente der Vertilgung der slavonischen Grenzräuber zugewendet und diese bisher ganz unausrottbare Menschenrace, die der Schrecken und die Landplage der Gegenden an der untern Donau und Save war, durch rücksichtsloses Wüthen wider sie, durch Grausamkeit und List gebrochen und aufgerieben, bis auf einen Rest von dreihundert Köpfen, die er sich zusammen eingefangen und aus denen er den Kern seiner Freischaar bildete, als Oesterreich den Kampf mit Preußen aufnehmen mußte und Franz von der Trenck sich von Wien her die Vollmacht gewann, ein eigenes Corps zu werben, um damit zu den kaiserlichen Fahnen zu stoßen.

Der berühmte Pandurenführer verweilte mit großer Vorliebe bei dem Detail dieser Jugend-Erinnerungen, und während er in seiner brüsken und drastischen Weise sie erzählte, verflossen die Stunden in ungeahnter Schnelle. Die Thüre des Zimmers öffnete sich endlich und der Schließofficier trat ein, um dem Commandanten die Schlüssel der Citadelle und die des Hauses der Staatsgefangenen zu überbringen. Frohn sah daraus zu seiner Ueberraschung, daß die Nacht bereits da sei, und erhob sich, um sich in seine Wohnung zurückzubegeben. Ein langer dankbarer Blick aus dem Auge Agnes Mirzelska’s ruhte auf ihm, als er mit einer Verbeugung das Zimmer verließ.

Waren es diese Blicke des schönen, jungen Mädchens oder die Anziehungskraft, welche die Erinnerungen des Panduren-Obersten auf ihn übten, oder die Erinnerungen, welche in ihm selber aufstiegen bei dem Anblick von Zügen, die eine für Frohn so bedeutsame Aehnlichkeit mit einer rührenden Gestalt aus einer früheren Lebensepoche hatten – war es das Eine oder das Andere, was den Commandanten in die Wohnung seines Gefangenen zog: so viel ist gewiß, daß er seit jenem ersten Abend fast an jedem kommenden seine Besuche wiederholte, und daß er endlich dahin kam, die übrigen Stunden des Tages beflügelt zu wünschen, damit sie desto schneller denen seines fesselnden und ersehnten abendlichen Verkehrs Raum machten.

Und auch so viel ist gewiß, daß für Agnes Mirzelska ebenfalls diese Stunden abendlicher Geselligkeit sehr bald diejenigen waren, welche den Mittelpunkt ihrer Gedanken während ihrer einförmig verfließenden Tage bildeten. Ihre Aeußerungen bewiesen Frohn, daß sie mit dem, was er an diesen Abenden gesprochen und erzählt hatte, sich vielfach im Stillen beschäftigte; er konnte nicht verkennen, wie gespannt ihre Aufmerksamkeit war, wenn er dazu überging, von sich selber zu sprechen und von seinem früheren Leben zu erzählen; er konnte noch weniger verkennen, daß ihre Blicke, wenn sie länger und länger auf ihm wie magnetisch gefesselt ruhten, ein Selbstvergessen und eine Hingabe ausdrückten, welcher er die schmeichelhafteste Auslegung geben durfte und welche den dunklen Schatten einer schmerzlichen Sorge verscheuchten, die sich seiner nach und nach bemächtigt hatten und von der wir sogleich reden werden.

„Und fühlen Sie wirklich keine Reue, hierhin gekommen zu sein?“ fragte er sie eines Tages, als er sie allein im Vorzimmer ihres Oheims traf, wo sie sich in der Fensternische ein kleines Etablissement gemacht hatte und zuweilen mit einer Arbeit sich niedersetzte, wenn sie allein und doch dem Obersten nahe sein wollte. „Fühlen Sie wirklich keine Reue über Ihren Entschluß?“ fragte Frohn das junge Mädchen.

„Reue? weshalb sollte ich sie fühlen?“ versetzte sie. „Wenn ich Alles erreicht habe, was ich zu erreichen wünschte und hoffte?

Sagen Sie nicht selber, daß seit meiner Anwesenheit mein Oheim

[50] wie umgewandelt ist? Ich habe also das Bewußtsein, daß mein Leben einen Zweck hat, daß ich Gutes wirke.“

„Es liegt darin aber doch eine großartige Entsagung,“ fiel Frohn ein, „ein echt weiblicher Heroismus; Sie verzichten auf alles eigne Glück um eines Mannes willen …“

„Herr von Frohn“ – unterbrach sie ihn, – „es ist meiner Mutter Bruder, er ist unglücklich, ein verlassener Gefangener! Und wer“ – fuhr sie fort, zu ihm mit einem bedeutsamen Blick aufschauend, „wer sagt Ihnen, daß ich dabei nicht eignes Glück empfinde, daß ich mich hier unglücklich fühle … Zwar, wenn ich aufschaue und die dunklen Gefängnißmauern, die so viel Elend umschließen, erblicke, so ist das allerdings nicht geeignet, eine große Heiterkeit heraufzubeschwören – aber sicherlich können Sie mir nicht vorwerfen, daß ich die Melancholie dieses Aufenthalts Ihnen dadurch erhöhe, daß ich Ihnen schwermüthige und unzufriedene Mienen zeige… das, meine ich, würde wenigstens sehr undankbar von Ihnen sein!“

„Das würde es freilich,“ rief Frohn lebhaft und tiefbewegt aus; „seitdem Sie hier sind, ist mir ein neues Leben aufgegangen, und der Name Spielberg mag so düster und verhängnißvoll lauten, wie er will, ich werde immer daran die Erinnerung eines tiefen inneren Glückes knüpfen.“

Sie erröthete tief und senkte ihre Blicke.

„So wollen wir wenigstens uns Beide nicht beklagen und auch nicht wegen unsres Heroismus bewundern,“ fuhr sie dann fort, „daß wir es hier aushalten; den Oheim lieber, daß er seine Gefangenschaft erträgt, die ihm doch, wie ich wohl sehe und wahrnehme, eine entsetzliche innere Marter bereitet! Könnte ich ihm die Freiheit verschaffen dadurch, daß ich mich statt seiner zu ewiger Haft auf dem Spielberg anböte …“

„So würden Sie es thun?“ fragte Frohn rasch. „O, weshalb kann ich dies Erbieten nicht annehmen und Ihrem Oheim nicht in dieser Minute noch die Freiheit geben!“

Agnes Mirzelska blickte zu dem vor ihr stehenden Officier mit einem Blicke auf, in welchem etwas von einem unbeschreiblichen Ausdruck lag; es war wie ein inniges Flehen, wie die Sprache eines rührenden Vertrauens, das sich verführerisch in seine Seele schmeicheln wollte, und halblaut flüsterte sie dabei:

„Ist es Ihnen in der That unmöglich? giebt es keinen Weg für Sie, kein Mittel, den Armen zu retten?“

„Keines, keines!“ stotterte Frohn schnell hervor. Dabei zitterte seine Lippe, sein Antlitz überflog eine plötzliche Blässe, und stumm sich verbeugend verließ er plötzlich das Zimmer.

„Um Gotteswillen, was habe ich gethan!“ rief Agnes Mirzelska aus, erschrocken aufspringend, „ich habe sein Ehrgefühl verletzt, ich habe sein edles, treues Herz verwundet. Gott! mein Gott, wie lösche ich den Eindruck dieser unseligen Worte wieder aus!“


4.

So erschrocken auch Agnes Mirzelska über den Eindruck war, welchen ihre Worte augenscheinlich auf Frohn gemacht hatten, so war sie doch weit entfernt zu ahnen, wie tief der Schmerz war, den sie ihm dadurch zugefügt.

Frohn hatte nicht verkennen können, daß die Leidenschaft, welche das junge Mädchen in ihm entzündet hatte, eine rasche und durch Blick und Wort offen bekannte Erwiderung gefunden. Aber diese rasche Erwiderung, statt ihn mit Glück und Seligkeit zu überschütten, hatte den tiefschmerzlichsten Stachel eines unseligen Argwohns in seine Seele gesenkt. „Wie kann ein so schönes, hinreißendes, glänzend begabtes Wesen so schnell ihr Herz an einen schlichten, derben Kriegsknecht, wie ich es bin, verlieren? was kann sie in mir sehen, was ihr den Mangel feinerer Bildung und geistiger Begabung in mir ersetzt? Was ich besitze, mein Bischen Soldatentüchtigkeit und mein Talent, mich nicht übertölpeln zu lassen, was kann das einem Wesen sein, dem Huldigungen und Bewunderung entgegengekommen sein müssen, wo sie sich zeigt? Nein, es ist nicht möglich, daß sie den Kerkermeister ihres Oheims liebt … und wenn Sie den Schein annimmt, so ist es ein Spiel, eine Maske, eine Bethörung … sie ist eine Sirene, die mich mit zarten Fäden umspinnt und die nichts will, als mich zu ihrem Gefangenen machen, um durch mich den Oheim aus der Gefangenschaft befreien zu lassen!“

Und dann, wenn Frohn wieder Agnes gegenüber saß, wenn er ihre vollständige, von jeder Coketterie freie Natürlichkeit beobachtete, den herzlichen Ton ihrer Stimme vernahm und den seelenvollen Blick ihres Auges auf sich gerichtet sah, kam es wie eine selige Ueberzeugung über ihn, daß dies Wesen nicht trügen könne, daß ein wahrer Drang der Hingabe sie zu ihm, dem starken, erprobten treuen Mann ziehe. Er scheuchte dann alle düsteren Zweifel und Sorgen des Argwohns von sich und gab sich ganz dem berauschenden Reiz des Augenblicks hin, bis ihn wieder die Einsamkeit seines Zimmers umfing und er grübelte und dachte. Dazu kam die merkwürdige Veränderung im Wesen Trenck’s … sollte der leidenschaftliche, zornige, unbezähmbare Mensch, der ihm früher so viel zu schaffen gemacht, in der That bloß deshalb so nachgiebig und ruhig und umgänglich geworden sein, weil ein junges Mädchen in seiner Nähe war, das ihm einige Tagesstunden durch ihr Geplauder vertrieb? War es nicht viel wahrscheinlicher, daß diese ergebenere Stimmung über den tollen Pandurenführer mit dem Wiederaufleben der Hoffnung auf die Freiheit gekommen? Ja, man wollte ihn täuschen, ihn umgarnen, ihn, wenn der rechte Augenblick gekommen, wo die Leidenschaft ihn völlig unterjocht hatte, als bethörtes, willenloses Werkzeug gebrauchen.

So hatte er qualvolle Tage inneren Zwiespalt gelebt, bis zu dem Augenblicke, wo ihm Agnes offen ihren Wunsch, den Oheim befreit zu sehen, aussprach, wo sie ihm geradezu beinahe ihre Hand in Aussicht stellte, wenn er dieselbe erkaufen wolle dadurch, daß er Trenck auf irgend einem Wege die Freiheit wiedergebe. Wie ein Blitz war es in seine Seele geschlagen,… sie hielt den Augenblick für gekommen, wo seine Neigung hinlänglich von seinem Herzen mit seinem Geist Besitz genommen, daß sie offen reden dürfte.

Arme Agnes! wie wenig hatte das harmlose, seiner tiefen Neigung für Frohn sich ohne Skrupel hingebende junge Mädchen geahnt, daß sie einen solchen Sturm und eine solche Verzweiflung in dem Herzen dessen, den sie liebte, heraufbeschwören würde, als sie jene Worte sprach und sie mit dem innigen Blicke begleitete, in welchem Frohn den Geist der Verführung nur Bethörung wahrzunehmen glaubte! –

Es war ein Dämon von diesem Augenblicke an in Frohn wach gestürmt, den er nicht mehr bezwingen konnte. Je weniger die Leidenschaft während seines Lebens eine Rolle gespielt hatte, je länger die Kraft zu lieben in seinem Herzen geschlummert hatte, durch das nur einmal in Magdeburg wie eine leise Frühlings-Ahnung ein Gefühl gezogen war, das von einer stürmisch bewegten Existenz so bald wieder verweht wurde: desto heftiger und gewaltiger war in dem gereiften Manne jetzt die Leidenschaft für das schöne Mädchen erwacht, das wie ein Stern über der unheimlichen und düsteren Welt aufgegangen war, in welcher sich bisher seine freudlosen Tage abgesponnen hatten. Es tobte ein Gefühl in ihm wie im Herzen Othello’s, als Jago den Giftsamen hineingeworfen hatte. Wie Othello konnte er nicht in entsagender Ruhe und Geduld den Beobachter machen, um zu einer allmählichen Klarheit zu gelangen.

Er wollte Licht – sofort und vollständig! Um es zu erhalten, entwarf er in den schlummerlosen Stunden der nächsten Nacht Pläne über Pläne, um dann bei dem ersten und einfachsten stehen zu bleiben; wenn sich die Gelegenheit darbot, konnte er ihn ausführen gleich am folgenden Tage.

Die Gelegenheit bot sich ihm dar. Als es Abend wurde, ging er wie gewöhnlich zu Trenck hinüber und machte ihm den Vorschlag, die Zeit durch ein Kartenspiel zu vertreiben, welches auch, da es drei Spieler erforderte, Agnes Mirzelska in dem Zimmer des Obersten für den Abend zurückhielt. Der gefangene Oberst war stets bereit zum Spiele, er hatte immer das beruhigende Bewußtsein, der gewinnende Theil zu sein, wenn er es sein wollte, und Frohn, der seine Kunstgriffe wohl durchschaute, hatte sich gehütet, ihn dies merken zu lassen, um jeden Streit mit ihm zu vermeiden; er hatte sich darauf beschränkt, gewöhnlich die Aufforderung zum Spiel abzulehnen, wenn sie von Trenck ausging. Heute jedoch griff er zu den Karten, um desto sicherer seine innere Bewegung zu verbergen; und Trenck ging mit Vergnügen darauf ein.

Um neun Uhr ertönte der Zapfenstreich in der Citatelle. Es trat der Officier du Jour ein und überreichte dem Commandanten, mit der Meldung, daß Alles in Ordnung, die Schlüssel. Frohn nahm die Schlüssel, legte sie neben sich und spielte weiter. Nach etwa einer halben Stunde erhob er sich; die Rechnung wurde gemacht, einige Geldstücke wurden gewechselt und Frohn empfahl sich, um sich zur Ruhe zu begeben – die Schlüssel in der Hand haltend. [51] Agnes nahm eines der Wachslichter, die auf dem Tische brannten, um ihm durch das Vorzimmer zu leuchten. Hier, als er mit Agnes sich allein sah, blieb er stehen; an einen in der Mitte des Zimmers sich befindenden Tisch gelehnt und die Schlüssel, als ob sie ihm lästig zu tragen seien, auf diesen Tisch legend, sagte er:

„Wir haben sehr unglücklich gespielt, Agnes, Ihr Oheim hat uns einmal wieder geplündert!“

Agnes setzte lächelnd das Licht auf den Tisch. Daß Frohn stehen blieb, um noch einige Minuten lang mit ihr zu plaudern, war ihr eben so wenig auffallend als unangenehm, und lebhaft antwortete sie:

„Desto besser – so ist sein Vergnügen desto größer, denn er hält darauf, für einen Meister im Spiel zu gelten!“

„Und mit meinem Verlust oder Gewinn sympathisiren Sie nicht im Mindesten, Agnes, weder mit meinem Glück noch mit meinem Unglück?“ fiel er mit erzwungenem Scherze ein.

„Mit Ihrem Spielerunglück sympathisire ich nicht,“ antwortete sie lächelnd, „Sie wissen ja, es giebt ein Sprüchwort, das Sie darüber trösten kann – aber weshalb,“ fügte sie erröthend hinzu – „weshalb gehen Sie heute so früh? – es ist noch nicht zehn Uhr! gewiß haben Sie diese Nacht wieder einen Ihrer einsamen Inspectionsgänge vor.“

„Das habe ich keineswegs,“ versetzte Frohn. „Im Gegentheil, ich habe die verflossene Nacht wenig Ruhe gehabt und will gründlich in dieser Nacht nachholen, was ich in der vorigen versäumt habe; ich bin sehr müde. – Schlafen Sie wohl, Fräulein Agnes.“

„Gehen Sie nicht,“ sagte sie lebhaft, „ohne mir zu sagen, was es war, wodurch ich Sie am gestrigen Abende so verletzte; glauben Sie mir, ich habe Sie gewiß nicht kränken, Ihrem Ehrgefühl nicht zu nahe treten wollen.“

„Ich glaube es Ihnen, Agnes,“ fiel er rasch und fast stürmisch ein, „ich glaube es Ihnen; ich war nur bewegt, tief bewegt von dem, was Sie mir sagten; der Gedanke kam über mich, Ihren Wunsch zu erfüllen, Ihrem Oheim die Freiheit zu geben, obwohl dann mein Loos ewige Schande und Schmach sein würde, obwohl ich als eidbrüchiger Officier vor ein Kriegsgericht gestellt würde, das, auch wenn man mir nur Nachlässigkeit in meinem Dienst vorwerfen und beweisen könnte, mich cassiren würde – aber gute Nacht, Agnes, reden wir nicht weiter davon, nicht weiter von mir!“

Er verließ rasch und stürmisch das Zimmer, und bevor Agnes Mirzelska noch eine Sylbe hatte hervorbringen können, hatte sich die Thüre hinter ihm geschlossen. Erstaunt und beunruhigt durch dies seltsame Betragen sah das junge Mädchen ihm nach und ließ dann plötzlich ihren Blick auf das Schlüsselbund fallen, welches Frohn auf dem Tische hatte liegen lassen.

„O mein Gott!“ rief sie aus, und ein heller Strahl fiel in ihre Seele, der ihr sein ganzes auffallendes Wesen erklärte – „so also liebt er mich! Er giebt mir die Schlüssel, die meinem Oheim die Freiheit erschließen, in die Hand, – ich soll sie nehmen und gebrauchen, und doch geht der Weg in die Freiheit für meinen Oheim über seine Ehre, sein ganzes Lebensglück fort. – Darf ich diese Schlüssel meinem Oheim geben? – darf ich ihm sagen: „da nimm, flieh und rette Dich, die Flucht ist sicher, Du brauchst nur in der Mitte der Nacht durch die Wohnung des Commandanten zu gehen, mit einem dieser Schlüssel das Thor, welches aus jener Wohnung führt, zu öffnen. – Du hast ja dieselbe mächtige und hochgewachsene Gestalt wie der Commandant; Du kannst Dich wenden, wohin es Dir gefällt … „Gott, wer räth mir, was ich thun soll!“

Sie rang die Hände, schritt auf und nieder in schrecklichem Seelenkampfe, und dazwischen war es ihr, als ob ein Strom von Seligkeit und Glück durch ihre Seele führe – die Offenbarung, wie tief und innig und leidenschaftlich er sie lieben müsse, daß er so ihrem Herzenswunsche Alles, Alles opfere. Aber je grösser das Glück war, welches sie darüber empfand, desto rascher auch schwanden ihre Zweifel über das, was sie in diesem Augenblicke thun müsse – sie mußte sofort ihm die Schlüssel nachsenden – sie konnte sein Opfer nicht annehmen. – Plötzlich hielt sie inne – ein neuer Gedanke war ihr durch das Köpfchen geschossen. Wie, wenn sie dem Oheim die Rettung sicherte und doch Frohns Ehre und seine Stellung schonte? Wenn sie Abdrücke von den Schlüsseln nahm? Ja gewiß, der Oheim konnte darnach andere Schlüssel machen lassen und sie gebrauchen, um seine Flucht damit zu bewerkstelligen, zu einer späteren, gelegeneren Zeit, wenn Frohn nicht in der Citadelle war, wenn er einen Urlaub nahm, oder, was am besten, wenn es ihm gelungen, sich von seinem fatalen Posten entheben zu lassen! – Rasch zogen diese Gedanken durch Agnesens stürmisch bewegte Seele; sie schritt sofort zur Ausführung ihres Entschlusses, sie stürzte mit den Schlüsseln und dem brennenden Lichte hinaus, in ihr Zimmer; dort nahm sie eine Wachskerze von ihrem Toilettentisch, drückte, so gut sie es mit ihren zitternden Händen verstand, die Schlüssel in dem Wachse ab und schellte dann hastig ihrem Mädchen.

„Da nimm die Schlüssel,“ sagte sie, als dieses erschien – „eile damit zum Commandanten, dringe, ohne Dich anmelden zu lassen, in sein Zimmer, überreiche sie ihm selber, hörst Du, Niemand Andrem; er hat sie in der Zerstreuung so eben drüben liegen lassen.“

Die Zofe nahm das schwere Bund, blickte wie fragend und verwundert ihre Herrin an, aber auf deren gebieterische Bewegung eilte sie davon.

Agnes Mirzelska trat ihr nach auf die Schwelle der Thüre und flüsterte noch:

„Zeig’ Niemand, der Dir begegnen sollte, was Du hast.“

Und dann sah sie, wie das Mädchen den breiten Corridor hinabeilte, am Ende desselben in den schmalen Verbindungsgang einlenkte, der in die Wohnung des Commandanten führte, und verschwand. Alles war still in dem weiten Raume, nur vom Fuße der Treppe her, die am Ende des Corridors in das untere Stockwerk hinab führte, hallten die schweren Schritte einer Schildwache.

Die Zofe fand ihren Weg unaufgehalten in das Wohnzimmer des Commandanten. Als sie leise die Thür öffnete, sah sie ihn in gebückter Stellung, das Gesicht mit den Händen verbergend an seinem Tische sitzen; bei dem Geräusch hob er den Kopf und sprang rasch auf, der Dienerin entgegen.

„Was giebt’s? was willst Du, Marusch?“

„Die Schlüssel hier bringen von meinem gnädigen Fräulein; der Herr Oberstwachtmeister hätten sie drüben vergessen!“

Frohn griff mit eigenthümlicher Hast danach.

„Ich danke Deinem Fräulein – sag ihr, ich dankte ihr, viel, vielmal,“ sagte er mit fast erstickter Stimme; „sprich nicht davon, daß ich sie vergessen habe; ich war zerstreut, da nimm!“

Frohn drückte ihr ein Goldstück in die Hand; das Mädchen dankte froh und entfernte sich wieder.

Wir brauchen nicht zu schildern, was Frohn empfand, als er die Schlüssel in den Händen des Mädchens erblickt hatte. Von seinem Herzen war eine Riesenlast gefallen, und ohne Scheu und Rückhalt konnte er von diesem Augenblick sich der Leidenschaft hingeben, welche mit so viel Glück und Seligkeit dies ehrliche und treue Männerherz erfüllte. Er war im ersten Augenblick versucht, zu Agnes Mirzelska zurückzukehren, ihr alles zu gestehen, was er beabsichtigte mit seiner anscheinenden Zerstreutheit, ihre Verzeihung zu erflehen, daß er an ihr gezweifelt; aber die Scham, die Sorge, daß er ihr einen Schmerz durch sein Geständniß zufüge, hielten ihn ab und zurück – so eilte er endlich nur hinaus, um ganz im Stillen die besonderen Maßregeln wieder abzustellen, die er getroffen hatte, für den Fall, daß der Oberst von der Trenck wirklich von den Schlüsseln hätte in dieser Nacht Gebrauch machen wollen. Frohn hatte natürlich dafür gesorgt, daß ein solches Unternehmen auf Hemmnisse stieß!


5.

Bei der Stimmung, in welcher sich nach den Ereignissen dieses Abends sowohl Frohn als Agnes Mirzelska befanden, war es mir natürlich, daß sie Beide das Geständniß ihrer aufgeregten und auf hohen Wogen gehenden Gefühle für einander auf den Lippen hatten, sobald sie sich wieder sahen; und in der That hatten sie bei dem ersten Wiedersehn am andern Tage nicht eine halbe Stunde lang zusammen zugebracht, und Frohn durfte überglücklich Agnes an sein Herz ziehen und sie seine Braut nennen, während sie ihm in holdem Erröthen gestand, daß sie auf Lebenszeit seine Gefangene geworden, wie sie vom ersten Augenblick an gewesen, seit sie ein so treues redliches Herz in einer so männlich tapferen und kühnen Brust erkannt. Sie auch unternahm es, von ihrem Entschluß, ihr Schicksal unauflöslich mit dem seinigen zu verbinden, zuerst den Obersten von der Trenck zu unterrichten, [52] bei dem als natürlichem Vormund des jungen Mädchens Frohn um ihre Hand anhalten mußte.

Der Oberst von der Trenck aber hörte seiner Nichte verlegen und verschämt vorgebrachte Mittheilung sehr gespannt an und mit jenem Egoismus der nie in seinem Leben auch nur einen Augenblick von ihm gewichen war, dachte er sofort mehr an das, was für ihn Vortheilhaftes in einer solchen Verbindung mit dem Commandanten des Spielbergs lag, als an das Glück des jungen Mädchens, welches ihm so nahe stand und ihm ein so großes Opfer gebracht hatte.

„Zum Henker, das ist brav von Dir, schlaue Katze!“ rief er aus, „also eingefangen hast Du ihn – nun, daß Du’s auf ihn abgesehen und all die kleinen Manöverchen, die ihr Weiber dabei zu machen versteht, spielen lassen – das hab’ ich längst gemerkt; wahrhaftig, er ist stark im Feuer gewesen, bis er Chamade geschlagen!“ fügte er lachend hinzu.

„Oheim, Sie mißkennen mich vollständig,“ siel Agnes purpurroth werdend ein, „wenn Sie glauben …“

„O! ich kenne das, kenne das,“ unterbrach er sie. „Du glaubst, so eine alte Kriegsgurgel verstehe sich den Teufel darauf; aber gefehlt, Nichtchen, gefehlt – Dein Oheim hat auch darin seine Erfahrungen gemacht; aber Du brauchst nicht roth und böse darüber zu werden – ich gebe Dir meinen vollen Segen und werde Dir fortan, als armer Gefangener, mit dem tiefen Respecte begegnen, der der Frau Commandantin gebührt; bei Deiner Hochzeit läßt Du uns armen Teufeln sicherlich eine doppelte Ration zukommen, und siehst auch wohl sonst noch mit Deinem Oheim ein wenig durch die Finger; es ist vortrefflich, Nichtchen, vortrefflich! Ich denke, wir werden jetzt bis an unser Lebensende ganz gemüthlich zusammen auf dem Spielberge hausen.“

„Ich freue mich Oheim, daß mein Entschluß wenigstens Ihre Billigung hat,“ antwortete Agnes etwas kalt und gemessen, da die Reden Trenck’s sie verletzten – „bis zu unserm Lebensende werden wir jedoch hoffentlich nicht auf diesem schrecklichen Kerkerfelsen hausen. Gewiß wird man Herrn von Frohn, wenn er sich mit einer Nichte dessen vermählt, der ihm hauptsächlich zur Bewachung anvertraut ist, auf eine andere Stelle versetzen, und er selbst wird auch um meinetwillen Alles aufbieten, einen anderen Dienst zu bekommen.“

„Das kann mir aber,“ fiel hier Trenck ein, „durchaus nicht angenehm sein; wenn das die Folgen Deiner Verheirathung sein sollen, so protestire ich dawider und …“

„Das werden Sie nicht, und es würde auch zu nichts frommen, denn ich bin fest entschlossen, Frohn mein Wort zu halten. Weit entfernt aber, daß die Entfernung des jetzigen Commandanten des Spielbergs Ihnen nachteilig sein soll…“

„Ach, der Commandant mag zum Teufel gehn, es wäre mir lieb, wenn er eher heute als morgen den Hals bräche, denn so lange dieser Mensch hier befiehlt, ist für mich an eine Rettung, an ein Entkommen nicht zu denken … aber ich will Dich nicht verlieren!“

„Eben deshalb, weil an ein Entkommen für Sie nicht zu denken ist, so lange Frohn Commandant des Spielbergs, mein theurer Oheim,“ entgegnete Agnes, „eben deshalb liegt es in Ihrem Interesse, daß ihm dies Amt genommen werde. Und so bald dies der Fall, dann, glauben Sie mir, soll es Ihnen leicht werden, den Ausgang in die Freiheit zu finden … ich habe ein Mittel in den Händen …“

„Was hast Du … wovon redest Du?“ fiel Trenck gespannt ein.

„Lieber Oheim,“ antwortete Agnes, ihre Stimme zum Flüstern dämpfend, „haben Sie mir nicht oft gesagt, daß es Ihnen nicht schwer werden würde, vom Spielberg zu entkommen, indem Sie in Uniform, in einen Militair-Mantel gehüllt, Nachts an den Wachen vorübergingen, denn diese würden glauben, es sei der Commandant, der einen seiner nächtlichen Inspectionsgänge mache?“

„Richtig, weil ich so ungefähr von derselben Gestalt bin, wie Dein vortrefflicher Sposo … es gehörten nur zwei Dinge dazu, wovon das eine sehr leicht und das andere sehr schwer zu bekommen ist. Die Parole des Tages nämlich, die man für ein gut Stück Geld sehr leicht, und die Schlüssel zu ein paar Thüren, welche man aus den Händen des Herrn von Frohn sehr schwer bekäme. Ich müßte nämlich offen und mit ruhiger Sicherheit aus der Wohnung des Commandanten in den mit Schildwachen besetzten Hof treten können; und dazu gehört der Schlüssel zur Thüre, die aus der Commandantenwohnung führt; auch den Schlüssel zu der Thür, die auf den westlichen Wall führt, müßte ich haben, denn nur von diesem westlichen Wall herunter könnte ich in’s Freie kommen; an allen andern Seiten sind die Felsenwände zu schroff, um daran hinunter klettern zu können.“

„Nun wohl, was würden Sie sagen, lieber Onkel, wenn ich Ihnen ein Mittel gäbe, sich die Schlüssel zu verschaffen?“

„Das heißt … was meinst Du? Agnes, heraus damit!“ rief Trenck aus.

„Nun,“ versetzte sie lächelnd, „man ist nicht so lange wie ich in Gefängnißmauern, ohne listig wie Gefangene zu werden; ich habe die Wachsabdrücke der Festungsschlüssel!“

Trenck sprang wie elektrisirt auf.

„Was hast Du?“ sagte er, Agnesens Hand ergreifend und heftig drückend, „…die Abdrücke…“

„Der Schlüssel, welche Herr von Frohn nie aus den Händen läßt.“

„Und die Du dennoch hast nehmen können? Nichte – Goldmädchen – Juwel – der Teufel lernt die Schlauheit von solch einem Weibe nicht aus … wo hast Du diese Abdrücke?“

„Ich will sie Ihnen geben, mein Oheim; aber vorher schwören Sie mir bei Allem, was Ihnen heilig ist, daß Sie nicht eher damit einen Rettungsversuch machen wollen, als bis Frohn nicht mehr Commandant des Spielbergs ist!“

Trenck schwieg eine Weile, als ob er mit sich zu Rathe gebe. Dann sagte er:

„Da hast Du meine Hand darauf, ich schwöre es Dir, ich will warten; Du hast Recht, wenn Du glaubst, man wird ihn versetzen, sobald es bekannt wird, daß er der Verlobte meiner Nichte ist; ich kann also warten, und ich will es.“

„So sollen Sie die Abdrücke haben,“ antwortete Agnes Mirzelska und begab sich in ihr Zimmer, um ihrem Oheim die Wachsabdrücke zu holen.

„Bei aller Deiner Schlauheit bist Du doch eine Gans,“ murmelte Trenck ihr nachsehend zwischen den Lippen. „Was helfen mir die Schlüssel, wenn dieser Frohn nicht mehr Commandant ist! Sein Nachfolger ist vielleicht ein kleiner Knirps oder ein vierschrötiger Kerl mit einem dicken Bauche; dann ist keine Schildwache mehr so dumm, mich für den Commandanten zu halten, wenn ich Nachts an ihr vorübergehe.“

Agnes Mirzelska kam zurück und überbrachte ihrem Oheim die Schlüsselabdrücke. In seiner Freude darüber umarmte er sie und in der Aufwallung seiner Dankbarkeit trat er an seinen Schreibtisch und schrieb seiner Nichte eine Anweisung von 20,000 Gulden Conventions-Münze, auf die Administration seiner slavonischen Herrschaften lautend.

„Zum Hochzeitsgeschenke!“ sagte er, indem er ihr das Blatt darreichte. „Man kann Deinem Oheime sonst nicht nachsagen, daß er mit Geschenken das Seine verthut … aber Du hast’s um mich verdient, Nichte … da nimm!“

Agnes küßte ihm dankbar die Hand.

(Schluß folgt.)



Der getreue Eckardt der Reisenden.

Seit langer Zeit jedes Jahr, sobald die Reisesaison begann und bis zum Ende derselben, durchwanderte ein Mann von kaum mittlerer Größe, aber starkknochig und wohlbeleibt, mit festen, fast harten Zügen, aber gar gutmüthigen und klugen Augen in dem breiten Gesicht, in sehr bescheidenem Anzuge, namentlich mit hoher breitschirmiger Mütze, in tüchtigen Schuhen und Gamaschen, den Regenschirm vorn am obersten Knopfe des Rockes, ohne alles Gepäck bis auf eine von vielem Gebrauch fast schwarz gewordene Reisetasche, Deutschland, oder die Schweiz, oder die Niederlande, oder Italien. Und alle seine langen und wiederholten Wanderungen machte er weder zu seinem Vergnügen, noch aus Rücksicht auf seine Gesundheit; er unternahm sie nur im Interesse anderer Reisenden.

[53]

Karl Bädeker.

Er hatte sich selbst das Amt und die Pflicht auferlegt, alle schönen Aussichtspunkte und die bequemsten dahin führenden Wege aufzusuchen, um Andere darauf aufmerksam zu machen. Er musterte die Merkwürdigkeiten und Sehenswürdigkeiten jedes Ortes und erprobte, in welcher Ordnung und Reihenfolge man sie mit dem wenigsten Zeitaufwande und doch am zweckmäßigsten besichtige; er unterließ sogar nicht zu notiren, wie viel man da und dort Trinkgeld zu zahlen habe. Namentlich hielt er strenge Revision in den Gasthäusern, und wehe dem Wirth mit hohen Rechnungen und schlechten Betten, wehe den trägen Kellnern und hochmüthigen Portiers! Nichts entging seinem scharfen Blicke und seinem unermüdlichen Forschen. Ueberall war er gewesen, alles hatte er gesehen, beobachtet und mit der rücksichtslosesten Unparteilichkeit beurtheilt und notirt. So kam es denn – und es ist kaum zu verwundern – daß dieser vor allem praktische und prosaische Mann in unserer nichts weniger als poetischen Zeit der Eisenbahnen und Telegraphen eine Art Märchen-Figur in Deutschland wurde, etwa wie Rübezahl sonst in dem schlesischen Gebirge, und daß die Sage ihn bald in dieser, bald in jener Gestalt, bald hier, bald dort, ja gleichzeitig an weitentfernten Orten, bald als Schutzgeist irgend eines geprellten Reisenden, bald als Plagegeist in einem Wirthshause erscheinen ließ. Die Anekdoten über dergleichen sind zahllos. Ja man wollte sogar [54] wissen, und hat es trotz aller Widerlegung fort und fort behauptet, seine Landesregierung habe das in Deutschland bis dahin Unerhörte gethan, sie habe ihm nämlich mehrere Pässe auf verschiedene Namen gegeben, damit er in um so sicherem Incognito reise und sein Revisionsamt zum Frommen aller Reisenden um so ungestörter verrichten könne.

Auf der andern Seite fehlt es nicht an Erzählungen, wie irgend ein Abenteuerer oder Spaßvogel den Namen des Gefürchteten angenommen habe, um sich in einem Gasthofe gute Aufnahme, aufmerksame Bedienung und billige Rechnung zu verschaffen, oder auch wie man irgend einem Wirthe, der eine Revision seines Hauses wohl zu scheuen hatte, telegraphisch oder brieflich angezeigt, an dem und dem Tage werde der Wohlbekannte, diesmal unter dem und dem Namen, erscheinen, man möge sich das gesagt sein lassen. Natürlich wurde der also vorher angemeldete und bezeichnete arglose Fremde, der von nichts wußte, wie ein incognito reisender Fürst empfangen und konnte sich nicht erklären, warum man in dem Hause ihn mit Aufmerksamkeiten überhäufe, während der, welcher sich solchen Scherz erlaubt hatte, den Wirth dann gelegentlich verhöhnte. Welchen Kummer mag es auf der andern Seite dem Wirth gemacht haben, der den unscheinbaren Reisenden in ein gar schlimmes Bette hatte legen lassen und nachher, zu spät, erfuhr, der sei sein Gast gewesen, welchen er besser und sorgsamer behandelt haben würde als irgend einen andern, wenn er gewußt, wen er unter seinem Dache beherberge.

Der Mann aber, der alljährlich im Interesse aller Reisenden und zum Schrecken aller Wirthe solche Wanderungen unternahm, war der Buchhändler Karl Bädeker in Coblenz, der Herausgeber der nach seinem Namen genannten, allbekannten und allbenutzten rothen Reisehandbücher, die als treue Gefährten und zuverlässige Führer dem Wanderer an allen Orten, die er besucht, über alles Auskunft geben, ihn auf alles aufmerksam machen und es auch gelegentlich an nützlichen Warnungen nicht fehlen lassen. Jetzt, wo der wackre Mann unter dem grünen Rasen ruht, dürfen wir – was früher um seiner Zwecke willen nicht statthaft – sein sehr gut getroffenes Portrait bringen.

Man darf wohl behaupten, daß, wie die Eisenbahnen und Dampfer die Reiselust in nie vorher bekanntem Maße gefördert, das Reisen selbst aber in gleicher Weise erleichtert, die Bädekerschen Handbücher erst ein recht fruchtbringendes Reisen (in Mitteleuropa möglich gemacht haben; denn wer nach Anleitung dieser rothen Bücher reist, kann überzeugt sein, daß eigentlich Bedeutendes ihm nicht entgeht, während er vor Zersplitterung an Zeit und Aufmerksamkeit auf Kleinigkeiten verschont bleibt. Sie können deshalb ebensowenig entbehrt werden wie Koffer und Reisetasche und sie haben überdies den Vortheil, daß sie beinahe so gefürchtet sind wie es der Herausgeber selbst war. Erscheint ein Reisender mit dem rothen „Bädeker“ in der Hand, so wissen die Lohndiener und Wirthe, daß er zu den Kluggewordenen gehört und so wenig zu betrügen ist, wie ein erfahrener Einheimischer. Das ist freilich Vielen, die auf unerfahrene Reisende speculiren, denen etwas geboten werden kann, sehr ärgerlich. So kam vor einiger Zeit ein privilegirter Lohnkutscher zu Basel in höchstem Verdruß zur Polizei und zeigte da unwirsch an, er habe sich entschlossen sein Geschäft aufzugeben. Als der Beamte dem stadtbekannten, grollenden alten Mann freundlich zu- und abredete, versetzte der gereizte Pferdemann: „Nein! man wird jetzt seines Lebens nicht mehr froh, seit die verfluchten rothen Bücher da sind.“

Karl Bädeker war 1801 zu Essen an der Ruhr geboren, hatte schon als Knabe über die Siegesbotschaft aus Leipzig laut gejubelt und 1815 bei Napoleons Wiederkehr seinen Vater bestürmt, ihn mitziehen zu lassen gegen den Feind des Vaterlandes. Dies konnte dem Knaben nicht gestattet werden, der dagegen 1817 nach Heidelberg kam, um da die Buchhandlung zu erlernen. In der berühmten Universitätsstadt erwachte aber auch sein Wissensdurst so mächtig, daß er sich inscribiren ließ und ein Jahr lang Vorlesungen über Geschichte und Philosophie hörte. Nachdem er 1822 in Wetzlar sein Freiwilligen-Dienstjahr unter den Jägern bestanden hatte und als Lieutenant der Landwehr zugetheilt worden war, verbrachte er zwei für ihn sehr fruchtreiche und anregende Jahre in dem Hause des berühmten Buchhändler Reimer in Berlin, im Jahre 1827 endlich gründete er in Coblenz die Buchhandlung, der er so bedeutendes Ansehen verschaffen sollte.

Auf den Gedanken, zunächst sein Reisehandbuch für Deutschland zu schreiben, kam er zuerst, als er in den Händen aller die Rheinlande so zahlreich besuchenden Engländer das bekannte rothe englische Reisehandbuch des Buchhändlers Murray in London sah. Auch legte er dies dem seinigen anfangs zu Grunde, wie er wohl auch den damals noch ziemlich in Ansehen stehenden „Passagier auf Reisen“ von Reichardt dabei benutzte. Aber er erkannte sehr bald und zuerst vor Allen, daß sein Buch an sehr vielen Fehlern, Mängeln und Ungenauigkeiten litt, machte deshalb mehr als die Hälfte aller von ihm gedruckten Exemplare zu Maculatur und gab eine revidirte, viel verbesserte neue Auflage heraus, die den verdienten Beifall fand. Diesem ersten folgte die „Rheinreise“, „die Schweiz“ (später sein Lieblingsbuch, mit dem er selbst am meisten zufrieden war), „Belgien, Holland und Paris“, so wie die übrigen: „Oesterreich und Oberitalien“, „Tyrol und Salzburg“ etc., die alle bereits eine Frucht seiner aufmerksamen und sorgfältigen Wanderungen waren. Da aber stets überall Neues auftaucht und Altes verschwindet, kurz Aenderungen eintreten, welche die sonst genaueste Beschreibung unrichtig erscheinen lassen, so machte Bädeker, wie oben gemeldet, jährlich seine Revisionsreisen, um für die immer nöthig werdenden neuen Auflagen seiner Bücher an Ort und Stelle Berichtigungen zu sammeln und ihnen so die größtmögliche Zuverlässigkeit und Vollständigkeit zu geben.

Hatte er in dieser Weise den Sommer hindurch mit wahrem Bienenfleiße, unter allerlei Mühen und Beschwerden, eingetragen, so saß er dann den Winter über buchstäblich vom frühesten Morgen bis in die späteste Nacht hinein an seinem Schreibpult, um seine tausend und abertausend gesammelten Notizen, nebst den ihm in vielen Hunderten von Briefen zugegangenen Andeutungen, Bemerkungen und Berichtigungen zu ordnen und für die neuen Auflagen zu verwenden. Denn seine Bücher würden trotz dem ungewöhnlichen Fleiß des Mannes, eines Einzelnen, nicht so zuverlässig und vortrefflich geworden sein, wenn nicht das große reisende Publicum selbst sich als Mitarbeiter betheiligt und ihm viel Nutzbares zugetragen oder ihn auf Irrthümliches aufmerksam gemacht hätte. Bädeker selbst kannte bei solchen Winterarbeiten weder Sonn- noch Festtag. Und eins seiner Hauptverdienste darf nicht vergessen werden: was er schrieb, trug den Stempel der Wahrheit an sich, und schonungslos sprach er den Tadel aus, wo er begründet war. Er hätte viel erzählen können von Cigarrenkisten und Champagnerkörben, die er solchen, welche seine Empfehlung suchten, mit der kalten Ruhe eines Ehrenmannes zurücksandte, nicht selten mit der Bemerkung, daß seine Empfehlung um keinen Preis käuflich sei, daß aber Freundlichkeit, auch gegen unscheinbar aussehende Fremde, die Haupttugend eines Wirthes ausmache. Ein Fall solcher Art möge hier erzählt sein:

Wir haben gesehen, wie gar bescheiden das Aeußere Bädeker’s war, wenn er sich auf Reisen befand. So kam er denn eines Abends, ermüdet von langer Fußwanderung, nach Vevey und wollte da in einem der ersten Hotels Nachtquartier nehmen. Mit dem Dampfer war eben eine große Menge von Fremden mit zahllosen Koffern, Taschen und Schachteln angekommen, und die Kellner achteten nicht im Geringsten auf den schlichten Mann, der sich denn auch lange in das Unvermeidliche geduldig fügte. Als ihn endlich ein Kellner in nicht weniger als freundlichem Tone nach seinem Begehr fragte, verlangte Bädeker ein gutes Zimmer mit der Aussicht auf den See. Der Kellner führte ihn in das dritte Stock und zwar in ein Zimmer, das in den Hof hinaussah. Das verschmähte unser Reisende, der mit dem Wirthe selbst zu sprechen verlangt, als ihm erklärt worden war, es sei kein anderes Zimmer im ganzen Hotel frei. Der Wirth wußte ihm allerdings noch ein anderes Zimmer zu schaffen, aber eine Revision des Bettes zeigte sehr unangenehme Mängel. Ueberdies war die Bedienung eine sehr nachlässige und unfreundliche, wie die Speisen viel zu wünschen übrig ließen. Bädeker, der keine zu großen Ansprüche machte, grollte mit Recht. Endlich wurde ihm das Fremdenbuch vorgelegt, und kaum hatte der Wirth daraus ersehen, daß der von ihm nichts weniger als aufmerksam behandelte Fremde kein anderer als der von allen Gastwirthen Gefürchtete selbst sei, als er herbeieilte und unter den tiefsten Bücklingen, so gut als es eben gehen wollte, sich zu entschuldigen versuchte. Bädeker hielt ihm aber rückhaltslos sein langes Sündenregister vor und erklärte ihm zuletzt, er könne in dem Reisehandbuch das Sternchen nicht mehr stehen lassen, mit dem der Name des betreffenden Gasthauses bis dahin als Auszeichnung versehen gewesen. Trotz [55] aller Bitten und Beschwörungen des reuigen Wirths führte Bädeker aus, was er gesagt hatte, und in der einen Auflage fehlte das Sternchen. Nach Verlauf der neuen Reisesaison erhielt Bädeker einen äußerst kläglichen Brief von jenem Hotelbesitzer, der unter Anderm schrieb: „Der mir durch Auslassung meines Sternes in Ihrem Buche erwachsene Schaden war zu groß, als daß ich mir ein Vergehen gegen Reisende von Neuem sollte zu schulden kommen lassen, ich bitte also mein Haus wieder anzuführen wie sonst, und füge beifolgende Zeugnisse bei.“ Erst nachdem der gewissenhafte Bädeker sich durch Aussage zuverlässiger Freunde überzeugt hatte, daß jener Wirth in der That gründlich sich gebessert, erfüllte er den Wunsch desselben, doch nicht ohne ihn noch einmal brieflich mit allem Ernst zu ermahnen.

Sein gutes Herz bethätigte er unter Andern in einer Weise, die der Mittheilung werth ist. Wir wissen, daß er Lieutenant bei der Landwehr war. Er kam seinen Pflichten als solcher stets mit der gewissenhaftesten Pflichttreue nach, es entging ihm dabei aber auch während der alljährlichen vierzehntägigen Uebungen nicht, ein wie trauriges Gesicht mancher der einberufenen Landwehrmänner machte,und wie manche Thräne heimlich der und jener Familienvater vergoß, der seine Familie in Noth hatte verlassen müssen. Als später gar häufig Mobilmachungen eintraten, veranlaßte ihn sein Mitleid zu einer Stiftung für arme Frauen seines Landwehrbezirks. Er setzte ein Capital von 1000 Thlr. aus, von dessen Zinsen solche arme Frauen unterstützt werden sollten, und meldete dies dem Kriegsministerium in Berlin. Kaum aber war das Schreiben abgegangen, als ihm einfiel, man könne „oben“ aus der Stiftung wohl gar Veranlassung nehmen, ihn mit einem Orden oder dergleichen für seine That belohnen zu wollen. Er sandte deshalb sofort ein zweites Schreiben des Inhalts nach, daß er nicht nur jede etwaige Belohnung ablehnen, sondern sogar seine Stiftung zurückziehen würde, wenn man ihn etwa zu einem Orden und dergleichen vorschlage.

Die Mobilmachung im Jahre 1859, die seine Söhne zum Dienst berief, machte es ihm zum ersten Male unmöglich, seine gewohnte Inspektionsreise zu unternehmen; er hoffte zwar sie noch im Herbst nachholen zu können, aber auch diese Hoffnung täuschte ihn, denn statt seiner gewöhnlichen Wanderung mußte er „die große Reise in das unbekannte Land“ antreten. Er erkrankte, aber muthig und unerschrocken, wie er stets im Leben gewesen, sah er dem Tode entgegen. Mit seiner gewohnten Klarheit und Umsicht benutzte er die schmerzlosen Zwischenzeiten seiner Krankheit (Brustkrämpfe), um sein Haus zu bestellen und namentlich auch Anordnungen zu treffen, damit seine Reisehandbücher auch nach seinem Tode in ihrer Zuverlässigkeit sich erhielten. „Die ganze Stadt Coblenz erschrak, als sie von seinem Tode hörte,“ sagte der Pfarrer in seiner Gedächtnißrede. Ein anderes Beispiel von der Theilnahme, die er in allen Kreisen fand, ist folgendes: Als es mit seiner Krankheit schlimmer und schlimmer geworden war, erschien ein Officier von sehr hohem Rang, unter welchem er vor mehr als 40 Jahren als freiwilliger Jäger gedient hatte, jeden Morgen zur bestimmten Stunde in dem Buchladen und frug mit soldatischer Kürze: „wie geht’s?“ Als er am letzten Morgen (4. October 1859) ebenfalls kam, um sich zu erkundigen, und man ihm auf seine gewöhnliche Frage antwortete: „heut früh ist er gestorben,“ rief der Mann erschrocken aus: „gestorben?“ eilte durch das Haus die Treppe hinauf in das Sterbezimmer, legte hier die Hand auf die kalte Stirn des Entschlafenen und sprach mit tiefem Athemzuge: „alter Schütze, braver Mann, leb wohl!“

Ja, ein braver Mann war Karl Bädeker, ein Mann, dem stets sein einfaches Wort soviel galt als ein Eidschwur, ein Mann mit felsenfesten Grundsätzen, aber mit weichem Herzen und freigebiger Hand; ein echter Bürger, dem das Wohl Aller jeder Zeit höher stand als das eigene Behagen, und der viel von seiner ihm karg zugemessenen Zeit den öffentlichen Angelegenheiten seiner Heimathsstadt widmete; ein deutscher Patriot, dem das Wohl und die Ehre des Vaterlandes über Alles ging und der ihm jedes Opfer zu bringen bereit war. „Nur von Frömmigkeit und vom Bekenntniß hat er nie viel, schier zu wenig gesprochen,“ hieß es in der schon erwähnten Gedächtnißrede des Geistlichen, und in Bezug auf diese Aeußerung findet sich in der „Hundsrücker Chronik“ die Erläuterung: „Bädeker war allerdings von jenen Naturen eine, welche, in tiefem Abscheu vor der Afterfrömmigkeit oder auch, vor dem Geräusch und Gebehrdenspiel des Glaubens, ihren Glauben als das wesentlichste Eigenthum und höchste Gut mit großer Scheu im Herzen hüten, ja mit jungfräulichem Schleier vor fremden Augen verschließen. Nur mit den Vertrautesten redete er davon in geweihten Stunden.“

Die Trauer um den Tod des verdienten Mannes hallte wieder durch ganz Deutschland, und im Stillen freuete sich darüber höchstens ein Gastwirth, vor dessen Hause Bädeker die Reisenden gewarnt. Als charakteristisch aber ist noch beizufügen, daß dem langen Zuge der Leidtragenden, der sich am 7. October 1859 durch Coblenz bewegte, als Repräsentant der großen Zunft der dankbaren Reisenden, um welche der Verstorbene sich so hochverdient gemacht hatte, ein fremder Tourist im Reiseanzug sich anschloß und in der Hand das rothe Buch trug, wie bei andern Begräbnissen Einer wohl die Orden des Verstorbenen trägt.
D. 




Der elektromagnetische Telegraph.

Nr. 1.

Die Leser der Gartenlaube wurden im 4. Monatshefte vorigen Jahrganges (s. Blätter und Blüthen S. 255) mit den großen Riesenprojecten einer den ganzen Erdkreis umfassenden telegraphischen Verbindung bekannt gemacht, und die Meisten dürften dabei den Wunsch geäußert haben, auch mit den Maschinen und Vorrichtungen vertraut zu werden, durch welche der menschliche Geist die geheimsten Naturkräfte, deren inneres Wesen ihm noch verschlossen ist, zwingt, die ihnen vorgezeichneten Wege zu durchlaufen und ihre Wirkungsweise zu offenbaren. Nicht minder wichtig ist es für jeden Denkenden zu erfahren, wie endlich die große Aufgabe gelöst wurde, den schnellsten Boten, den die Erde, den das ganze Weltall hat, zur Gedankenmittheilung nach weit entfernten Orten zu benützen. Die Welt hat keinen schnelleren Boten mehr als die Fortpflanzungsgeschwindigkeit des elektrischen Stromes, denn sie ist noch viel größer als die des Lichtes, welche 40,000 geographische Meilen per Secunde beträgt, während sich der elektrische Strom mit einer Geschwindigkeit von 63,000, nach neueren Messungen von 67,000 geogr. Meilen in der Secunde fortbewegt, also augenblicklich ist.

Wenn wir es nun versuchen, den Leser mit diesen Maschinen und Vorrichtungen bekannt zu machen, so ist damit nicht der Mann der Wissenschaften, nicht der Fach- und Sachkenner gemeint, sondern jener große Kreis intelligenter Menschen, der von Wißbegierde durchdrungen nach vielseitiger Entwickelung des eigenen Geistes strebt, und dem es nicht genügt, nur manchmal die Wunder der Wissenschaft anzustaunen und neugierig zu betrachten, ohne sich die geringe Mühe nehmen zu wollen, näher in dieselben einzudringen. Jener Kreis der Leser ist damit gemeint, welcher nicht in der Lage ist, sich die hierüber vollständig Aufschluß gebenden werthvollen und theueren Bücher anschaffen zu können, und dem es, selbst wenn er im Besitze derselben ist, an Zeit und Muße gebricht, sie gründlich durchzunehmen und zu studiren. Wenn es uns gelingen sollte, diese Leser mit den Gesetzen, den Einrichtungen und Maschinen des elektromagnetischen Telegraphen soweit vertraut zu machen, um sich und Anderen wieder Aufschluß ertheilen zu können, dann ist unser Zweck und unsere Absicht vollkommen erreicht.

Der elektromagnetische Telegraph ist in all seinen Theilen, und deren sind es besonders drei, nämlich:

1) die den elektrischen Strom erzeugenden Apparate, Batterien genannt;
2) die eigentlichen Vorrichtungen und Maschinen, durch welche derselbe gezwungen wird, die ihm vorgezeichneten Wege zu durchlaufen und auf diese oder jene Art seine Wirkung zu äußern, und
3) die Drahtleitung;

höchst interessant, und fortwährend bietet ein jeder derselben neu zu lösende Aufgaben und neue Erscheinungen dar, wodurch immer wieder neue Erfindungen, sowie Verbesserungen und Vervollkommnungen [56] der vorhandenen Vorrichtungen und Apparate stattfinden. Wir werden den Leser durch diese Blätter mit denselben in ununterbrochener Reihenfolge bekannt machen und beginnen dieselbe hiermit, indem wir ihn mit dem ersten Theile, nämlich den elektrischen Batterien, vertraut machen.

Vor Allem ist in der elektromagnetischen Telegraphie ein galvanischer Strom nothwendig. Was ist nun aber ein galvanischer oder elektrischer Strom; wie wird derselbe erzeugt; und von welchen Erscheinungen wird er begleitet? Was ist überhaupt Elektricität? Noch ist es bis jetzt keinem Menschen gelungen, das eigentliche innere Wesen und Agens der Elektricität zu erklären, und nur eine Hypothese, eine Annahme ist es, durch welche man dieselbe zu erläutern sucht. Nur eine Hypothese ist es, wenn man sagt, daß die Elektricität eine sehr feine, unsichtbare, gewichtlose Materie oder Stoff sei, gleichsam eine fein zertheilte Flüssigkeit, die in jedem Körper, im menschlichen und thierischen wie in der Pflanze und dem Mineral, in allen organischen und unorganischen Stoffen der Erde im gebundenen Zustand vorhanden ist und sich nur dann erst zeigt, wenn dieser Zustand durch irgend eine Einwirkung aufgehoben und sie in ihre zwei Bestandtheile, nämlich in eine positive und negative Elektricität zerlegt wird. So wenig diese Annahme begründet und nachgewiesen ist, so erleichtert sie doch das schnellere Auffassen und Verstehen der Wirkungen und Erscheinungen dieses geheimnißvollen Wesens; immerhin aber bitten wir den Leser, nicht mit unbedingtem Glauben an dieser Annahme fest zu halten.

Auf welche Art und Weise wird nun die Elektricität erzeugt? Dies ist die zweite wichtigere Frage, welche schon in vielseitiger Richtung ihre Lösung gefunden hat. Doch sind auch hier dem rastlos strebenden menschlichen Geiste noch nicht alle ihre Quellen erschlossen. Elektricität wird in einem Körper erzeugt, wenn der neutrale Zustand der beiden in ihm vorhandenen elektrischen Fluida, nämlich des positiven und negativen, aufgehoben wird, was auf folgende Weise geschehen kann:

1) Durch Reibung zweier Körper z. B., wenn man eine Glasstange mit Seidenzeug, eine Schwefel- oder Siegellackstange mit Wollenzeug oder Pelz reibt, wobei sich die positive Elektricität auf dem einen, die negative auf dem andern Körper ansammelt. Diese Elektricität wird alsdann Reibungs- oder Frictionselektricität genannt.
2) Durch Berührung zweier Körper, insbesondere von Metallen, wobei sich ebenfalls die positive Elektricität auf dem einen, die negative auf dem anderen anhäuft und von jedem derselben durch entsprechende Leitungen und Vorrichtungen entfernt, sowie in ihren Wirkungen und Erscheinungen beobachtet werden kann. Diese Elektricität wird Berührungs- oder Contactelektricität genannt, und sie ist es, welche besonders in der elektromagnetischen Telegraphie benützt wird.
3) Durch Licht und Wärme, welche Thermoelektricität genannnt wird.
4) Wird auch Elektricität bei allen chemischen Processen wie Fäulniß, Zersetzung, Gährung u. dergl. erzeugt, sowie
5) durch den Magnetismus, welche den Namen Magnetoelektricität hat.

Von allen diesen Quellen wollen wir jedoch nur die unter Nr. 2 aufgeführte einer näheren Betrachtung unterziehen, da, wie bereits daselbst erwähnt, die aus ihr hervorströmende Elektricität es hauptsächlich ist, welche in der elektromagnetischen Telegraphie benutzt wird und welche gleichsam das Fundament, den Grund bildet, worauf dieselbe basirt ist.


Die elektrischen Batterien oder Ketten.
Dieses sind im allgemeinen jene Apparate und Vorrichtungen, welche zur Erzeugung eines elektrischen Stromes dienen und sich, wie auch ihre Form und Zusammenstellung beschaffen sein möge, auf den einfachen Satz gründen: „Daß, wenn zwei verschiedenartige Körper, besonders Metalle, sich berühren, beide schon durch die bloße Berührung elektrisch werden. Nimmt man z. B. eine Zink- und eine Kupferplatte, legt dieselbe, wie in Fig. 1. angedeutet, auf einander, so entsteht eine Trennung der in beiden Metallplatten vorhandenen, aber in neutralem Zustande befindlichen elektrischen Fluida und zwar in der Art und Weise, daß sich die positive Elektricität auf der Zinkplatte, die negative auf der Kupferplatte ansammelt und hier in einem Zustande der Spannung und des beständigen Strebens nach Wiedervereinigung verharrt. Dieselbe aber erfolgt nur erst dann, wenn zwischen Beide ein feuchter Körper oder eine Flüssigkeit gebracht wird, was dadurch geschehen kann, daß man, wie in
Fig. 2., wo a. c. d. b die Zinkplatte und e. f. g die Kupferplatte ist, zwischen Beide eine feuchtgemachte Tuch- oder Papierscheibe i. k. l bringt oder, wie in Fig. 3., beide Platten in ein Glasgefäß stellt, welche mit einer Flüssigkeit, am besten mit einer Säure oder mit Kochsalzlösung, angefüllt ist. In diesem Falle strömt sofort die positive Elektricität von der Zinkplatte durch den feuchten Körper zur Kupferplatte, und die auf letzterer angesammelte negative Elektricität zur Zinkplatte. Es findet alsdann eine Ausgleichung, Neutralisirung der beiden Elektricitäten statt. Da nun hierdurch die unmittelbare Berührung der beiden Platten aufgehoben ist, so erfolgt auch keine weitere Trennung der in denselben vorhandenen elektrischen Fluida.
Werden jedoch beide Platten durch einen Metalldraht verbunden, d. h. stellt man wieder eine Berührung, wenn auch nur eine mittelbare, her, was wie in nebenstehenden Figuren 4 und 5 geschehen kann, indem man an dieselben einen Metallbügel oder auch nur einen einfachen Draht löthet, so tritt aufs Neue wieder eine Trennung der beiden Elektricitäten ein, zugleich aber auch eine Wiedervereinigung durch den feuchten Körper. Die positive Elektricität gebt von der Kupferplatte I. durch den Verbindungsdraht a b c zur Zinkplatte und von letzterer durch den feuchten Körper wieder zur Kupferplatte, um aufs Neue denselben Weg zu machen und zwar mit einer Geschwindigkeit von 63,00 geographischen Meilen per Secunde. Diese Strömung, Ausgleichung, Trennung und abermalige Wiedervereinigung, währt so lange, als diese Verbindung besteht, und nur dann, wenn man den Verbindungsdraht, z. B. bei c, von der Zinkplatte entfernt, findet eine Ausgleichung, wie oben angeführt, der beiden elektrischen Fluida durch den feuchten Körper statt. Eine solche Verbindung zweier Metalle und eines feuchten Körpers, wie in Fig. 2, 3, 4 und 5 dargestellt, nennt man eine galvanische Kette oder ein einfaches elektrisches Element, und zwar ist in Fig. 2 und 3 ein offenes, und in Fig. 4 und 5 ein geschlossenes Element dargestellt. Die durch die Berührung und Verbindung der beiden Platten entstehende Strömung der Elektricität, dieses beständige Trennen, Ausgleichen und Circuliren derselben, wird der galvanische oder elektrische Strom genannt. Den ersten Namen hat er von Galvani, Professor in Bologna, welcher der Erste war, der im Jahre 1789 diese Elektricitätsquelle und zwar durch Zufall entdeckte. Da wir es uns zur Pflicht gemacht haben, Alles, was nicht wesentlich hierher gehört und zum besseren Verständniß nothwendig ist, zu umgehen und hinwegzulassen, so möge sich der Leser mit dieser Erklärung des galvanischen Stromes begnügen. Wir können ihm auch mit dem besten Willen keine andere geben, da ja auch uns das eigentliche Wesen der Elektricität unbekannt und verschlossen ist.

Dieser galvanische Strom ist es, der in der elektromagnetischen Telegraphie die Hauptrolle spielt, er ist die bewegende Kraft, die Seele derselben. Wir können schon hier dem Leser das Princip [57] des elektromagnetischen Telegraphen vorführen, wenngleich wir ihn noch nicht mit den Erscheinungen und den Eigenschaften des Stromes bekannt machten.

Denke man sich ein offenes elektrisches Element, wie in Fig. 3. dargestellt, so wird also dasselbe geschlossen, wenn man

die Kupferplatte I. durch einen Draht mit der Zinkplatte II. verbindet. Nun ist es aber ganz gleich, ob dieser Verbindungsdraht nur die Länge von einem Fuß oder vielen tausend Fuß hat; die von der Kupferplatte I. ausgehende positive Elektricität eilt mit derselben Geschwindigkeit und ebenso leicht durch den langen, wie durch den kurzen Draht, um zur Zinkplatte II. zu gelangen. Dieser Verbindungsdraht kann sogar Hunderte von Stunden lang sein, wie wir es ja an unseren Telegraphenleitungen täglich sehen können, welche weiter nichts als ein solcher Verbindungsdraht, auch Schließungsbogen genannt, sind. Denke man sich an einem Orte A ein solches Element aufgestellt und eine Drahtleitung von der Kupferplatte I. nach dem Orte B und von dort wieder zurück nach A zur Zinkplatte II. geführt; ferner in A eine Vorrichtung, durch welche diese Drahtleitung beliebig unterbrochen und wieder hergestellt werden kann, z. B. durch einen Hebel ab welcher bei a mit dem von der Platte I. kommenden Draht in Verbindung steht, während in ein Metallblättchen c der nach B führende Draht mündet. Wird nun dieser Hebel bei b niedergedrückt, so legt er sich auf dieses Knöpfchen c, und die Verbindung ist also hergestellt, während, wenn der Druck bei b aufhört, der Hebel sich wieder von dem Knöpfchen entfernt, die Leitung unterbrochen ist. Im ersten Falle entsteht sofort ein galvanischer Strom, und zwar geht derselbe von der Platte I. aus, durch den Draht ga in den Hebel ab, bei b in das Metallknöpfchen c und durch die Leitung nach B, von welchem Orte er durch den anderen Draht ef zur Zinkplatte II. nach A zurückkehrt. Von derselben eilt er durch die Flüssigkeit zur Kupferplatte, um sich mit der dort angehäuften negativen Elektricität zu vereinigen; da jedoch die Verbindung der beiden Platten noch besteht, so folgt dieser Vereinigung und Ausgleichung auch wieder eine sofortige Trennung, und die positive Elektricität strömt auf’s Neue in der vorbeschriebenen Weise durch diese Drahtleitung. Dieses Hin- und Herströmen, welches also mit einer Geschwindigkeit von 63,000 geographischen Meilen per Secunde geschieht, währt so lange ununterbrochen fort, als der Hebel ab niedergedrückt wird, und hört nur dann auf, wenn durch das Aufhören des Druckes auf den Hebel die Leitung unterbrochen wird. Ist nun in dem Orte B eine Vorrichtung angebracht (siehe Fortsetzung, das Relais und die Schreibvorrichtung), bei welcher der von A kommende und dahin zurückkehrende Strom auf eine bestimmte Art und Weise sich äußern muß, so kann demnach leicht eine Correspondenz zwischen beiden Orten stattfinden.

Hat der Leser das bisher Gesagte vollkommen aufgefaßt, so wird er um so leichter das Nachfolgende verstehen und begreifen können, besonders wenn wir ihn noch mit den Eigenschaften und Erscheinungen des elektrischen Stromes vertraut machen. – Durch die Berührung zweier Metalle wird also, wie oben gezeigt, Elektricität erregt und erzeugt. Dieselbe ist jedoch außerordentlich schwach, um irgend welche Wirkungen äußern zu können, und man müßte deshalb Platten von großen Dimensionen verwenden, wenn der Strom nur einigermaßen von zweckentsprechender Stärke sein sollte, da, wie die Versuche und Beobachtungen zeigten, diese Stromquantität und Intensität im Verhältniß zur Oberfläche der Platten steht und mit der Größe derselben sich vermehrt. Um jedoch die großen Dimensionen der Platten zu umgehen, bringt man mehrere solcher Plattenpaare, vielmehr solche Elemente in Verbindung, wie nebenstehende

Fig. 7. zeigt, und stellt eine Batterie (so werden nämlich diese Verbindungen genannt) her, indem man immer die Kupferplatte des vorhergehenden Elementes mit der Zinkplatte des folgenden verbindet. Der an die Zinkplatte des ersten und an die Kupferplatte des letzten Elementes befestigte Draht bildet alsdann den Anfangs- und Endpunkt der Batterie, die durch die Vereinigung derselben geschlossen wird. Beide Enddrähte werden auch die Pole der Batterie genannt, und zwar heißt der an der Zinkplatte der positive, und jener an der Kupferplatte der negative Pol, da, wie oben angeführt und sich auch durch die Versuche und Beobachtungen gezeigt hat, sich an der Zinkplatte immer die positive und an der Kupferplatte die negative Elektricität nach deren Trennung ansammelt.

Verfolgt man den Lauf des Stromes einer solchen Batterie, d. h., den Weg, den die positive Elektricität der einzelnen Elemente macht, so geht dieselbe von der Kupferplatte des Elementes I. zur Zinkplatte des folgenden II. und durch die Flüssigkeit dieses Elementes zur Kupferplatte, wo sie sich durch die positive Elektricität dieses Elementes verstärkt und nun durch den Verbindungsdraht zur Zinkplatte des Elementes III. gelangt. Nachdem sie auch hier die Flüssigkeit durchlaufen und die positive Elektricität dieses Elementes aufgenommen hat, setzt sie ihren Weg durch alle folgenden Elemente auf ähnliche Weise fort, wie viel auch deren sein mögen. Bei der Kupferplatte des letzten Elementes angekommen, durcheilt sie alsdann den Verbindungsdraht, der wieder zur Zinkplatte des ersten Elementes führt und von beliebiger Länge sein kann.

Unser zweiter Artikel wird uns nun über die verschiedenen Arten Batterien belehren.




Der Sinai, das Katharinenkloster und seine Bibelhandschrift.

Von Const. Tischendorf.


Unter einer Wüstenreise werden sich wenig Leser etwas Angenehmes denken können, noch weniger werden sie für ihre Person darnach Verlangen tragen. Und wollte der Verfasser dieser Zeilen versichern, daß ihm unter allen seinen Reiseerinnerungen, die einen Zeitraum von sieben Jahren und damit viele der herrlichsten Länder Europa’s und des Morgenlandes umfassen, keine lieber und theuerer sei, als die an seine drei Wüstenreisen nach dem Sinai, so würde er schwerlich bei Vielen Glauben finden. Von denen aber, die gleiche Wanderungen hinter sich haben, wird’s mehr als einer bestätigen, daß die Wüste einen eigenthümlichen fesselnden Zauber besitze, ohne daß man deshalb zu den braunen Kindern der Wüste, zu den Beduinen gehören müsse, denen das Herz nur dann frei und freudig schlägt, wenn sie mit ihren Kamelen den Sand der Heimath unter den Füßen fühlen.

Freilich sind die Wüstenreisen unter einander verschieden genug, und kaum wird eine andere des Reizenden so viel in sich vereinigen wie eine Reise nach dem Sinai. Daß sie jetzt nicht mehr wie ehedem auf dem langsamen Schiffe der Wüste, sondern auf dem beflügelten Dampfwagen angetreten wird, thut ihr keinen wahren Abbruch, denn die Strecke zwischen Cairo, der alten wunderreichen Kalifenstadt, und dem Hafenstädtchen Suez, dicht am Ufer des rothen Meeres, genießt sich in der That besser auf einer [58] sechsstündigen Fahrt im Coupé als bei viertägigem Ritte zu Kamel. Aber von Suez aus, hat man nur erst den schmalen Meeresarm in der Barke oder auch bei eingetretener Ebbe und nicht allzu ängstlichem Gemüthe zu Kamel überschritten, tritt die Wüste in ihre vollen Rechte ein, und mit ihr zugleich der Beduine und seine Kamele. Stehen einige dieser letzteren mit jeglicher Reisekost auf einige Wochen, wobei ein paar Fässer Trinkwasser nicht zu vergessen, sammt allem Küchen- und Tafelgeschirr, auch einem stattlichen Zelte ausgerüstet da, und überwacht dies alles ein zuverlässiger Reisemarschall, Dolmetsch und Koch, so läßt sich’s schon wagen, in die mit offenen, wenn auch leeren Armen harrende Wüste hineinzureiten.

Zur Rechten den tiefblauen Spiegel des rothen Meeres, begrenzt im Hintergrunde durch dunkelfarbige Bergeshöhen, zur Linken in stundenweiter Ferne ein weithin den Horizont beherrschendes weißröthliches Kalkgebirge, vor uns und hinter uns den lockeren bleichen Sand der Wüste, dessen weite Flächen nur hie und da von niedrigen Hügeln und Sträuchern unterbrochen werden, so haben wir, geschaukelt in eigener Person auf hohem Kamele, die auf sieben Tage sich ausdehnende Sinaitische Wüstenwanderung zu beginnen. Je weiter wir vorrücken, um so reicher und schöner wird unsere Landschaft. Sie wird dies nicht nur durch mannigfaltige Gruppen von Bergen, die mit ihren grotesken Felsgebilden einige Tagereisen später bis auf unseren eigenen Weg hereinragen, und zuerst aus weißlichen Lehm- und Kalkarten, dann aus röthlichem Sandgestein, endlich aus bräunlichen, nackten, schroff aufgethürmten Granitmassen bestehen, sondern auch durch die lieblichen Oasen, die mit ihren Tamariskenwäldchen, mit ihren Palmenhainen, belebt sogar durch einzelne Sänger, mitten in dieser Oede und Wildniß zauberhaft hervortreten, und von keinem Wanderer, von keiner Karawane ungenossen bleiben. Ich gedenke beispielsweise des Feiranthales, das von mehreren Beduinenfamilien in Lehmhütten, überdeckt mit Flechtwerk oder Palmenzweigen, bewohnt wird. Es darf die Perle der Sinaitischen Wüste genannt werden. Haben wir hier das kleine Zelt bei dem rauschenden Wasserbächlein, dem einzigen der ganzen Wüste, unter dem Schatten der Palmen aufgeschlagen, und ergehen uns, während der Koch Huhn und Reis zurecht macht, im Thale, das mit einem fast eine Stunde langen Walde von hohen, prächtigen Dattelpalmen prangt und nach drei Seiten von majestätisch empor ragenden Granitwänden wie von ewigen Mauern umgürtet ist, so wird Aug’ und Herz um eine unvergeßliche Stunde reicher.

Was diesen Genuß einer großartigen Natur noch wesentlich erhöht, das sind die großen Erinnerungen dieser Wüste, die bis in die dunklen Fernen heiliger Vorzeit zurückreichen. Ich meine vor allen anderen die Erinnerungen an Israels Wanderungen unter Moses, dem unerschrockenen Manne Gottes. Nicht leicht möchte sich einer anderen Begebenheit des grauen Alterthums noch heute so genau, fast Schritt für Schritt, nachgehen lassen, wie dem Zuge Israels nach dem Sinai, der viertehalbtausend Jahre hinter uns liegt. Da kommen wir von den sogenannten Mosisquellen, unweit vom Meeresufer, wo immerhin das aus den Fluthen und aus der Feinde Hand errettete Volk sein begeistertes Danklied angestimmt und sich mit einem Labetrank versehen haben mag, zu dem mit Murren empfangenen salzigen Bitterwasser, bald darauf aber auch zu dem lieblichen Elim, das mit seinen „zwölf Quellen und siebzig Palmenbäumen“ den Schmachtenden so fröhliche Erquickung geboten. Im weitern Verlaufe gelangen wir auch auf den Schauplatz der Kämpfe mit den Amalekitern, die längst vor Moses die süße Dattel des Feiranthales genossen haben mögen, sowie dahin, wo das Mannawunder geschah. Daß sich noch heute im Scheichthale, eine Tagereise vor dem Sinai, und zwar hier allein, ein eigenthümliches, Manna benanntes und mit seinem Honiggeschmack so sehr an die Mosaische Beschreibung erinnerndes Erzeugniß vorfindet, das ist von besonderer Merkwürdigkeit; was sich auch immer gegen die nähere Zusammenstellung beider sagen lassen mag, so bleibt doch dieses Tamariskenmanna ein theueres Erinnerungszeichen an die gerade an dieser Stätte genossene wunderbare Himmelsgabe.

Doch wir eilen von all den Erinnerungsstätten des israelitischen Wüstenwegs unserm Ziele zu, das uns gleichfalls mit Moses und Israel wieder zusammenführt. Nachdem wir der Berge und Thäler manche und zuletzt einen über zwei Stunden langen steilen Felsenpaß, auf dem das Kamel die Sicherheit seines Tritts zu erproben hat, glücklich überschritten haben, da öffnet sich vor uns eine weite ebene Sandfläche, an deren Enden jene majestätischen Granitberge hinein in’s Blau des Himmels ragen, auf denen noch heute, alten Ueberlieferungen getreu, Jude, Christ und Muhammedaner das Gedächtniß der Mosaischen Gesetzgebung feiern. Es ist schon hiermit angedeutet, daß der Sinai kein vereinzelter, frei aus der Ebene aufsteigender Berg ist, etwa wie der Thabor in der Ebene Esdrelon nahe bei Nazareth; er gehört vielmehr zu einer Gruppe granitner Berge, die einstmals gemeinsam den Namen Sinai getragen haben mögen. Zwischen einzelnen dieser mehrere tausend Fuß hohen Felsen ziehen sich bald engere, bald weitere, zum Theil durch einige Vegetation ausgezeichnete Thäler hin. In einem derselben, das den Namen Wadi Schueib trägt und von geringer Breite ist, liegt das Sinaikloster. Es liegt bereits zwischen 3 und 4,000 Fuß über dem Meeresspiegel, aber noch mehr als 2,500 Fuß unter den höchsten Spitzen des Sinaitischen Gebirgs, die sich gleich hinter ihm, im Westen, erheben und zwar so, daß der westliche Theil des Klosters schon auf erhöhtem Boden steht. Daß der eigentliche Mosisberg, d. h. derjenige Gipfel, auf welchem Moses bei der Scene der Gesetzesoffenbarung seinen Standpnnkt gehabt haben soll, vom Kloster aus nicht gesehen wird, und ebenso wenig von diesem Gipfel aus das Kloster: das ist ein Zeugniß gegen die Vermuthung, daß Mönchswillkür gerade diesen Gipfel verherrlicht haben möchte.

Das Ersteigen des Berges ist seit Kurzem bequemer geworden, als es früher war. Abbas Pascha, der Vorgänger des gegenwärtigen Vicekönigs von Aegypten, hatte nämlich in seiner schwärmerischen Vorliebe für die Wüste den kühnen Plan gefaßt, auf einem der Nachbarfelsen vom Mosisberge ein Sommerschloß anzulegen. Dazu ließ er einen Weg bauen, den ein Zweispänner befahren könnte. Gegen 2000 Fuß hoch dient nun dieser Weg zugleich den Wallfahrten zum Mosisgipfel. Uebrigens blieb der Schloßbau unvollendet; eine Vision schreckte den Vicekönig, als er einst von dem heiligen Berge herabfuhr, davon ab; den Bau aber, den er darauf unten, neben dem Kloster beginnen ließ, vereitelte der an ihm verübte Meuchelmord. Mehrere aus den vergangenen Jahrhunderten ehrwürdig gewordene Haltepunkte des früheren durch eine enge Schlucht steil aufwärts führenden Wegs sind durch diese Aenderung dem Gesichtskreise entrückt worden. Haben wir aber jene Höhe von fast 2000 Fuß über dem Kloster erreicht, so gelangen wir, gleichwie auch von dem früheren Wege aus, auf eine Bergebene, die durch grüne Strecken mit reichlichem Quellwasser und einer schlanken Cypresse, dem einzigen Baume des Sinai’s, eine überaus freundliche Oase in dieser hohen Felsenregion bildet. Von hier aus laufen, wie von einer gemeinschaftlichen Wurzel, gegen 1000 Fuß hoch die beiden Gipfel des Sinaitischen Gebirgs auf, von denen der nördliche als Horeb, der südliche als Dschebel Musa oder Mosisberg benannt zu werden pflegt; beide thürmen sich als nackte Granitmassen auf, röthlich und schwärzlich gesprenkelt auf hellgrauem Grunde.

Indem wir nach Süden weiter steigen, treffen wir nach etwa 15 Minuten von der Cypresse aus auf zwei niedrige Felskapellen, geweiht dem Andenken der Propheten Elias und Elisa, die vor 3000 Jahren hier eine Zufluchtsstätte gefunden. Eine halbe Stunde später haben wir die Höhe erreicht. Was hier den ringsum schweifenden Blick umgiebt, das wird kaum Seinesgleichen auf Erden haben. Es ist die erhabenste Felsenwildniß; viele Meilen weit und fast nach allen Seiten starren uns vielzerklüftete, wildgezackte Granitberge entgegen, ohne alle Vegetation, ohne jegliche Lebensspur. Es ist ein Bild voll Schroffheit und zugleich voll Hoheit; ein Bild voll erschütternden Ernstes. Hier also hat der Herr unter Donner und Blitz sein Gesetz verkündigt; es ist als ob das unerbittliche: „Du sollst“ und „Du sollst nicht“ noch immer in diese Felsen mit eisernem Griffel eingegraben wäre.

Man hat auf dem Sinaigipfel zwei Kapellen errichtet, eine christliche und eine muhammedanische, von denen wenigstens noch Ruinen stehen. Aber die Andacht bedarf hier dieser Hülfe kaum; der Berg selbst erscheint wie ein Altar, zu einem unvergänglichen Merkzeichen vom Finger des Ewigen aufgerichtet. – Nach Westen sah ich bei heiterem Himmel über alle die Felsmassen hinweg bis in die ferne weißlich schimmernde Sandebene, die gegen Suez ausläuft, während im Osten das Blau des Meerbusens von Akaba hervorglänzte. Der noch höhere Katharinenberg begrenzt den Blick nach Süden; aber von Süd nach Südost umgiebt unseren Gipfel [59] jenes Thal Sebahjeh, das in seiner amphitheatralischen Form völlig geeignet war, um das zur großen Stunde „aus dem Lager Gott entgegengeführte“ Volk in sich aufzunehmen. Schroff fällt in dieses Thal der Sinai ab; er wird gleichsam zu einer abgeschlossenen Persönlichkeit, die in der That, wie es der Ausdruck der Schrift verlangt, sich „anrühren“ läßt.

Aber wir sind der Sitte frommer Wanderer untreu geworden, indem wir den Sinai erstiegen, ehe wir in’s gastliche Kloster am Fuß des Berges eingetreten. Als ich am letzten Jänner des Jahres 1859 zum dritten Male vor dieser dem Frieden geweihten kleinen Festung mit meinen Kamelen hielt, wurde ich nicht wie die meisten Reisenden genöthigt, am Seile mit dem Querholze zu der gegen 30 Fuß hohen Thüröffnung mich hinaufwinden zu lassen, nur meinen Effecten und meinem Dragoman blieb diese Wanderung vorbehalten, während ich selber zu Ehren des mich geleitenden kaiserlichen Auftrags vom Oekonomen sogleich bewillkommnet und durch ein für Ankömmlinge selten geöffnetes Pförtchen in’s Kloster geführt wurde.

Die Großartigkeit der Anlage dieses ein längliches Viereck bildenden Gebäudes wird schon aus unserer bildlichen Darstellung ersichtlich sein. Seine 40 bis 50 Fuß hohen Mauern bestehen größtentheils aus massiven Granitblöcken. Das Innere ist in mehrere Höfe abgetheilt, um welche ringsum die Zellen, Kapellen, die Vorrathskammern, verschiedene Werkstätten, auch eine kleine Rüstkammer, die Fremdenzimmer und alle ähnlichen Baulichkeiten laufen, theils im Erdgeschoß, theils in den beiden Stockwerken. Die letztern, größtentheils mit hölzernen auf den Hofranm gerichteten Pfeilergängen versehen, sind jedoch von ungleicher Ausführung. In den Höfen befinden sich Anpflanzungen von Wein, einzelne Bäume, selbst Blumengärtchen, besonders aber zwei vortreffliche Brunnen; außerdem besitzt sein eigenes Wasser der große durch einen langen unterirdischen Gang mit dem Kloster an der Nordseite verbundene, in Terrassen angelegte Garten. Dieser letztere grüßt schon weit in die Ferne das Auge des Ankömmlings mit seinen herrlichen, dunkelgrünen Cypressen; seine üppigen Fruchtbäume aber liefern Orangen und Citronen, Mandeln und Feigen, Granaten, Aprikosen, Aepfel, Birnen und anderes Obst; auch mancherlei Gemüse wird darin gezogen.

Fremde kann das Kloster in großer Anzahl beherbergen; die vorzüglichsten Gastzimmer, die sich durch einen an drei Wänden fortgesetzten wohlgepolsterten Divan auszeichnen, befinden sich im oberen Stocke des westlichen Flügels, gegenüber demjenigen mit der hohen Thüröffnung. Tritt man aus diesen Zimmern auf die schon genannte Gallerie hinaus, so ruht der Blick unmittelbar auf einem etwa 1000 Fuß hohen Granitberge im Osten des Klosters, dessen Scheitel die Hand der Mönche mit mehreren Kreuzen geschmückt hat. Noch lieber jedoch genießt der Fremdling die noch freiere Fernsicht von der breiten nördlichen Klostermauer aus.

Von der größten Einfachheit sind die engen Mönchszellen, womit die strenge Lebensweise in Einklang steht, welche die vom Kloster befolgte Regel des heil. Basilius vorschreibt. Während der Genuß von Fleisch auf sehr wenige Festtage beschränkt ist und der bei weitem größere Theil des Jahres eine solche Fastenkost mit sich bringt, welcher Uneingeweihte schwerlich Geschmack abgewinnen, bietet ein aus Datteln bereiteter Liqueur den Brüdern die einzige regelmäßige Erquickung, die auch Wandersleute aus dem feiner schmeckenden Occident nicht verschmähen möchten, zumal wenn dazu ein Stück des aus zusammengepreßten Datteln und Mandeln bereiteten Sinaibrods, womit sich gleichfalls der Hausfleiß des Klosters befaßt, gereicht wird.

Daß gottesdienstliche Uebungen alltäglich und allnächtlich die Bewohner des Klosters vorzugsweise in Anspruch nehmen, verräth schon außer dem fleißigen, alle Räume feierlich durchklingenden Rufe zur Andacht die große Zahl der vorhandenen Kapellen, welcher die Zahl der Brüder selbst, gegen zwanzig, seit einiger Zeit nachzustehen pflegt. Von der Schmucklosigkeit der meisten dieser Kapellen unterscheidet sich wesentlich die in einem größeren Hofraume befindliche Hauptkirche. Ihr bleiernes Dach wird von einer doppelten Reihe Granitpfeiler getragen, zwischen denen die Chorstühle angebracht sind. Den marmornen Fußboden zieren musivische Arbeiten, desgleichen die Wände zahllose in Gold und bunte Farben gekleidete Heiligenbilder. In der Nische über dem Altare, der von vielen silbernen Lampen erleuchtet wird, ist die Scene der Verklärung des Herrn mit Moses und Elias in schöner Mosaik ausgeführt; ihr zu beiden Seiten stellen zwei Brustbilder die beiden Stifter des Klosters dar, den Kaiser Justinian und seine Gemahlin Theodora. Nach der Verklärung ist ursprünglich das Kloster selbst benannt gewesen; doch ist diese Ehre, wie es scheint, schon längst, auf die heilige Katharina übergegangen oder wenigstens mit ihr getheilt worden; denn ihr Name steht sogar auf den kleinen Abendmahlsbroden, dergleichen mir selbst verabreicht wurden. Die Gebeine dieser Heiligen sind nämlich in der Klosterkirche beigesetzt worden, und zwar befinden sich ihre hochverehrten Reliquien dicht unter dem Verklärungsbilde, so daß das letztere unerwünschter Weise von den häufigen den ersteren gewidmeten Räucherungen mit betroffen wird. Fast wäre dieselbe Kirche auch zur letzten Ruhestätte einer russischen Monarchin, der Kaiserin Anna, geworden; sie befindet sich wenigstens auf einem silbernen Sarkophag-Deckel lebensgroß dargestellt, obschon ihr Leichnam dem vorausgesandten Sarkophage nicht nachfolgte. Das größte Heiligthum der Kirche bildet aber die hinter dem Altar angelegte Kapelle des brennenden Busches. Nur mit unbeschuhtem Fuße darf sie betreten werden, in Erinnerung jenes Mahnwortes, das einst an Moses erging: „Zeuch Deine Schuhe aus von Deinen Füßen; denn der Ort, darauf Du stehest, ist ein heilig Land.“ Eben diesen heiligen Ort glaubt man in der Kapelle wieder gefunden zu haben.

Der Kirche gegenüber steht in demselben Hofraume, zu nicht geringer Ueberraschung der christlichen Pilger, eine ansehnliche Moschee, deren Halbmond dicht neben dem Kreuze über die Klostermauer emporsteigt, wie er auch auf unserm Bilde sichtbar ist. Aus welcher Zeit sie stamme, steht nicht ganz fest; daß sie erst im 16. Jahrhundert errichtet worden sei, um Sultan Selim zu beschwichtigen, als sein Liebling, ein junger griechischer Priester, statt der Genesung den Tod im Kloster gefunden hatte, wird durch sichere Beweise von ihrem Vorhandensein im 14. Jahrhundert widerlegt. Jedenfalls diente ihre Erbauung dazu, muhammedanische Bedrohungen vom Kloster abzuwenden. In neuester Zeit hat Abbas Pascha seine Gebete darin verrichtet. Außerdem steht aber das Kloster nicht nur in Beziehungen zu den alljährlichen Mekka-Karawanen, sondern auch in beständigem Verkehr mit den muhammedanischen Bewohnern der Wüste, besonders mit denjenigen Beduinenstämmen, die den Titel der Beschützer des Klosters führen. Dazu kommen mehrere Hunderte von Leibeigenen, deren frühesten Besitz das Kloster auf eine Schenkung des Kaisers Justinian zurückführt. Sie stehen überall im Dienste des Klosters, wie sie z. B. die verschiedenen ihm zugehörigen Gärten in der näheren und ferneren Umgegend des Sinai’s bebauen; auch werden sie von ihm unterhalten. Christen, was sie früher gewesen, sind aber merkwürdiger Weise die wenigsten unter ihnen geblieben.

Der Erwähnung dieser Leibeigenen füge ich noch bei, daß die Besitzthümer des Klosters oder der nach ihm benannten Brüderschaft überhaupt nicht unbeträchtlich sind. Filialklöster befinden sich zu Cairo, wo der Sitz der Superioren, zu Constantinopel, in der Walachei, selbst in Tiflis, und jedes derselben wird einträgliche Liegenschaften besitzen. Da die Brüderschaft unter ihrem eigenen Erzbischofe in einer gewissen Unabhängigkeit sogar von den mächtigen griechischen Patriarchen des Orients steht, so begreift sich’s leicht, daß sie, namentlich so oft es sich um ein neues der oberbischöflichen Weihe bedürftiges Oberhaupt handelt, der Eifersucht reichliche Nahrung bietet; wobei es leider geschieht, daß in den Zwistigkeiten christlicher Kirchenhäupter die Wahrung des Rechts der verrufenen türkischen Regierung verdankt wird.

Wodurch aber in neuester Zeit das Sinaikloster in so viele europäische Blätter gekommen, davon will ich an letzter Stelle den Lesern in Kürze erzählen. Das Kloster besitzt nämlich auch eine Bibliothek, worin sich gedruckte Bücher und Handschriften in griechischer und in verschiedenen orientalischen Sprachen befinden. Da die Stiftung des Klosters auf den Kaiser Iustinian in der Mitte des 6. Jahrh., und in gewissem Sinne sogar auf Kaiser Constantins berühmte Mutter Helena zurückreicht, insofern nämlich die letztere in der ersten Hälfte des 4. Jahrh, am Sinai eine Kirche anlegte, welche später das jetzige Sinaikloster in seine Mauern mit einschloß: so liegt die Möglichkeit vor, daß sich hier biblische Urkunden, die so sehr zur Ausstattung einer Kirche und eines Klosters gehörten, aus so früher Zeit erhalten haben, zumal da diese festen Mauern niemals von Feindeshand zerstört worden sind. Freilich müßte dabei jegliche Gunst der Umstände obgewaltet haben, da ja im Laufe von mehr als tausend Jahren so vielerlei den Untergang

[60]

Der Sinai und das Katharinenkloster.

[61] einer Handschrift herbeiführen konnte, und für die gesammte classische Literatur nur äußerst wenige handschriftliche Reste von so hohem Alterthum aufgefunden worden sind.

Aber in der That war ein so seltener glücklicher Fund unserer Zeit vorbehalten. Als ich im Mai des Jahres 1844 zum ersten Male den Sinai und sein Kloster besuchte, und unter der Gunst eines erfahrungsreichen, vortrefflichen der Bibliothek vorstehenden Mannes die Bibliothekräume durchsuchte, fand ich zur größten Ueberraschung in einem Korbe mit Resten von verschiedenen alten theilweise verdorbenen Handschriften, dergleichen schon zwei Körbe voll als unbrauchbar ins Feuer geworfen worden waren, mehrere Fragmente von einer griechischen Bibelhandschrift auf Pergament, in der ich vermöge meiner Vertrautheit mit den ältesten Urkunden, denen ich schon damals 4 Jahre lang in den europäischen Bibliotheken nachgegangen war, sogleich eine der ältesten, die es giebt, erkennen mußte. Es gelang mir leicht, die Abtretung eines Theils dieser alttestamentlichen Fragmente, die ihrem Untergange so nahe gekommen waren, zu veranlassen; die anderen umfänglichen Theile empfahl ich zu besserer Aufbewahrung, indem ich ihre Erwerbung, die zunächst nicht möglich war, späteren Schritten vorbehielt. Jenen ersteren Theil gab ich nach der Rückkehr in die Heimath, geschmückt mit dem Namen des Königs Friedrich August, des hohen Beschützers meiner Forschungen, lithographirt heraus. Da indessen meine Bemühungen um die im Kloster zurückgebliebenen Fragmente keinen Erfolg hatten, so gedachte ich sie aufs Genaueste abzuschreiben und aus der Abschrift herauszugeben, zu welchem Behuf ich eine zweite Reise, 1853, in den Orient unternahm. Bei meinem zweiten Aufenthalte im Sinaikloster wurde mir aber wahrscheinlich, daß der Schatz inzwischen bereits nach Europa gekommen sei, weshalb ich nach der Rückkehr dasjenige, was ich schon 1844 davon abgeschrieben hatte, einem größeren aus ähnlichen Funden hervorgegangenen Werke einverleibte und darin auf meinen Antheil an der Erhaltung jener anderen Ueberreste, wohin sie auch immer gekommen sein mochten, hinwies.

Nichtsdestoweniger drängte mich’s zu einer dritten orientalischen Reise, die es gelang im Auftrage der kaiserl. russischen Regierung und unter der besonderen Protection des Kaisers und der Kaiserin auszuführen. Als ich nun, wie schon oben erzählt, zum dritten Male das Katharinenkloster am Sinai besuchte, machte ich am 4. Febr., nachdem ich bereits für einen der nächsten Tage die Kamele zur Abreise bestellt hatte, mit dem Oekonomen des Klosters einen Spaziergang auf die Berge, wobei wir uns von der griechischen Uebersetzung des Alten Testaments unterhielten. Vom Spaziergang in der Abenddämmerung zurückgekehrt, sagte mir der Oekonom in seiner Zelle: „Hier habe auch ich ein Exemplar jener Uebersetzung,“ und legte es, in ein rothes Tuch eingeschlagen, vor sich auf den Tisch. Ich öffnete das Tuch und erkannte den längst gesuchten Schatz, und zwar noch auf das Ansehnlichste gegen den früheren Bestand vermehrt, da zu den Fragmenten des Alten Testaments sogar das ganze Neue Testament gekommen war.

Die lieben Freunde gestatteten mir, sofort die sämmtlichen 3451/2 Folioblätter, die keinen Einband hatten und auch sonst wenig Zusammenhalt, auf mein eigenes Zimmer zu tragen. Hier erst gab ich mich dem überwältigenden Eindruck dieser Erfahrung hin; der Herr hatte eine fast unvergleichliche Urkunde von der höchsten Bedeutung für christliche Wissenschaft und Kirche in meine Hand gelegt. Das war sogleich mir klar, daß ich nicht vom fremden Lande scheiden dürfte, ohne sie im Original oder in einer druckfertigen Abschrift nach der westlichen Heimath mitzunehmen. Zur größten Genugthuung gelang beides; denn Abschrift und Original begleiteten mich, als ich 8 Monate später Aegypten verließ.

Ohne Einzelnheiten hier wiederholen zu wollen, die unlängst in besonderer Schrift veröffentlicht wurden, füge ich nur noch einige Bemerkungen über die Handschrift selbst und über ihre Herausgabe bei. Die Handschrift enthält, außer einem großen Theile des griechischen Alten Testaments, das ganze Neue Testament nebst zwei anderen Schriften. Was giebt ihr nun einen so außerordentlichen Werth? Der Text unserer heiligen Schriften ist uns dadurch erhalten worden, daß fortwährend Abschriften auf Abschriften bis zur Erfindung des Bücherdrucks gefertigt wurden. Begreiflicher Weise müssen die ältesten dieser Abschriften die von den Aposteln geschriebenen Buchstaben genauer aufbewahrt haben als die späteren. Die Sinaitische Handschrift aber ist – nach meiner sorgfältigsten Prüfung – wohl ein Zeitgenosse jenes obengenannten ersten christlichen Kaisers; sie ist nachweisbar die älteste aller vorhandenen, und zugleich die einzige vollständige unter den wenigen von ähnlichem Alter, die wir besitzen. Sie eignet sich deshalb einzig zur bestbeglaubigten Grundlage für alle wissenschaftlichen Forschungen über den heiligen Text; es wird vermittels derselben, wo sie mit unseren üblichen Texten übereinstimmt, eine bedeutsame Bestätigung und Sicherheit für dieselben gewonnen werden; in manchen Fällen wird sie aber auch zur Berichtigung der letzteren beitragen; obschon dadurch, was gleichfalls von Wichtigkeit, kein Lehrsatz evangelischer Wahrheit beeinträchtigt wird. Außer dem Neuen Testamente, um hier von den Alttestamentlichen Büchern zu schweigen, enthält die Handschrift auch das bisher nur unvollständig oder sehr fehlerhaft bekannte, mit dem Hebräerbrief verwandte Lehrschreiben des Barnabas, das schon das zweite Jahrhundert geneigt war, zu den heiligen Büchern zu rechnen, und einen großen Theil einer ähnlichen, bis jetzt nur unsicher bekannten Schrift: beide Bestandtheile bereichern demnach wesentlich die christliche Literatur.

In gerechter Schätzung des hohen Werthes der Handschrift hat nun Kaiser Alexander II. die unverweilte Herausgabe derselben angeordnet und meinen Händen anvertraut. Sie wird demzufolge als ein wissenschaftliches Prachtwerk, das in 4 Foliobänden mit der größten Genauigkeit das Original wiedergiebt und erläutert, photographisch zu Petersburg (im kaiserl. Generalstabe), typographisch zu Leipzig (bei Giesecke und Devrient) ausgeführt, und ist bestimmt, wenn anders bis dahin die Bewältigung der großen Arbeit gelingt, in Petersburg 1862 zur Verherrlichung des tausendjährigen Reichsjubiläums ans Licht zu treten, um sodann überall, wo die christliche Welt eine Wissenschaft hat, als eine kaiserliche Gabe ihre Verbreitung zu finden.




Im hohen Hause.

Eine Geschichte von Edmund Hoefer.
(Schluß.)

„Ja,“ sprach Anna nach einer Pause und rückte vor ins Licht, ihre Wangen glühten, ihre Augen waren wieder trocken und unstät, „vorwurfsfrei, sage ich! Er liebte mich und ich ihn, das ist Alles, es gab kein Unrecht zwischen uns, nicht das leiseste, und deswegen kann ich auch mein Lebenlang an diese Zeit mit Frieden für mich und Segen für ihn denken, trotz meines unbändigen Schmerzes. Es gab nichts Unrechtes zwischen uns, aber gegen einen Andern war ein Unrecht da, wenigstens hielt es der dafür. – Es hat mir Jemand – sein Name thut noch nichts zur Sache,“ fuhr sie zögernd und doch erregt fort, „ihr werdet ihn nicht errathen, denn er ist stets der Vorsichtigste geblieben – der hat mir eine große Leidenschaft gewidmet, eine unsinnige Leidenschaft, die mich zuweilen hinriß, und bevor ich Schenk kennen lernte, habe ich wirklich zuweilen geglaubt, mein Herz spräche für jenen, es sei mehr als Mitleid mit ihm und seinem Gefühl, was sich in mir regte, was mich ihn anhören ließ, was es mir unmöglich machte, ihn von mir zu weisen. Dann aber kam Robert, und da ward mir alles klar, alles Uebrige verschwand und war vorbei, ich hatte kein Herz mehr, keinen Gedanken für etwas Anderes.

„Ich mochte ihm – dem Andern, das nicht sagen, denn er dauerte mich jetzt mehr als je, da ich’s ahnen konnte, was eine unerwiderte Liebe für ein Elend sein müsse! Ich wollte ihn schonen, ich wollt’ es ihm aus meinem Wesen merken lassen, wie es mit uns stehe; das war ja so leicht, und er hätte es mir danken sollen. Allein das that er nicht, im Gegentheil war er gegen mich, wie ich es nicht schildern, nicht benennen kann. Er hat mich furchtbar gequält, er hat getobt und gewüthet, gefleht, gedroht, geweint, mir, sich selbst, Schenk den Tod geschworen, nicht wie ein liebender und trauriger oder auch zorniger, dennoch aber vernünftiger Mensch, sondern wie ein wirklich Wahnsinniger. Und als ich zuletzt,

[62] von Zorn übermannt, ihm endlich die volle Wahrheit sagte und ihm gestand, daß ich um Schenk’s willen die ganze Welt, geschweige denn ihn aufgebe, den ich jetzt so kennen gelernt, mit dem ich das Leben keine Woche ertragen haben würde, da schaut’ er mich lange starr und finster an und sagte endlich: „Anna, Sie haben mich unerhört betrogen. Aber wohlan – die Folgen auf Ihr Haupt!“ Und damit ging er stolz zur Thür hinaus.

„Mir graust noch, wenn ich daran denke. Er war fürchterlich. Man konnte das Schlimmste von ihm erwarten – er war auch sicher dazu entschlossen – und ich leugne nicht, daß ich hauptsächlich darum so bald mit Rosa nach der Residenz reiste; ich wollte ihm für’s Erste aus dem Wege gehn. Daß sein Schlag ein noch viel theureres Leben treffen würde, das hab’ ich nicht gefürchtet. Und nun geschah es doch, denn – in mir steht es unumstößlich fest, – Niemand anders ist Schenk’s Mörder. – Da habt ihr’s,“ setzte sie nach einer kurzen Pause hinzu und schmiegte sich wieder in die Ecke. „Nun entscheidet, ob das etwas ist, ob ihr damit etwas thun könnt.“

„Es war eine Zeitlang im Zimmer sehr still, bis Huber endlich sich ermannend sagte: „Das scheint mir – um Ihre frühern Worte zu gebrauchen – keine Thorheit, sondern leider eine nur zu ernste Gewißheit zu sein. Sie haben allen Grund, vorsichtig zu sein, – das gebe ich zu. Irren ist menschlich und auch hier möglich. Aber Sie werden auch nicht zweifeln, daß Ihr Geheimniß bei uns wohl bewahrt ist, wenn nicht die Umstände den Hauptmann und mich zu weitern Schritten zwingen. Vor allen Dingen also den Namen – ich habe allerdings keine Ahnung, wer dies sein mag.“

„Es ist der Doctor Helmreich,“ sprach sie leise und gesenkten Blicks.

„Also doch!“ rief ich aus und sprang unwillkürlich von meinem Sitze auf. Die Drei waren bei meiner jähen Bewegung gleichfalls aufgefahren und starrten mich bestürzt an.

„Haben Sie denn eine Ahnung davon gehabt – Sie grade?“ fragte Anna athemlos. „Aber wie war es möglich –“

„Da fragen Sie mich mehr als ich weiß,“ unterbrach ich sie ernst; „ich kann es überhaupt nicht einmal eine Ahnung nennen. Die Sache verhielt sich so und so.“ Und damit erzählte ich ihnen, was ihr gehört habt, und verschwieg ihnen auch nicht Sinefsky’s Bemerkung nach dem Appell, die, obschon ich sie damals kurz genug zurückgewiesen, dennoch keinen geringen Eindruck auf mich gemacht hatte und auch jetzt auf meine Zuhörer fast mehr als alles Uebrige wirkte.

„Genug,“ sagte Huber endlich, da ich schon eine Weile geschwiegen, und stand auf, „ich halte es nach alledem für unsere Pflicht, die Sache Sterning mitzutheilen. Er mag und wird entscheiden, ob sich darauf hin weiter verfahren läßt oder alles einstweilen noch verschwiegen bleibt. Er kennt Helmreich auch besser als ich – ich glaube, sie studirten miteinander in B. – und weiß, ob er dergleichen fähig sein könnte. Ich, wie gesagt, kenne ihn wenig; doch erinnere ich mich ein paarmal von seiner alles vergessenden und durch keine Rücksicht zurückzuhaltenden Heftigkeit – selbst Patienten gegenüber – gehört zu haben, wodurch sein Ruf als Arzt ernstlich beeinträchtigt wurde. – Lassen Sie uns zu Sterning gehn, Hauptmann. Wir kommen so bald wie möglich wieder. – Sie, Anna,“ setzte er hinzu und ergriff und drückte ihre Hand mit sichtbarer Theilnahme, „Sie dürfen jetzt nicht zurückweichen, nachdem Sie das Schwerste schon überstanden und uns davon erzählt haben. Wie die Sache erscheint, haben Sie nichts zu bereuen und nichts zu fürchten, liebes Kind. Es wird sich für Sie alles auf das Schonendste arrangiren lassen. – Adieu, Kinder! – Kommen Sie, Hauptmann.“

„Da die Uhr schon sieben vorüber, war es wahrscheinlich, daß wir Sterning nicht mehr daheim, sondern auf der Harmonie finden würden, doch wollten wir der Sicherheit wegen in seiner Wohnung nachfragen, an der wir so wie so vorüber mußten. Als wir näher kamen, sahen wir seine Fenster aber hell und erfuhren von seiner Wirthin, daß er vor kaum fünf Minuten nach Hause gekommen sei. Er saß, da wir eintraten, in nachdenklicher Stellung im Sopha, stand, als er uns erkannte, auf und sprach, uns beiden die Hand bietend: „Seien Sie mir willkommen, meine Herren! Ich habe schon daran gedacht, Sie aufzusuchen, Herr Rath; nun ist’s desto besser. Was bringen Sie mir? denn ich seh’s Ihnen an, Sie kommen nicht zufällig.“

„Wir nahmen Platz, wir zündeten eine Cigarre an, und dann berichtete Huber so kurz und übersichtlich wie möglich das, was geschehn war. Er schloß auch hier mit den Worten: „Sie kennen Helmreich, glaub’ ich, ziemlich genau, lieber Sterning, und werden daher am besten wissen, ob etwas hierbei zu thun ist und wann und wie es geschehn muß. Entscheiden Sie.“

„Der Assessor hatte ihm mit gekreuzten Armen zugehört und fortwährend still vor sich hingesehn. Jetzt erhob er das Haupt, und indem ein ernster – ich möchte wieder sagen: stiller Blick aus seinem dunklen Auge zu Huber und mir herüberstreifte, versetzte er gedämpft: „das hat schon ein Anderer gethan.“ –

„Sie kommen zu spät, meine Herren,“ fuhr er fort. „Was Sie mir erzählen, war mir nichts Neues mehr. Aber es ist jetzt alles vorbei. – Hören Sie, was ich Ihnen zu sagen habe. Es bedarf keiner Geheimhaltung mehr – am wenigsten vor Ihnen Beiden. – Als ich heut Nachmittag vom Begräbniß kam, ging ich mit Helmreich zurück und trat mit ihm in seine Wohnung, um mir ein Buch mitzunehmen, das er mir zu leihen versprochen. Er suchte darnach umher, und als auch ich mich umschaute, sah ich auf seinem Schreibtisch einen Handschuh liegen, der nicht nur in der Farbe genau zu dem stimmte, den wir in Schenk’s Schlafzimmer fanden, sondern auch noch der linke war und obendrein ein paar ähnliche Schmutzflecke zeigte, wie jener. Diese Entdeckung bestürzte mich so sehr, daß ich meine Bewegung nicht ganz verbergen konnte. Da Helmreich das merkte, schützte ich einen plötzlichen Schwindel vor und ging, um mich in der Luft zu erholen, – getäuscht habe ich ihn damit freilich nicht. – Dann habe ich mit mir fast anderthalb Stunden gerungen, was ich thun sollte, wie ich meiner Pflicht und zugleich meiner Freundschaft am besten genügen könnte, – denn, meine Herren, Helmreich stand mir wirklich nahe, und wenn wir, seit ich hieher versetzt wurde, wenig mit einander verkehrten, so war dies nicht meine Schuld.

„So war die Uhr fast sechs geworden und ich eben zu dem Entschluß gekommen, ihn wieder aufzusuchen, offen mit ihm zu reden und nach Umständen zur Verhaftung zu schreiten, da brachte man mir“ – er stand auf und nahm vom Schreibtisch ein Papier, das er Huber hinbot – „folgenden Brief. Lesen Sie, meine Herren.“ – Er ging, während der Rath das Schreiben vorlas, im Zimmer auf und ab.

„Helmreick schrieb folgendermaßen in flüchtigen aber bis zum Schluß festen Zügen:

     „Lieber Sterning!

„Ich bekenne mich vor Dir als Mörder Schenk’s, ein Geständniß, das Dich seit heut Nachmittag nicht mehr überraschen wird. Als ich nach Deinem Weggehn den Handschuh sah, den ich heut Morgen nicht wieder eingeschlossen hatte, wurde mir Deine plötzliche Bestürzung sehr erklärlich. Der rechte muß also im „hohen Hause“ gefunden worden sein; ich werde ihn mit dem Tuch aus der Tasche gezogen haben, bemerkte aber erst am nächsten Morgen, daß er mir fehle, und meinte bisher, ich habe ihn wohl in der Straße verloren, wo ich das Tuch gleichfalls benützt.

„Also einmal überführt, mein Freund! – Zweitens aber weiß ich, daß in diesem Augenblick eine Dame, das einzige menschliche Wesen, das nach geschehener That über den Thäter keinen Augenblick im Zweifel sein konnte, bei dem Rathe Huber ist und, wie die Sachen einmal sind, und wie ich sie selber kenne, mich als den Mörder angiebt. Du wirst es also auch auf diesem Wege, freilich nur als Vermuthung, wahrscheinlich noch heute erfahren.

„Mein Freund, ich habe Jemand geliebt, wie ich es selbst von mir, mit meiner unendlichen Leidenschaftlichkeit und Heftigkeit, bis dahin nicht für möglich gehalten. Ich bin aufgegangen in dieser Liebe und ich bin durch sie untergegangen. – Ich hatte Hoffnung glücklich zu werden – nein, ich war schon glücklich, als ich Schenk weichen mußte. Von den Kämpfen, die darauf erfolgten, habe ich nicht zu reden. Genug, sie machten mich zu Zeiten fast wahnsinnig, und daß ich einen tödtlichen Haß auf Schenk warf, brauche ich Dir, der Du mich von Alters her kennst, wohl nicht erst zu sagen. – Bei der letzten Unterredung mit der Dame war sie hart gegen mich – ich sage nicht: zu hart; ich war außer mir und sinnlos – und ich ging mit einer Drohung von ihr, die sie vielleicht auf sich deutete. Denn sie verreiste. Ich hatte aber nur Schenk im Sinne. Ich hatte schon wochenlang eine That gegen ihn erwogen, und ich redete mir ein, daß ich dazu noch ein ganz besonderes Motiv erhalten habe. Die Dame hatte behauptet, daß diese Liebe – genug, mein Freund, es war mir wichtig, die Briefe zu lesen, die sie an ihn geschrieben; der Wunsch, diese Briefe [63] zu besitzen, wurde zu einer Art fixen Idee bei mir. Und doch wußte ich nicht einmal, ob sie wirklich Briefe gewechselt, und ich wußte dagegen, daß ich zu ihnen nicht ohne ein Verbrechen gelangen könnte.

„Am Dienstag-Morgen sagte der Postmeister zu mir: „wenn ich wüßte, was die – sich mit Schenk zu schreiben hätte, würde ich glauben, der Brief hier sei von ihr. Es ist aber seit kurzer Zeit schon der dritte.“ – „Zeigen Sie ihn“ sagt’ ich. Er that’s. „Er ist nicht von ihr,“ sagt’ ich dann, er war’s aber, und in demselben Augenblick war Schenk’s Tod – ein ordinärer Diebstahl widerstand mir – beschlossen. Wie er herbeigeführt wurde, weißt Du. Ich bin fast im „hohen Hause“ erzogen und kenne jeden Winkel desselben und hatte auch die Lebensgewohnheiten seiner jetzigen Bewohner ziemlich genau erfahren. Die Waffe war ein dreieckiges Stilet mit einem Kreuzgriff von Metall. Als ich an sein Bett trat und ihn zum ersten Male traf, wandte er sich gerade erwachend um, und ich stieß fehl. Er erwachte vollends, mein zweiter Stoß mißglückte wieder; wir kamen zu einer Art von Ringen, bis ich, da seine Kräfte sanken, die rechte Hand frei bekam und ihm mit dem eckigen Griff den Schädel einschlug. – Dann suchte ich die Briefe und fand sie. Die paar Werthstücken und dergleichen habe ich mitgenommen, um den Verdacht von mir abzulenken, denn – ich war ruhiger geworden und schämte mich der That.

„Ich bin nicht feige, mein Freund, und ich glaube, Du legst mir es auch nicht als Feigheit aus, wenn ich mich all den Quälereien der Verhöre u. s. w. durch das Ende entziehe, das die Sache endlich doch haben würde. Die Uhr schlägt halb sechs – Du bist am Ende schon in Thätigkeit gegen mich. Ich will also eilen. – Wenn Du diese Zeilen liesest, ist Alles vorüber, und Du kannst nur noch eine gewisse Schonung gegen mein Andenken üben und die Untersuchung niederschlagen lassen. Daß Du die Dame schonst, wenn Du sie überhaupt entdeckst, brauche ich Dir nicht erst an’s Herz zu legen. Sie ist in Euerem Sinne nicht im Allerentferntesten betheiligt.

     „Lebe Wohl, alter Freund!

          R. Helmreich.“

„Der Assessor nahm, als Huber geendet, den Brief zurück und verschloß ihn. – „Ich eilte natürlich sogleich zu ihm,“ sprach er. „Es konnte seit dem Schluß des Schreibens wenig mehr als eine Viertelstunde vergangen sein, aber es war dennoch zu spät. Was er gebraucht hat, weiß ich nicht, allein er saß bereits todt in seinem Arbeitsstuhle vor dem Schreibtisch. So habe ich denn nur das Nöthigste angeordnet und war eben nach Hause gekommen, als Sie Beide eintraten.“

„Ich brauche wohl nicht erst zu sagen,“ bemerkte der alte Erzähler, „daß Huber und ich nach dieser Mittheilung sehr still waren und bald davongingen. – Ich bin fertig.“ Und er stand auf.

„Aber, Oberst,“ riefen wir, „das bricht ja gar zu plötzlich ab! Ist die Geschichte denn wirklich ganz zu Ende?“

„Na,“ versetzte er grämlich lachend, „ist denn dies plötzliche Ende etwa meine Schuld? Ich gab euch, was da war, ihr Narren. Circumflexe zu machen, die Historie nun noch schließlich breit zu treten, wie ein regulärer Bänkelsänger – das ist meine Sache nicht. Ich bin fertig, wiederhole ich.“

„Aber Anna Gering – die schöne Frau!“ rief Einer. „Was wurde aus ihr?“

„Weiß nicht, Schatz. Im großen Publicum ist meines Wissens ihr Name bei der traurigen Geschichte nicht genannt worden. Sie zog aber dennoch von E. bald darauf fort und ist mir aus den Augen gekommen. – Eins noch: Das „hohe Haus“ blieb nach diesem traurigen Fall wieder unverkauft und unbewohnt, Schenk’s Mutter bot es aus und zog gleichfalls davon und es ist leicht möglich, daß man ihm sogar heut noch nicht traut. –




Blätter und Blüthen.

Clara Erichs. Eine Holsteiner Erinnerung. Von Niew-Diep nach Stettin segelnd wurde unsere Brigg von einem heftigen Sturm überrascht, welcher uns zwang, in einer Bucht der Insel Aggeroe an der Südküste Norwegens vor Anker zu gehen.

Um elf Uhr des Nachts wurden Bemm, ein Wolliner, und ich zur Ablösung der Wache gepurt (geweckt). Auf Deck auf- und abgehend glaubte ich, in der Entfernung Jemand singen zu hören, ich machte Bemm darauf aufmerksam, wir horchten – richtig, ich hatte mich nicht getäuscht. Der Gesang kam näher, und ich konnte leicht die Melodie eines mir bekannten deutschen Liedes erkennen, ohne jedoch die Sängerin, eine solche mußte es nach der vollen und doch weichen Stimme sein, gewahr zu werden. Plötzlich sah ich eine weiße Gestalt hinter einem Felsblock hervortreten. Da ich wegen der Entfernung nur ihre Umrisse erkennen konnte, holte ich aus dem Windfang das Nachtfernrohr des Capitains und sah nun ihre Figur und Züge ganz deutlich. Es mußte eine Frau oder ein Mädchen in den zwanziger Jahren sein; ihre Erscheinung hatte aber etwas Gespenstiges, daß man sie eher für eine überirdische Erscheinung als für ein lebendes Wesen hielt. Ihr aufgelöstes, dunkles Haar contrastirte seltsam mit dem weißen, einem Leichentuch ähnlichen Gewande. Sie verstummte, knieete nieder auf den harten Felsen und schien eifrig zu beten. Gespannt die merkwürdige Erscheinung betrachtend, sah ich zwei Männer in der Tracht der Norweger Bauern auf sie zuschreiten. Kaum wurden diese von der Betenden bemerkt, als sie zu fliehen versuchte, sie sank aber, sei es aus Schreck oder Erschöpfung, zusammen. Die Männer traten rasch näher, wechselten in deutscher Sprache einige Worte, worauf der Eine das zusammengesunkene Weib aufrichtete, der Andere eine dunkle Decke oder Mantel über ihre Schultern hing, und Beide sie fortführten. Als sie hinter einem Felsblock meinen Blicken entschwanden, nahm ich mir vor, am nächsten Morgen zu forschen, wer und was es wohl gewesen. Meine Aufmerksamkeit war durch das Geschehene im höchsten Grade erregt.

Am folgenden Morgen erbat ich vom Capitain die Erlaubiß, an’s Land gehen zu dürfen. Den Weg verfolgend, welchen ich die Drei in der vergangenen Nacht gehen sah, gewahrte ich bald die Blockhäuser eines Bauernhofes. Ein zottiger, bösaussehender Hund war der Erste, welcher mir beim Betreten des Hofes eben nicht sehr freundlich entgegenkam, er machte sogar Miene, mich sein Gebiß näher kennen lernen zu lassen, als mir und meinen neuen Hosen lieb sein konnte. Noch frühzeitig genug wurde er von diesem Vorsatze abgebracht, ein Mann erschien auf dem Hof, brachte den zähnefletschenden Köter durch einen Pfiff zur Ruhe und kam mir freundlich grüßend entgegen, mich sogleich in’s Haus führend. Wie erstaunte ich, als ich anstatt der dunkelen räucherigen Stube eines Bauers ein mit Geschmack und Eleganz möblirtes Zimmer fand, wie man es wohl bei reichen Städtern gewohnt, das ich aber am allerwenigsten hier, in dem aus rohen Stämmen aufgeführten Haus erwartet hatte. Ich drückte darüber offen mein Erstaunen aus und bemerkte, daß sich der Besitzer des Hauses, da ihm die von der Natur wahrhaft stiefmütterlich behandelte Gegend so sehr wenig Erfreuliches biete, in diesem freundlichen und wohnlichen Raum um so glücklicher fühlen müsse. „So glücklich, wir sich ein Unglücklicher im Exil fühlen kann,“ antwortete er bitter lächelnd. „Im Exil?“ fragte ich erstaunt. „Ja, ja, im Exil, es ist mir schmerzlich, Vergangenes zu berühren, doch wenn Sie wünschen, erzähle ich Ihnen gern die traurige Geschichte, warum ich aus meinem Vaterlande verbannt wurde.“ Er holte aus einem Schrank eine Flasche, die, von der Etiquette auf den Inhalt zu schließen, Rheinwein enthielt, nebst zwei Gläsern und setzte sie auf den Tisch. Ich hatte hierbei Gelegenheit, ihn einige Augenblicke ungestört zu beobachten. Er war ein großer, kräftig gebauter Mann mit einem offenen, ehrlichen Gesicht, seine Tracht war die eines Norweger Bauers. Er schenkte die Gläser voll. „Lassen Sie uns,“ sprach er, „ehe ich erzähle, ein Glas auf Deutschlands Einheit trinken, die just meinem speciellen Vaterlande sehr nützen würde.“ Freudig stieß ich an auf diesen Toast und leerte mein Glas bis zur Nagelprobe. Als unsere Gläser auf’s Neue gefüllt, begann er:

„Mein Vater war Kaufmann in der holstein’schen Stadt S. Er lernte meine Mutter, eine Norwegerin, auf einer Geschäftsreise in ihrem Vaterlande kennen. Die Eltern meiner Mutter bewohnten dieses Gut und hatten außer ihr noch einen Sohn, der, als sie starben, das Gut übernahm. Meine Jugendjahre enthalten sehr wenig Bemerkenswerthes, weshalb ich sie übergehen will. Ich wurde zum Kaufmann herangebildet und übernahm, als der Tod meinen Vater abrief – meine Mutter war kurz nach meiner Geburt gestorben – dessen Geschäft. Da ich jetzt selbständig war und auch nothwendig der Hausfrau bedurfte, warb ich um die Hand meiner jetzigen Frau, welche ich noch bei Lebzeiten meines Vaters in Stettin kennen gelernt; sie beschenkte mich in dem ersten Jahre unserer Ehe mit einer Tochter, die mit zärtlicher Sorgfalt erzogen wurde. Clara, so heißt meine Tochter, wuchs heran, sie besuchte von ihrem vierzehnten Jahre an ein preußisches Pensionat, und als sie an ihrem achtzehnten Geburtstag in’s elterliche Haus zurückkehrte, waren wir über ihre vortheilhafte Veränderung erstaunt und erfreut; sie konnte als Musterbild eines schönen und gut erzogenen Mädchens auftreten. Meine Frau und ich waren stolz auf sie.

„Zwischen Clara und meinem Buchhalter entspann sich bald ein zärtliches Verhältniß. Er, ein armer, aber durchaus ehrlicher und braver Mann, hielt es nicht für recht, hinter meinem Rücken ein ernstes Verhältniß mit meiner Tochter einzugehen und erklärte sich mir, offen um Clara’s Hand werbend. Da ich ihn, durch jahrelanges Zusammensein, als ihrer Hand würdig kannte, gab ich von Herzen gern meinen Segen zu ihrer Verbindung. [64] Es war in dem unglücklichen Jahre 1849, als wir eines Abends traulich beisammen saßen. Meine Frau und ich sonnten uns an dem Glück unserer Kinder, deren Hochzeit in einigen Wochen sein sollte, und die schon jetzt die schönsten Pläne für die Zukunft schmiedeten. Plötzlich wurden wir durch ein heftiges Klopfen an die Hausthür erschreckt. Der Diener meldete, daß dänische Soldaten draußen seien, die dringend Einlaß begehrten. Wir Männer gingen in ein anstoßendes Zimmer, von wo man auf die Straße sehen konnte, mein Buchhalter ergriff ein Paar geladene Pistolen, öffnete das Fenster und frug die Untenstehenden, was sie wollten. „Macht auf, deutsche Hunde“, schrie der Officier, der die Rotte führte, „wenn Ihr den Strick um den Hals habt, werde ich Euch sagen, was wir wollen.“ Obgleich wir uns frei wußten von jedem Vergehen gegen die Dänen, erschraken wir doch, denn in der letzten Zeit waren häufig Gewaltthätigkeiten gegen ganz unschuldige, friedliebende Bürger verübt worden. Mein zukünftiger Schwiegersohn beugte sich aus dem Fenster und erklärte ihnen, sie möchten bis morgen warten, in der Nacht werde Niemand in’s Haus gelassen. Ein Schuß war die Antwort, – ein unglückseliger Schuß! Mein Buchhalter sank, ohne einen Schrei auszustoßen, mit zerschmettertem Kopf entseelt in’s Zimmer. Die durch den Schuß aufgeschreckten Frauen eilten herbei, mit einem Blick hatten sie Alles überschaut und Clara warf sich laut weinend über den Körper ihres Bräutigams. „Hermann!“ rief sie, „Hermann, Du bist nicht todt, nein! nein! nein! Das bräche Deiner armen Clara das Herz. Wach auf! ich bin es, Deine Clara – Deine Braut. – Gott! – lieber Gott – er will nicht hören – er kennt seine Braut nicht mehr!“

Der Alte schwieg und trocknete eine Thräne, die seine bleiche Wange herab rollte.

Nach einer Weile fuhr er fort: „Den Kolbenschlägen der Soldaten konnte die Hausthüre nicht lange widerstehen, die wilde Rotte drang in’s Zimmer, blieb aber beim Anblick des sich ihr darbietenden Schauspiels erschreckt stehen. Aber auch nur einen Augenblick; der Officier, der des Patentes eines Schandbuben würdiger gewesen wäre, befahl das Mädchen von der Leiche zu entfernen, und den Todten und mich zur Wache zu bringen, denn nur auf die Verhaftung der Männer erstrecke sich sein Befehl. Zwei Teufel, in den Röcken der dänischen Soldaten, leisteten diesem Befehl lachend Folge. Kaum jedoch berührten sie den Todten, als die noch immer weinende Clara wie eine wüthende Löwin aufsprang. In der Hand die Pistolen, die dem Todten entfallen, stürzte sie auf die Soldaten; zwei Schüsse knallten – der Officier und ein Soldat stürzten getroffen zu Boden. Die hierdurch gereizten Soldaten bewältigten rasch den schwachen Widerstand. Clara und ich wurden geknebelt und befanden uns bald auf dem Wege zur Wache. Durch die Schüsse erschreckt, waren die Bewohner der Stadt herbeigeeilt, das Gerücht meiner Verhaftung hatte sich schnell verbreitet, und trotz aller Mühe gelang es den Soldaten nicht, die von allen Seiten herbeiströmenden und eine drohende Haltung annehmenden Bürger abzuwehren, mehrere drängten sich sogar mit bis zur Wache. Wir wurden dort verhört. Als ich dem wachthabenden Officier meinen Namen „Erichs“ nannte, fuhr er erstaunt und erschrocken zurück. „Es ist nicht möglich,“ rief er. Man hatte einen Anderen verhaften wollen, der trunkene Officier hatte die Häuser verwechsel und hierdurch mein Unglück und seinen Tod herbeigeführt. Als die mitgekommenen Bürger dies vernahmen, brachen sie in ein Wuthgeschrei aus, der Officier ließ die Wache in’s Gewehr treten und drohte, wenn sie sich nicht ruhig entfernten, auf sie zu schießen. Sie zerstreuten sich, vorher jedoch drückte mir Mancher die Hand und versprach, mich zu retten. Der Officier ließ Clara und mich abführen, weil wir, wie er sagte, an dem Tode zweier braver Soldaten schuldig seien. Unsere Haft war nicht von langer Dauer: noch in derselben Nacht wurden wir von meinen Freunden befreit. Meine Frau, Clara und ich verließen sofort als Flüchtlinge unsere Vaterstadt, um sie nie wieder zu sehen. Unser nächster Zufluchtsort war Hamburg, wo wir zwei Monate verweilten. In dieser Zeit wurde es bei uns zur Gewißheit, daß Clara’s Geisteskraft gestört und ein stiller Wahnsinn sich ihrer bemächtigt habe. Vergebens nahmen wir Rath und Hülfe der besten Aerzte in Anspruch, alle schüttelten bedenklich den Kopf und erklärten, daß nur ein Ereigniß, welches meine Tochter auf’s Neue heftig erschüttere, die ihren Geist umfangenhaltenden Bande zu lösen im Stande wäre.

„So war denn eine so kurze Zeit hinreichend, meine Tochter wahnsinnig und zur Mörderin, aus den glücklichsten Menschen unglückliche heimathlose Flüchtlinge zu machen. Das in Hamburg damals durch die Einquartierung fremder Soldaten erhöhte unruhige Leben ward uns zur Last, wir sehnten uns nach Ruhe, allein wohin? Diese Frage suchte ich mir lange vergebens zu beantworten. Da erinnerte ich mich meines Onkels in Norwegen. Sogleich war mein Entschluß gefaßt. Wir reisten hierher und kamen gerade noch früh genug, dem Onkel die letzte Ehre erweisen zu können, – ihn zum Grabe zu geleiten. Er war unverheirathet gestorben und hatte mich, als seinen nächsten Verwandten, zum Universalerben eingesetzt. Unsere neue Wohnung suchte ich so wohnlich als möglich einzurichten, und so leben wir nun seit fünf Jahren in stiller Abgeschiedenheit und verkehren, außer dem Arzt aus Aggeroe, mit keinem Fremden. Sie sind der Erste, der dieses Zimmer betreten, der Einzige, dem ich meine Geschichte erzählt. Und wissen Sie, was mich dazu bewog? Eine merkwürdige Aehnlichkeit, die Sie mit dem so unglücklich umgekommenen Bräutigam meiner Tochter haben. Gleich im ersten Augenblick fiel mir dieselbe auf und zog mich zu Ihnen hin. Sie werden bald meine Frau kennen lernen, auch diese wird, ohne daß ich sie darauf aufmerksam mache, die auffallende Aehnlichkeit bemerken. Sie ist jetzt bei unserer armen Clara, die vergangene Nacht, ohne daß wir es wußten, nur in ein leichtes Tuch gehüllt, das Haus verlassen hat und in den Bergen umhergewandert ist; sie hat sich dabei tüchtig erkältet und liegt in Folge dessen zu Bett.“

Mit Aufmerksamkeit hatte ich der Erzählung des alten Erichs zugehört. Sein wechselvolles trübes Leben hatte den gewiß einst geraden Nacken gebeugt, seine Haare gebleicht und seinem Gesicht den Stempel des Kummers aufgedrückt.

Die Zimmerthüre ging auf; eine schlanke Frau mittler Größe trat ein. Die gramvoll gefurchten Züge ließen mich wohl nicht in Zweifel, daß sie Erichs’ Frau sei. Wie unter einer schweren Last gebeugt, kam sie auf mich zu, blieb aber einige Schritte vor mir und sah mich mit großen Augen an. „Stehen die Todten auf, oder täuscht mich mein vom vielen Weinen getrübtes Auge? Hermann?“ fragte sie mit zitternder Stimme. Ich ging auf sie zu und faßte die welke Hand der armen Frau „Wohl ein Hermann,“ sagte ich, „leider nicht der, den Sie meinen, nur ihm ähnlich. Ihr Mann hat mir erzählt, wie hart das Schicksal eine Familie mitgenommen, die ganz gewiß eines besseren Looses werth wäre. Sollte es wohl bloßer Zufall sein, daß unser Schiff hier Schutz suchen mußte, wo sonst nie ein Kauffahrer anlegt? Könnte diese Aehnlichkeit nicht einen wohlthätigen Einfluß auf Ihre Tochter ausüben?“. Ein Strahl der Hoffnung erhellte die Gesichter der armen alten Leute. „Das walte Gott!“ sagte Frau Erichs und schüttelte mir gerührt die Hand.

Wir saßen noch lange beisammen und schließlich wurde festgestellt, daß Clara, sobald es ihre Gesundheit erlaube, mich sehen solle. Da die Zeit meines Urlaubs verstrichen, verabschiedete ich mich, mußte jedoch versprechen, so oft es mein Dienst erlaube, die alten Leute zu besuchen.

Fünf Tage waren verstrichen, jeden Tag hatte ich Erichs besucht; Clara’s Gesundheitszustand war, statt sich zu bessern, mit jedem Tage bedenklicher geworden, so daß der Arzt ernstlich für ihr Leben fürchtete.

Ich hatte von 11 bis 1 Uhr des Nachts Wache am Deck und hatte mir’s vorne am Spill zwischen den Fockstangen bequem gemacht. Ruhig überdachte ich das aus Aggeroe Erlebte. Da legte sich plötzlich eine Hand auf meine Schulter. In dem Glauben, es sei einer der Matrosen, der sich einen Spaß machen wolle, blieb ich ruhig sitzen und frug nur ohne mich umzudrehen: was giebts? „Pst! Pst! still, er ist nicht todt, er schläft.“ Erschreckt wandte ich mich um. Die Wahnsinnige in einem schwarzen Kleide, um den Kopf ein weißes Tuch geschlungen, stand neben mir. Noch nachdenkend, wie sie wohl an Bord gekommen, und wie ich mich ihr gegenüber benehmen sollte, trat plötzlich der Mond hinter den Wolken, die ihn bis jetzt versteckt gehalten, hervor und beleuchtete uns Beide hell. Ich wollte mein Gesicht schnell verbergen, – zu spät, sie schaute mich starr an, ein tiefer Seufzer hob ihre Brust mit dem Ausrufe: „Gott, Hermann!“ sank sie zusammen. Einen Augenblick stand ich regungslos neben ihr und schaute in das bleiche, aber nichts desto weniger sehr schöne Gesicht. Armes Mädchen, wie wird Dein Erwachen sein! Aber ich durfte nicht säumen, schnell lud ich die nicht schwere Bürde auf meine Schultern, schritt vorsichtig über die Bohle, welche vom Schiff bis an’s Land gelegt war, und in ganz kurzer Zeit war ich bei Erichs. Hier war Alles in großer Aufregung; die Magd, welche an Clara’s Bett gewacht, war eingeschlafen, und hatte Clara’s Abwesenheit erst kurz vor meiner Ankunft bemerkt. Mit wenigen Worten erzählte ich das Vorgefallene und legte die ohnmächtige Clara auf’s Sopha, wo man sich lange vergebens bemühte, sie ins Leben zurückzurufen. Endlich öffnete sie die Augen und ließ sie suchend umherschweifen. Sie blieben auf mir ruhen, jeder Muskel ihres Gesichtes zuckte. Nie werde ich diesen Augenblick vergessen, Vorwurf, Hoffnung, Schmerz, Liebe, alles lag in dem einen Blick. Sie stand auf, wankte auf mich zu und schlang ihre Arme um mich. Mit einer Stimme, in welcher keine Spur von Wahnsinn mehr lag, sprach sie: „Jetzt, Hermann, laß uns sterben.“ Krampfhaft zog sie mich an sich. Thränen traten in Aller Augen, es herrschte ein feierliches Schweigen, nur das Schluchzen der Anwesenden unterbrach die Stille. Ich wollte die arme Dulderin sanft von mir losmachen, um sie zum Sopha zu geleiten, – vergebens, sie hielt mich fest, als fürchte sie, ich werde ihr entrissen. „Clara!“ rief ich, „fasse Dich!“ Keine Antwort. – Ich legte meine Hand auf ihre weiße Stirn – sie war eiskalt. – Ich schaute in ihre halbgeschlossenen Augen, sie waren gebrochen. – Der freudige Schreck hatte die schwachflackernde Lebensflamme verlöscht. – Ich hielt eine Leiche in den Armen. – Erlaßt es mir, den Jammer der alten Eltern zu beschreiben, als sie sahen, daß Clara’s Geist dem Körper entflohen. Drei Tage später ging ich hinter dem Sarge der Wahnsinnigen zum Friedhofe.

Tags darauf hatte sich der Sturm gelegt, eine frische Brise begünstigte unser Ausgehen. Nach Verlauf dreier Tage lag unsere Brigg auf der Oder in Grabow bei Stettin. Ich nahm meinen Abschied, ich bedurfte der Ruhe, um mich zu erholen, aber noch heute, nachdem ich lange Zeit an der Folge der Aufregung krank gelegen, steht das Bild der unglücklichen Wahnsinnigen vor mir und sieht mich an mit den thränenden Augen, die so schön und lieb unter den dunklen Wimpern lagen.

H. Seeger.