Die Gartenlaube (1862)/Heft 12
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No. 12. | 1862. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Im September hatten wir, da unten eine Reparatur vorgenommen
wurde, uns oben in dem großen Bildersaale eingerichtet.
Es war an einem Sonntag-Vormittage. Am Abend sollte in der
Stadt die Einweihung des neuerbauten Rathhauses mit festlichen
Aufführungen und darauf folgendem Ball begangen werden.
Mein Vater, der guter Laune war, da das erhoffte Königsbild seit einigen Tagen nun wirklich in seinem Zimmer hing, hatte auf die Einladung der städtischen Behörde für uns Alle zugesagt. Die Oberforstmeisterin von dem uns zunächst belegenen Gute und eine bei ihr lebende Schwester, welche den nach meiner Rückkehr abgestatteten Besuch noch nicht erwidert hatten, wurden zu Tisch erwartet. Die Damen waren gleichfalls eingeladen und wollten am Abend gemeinschaftlich mit uns zur Stadt fahren.
Ich saß mit einer Handarbeit am Fenster. Arnold, mit dem ich zuvor gesungen hatte, stand noch im Gespräche neben mir. Er hatte mich eben auf den Abend um einen Tanz gebeten, als meine Tante mit den erwarteten Gästen in den Saal trat. Die Oberforstmeisterin war eine stattliche Dame in mittleren Jahren; ihre Augen waren beständig halbgeschlossen, als sei die Welt ihres vollen Blicks nicht werth, und ich dachte immer, ihr Fuß müsse jedes kleine Geschöpf auf ihrem Wege zertreten; so wenig sah sie, was unter ihr am Boden war. Aber die Fältchen um ihre Augen verschwanden, als sie auf mich zukam; sie küßte mich, sie war entzückt von der Frische meines Teints und dem Glanz meiner Augen; in ihrer matten Sprechweise überschüttete sie mich mit Zärtlichkeiten. Meine Tante hatte ihr Arnold’s Namen genannt, und sie hatte, während sie das Gespräch mit mir fortsetzte, seine Verbeugung leicht und höflich erwidert.
„Ist der junge Mann ein Verwandter des Herrn von Arnold auf Grünholz?“ fragte sie mich nach einiger Zeit.
Ich hatte nicht den Muth es zu verneinen, als ich in das hochmüthige Gesicht dieser Frau blickte. „Ich glaube kaum,“ sagte ich leise, „er hat uns nicht davon gesprochen.“
Aber er mußte meine Lüge gehört haben, denn schon war er näher getreten, und während ich seinen ernsten Blick auf meinen niedergeschlagenen Augen zu fühlen glaubte, hörte ich ihn sagen: „Ich heiße Arnold, gnädige Frau, und bin seit einigen Monaten der Lehrer des jungen Barons.“
Die Oberforstmeisterin ließ wie musternd ihre Augen über ihn hingleiten. „So?“ sagte sie trocken. „Der Kleine macht Ihnen gewiß recht große Freude!“ Dann wandte sie sich mit einem verbindlichen Lächeln zu meiner Tante und begann mit dieser ein Gespräch.
Arnold blickte ruhig über sie hin; es war ein Ausdruck der Verwunderung in seinen dunkeln Augen.
Bald darauf ging meine Tante mit den beiden Damen nach ihrem Zimmer. Ich blieb bei meiner Arbeit am Fenster sitzen; Arnold stand neben dem offenen Clavier. Keines von uns sprach; es war wie beklommene Luft im Zimmer. „Singen Sie noch etwas,“ sagte ich endlich, „ein Volkslied, oder was Sie wollen!“
Er setzte sich, ohne zu antworten, an’s Clavier, und nach ein paar leidenschaftlichen Accordenfolgen sang er in bekannter Volksweise:
„Als ich Dich kaum gesehn,
Mußt’ es mein Herz gestehn,
Ich könnt’ Dir nimmermehr
Vorübergehn.
Fällt nun der Sternenschein
Nachts in mein Kämmerlein,
Lieg’ ich und schlafe nicht,
Und denke Dein“
Die Melodie hatte ich oft gehört; aber der Text war ein anderer. Mir kam eine Ahnung, daß diese Worte mir galten; ich fühlte, wie seine Stimme bebte, als er weiter sang. Aber die Worte klangen süß, daß ich wie träumend die Arbeit ruhen ließ.
„Ist doch die Seele mein
So ganz geworden Dein,
Zittert in Deiner Hand,
Thu’ Ihr kein Leid!“
Er sang die Strophe nicht zu Ende, er war aufgesprungen und stand vor mir. „Fräulein Anna,“ sagte er, und in seiner Stimme klang noch die ganze Aufregung des Gesanges, „weshalb verleugneten Sie mich vor jener Frau?“
„Arnold!“ rief ich, „o bitte Arnold!“ denn die Worte hatten mich gerade in’s Herz getroffen.
Als ich aufblickte, fuhr ein Strahl von Stolz und Zorn aus seinen Augen. Ich konnte es nicht hindern, daß mir die Thränen über die Wangen liefen und auf meine Arbeit herabfielen. Er sah mich einen Augenblick schweigend an; dann aber verschwand der Ausdruck der Heftigkeit aus seinem Antlitz. „Weinen Sie nicht, Anna,“ sagte er, „es mag schwer zu überwinden sein, wenn Einem die Lüge schon als Angebinde in die Wiege gelegt ist.“
„Welche Lüge? Was meinen Sie, Herr Arnold?“
Seine Augen ruhten mit einem Ausdruck des Schmerzes auf mir. „Daß man mehr sei, als andere Menschen,“ sagte er langsam. „Wer wäre so viel, daß er nicht einmal auf Augenblicke dadurch herabgezogen würde!“
[178] „O Arnold,“ rief ich, „Sie wollen Alles in mir umstützen!“
Er sah mich wieder mit jenen resoluten Augen an, als da ich zum ersten Mal ihm gegenüber stand; und jetzt plötzlich wußte ich es, was mich so vertraut aus diesem Antlitz ansprach. Ich schwieg, denn mir war, als fühlte ich das Blut in meine Wangen steigen. Dann aber, als er mich fragend anblickte, suchte ich mich zu fassen und wies mit der Hand nach jenem alten Familienbilde oberhalb der Thür. „Sehen Sie keine Aehnlichkeit?“ fragte ich, „der Eine von jenen Knaben muß Ihr Vorfahr sein?“
Er warf einen flüchtigen Blick auf das Bild. „Sie wissen ja,“ erwiderte er kopfschüttelnd, „ich gehöre nicht zu den Ihrigen.“
„Ich meine den Knaben, der den Sperling auf der Hand trägt,“ sagte ich.
Ein Ausdruck des bittersten Hohnes flog über sein Gesicht. „Den Prügeljungen? Das wäre möglich; meine Familie ist ja hier zu Haus.“ Aber gleich darauf strich er mit jener leichten Kopfbewegung das Haar zurück und sagte fast weich: „Verzeihen Sie mir, Fräulein Anna; ich bin nicht immer gut.“
Ich war aufgestanden, und ich glaube, ich habe ihn mit meinen finstersten Augen angesehen. „Sie machen mir den Vorwurf,“ erwiderte ich, „aber Sie selbst, meine ich, sind der Hochmüthige!“
„Nein, nein!“ rief er, indem er die Hand wie abwehrend von sich streckte, „das ist es nicht; ich schätze Niemanden gering.“
Unser Gespräch wurde unterbrochen. Die Damen kamen zurück, und ich hatte Mühe, meine Aufregung vor ihnen zu verbergen. – – – – – – – – – – – – – – –
Am Abend befanden wir uns Alle, außer dem Oheim, der niemals eine Gesellschaft besuchte, in dem schönen hellerleuchteten Rathhaussaale der nächsten Stadt.
Es war eine Reihe von lebenden Bildern gestellt, welche die verschiedenen Epochen der städtischen Entwickelung zur Anschauung bringen sollten. Nun wurde der Saal geräumt, um Platz zum Tanzen zu gewinnen; Jung und Alt stand umher, sich über die eben beendigten Aufführungen unterhaltend. „Charmant; in der That charmant!“ hörte ich die Stimme meines Vaters; ich sah ihn bald mit diesem, bald mit jenem in verbindlicher Weise conversiren; er lächelte, er bot den Herren seine Dose; es schien überall eine harmlose Gegenseitigkeit zu walten. Ich hatte mich Arnold zum ersten Tanz versagt; mir klopfte das Herz, denn ich hatte seit lange nicht und niemals noch mit ihm getanzt. Meine gesangeskundige Freundin hatte sich zu mir gefunden; wir hatten Arm in Arm gelegt und wandelten unter den brennenden Kronleuchtern plaudernd auf und ab. Während schon die Musikanten ihre Geigen stimmten, kam mein Vater auf uns zu. Er machte der jungen Dame über ihre Mitwirkung in den gestellten Bildern ein Compliment und sagte dann wie beiläufig: „Du wirst Dich fertig machen müssen, Anna; der Wagen ist vorgefahren.“
„Was, Sie wollen schon fort? Anna! die Uhr ist ja kaum erst zehn!“ rief das junge Mädchen.
Mein Vater neigte sich höflich zu ihr. „Wir müssen herzlich bedauern; aber ich hoffe, Sie werden uns recht bald bei uns zu Hause das Vergnügen machen!“
Mir quoll das Herz, aber ich schwieg; es konnte mich nicht überraschen, was geschah; ich hatte es in meiner Freude nur vergessen.
Nun traten auch Andere herzu, und es erfolgten Bitten und freundliches Drängen von allen Seiten; mein Vater hatte vollauf zu thun, das Alles in leicht hingeworfenen Worten abzulehnen. Die Vorwände waren zwar augenscheinlich nichtig; aber sie waren ja auch nicht darauf berechnet, Glauben zu erwecken. Man begann denn auch allmählich zu begreifen; es entstand eine Stille, und die Leute zogen sich Einer nach dem Andern zurück. Mein Vater wandte sich noch an seinen Hauslehrer. „Amüsiren Sie sich, liebster Herr Arnold, und haben Sie nur die Güte, dem Kutscher zu sagen, wann Sie geholt sein wollen.“
„Ich danke, Excellenz; ich werde gehen.“
Dann brachen wir auf. Tante Ursula, die Oberforstmeisterin und ihre Schwester nahmen mich in ihre Mitte; so schritten wir an der schweigenden Gesellschaft vorbei den Saal hinab. – Es waren Männer darunter, die den Stempel langjähriger ernster Gedankenarbeit auf der Stirn trugen, Jünglinge mit tiefen, vornehmen Augen, Mädchen mit allem Stolz und aller Grazie der Jugend; wir aber waren etwas zu Apartes, um uns mehr als andeutungsweise mit ihnen zu bemengen. Im Vorübergehen sah ich den stillen Ausdruck der Kränkung auf manchem jungen Antlitz, auf manchem alten ein ruhiges Lächeln. Ich mußte die Augen niederschlagen; ich haßte – nein, ich verachtete, mit Füßen hätte ich sie von mir stoßen mögen, die mich zwangen, mich so vor mir selber zu erniedrigen!
Am andern Vormittag, da ich noch ganz erfüllt von solchen Gedanken in den Garten gegangen war, begegnete mir Arnold in dem hinteren Quergange der Lindenallee. Es lag ein finsterer Stolz in seinen Augen, als er langsam auf mich zukam. Wie von innerer Gewalt gedrängt, streckte ich beide Hände gegen ihn aus. „Arnold,“ rief ich, „das war nicht meine Schuld!“
Er ergriff sie und sah mir eine Weile voll und tief in die Augen. „Dank, Dank für dieses Wort,“ sagte er, indem alle Düsterheit aus seinem Angesicht verschwand; „es hat nicht helfen wollen, daß ich es mir selbst schon tausend Mal gesagt habe.“
Dann gingen wir schweigend neben einander in’s Schloß zurück; mir war, als sei eine Centnerlast von meiner Brust gefallen, als ich jetzt wieder zu der Tante in den Saal trat.
Bald darauf wurde es eine trübe, einsame Zeit. Die Schwäche des kleinen Kuno nahm in einer Weise zu, daß der Arzt jeden Unterricht auf Jahre hinaus untersagte. In Folge dessen verließ uns Arnold; er wollte nach der Residenz, um sich an der dortigen Universität als Docent zu habilitiren. Der kleine Kranke wollte ihn gar nicht von sich lassen; Arnold mußte ihm versprechen, daß er wiederkomme oder daß er ihn zu sich holen wolle, sobald seine Kräfte wieder zugenommen hätten. Wenn wir vorausgewußt, daß schon nach einem Monat das kleine Bett leer stehen würde, er wäre wohl so lange noch geblieben.
An einem klaren Novembervormittag hielt unser Wagen unten auf dem Hofe, um ihn nach der nahen Stadt zu bringen. Ich war von einem Gefühl schmerzlicher Unruhe getrieben in den Garten hinabgegangen; die Buchenhecken waren schon gelichtet, die letzten gelben Blätter wehten von den Bäumen. Während ich in dem Gange hinter dem Laubschlosse auf und ab ging, sah ich Arnold in dem Hauptsteige herabkommen; er stand mitunter still und blickte um sich her; ich fühlte wohl, daß er mich suchte. Aber ich ging ihm nicht entgegen. Ein Trotz, eine Wollust des Schmerzes überfiel mich: ich sollte ihn auf immer verlieren, so wollte ich auch diese letzten armseligen Minuten von mir werfen. Ich schlich mich leise durch die Büsche in die Seitenallee und floh wie ein gejagtes Wild den Steig hinab. Unten schlüpfte ich durch eine Lücke, die in dem Zaune war, in das angrenzende Gehölz. Dann, nachdem ich seitwärts durch die Bäume gegangen war, so weit, daß ich den Hauptgang des Gartens überblicken konnte, stand ich still und schlang den Arm um einen Tannenstamm. Ich sah noch, wie Arnold aus dem Garten trat, wie hinter ihm das eiserne Gitterthor zuschlug. Ich rührte mich nicht; als ich nach einer Weile hörte, wie der Wagen über das Steinpflaster des Hofes rollte, warf ich mich auf den Boden und weinte bitterlich.
Da legte sich eine Hand sanft auf meine Schulter. Es war mein Oheim. „Komm,“ sagte er, „komm, mein Kind; wir wollen noch einige Kiefernäpfel für meinen Kreuzschnabel suchen.“ Er hob mich vom Boden auf und strich mit der Hand die trockenen Tannennadeln aus meinen Haaren; dann, nachdem er einige Kienäpfel zwischen den Stämmen aufgesammelt, führte er mich in’s Haus und über eine Hintertreppe auf sein Zimmer. „So,“ sagte er und drückte mich in seinen großen Lehnstuhl nieder und streichelte mir die Wangen, „besinne Dich, mein Kind!“ Ein paar Mal ging er die Hände auf dem Rücken im Zimmer auf nieder; dann fütterte er den Kreuzschnabel und den lahmen Staarmatz und machte sich draußen vor dem Fenster am Bauer des Käuzchens was zu thun; endlich kam er wieder zu mir zurück. „Es wird recht einsam für Dich werden,“ sagte er, „im Winter allein mit all’ den alten Menschen; aber um Ostern – ich hab’ es mir bedacht – da reisen wir beide einmal in die Residenz; ich werde den Vetter bitten, daß er Dich mit mir reisen läßt. – – Der Arnold ist dann auch dort,“ fuhr er wie beiläufig fort, „er kann uns umherführen; der Bursche muß ja dann schon überall Bescheid wissen.“
Als ich bei diesen Worten seine Augen mit dem Ausdruck der zartesten Fürsorge auf mich gerichtet sah, gedachte ich unwillkürlich der seltsamen Erklärung der Liebe, die er mir vor einiger Zeit und an derselben Stelle gegeben hatte. „Onkel,“ sagte ich leise, während ich den Druck seiner Hand an der meinen fühlte, „ist denn das auch nur die Furcht vor dem Alleinsein?“
[179] „Freilich,“ erwiderte er, „was“ denn anders, Kind? Mein lahmer Staarmatz und der alte Herr mit den Brillenaugen dort draußen vor dem Fenster, es sind zu Zeiten schon ganz unterhaltende Gesellen; aber sie gehören denn doch, wie Hegel sagt, zu dem schlechthin Fremdartigen; und mitunter, glaub’ ich, verstehen sie mich nicht ganz.“
Ich sah ihn zärtlich an und schüttelte den Kopf.
„Nun, nun,“ fügte er sanft hinzu; „vielleicht ist es auch die Furcht, daß Du allein seist.“
Hier brachen die beschriebenen Blätter ab.
Die schweren Fenstervorhänge des Wohnzimmers schienen heute fast zu dunkel; denn draußen über dem Garten lag ein feuchter Octobernachmittag. – Zwischen der Gutsherrin und ihrem jungen Verwandten war so eben ein Gespräch verstummt, das von besonderer Bedeutung gewesen sein mußte; denn während sie an ihren Schreibtisch ging und das Heft hervornahm, woran sie vor einigen Wochen geschrieben hatte, lehnte er in der Fensternische und blickte augenscheinlich mit einer schmerzlichen Verstimmung kämpfend in den trüben Tag hinaus.
„Lies das, Rudolph, lies es jetzt gleich,“ sagte sie, die Blätter vor ihm auf die Fensterbank legend; „ich dachte, es sei nur für mich selbst, als ich es niederschrieb; aber ich vertraue Dir, und es wird gut sein, wenn Du weißt, wie es einst mit mir gewesen ist.“
Er nahm schweigend das Heft und begann zu lesen. Sie sah ihm eine Weile zu; dann setzten sie sich in einen Sessel vor dem Kamin, in welchem der kühlen Jahrzeit wegen schon ein leichtes Feuer brannte. – Sie durchdachte noch einmal den Inhalt des Geschriebenen, und unwilkürlich schrieb sie in Gedanken weiter. Wie Nebelbilder erhellten sich einzelne Scenen ihrer Vergangenheit vor ihrem innern Auge und erblaßten wieder. Als Rudolph einmal unter dem Lesen einen Blick nach ihr hinüberwarf, sah er, wie sie die geballten Hände gegen ihre Augen drückte. Es waren die Tage ihrer Hochzeit, die grell beleuchtet vor ihr standen. Sie suchte mit körperlicher Gewalt der Bilder Herr zu werden, die sich frech und meisterlos zu ihr herandrängten und nicht weichen wollten. – Und es gelang ihr auch. Es wurde finster um sie her; ihr war, als ginge sie durch den Bauch der Erde. Sie hörte vor sich einen kleinen schlürfenden Schritt; in tödtlicher Sehnsucht streckte sie die Arme aus; sie wußte es, es war ihr todtes Kind, das vor ihr ging, ganz einsam durch die dichte Nacht; es konnte nicht fort, es hatte Erde auf den kleinen Füßen. Aber wo war es? Ihre zitternden Hände griffen umsonst in die leere Finsterniß. – Da blickten ein Paar Augen durch die Nacht, und es wurde wieder hell; denn diese Augen gehörten noch dem Leben an. „Arnold!“ sprach sie leise. – So hatte er sie angeschaut, als die kleinen Augen ihres Kindes sich geschlossen, tröstlich und doch ein Spiegel ihres Schmerzes; so auch, jahrelang nach jenem stummen Abschiednehmen dort im Garten, als sie in der Residenz, mit ihrem Gemahl in eine Gesellschaft tretend, ihn zum ersten Male wiedergesehen hatte. Sein Name war damals schon ein vielgenannter; er war ein Mann von „Distinction“ geworden, und auch hochgestellten Personen schmeichelte es, ihn unter ihren Gästen nennen zu können. So geschah es, daß sie sich von nun an zuweilen am dritten Orte sahen; bald aber kam er auch in ihr Haus, oft und öfter, zuletzt fast täglich wenn auch nur auf Augenblicke. Was er für seine Vorlesungen, was er sonst zur Veröffentlichung niederschrieb, es war zuvor im geistigen Austausch zwischen ihnen hin und wieder gegangen. – Mittlerweile war ihr Kind geboren und nach kaum Jahresfrist wieder gestorben. Sie hatten sich dadurch unwillkürlich um so fester an einander geschlossen; sie ahnten wohl selber kaum, daß ihr Verhältniß allmählich ein Gegenstand des öffentlichen Tadels geworden sei. Auch dem Gemahl der jungen Frau schien dies verborgen geblieben; sein Amt vergönnte ihm nur wenige Augenblicke in seinem Hause; er suchte überdies nicht dort, sondern in den tausend kleinen Dingen bei Hofe den Schwerpunkt seines Lebens. – Es kam dennoch. – Die Vorlesungen des jungen Professors über neuere Geschichte waren plötzlich Modesache geworden, und neben den Studenten saß die elegante Welt beiderlei Geschlechtes auf den Bänken des großen Auditoriums. – Eines Nachmittags war auch sie in Begleitung ihres Mannes dort. Sie saß an einem Ende der ersten Bank dem Katheder gegenüber; aber die beredten Worte ihres Freundes vermochten sie nicht zu fesseln. Während alle Andere an seinen Lippen hingen, hafteten ihre Augen an einer Stuckverzierung in der Decke, welche sich gerade über dem Katheder befand. Es war eine schwere, aus Gyps geformte Muschel; aber sie sah es deutlich, sie hatte sich gelöst, und wenn sie fiel, so mußte sie das Haupt des begeisterten Mannes treffen, der ahnungslos darunter stand. Seine Worte klangen ihr nur wie das Rauschen eines fernen Stromes; mit steigender Angst beobachtete sie den schwarzen Spalt, der schon die Muschel von der Decke trennte. Und es war kein Zweifel, er hatte sich vergrößert, und bald mußte der Augenblick kommen, wo die schwache Verbindung völlig zerriß. Keiner außer ihr sah das; mit Todesangst hingen Ihre Augen an der Decke. Da – es that einen Ruck, und mit einem Schrei war sie aufgesprungen und lag in den Armen ihres Freundes, den sie mit Gewalt vom Katheder herabgerissen hatte. – Die Vorlesung war unterbrochen; aber die Muschel war nicht gefallen, sie saß an derselben Stelle, wo sie seit einem halben Jahrhundert gesessen hatte. Die beschämte Frau schloß die Augen und öffnete sie erst wieder, als sie die trockene Stimme ihres Gemahls hörte, der sie unter den tausend schadenfrohen Blicken der Anwesenden aus dem Saale führte. – – –
Rudolph hatte indessen die Geschichte seiner Verwandten gelesen, soweit jene Blätter sie enthielten. Er blickte durch das Fenster den Buchengang hinab. Dort am Ende desselben hinter der Lindenallee lag der Tannenwald, in dem damals um einen ihm unbekannten Menschen von niedriger Herkunft ihre heißen Thränen geflossen waren. – „Und wie kam es dann später?“ fragte er nach einer Weile, während er die Blätter aus der Hand legte.
Sie blickte auf, als müsse sie erst den Sinn zu dem Wortlaute finden, der eben an ihr Ohr gedrungen war. „Dann,“ sagte sie endlich, – „dann kam ein Augenblick der Schwäche.“
„Du hast ihn wiedergesehen, Anna!“
Eine dunkle Röthe bis unter das schwarze Haar überlief ihre Stirn. „Nein,“ sagte sie, „das war es nicht. Aber ich war so jung; ich duldete es, daß mich mein Vater einem fremden Mann zur Ehe gab.“
„Noblesse oblige!“ erwiderte er leichthin. „Was hätte denn geschehen sollen?“
„Sprich nicht so, Rudolph; die Anmaßung wird nicht schöner dadurch, daß man sie als ein apartes Pflichtgebot formulirt.“
„Es hat sich so gefügt,“ sagte er mit einer gewissen Strenge, „daß Du durch diese Grundsätze gelitten hast.“
Sie nickte. „O,“ rief sie, „ich habe gelitten! Und nach Jahren, als mein Herz bitter und mein Sinn hart geworden, – es ist wahr, wir haben uns wiedergesehen, und jene armselige Ehe ist darüber fast zerbrochen. Aber – sie logen, sie logen Alle!“ Sie sprang auf und preßte zitternd ihre Hände gegeneinander. – „So!“ rief sie, „so, Rudolph, habe ich mein Herz gehalten.“
„Und doch,“ erwiderte er, „ich lebte damals viele Meilen von Deinem Wohnorte, und doch habe ich auch dort gehört, wie sie es sich gierig in die Ohren raunten, böse, böse Dinge ...“ Er verstummte plötzlich, als habe er zu viel gesagt.
Sie sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an; eine Fluth von Thränen stürzte über ihr Gesicht. „Nein, Rudolph, nein – sie logen!“ sagte sie, indem sie leise und schmerzlich das Haupt bewegte. Dann warf sie sich in den Lehnstuhl und drückte beide Hände vor die Augen.
Der junge Mann war neben ihr auf’s Knie gesunken; sein Blick ruhte angstvoll auf ihren blassen Fingern, durch welche immer neue Thränen hervorquollen. Einmal erhob er die Hand, als wolle er die ihrigen herabziehen; aber er ließ sie wieder sinken. – Als sie ruhiger geworden, ließ sie einige Secunden ihre Augen auf dem jungen Antlitz ruhen, aus dem die Anbetung wie ein Opfer zu ihr emporstieg. Bald aber lehnte sie den Kopf zurück und starrte mit zusammengezogenen Brauen gegen die Zimmerdecke. „Geh jetzt, Rudolph!“ sagte sie leise.
Der junge Mann ergriff ihre Hand, die wie leblos in ihrem Schooße lag, und küßte sie. Dann stand er auf und ging.
Es war Dämmerung geworden; ein greller Abendschein leuchtete an der Wand; aber in den Ecken und am Kamin dunkelte es schon, und allmählich wuchs die Dämmerung. Die in dem tiefen Lehnsessel ruhende Frauengestalt war kaum noch erkennbar; dann fiel ein bleiches Mondlicht auf den Estrich. Draußen erhob sich [180] der Wind. Er kam aus weiter Ferne; ihr war, als sähe sie, wie er drunten über die mondhelle Haide fegte, wie er die Wolkenschatten vor sich hertrieb; sie hörte es näher kommen, die Tannen sausten, die alten Linden der Gartenalleen; und nun fuhr es gegen die Fenster und warf einen Schauer von abgerissenen Blättern an die Scheiben. Der große Hund erhob sich von seinem Teppich und legte den Kopf auf ihren Schooß. Sie blickte eine Weile auf das glänzende Auge des Thieres; dann aber sprang sie auf aus dem weichen Sessel und drückte mit beiden Händen das Haar an den Schläfen zurück, als wolle sie alles Träumen gewaltsam von sich abstreifen. „Ausharren!“ rief sie leise. Dann trat sie zur Thür und zog die Klingelschnur; über sich hörte sie Rudolph in seinem Zimmer auf- und abgehen. Es wurde Licht gebracht. „Und was denn nun zunächst?“ – Aber sie wußte es schon; nachdem sie noch einen Augenblick in das verglimmende Kaminfeuer geblickt, setzte sie sich an ihren Schreibtisch. – Nach einer Stunde stand sie auf und siegelte einen Brief; die Adresse lautete an Rudolph’s Mutter.
Es war Winter geworden und einsam. In dem Zimmer oben ließ sich kein Schritt hören; Rudolph hatte, wie sie es gewollt, das Schloß verlassen. Draußen vor dem Fenster sauste es in den kahlen Zweigen, und in der Dämmerung vernahm man vom Corridor aus das Schrillen der Spitzmäuse, welche in den öden Gängen umher huschten. Manchmal, wenn sie Abends aus dem Wohnzimmer in ihr Schlafgemach trat, blieb sie wie angewurzelt auf der Schwelle stehen. „Eine Kammer zum Sterben!“ – Sie schauderte. „Aber man braucht nur still zu halten; die Natur besorgt es ganz von selber!“
Doch es wurde wieder heller in dem alten Hause. Um Weihnachten war Schnee gefallen und leuchtete in die Fenster. Eine freundliche Wintersonne begann zu scheinen. Eines Nachmittags war mit den Zeitungen ein Schreiben angelangt, das den Poststempel der Residenzstadt trug. Ihre Hände zitterten, als sie das Siegel brach. Einen Augenblick noch, und ein Schrei stieg aus ihrer Brust, wie es dem Erstickenden geschehen mag, wenn ihn plötzlich wieder der frische Strom der Luft berührt.
Sie hatte den Tod ihres Mannes gelesen.
Noch an demselben Tage reiste sie ab. – Einige Wochen vergingen; dann war sie wieder da. Während draußen allmählich der Schnee zerschmolz, correspondirte sie lebhaft mit dem alten Oheim, und endlich war es ausgemacht, sobald im Garten die Buchenhecken grün seien, wollte er kommen und sein altes Quartier beziehen; denn früher sei die große lebendige Vogelsammlung nicht zu transportiren. Als sie den Brief bekommen, ging sie hinauf in das obere Stockwerk, durch den Saal in das einst so trauliche Zimmer des guten Oheims. Die Wände waren kahl, aber draußen vor dem Fenster hing noch der große Holzkäfig des Käuzchens. Sie ging wieder zurück, sie schloß eine Thür nach der andern auf, sie ging unten durch die ganze Zimmerreihe, die sie während ihrer Anwesenheit noch nicht betreten; die verlassenen dumpfigen Räume schienen ihr nicht öde; überall in ihnen war ja Raum für den Beginn eines neuen Lebens. – –
Und endlich kam der Frühling. – Ueber der schwarzen Erde sprang an Gebüsch und Bäumen das frische Grün hervor; im Garten an den Grasrändern der Buchenhecken stand es blau von Veilchen, und Morgens und Abends hörte man drüben vom Tannenwald die Amseln schlagen.
An einem solchen Tage wandelte die junge Schloßherrin in der Seitenallee ihres Gartens. Mitunter blickte sie über den niedrigen Zaun auf den Weg hinaus oder jenseits desselben in die weite morgenhelle Landschaft. Zwischen den Feldern stand hie und da ein Baum wie brennend im Sonnenfeuer, es war Alles so licht, so heiter klangen die Grüße der vorübergehenden Arbeiter, und in der Luft schwammen die „süßen, ahnungsreichen“ Düfte des Frühlings. – Da sah sie zwei Männer aus dem Tannicht den Weg herauf kommen, ein Bursche vom Dorf trug ihnen das Gepäck nach. Der Eine, dessen Haar völlig weiß war, blieb stehen und blickte, die Augen mit der Hand beschattend, nach dem Garten hinüber. Auch sein jüngerer Begleiter zögerte; er hatte den Hut abgenommen und schüttelte mit einer leichten Bewegung den Kopf, während er an den Schläfen das schlichte Haar zurückstrich. Dann kamen sie näher; und schon waren sie von ihr erkannt. „Arnold, Onkel Christoph!“ rief sie und streckte weit die Arme Ihnen entgegen; „Beide! Alle beide seid Ihr da!“
Der alte Herr schwenkte seine Mütze. „Geduld, Geduld!“ rief er zurück. „Erst um die Ecke dort, und dann über den Hof in’s Haus! – Kommen Sie, Professor!“ setzte er hinzu, indem er fürbaß schritt.
Aber Arnold war schon jenseits des niedrigen Zauns und hielt die Geliebte fest in seinen Armen.
„Ja so!“ brummte der Alte, als er sich nach seinem Reisegefährten umsah. „Aber so geht’s mit der Cameradschaft.“ Dann schritt er, etwas langsamer als zuvor, den Weg hinauf, der nach dem Hofthor führte.
Arnold und Anna traten aus der Allee auf das Rondel hinaus, dem Laubschloß gegenüber, das hell von der Sonne beleuchtet vor ihnen lag. Er hatte ihre Hand gefaßt. So gingen sie den grünen Buchengang hinab, dem Hause zu. – Drinnen auf dem Corridor vor der Thür des Wohnzimmers trafen sie den Oheim wieder. Er schloß sein Lieblingskind in seine Arme; sie sah an seinen Lippen, daß er sprechen wollte, aber er schwieg und legte nur sanft die Hand auf ihren Kopf.
„So,“ sagte er dann, als ob es ihn dränge fortzukommen, „geht jetzt hinein, ich komme nach, ich muß einmal nach oben, mein altes Quartier zu revidiren.“
Sie hob ihr Haupt empor, das sie unter der Hand des alten Mannes gesenkt hatte, und blickte ihm nach, wie er eilig den Corridor hinabschritt und am Ende desselben in dem Treppenhause verschwand. Dann legte sie die Hand auf den Arm des Geliebten, der schweigend daneben gestanden hatte. „Arnold,“ sagte sie, „lebt denn die Großmutter auf dem Schulzenhofe noch?“
„Sie lebt, aber sie wartet nicht mehr den jungen Hinrich Arnold; es hat sich umgekehrt, sie sitzt in ihrem Lehnstuhl in der Stube, und der kleine Hinrich bedient jetzt seine Urgroßmutter.“
„So laß uns morgen zu ihr, damit auch von den Deinigen sich eine Hand auf unsere Häupter lege!“
Dann traten sie in das Wohnzimmer. Als er den offen stehenden Flügel sah, überkam es ihn plötzlich. Wie trunken griff er in die Tasten und sang ihr zu:
„Als ich Dich kaum gesehn,
Mußt’ es mein Herz gestehn,
Ich könnt’ Dir nimmermehr
Vorübergehn!“
Sie stand ihm lächelnd gegenüber und sah ihn groß mit ihren blauen Augen an, während sie wie träumend mit der Hand ihr glänzend schwarzes Haar zurückstrich. Er vermochte nicht weiter zu singen; er sprang auf, faßte sie mit beiden Händen und hielt sie weit vor sich hin; seine Augen ließen nicht von ihr, als könnten sie sich nicht ersättigen an ihrem Anblicke. „Und nun?“ fragte er endlich.
„Nun Arnold, mit Dir zurück in die Welt, in den hohen, hellen Tag.“ – –
Dann gingen sie Arm in Arm, zögernd, als müßten sie die Seligkeit jeder Secunde zurückhalten, die breite Treppe in das obere Stockwerk hinauf. Als sie in den Rittersaal traten, kam ihnen der Oheim aus seinem Zimmer entgegen. Seine Gestalt war noch ungebeugt, und seine Augen blickten noch so innig wie vor Jahren. „Du brauchst einen Verwalter, Anna,“ sagte er; „gegen freies Quartier werde ich diesen Posten übernehmen.“
Sie wollte Einwendungen machen. „Nein, nein,“ sagte er, „es wird nicht anders; ich bleibe hier und sehe nach dem Rechten. Aber Ich habe eine Bedingung: in den Sommerferien kommen der Herr Professor und die Frau Professorin auf das Schloß, um meine Jahresrechnung abzunehmen.“
Sie gelobten das.
Ueber ihnen auf dem alten Bilde stand wie immer der Prügeljunge mit seinem Sperling seitab von den geputzten kleinen Grafen und schaute stumm und schmerzlich herab auf die Kinder einer andern Zeit.
[181]Es war in den ersten Tagen des Aprils 1848, als ich mit einer Schaar von fünfzehn jungen Männern aus Oesterreich nach Schleswig-Holstein aufbrach. Wir hatten uns in Prag getroffen und fuhren zusammen auf dem kleinen Dampfer „Bohemia“ Dresden zu. Nur zwei meiner Gefährten waren Deutsche, die übrigen waren Czechen, die – um zu beweisen, daß Czechen und Deutsche ein Ziel, einen Zweck haben, die Büchse ergriffen hatten, um für Deutschlands Recht an den äußersten Marken des deutschen Reiches zu kämpfen. Die jungen Leute hatten von der Gräfin Kinsky in Prag eine prachtvolle Fahne mit dem böhmischen Löwen zum Geschenke erhalten; sie war mit den deutschen Farben geschmückt und sollte in der Kirche der alten Stadt Rendsburg niedergelegt [182] werden, als Beweis, daß selbst Czechen für Schleswig-Holsteins Rechte zu kämpfen herbeigeeilt wären.
Wir trafen uns in Prag; ein Blick in die Augen, ein Handschlag genügte, um uns zu Brüdern zu machen. Die Begeisterung, welche damals jedes deutsche Herz bewegte, hatte auch uns mächtig ergriffen; der böhmische Löwe und die deutschen Farben wehten lustig über uns, scheue Frauen und Mädchen warfen von den Balcons der alten Königsstadt Blumen und Kränze herab, Männer und Jünglinge jauchzten uns entgegen, stumm reichten wir uns die Hände zum treuen Bunde für Freiheit und Recht.
Mir ist es wie ein Traum, wenn ich an die Reise nach Dresden zurückdenke. Ueberall an den Ufern der Elbe hatte sich das Volk versammelt, um die junge Schaar aus ihrem Zuge nach Norden zu begrüßen. Bei Pirna standen die Zöglinge einer nahen Militäranstalt in Reihe und Glied aufmarschirt und präsentirten ihre kleinen hölzernen Gewehre, und je näher wir Dresden kamen, desto zahlreicher wurden die Beweise des herzlichen Willkommens. Als wir aber bei Dresden anlegten, als die 6000 Mann zählende Communalgarde mit geschultertem Gewehre dastand und die jungen Czechen begrüßte, als der Commandant der Dresdener Bürgerwehr im Namen Deutschlands die Streiter für Schleswig-Holstein willkommen hieß, und als die jungen Männer ihr Haupt entblößten und schwuren, treu und tapfer zu kämpfen – da ergriff mich ein namenloses Entzücken über die Theilnahme, die meine Heimath in so weiter Ferne bei Jung und Alt, Vornehm und Gering hervorrief, daß heiße Thränen meinem Herzen entquollen. Der Redner, der uns willkommen geheißen, begriff den Sturm, der mein Inneres bewegte, er drückte mich an seine Brust und küßte mich auf den Mund. Wie er heißt und wer er ist?– ich weiß es nicht, aber sein Kuß brennt noch auf meinen Lippen, mein Herz schlägt noch an das seinige, und oft, wenn ich fern von der Heimath die Hoffnungen meiner Jugend, das Ziel meines männlichen Strebens und Kämpfens unrettbar verloren erachtete, trat mir sein Schatten vor die Seele, mein Herz schlug rascher, und die Thränen, die mein Auge füllten, sprachen laut: „Wir sind ein Volk von Brüdern, Schleswig-Holstein wird nimmer untergehen!“
Die Bürger Dresdens geleiteten uns in die „Stadt Rom“, wo ich eine Scene erlebte, die für das Wesen der Freischaaren, den Geist, der Deutschlands Jugend beseelte, zu bezeichnend ist, als daß ich es unterlassen könnte, sie zu erzählen. Wir hatten kaum das Gasthaus betreten, und ich stand noch tiefergriffen in einer Fensternische, als einer meiner Gefährten mich auf einen Menschen aufmerksam machte, der einen so verzweiflungsvollen Ausdruck hatte, daß ich ihn nur mit Entsetzen betrachten konnte. „Was fehlt Ihnen?“ fragte ich unwillkürlich. Der Gefragte blickte mich, wie aus einem tiefen Traume aufgeschreckt, an und erwiderte mit klangloser Stimme: „Ich bin aus Flensburg.“
„Dann sind wir Landsleute,“ entgegnete ich, „ich bin aus Schleswig.“
„Landsmann!“ rief der Flensburger, indem er mir schluchzend in die Arme fiel, „nimm mich mit! Ich habe sieben Brüder im Felde, eine alte Mutter wartet stündlich auf mein Kommen, damit ich mit meinen Brüdern fechte. Landsmann, nimm mich mit! Alle Tage ziehen junge Leute nach Norden, um für Schleswig-Holstein zu streiten, und ich – ein Flensburger Kind – kann nicht mit!“
Der gute Mensch stöhnte vor Schmerz und barg sein weinendes Gesicht an meiner Brust. Als ich ihm aber die Wange streichelte und sagte, daß er mit solle, daß ich ihn mitnehmen wolle, da klammerte er sich an mich und sagte, indem er durch seine Thränen zu lächeln versuchte: „Aber nicht wahr, Landsmann, Du gehst keinen Schritt und keinen Tritt von mir, bis wir zu Hause sind?“
Wie mein Schatten folgte er mir am folgenden Tage, als ich in Dresden Waffen für ihn und mich – kaufte? nein, geschenkt erhielt, denn der brave Büchsenschmied wollte auch „nach seinen Kräften für Schleswig-Holstein beitragen“.
Im Triumphzug erreichten wir Hamburg. Noch in Hamburg wurden wir mit Blumen beschenkt, von Mädchen und Frauen begrüßt; in Altona aber lautete der Befehl des Generals Wrangel, daß keine Freischaaren in’s Land dürften! Nur durch Vermittlung der Herren Arnemann und Goveffroy gelang es uns, nach Holstein zu kommen. Als ich aber das Schlachtfeld von Schleswig betrat, wo die Leichen noch unbeerdigt lagen, als ich die Stätte wiedersah, wo ich als Kind gespielt, und die ich jetzt wieder betrat, um für ihre Freiheit zu kämpfen, da befahl ein preußischer Officier der preußischen Wache, mich zu arretiren.
Ich trennte mich von meinen österreichischen Freunden, die sich dem Tann’schen Corps anschlossen, während ich zum regulären Militär überging. Nur einmal habe ich zwei meiner Freunde wiedergesehen; es war nach dem Gefechte bei Hoptrup. Der Flensburger hatte einen Schuß in’s Bein bekommen, ein Böhme trug eine Schramme am Kopfe, Beide aber waren auf dem Wege der Besserung, Beide erwarteten mit Ungeduld den Augenblick, wo sie aufs Neue in den Kampf ziehen könnten.
So waren die Freischaaren! Von einem Geiste beseelt – von der Liebe zu Deutschland vorwärts getrieben, reichten sie sich die Bruderhand, ohne erst zu fragen: „Wie heißt Du? und wer bist Du?“ Der kecke Kossuthhut mit der wallenden Feder, die Büchse und der Hirschfänger waren ihre Uniform, Tapferkeit und Treue war ihre Losung und „Vorwärts in den Kampf“ war ihr Feldgeschrei. Deß ist ganz Schleswig-Holstein und Jütland Zeuge, daß trotz der verschiedenen Elemente, trotz der losen Disciplin der bunt durcheinander geworfenen Jünglinge, welche sich im Tann’schen sowohl, wie in den andern Freicorps zusammengefunden hatten, ein edler, herrlicher Geist unter ihnen herrschte, der sie den Herzen der Schleswig-Holsteiner ewig unvergeßlich macht. Als Beweis dafür aber, daß sie ihre Ehre bewahrt und wie Helden gefochten haben, möge die nachfolgende Schilderung des Gefechtes bei Hoptrup dienen, in welchem jeder Einzelne sich mit Ruhm bedeckte.
Der preußische General der Cavallerie und Commandeur des Danebrog-Ordens halte sich aus Jütland zurückgezogen und den Norden Schleswigs den dänischen Truppen preisgegeben, die fünftausend Mann stark unter Commando des Oberst von Juel dem Reichsheere auf dem Fuße folgten, damit die Dänen – und mit ihnen die ganze übrige Welt – glauben möchten, daß die deutschen Truppen, von den dänischen verfolgt, sich zurückzögen.
Laut ertönten die Klagen der Nordschleswiger über die Bedrückungen der dänischen Einquartierung, laut forderten die Südschleswiger, die Holsteiner und alle anderen Stämme des deutschen Volkes, daß die Reichsarmee das Land vom Feinde säubern solle; täglich kamen Flüchtlinge aus Hadersleben und Apenrade im Hauptquartiere Wrangel’s an und schilderten in beweglicher Sprache die Leiden der Deutschen in Nordschleswig – aber die Klagen und Bitten verhallten ungehört, Wrangel blieb in Flensburg und ließ die Dänen schalten und walten, wie es ihnen gut dünkte.
Was der preußische General, ohne Mitleid zu empfinden, anhören konnte, bewegte das Herz des kühnen Freischaarenführers Freiherrn von der Tann; er, der sich aus Begeisterung für Deutschlands Größe und Ehre der Sache der Herzogthümer gewidmet hatte, faßte den Entschluß, mit seiner gleichgesinnten Heldenschaar die Ehre der deutschen Waffen, die durch den Rückzug aus Jütland verpfändet war, wieder einzulösen und den bedrängten Brüdern im Norden Hülfe zu bringen.
Kaum war sein Corps in Rendsburg neu organisirt, als er in drei ermüdenden Tagesmärschen über Schleswig, Flensburg und Uck dem Feinde entgegen eilte. Vor ihm standen, in Hoptrup, Mastrup und Hadersleben vertheilt, sieben dänische Infanterie-Bataillone, sechzehn Schwadronen Cavallerie und zweiunddreißig Geschütze. Der Feind hatte eine durch das Defilé von Hoptrup und den Fjord von Hadersleben geschützte Stellung inne, in welcher er den Angriff einer bedeutend überlegenen Streitkraft hätte blutig zurückweisen können.
Dies war von der Tann sowohl, wie jedem Einzelnen seines Corps bekannt, und wenn er dennoch vierhundert junge Männer bereit fand, ihm auf seinem kühnen Zuge zu folgen, und wenn der in Uck zurückgelassene Rest seiner Heldenschaar mit neidischem Auge die Auserwählten betrachtete, welche sich dem fast sichern Untergänge weihen durften, so fühlen wir uns gedrungen, den Führer, welcher auf seine Untergebenen so mächtigen Einfluß ausübte, als eine seltene militiärische Persönlichkeit zu verehren.
Vierhundert Mann hatte von der Tann ausgesucht, um fünftausend Dänen zu überfallen! Im offenen Kampfe hätte seine Schaar erliegen müssen, mit List und Klugheit mußte die Tapferkeit sich paaren, wenn das Unternehmen einige Aussicht auf Erfolg haben sollte. Von der Tann requirirte vier Bauernpferde, mit welchen er vier Freischärler beritten machte, die als „Cavallerie“ die Téte seines Zuges bildeten. Ihnen folgten in einiger Entfernung fünfzig Wagen, auf denen seine Streitkräfte vertheilt waren.
[183] Am Nachmittage des in der Geschichte Schleswig-Holsteins ewig denkwürdigen 6. Juni 1848 brach die muthige Schaar, von den Segenswünschen ihrer Cameraden begleitet, von Uck auf, der Straße nach Hadersleben zu. Spät am Nachmittage stieß von der Tann’s Cavallerie auf eine dänische Patrouille von sechs Dragonern; die vier deutschen Freischärler griffen sie muthig an und jagten fünf in die Flucht, den sechsten brachten sie gefangen ihrem Führer. Nachdem diese kleine Waffenthat geglückt war, entsandte von der Tann seine Cavallerie nach dem Westen, damit die Dänen glauben möchten, daß ein deutsches Corps diese Richtung einschlagen und somit den rechten Flügel des Juel’schen Detachements umgehen wolle. Diese List gelang vollkommen. Von allen Seiten erhielt der dänische Commandeur Meldungen von dem Anrücken starker Cavallerie-Abtheilungen und Munitionscolonnen, denn für letzteres hatten sie den Wagenzug gehalten; und als die Meldungen im dänischen Lager sich immer häuften, entsandte der consternirte Befehlshaber in der Meinung, daß die ganze Reichsarmee über ihn herfallen werde, an seine vorgeschickten Posten Ordres, sich nach Hadersleben zurückzuziehen. In richtiger Berechnung dieser Eventualitäten setzte von der Tann seinen Zickzackmarsch fort und brach in der Nacht zwischen Hadersleben und dem südlich belegenen Dorfe Hoptrup in das Centrum der Dänen ein. Die Dänen, die nicht wußten, wie ihnen geschah, griffen mit Gardehusaren die Freischaaren an – wurden aber mit großem Verluste auseinander gesprengt und zur eiligen Flucht gezwungen. Dänischen Jägern, welche den Husaren gefolgt waren, erging es nicht besser; die Freischaaren warfen sich mit Ungestüm auf den weit überlegenen Feind und brachten ihn nach kurzem Widerstande zum Weichen. Es war indessen Tag geworden, und zu ihrem Erstaunen sahen die Dänen, daß sie es nur mit einem Häuflein „deutscher Räuber“ zu thun hatten; sie ließen ihre Artillerie auffahren und begrüßten die muthige Schaar mit einer Lage Kartätschen. Nur eine Lage konnten sie geben – im nächsten Augenblick stürzten sich die todesmuthigen Jünglinge auf die Kanonen und eroberten sie im Sturme.
Aber noch war das Werk nicht vollbracht. Dänische Jäger, in dichten Tirailleurketten, griffen von Neuem an, es bedurfte aller Anstrengungen, um den überlegenen Feind zurückzuwerfen, und nur eine Abtheilung von fünfundzwanzig Mann konnte zum Schutze der eroberten Kanonen zurückgelassen werden. Kaum gewahrt der dänische Feldherr, daß die Kanonen ohne Bedeckung sind, als er eine Schwadron Husaren zu ihrer Wiedereroberung entsendet. In gestreckter Carriere rast die Schwadron heran, die geschwungenen Säbel funkeln im Morgensonnenschein, die Trompeten schmettern zum Angriffe – aber fünfundzwanzig deutsche Jünglinge halten Wache bei den theuer erkauften Geschützen und erwarten muthigen Herzens den Angriff. Da heben sie ihre Büchsen, eine tödtliche Salve erfolgt, die Schwadron ist gesprengt und jagt in wilder Flucht von dannen; sie muß die Reihen der Freischaaren durchbrechen, die mit den Jägern im Kampfe stehen. „Pardon!“ rufen die Deutschen, und da keine Antwort erfolgt, strecken sie die fliehenden Reiter zu Boden. Entsetzen erfaßt jetzt die dänischen Jäger, und in wilder, schmählicher Flucht eilen sie aus dem Bereiche der kleinen Heldenschaar, die glühend vor Kampflust ihren geliebten Führer umgiebt und ihn zu weiterem Vordringen auffordert.
Eine Verfolgung der Dänen wäre aber geradezu Thorheit gewesen; denn wenn auch Artilleristen, Jäger, Infanteristen und Reiter in wilder Flucht bis zur Ostsee liefen und sich dort auf die dänischen Schiffe retteten, so stand doch noch bei Hadersleben ein starkes Corps, das bisher nicht im Gefechte gewesen war, von der Tann daher leicht die Lorbeeren seines Sieges entreißen konnte.
Die Beute dieses ruhmreichen Treffens bestand in zwei Kanonen, von denen die eine wegen mangelnder Bespannung nicht fortgeschleppt werden konnte, drei Munitionswagen, einer Menge Waffen, achtzehn Pferden und fünfunddreißig Gefangenen. Die Freischaaren hatten ihren Liebling und Tann’s Busenfreund, den königlich bairischen Hauptmann Corneli, als Todten und fünfundzwanzig Schützen als Verwundete zu beklagen; der Verlust der Dänen belief sich im Ganzen auf dreiundsiebzig Mann. Der Schrecken aber, den die „deutschen Räuber“ den Dänen eingejagt hatten, war ein so heilloser, daß Oberst Juel mit seinem ganzen Corps schleunigst nach Jütland retirirte und seine Geschütze nach Fühnen transportiren ließ.
So endete der kühne Zug des in den dankbaren Herzen der Schleswig-Holsteiner ewig fortlebenden Freiherrn von der Tann und seiner Heldenschaar, die, alle Gaue Deutschlands vertretend, den Beweis lieferte, was ein begeistertes Volksheer, das für Deutschlands Recht in den Kampf zieht, zu leisten vermag.
Preußische Gardeofficiere tadelten den Mangel an Taktik, den von der Tann bei seinem Unternehmen an den Tag gelegt; wir aber loben die Taktik, welche zum Siege führte, und seufzen schwer unter den Folgen jener Taktik, die einen deutschen Volksstamm unsäglichem Elende preisgab.
Als von der Tann in seine Heimath zurückkehrte, war manches Auge thränenfeucht, und die Segenswünsche eines Volkes begleiteten ihn; als Wrangel Schleswig-Holstein verließ, fragte er bei der Statthalterschaft an, „ob es rathsam für ihn sei, auf der Kieler Eisenbahn zu fahren!“ –
Der Letzte seines Stammes.
(Fortsetzung und Schluß.)
Die Feierlichkeit des Grafen erschütterte die Seinen; aber die Freifrau wollte das bange Ahnen, das sich ihrer plötzlich bemächtigte, nicht in sich aufkommen lassen, und in den Ton gewöhnlicher Bewegung einlenkend, sprach sie: „Und Du wunderst Dich nicht, mich hier zu finden, Du fragst nicht, was mich hieher geführt?“
Aber es gelang ihr nicht, die Stimmung ihres Bruders umzuwandeln. „Was Dich auch hergebracht hat,“ sagte er mit demselben ruhigen Ernste, „ich danke es Dir, daß Du hier bist, daß Ihr Beide hier seid! Ihr nehmt eine schwere Sorge von mir und befreit mir das Herz!“
Er hatte dabei stets die Hand Veronika’s, die bleich und angstvoll zu ihm emporschaute, in der seinen behalten. Jetzt rief sie, sich mit ihrer Stirne an seine Schulter lehnend: „O, sprich nicht so! sprich nicht also, Joseph! Du redest wie Einer, der – –“ Sie schauderte zusammen, ihre Lippen sträubten sich es auszusprecheu, was sie dachte.
Der Graf drückte ihr die Hand und leitete sie zu einem Sessel. „Erinnerst Du Dich,“ sagte er zu Ulrich, „wie ich Dich einst tadelte, als Du an jenem Morgen, welcher dem Chevalier von Lagnac das Leben kostete, mich an meine Pflichten gegen meine Ueberlebenden erinnertest? Heute habe ich selbst daran gedacht.“
„Mein Bruder,“ sagte Conradine, und auch von ihrem Antlitz war die Farbe entwichen, „ist denn der Gang so ernst, den Du zu gehen hast? Ist die Gefahr so groß, die Dich bedroht?“
Der Graf antwortete nicht gleich, er mochte überlegen, ob es gerathen sei, den Seinen die ganze Wahrheit mitzutheilen, aber die dringende Bitte der Frauen bestimmte seinen Entschluß.
„Ja!“ sagte er, „uns steht morgen ein ernster, ein schwerer Tag bevor, und doppelt schwer, weil das weiche Herz des edelsten der Könige zurückschrickt vor der Nothwendigkeit, die Macht, welche noch in seinen Händen ist, gegen die verruchte Rotte der Empörer zu gebrauchen.“ – Er hielt inne, zog ein Pack Papiere aus seinem Busen und reichte sie Ulrich hin. „Die Zeit drängt, ich muß in einer halben Stunde auf meinem Posten sein!“ sprach er.
„Was mir, was Jedem von uns in dieser Nacht oder an dem morgenden Tage begegnen mag, kann man nicht wissen. Für alle Fälle –“
Veronika ließ ihn nicht zu Ende sprechen, sie war außer sich vor Aufregung, und sich ihm zu Füßen werfend, rief sie mit flehender Bitte: „Joseph! gehe nicht fort, geh’ jetzt nicht fort von mir, da ich endlich, endlich wieder den wahren, den alten Ton Deiner Stimme vernehme!“
Sie konnte vor Schmerz nicht weiter reden, er hob sie sanft empor. „Weine nicht, Veronika!“ sagte er mit trübem Lächeln, [184] „ich habe Deine Thränen nicht verdient, und es handelt sich heut’ um Größeres, als um unser Leben und um unsern eigenen Schmerz.“
Mit einer Ruhe, wie er sie lange nicht mehr besessen hatte, sprach er von der Stimmung des Volkes, von der Lage, in welcher der König und mit ihm die Monarchie sich befanden, von den Mitteln der Vertheidigung, welche man besaß, und von der festen Entschlossenheit der Schweizergarden, bei dem Könige auszuharren bis auf den letzten Mann. Die Seinen waren ernst und ergriffen wie er. Die Größe und Bedeutung des Augenblickes hob Jeden über sich selbst empor.
Noch während er sprach, hörte man Trommelwirbel aus der Ferne. Der Graf richtete sich horchend empor; Veronika erbebte, als sie sah, wie er seine Augen nach dem Tische richtete, auf den er Hut und Degen hingelegt. „Ich muß fort!“ sagte er. Veronika trat noch einmal an ihn heran. Mit heißer Bitte beschwor sie ihn, ihr Nachricht von sich zu senden, und er sagte ihr dies zu.
Dann wendete er sich zu Ulrich. „Das Packet, das ich Dir gegeben habe, enthält mein Testament. Falls mir ein Menschliches begegnen sollte, sorge für seine Ausführung und sorge für Veronika!“ – Er nahm ihre Hand, legte sie in Ulrich’s Rechte und wiederholte: „Dir vertraue ich ihre Zukunft an, mache sie glücklicher als ich!“
„Aber woher diese ungewöhnliche Sorge, mein Onkel?“ rief Ulrich sich ermannend, weil er einen Anhalt suchen mußte gegen die widersprechenden Gefühle, die in ihm auf- und niederwogten.
„Woher diese ungewöhnliche Traurigkeit, meine Mutter? Muth, Veronika! Muth, meine Mutter! laßt Euch nicht niederwerfen. Ist’s doch des Onkels Pflicht, vorsorglich alle Möglichkeiten zu erwägen – auch jene Möglichkeit, die hoffentlich nicht eintrifft! Ihr hört’s ja! der Onkel sagt’s Euch, daß seine Truppen, daß die Nationalgarden vom besten Sinne beseelt sind, daß die Anhänger des Königs, Jünglinge, Männer und Greise der alten Adelsgeschlechter sich um den König schaaren, daß im Volke vielfache Meinungsverschiedenheit die Kraft zersplittert. Muth, Veronika! er wird wiederkehren – wer weiß, ob es zu neuem Kampfe kommt!“
Veronika versuchte sich zu beherrschen. Sie hörte den Worten Ulrich’s mit jener Inbrunst zu, die nichts Besseres verlangt, als glauben zu können; auch die Freifrau war ihrer Bewegung Meister geworden. Der Graf stand an dem Seitentische und steckte seinen Degen an, während seine Schwester leise zu ihm sprach.
Inzwischen war es dunkel geworden, die Diener brachten die Lichter in das Zimmer und setzten einen Imbiß auf den Tisch. Veronika forderte den Grafen auf, Etwas zu genießen, er willfahrte ihr. Sie selbst schenkte ihm den Wein ein, Ulrich füllte die andern Gläser, reichte sie der Mutter und Veronika hin, und sein Glas erhebend und es gegen das des Grafen anklingend, sagte er: „Auf viel frohe Mahle in unsern Bergen!“
Der Graf wollte auf den Ton eingehen, den sein Neffe angab. Er stieß mit ihm an und nöthigte die Frauen das Gleiche zu thun. In demselben Momente ertönte der Wirbel der Lärmtrommel lauter und näher als vorher, das erste Sturmläuten von der Isle de Saint Louis schallte in das Faubourg Saint Germain herüber, und sei es, daß der Schrecken Veronika’s Hand zu einem zu heftigen Stoße bewegte, aber der Ton klang schrill, als sie mit dem Grafen anstieß, und sein Glas zerbrach in seiner Hand.
Er setzte es achtlos nieder, es war seines Bleibens nicht mehr. Er umarmte Veronika, umarmte seine Schwester und eilte fort. Ulrich begleitete ihn.
Veronika sank auf ihre Kniee nieder, und während draußen die Kanonen auf dem Straßenpflaster rasselnd vorüber zu fahren begannen, hob ihre Seele sich in heißem Gebet zu Gott empor, Schutz hernieder flehend auf den Mann, dessen ganzes Verschulden gegen sie für ihr Herz getilgt war durch die eben erlebte Stunde.
Der folgende Morgen brachte eines der großen Ereignisse in dem Fortschritt der Revolution. Es war der 10. August, der Tag, an welchem das Volk die Tuilerien belagerte und stürmte, der Tag, an welchem der König sich mit seiner Familie in den Schutz der gesetzgebenden Versammlung begab.
Der leidenschaftlichste Bürgerkrieg war mit Tagesanbruch innerhalb der Hauptstadt entbrannt, rund um die Tuilerien und bald auch in ihnen wüthete der Kampf. Die Schweizer fochten wie die Löwen. Ein Theil von ihnen war dem Könige nach der gesetzgebenden Versammlung gefolgt, die Uebrigen und Graf Joseph an ihrer Spitze waren im Schlosse zurück geblieben, den Angreifern die Stirne zu bieten.
Im Hotel des Grafen hatte man die Nacht in banger Angst hinschwinden sehen und Noth gehabt, die Gräfin im Hause fest zu halten. Endlich, als der Tag schon hell am Himmel stand, hatte sie sich bewegen lassen, eine Stunde der Ruhe zu pflegen. Wider alles Erwarten schien sie fest eingeschlafen zu sein, denn sie blieb lange aus. Man ging nach ihr zu sehen und fand ihr Zimmer leer. Es war kein Zweifel, wohin sie sich gewendet hatte, und Ulrich folgte ihr nach.
Durch die Schaaren der Kämpfenden, zwischen den Kanonen, die, in den Höfen aufgepflanzt, ihr Feuer einzustellen begannen, seit der König das Schloß verlassen, bahnte der Freiherr sich seinen Weg. Es brannte an verschiedenen Stellen im Schlosse, die Verwirrung war grenzenlos. Hier versuchte man es, dem Feuer Einhalt zu thun, dort versuchte man Feuer anzulegen, hier zogen die Nationalgarden, die dem Könige treu geblieben waren, von den Tuilerien ab, da sie die Weisung bekommen, den Kampf gegen das Volk nicht fortzuführen, dort stürmten die Bataillone der Nationalgarde, welche mit den Föderirten und den Pikenmännern gemeinsame Sache gemacht hatten, auf die Abziehenden ein. Hier trug man einen der greisen Royalisten, die sich zur Vertheidigung des Königs um denselben gesammelt hatten, schwer verwundet auf Seitenwegen davon, um ihn der Wuth des Volkes zu entziehen; dort eilten Hofchargen und Adjutanten des Königs, von Steinwürfen verfolgt, von Kugeln bedroht, in das Schloß, um Nachrichten einzuziehen und einander widersprechende Befehle zu überbringen; und mitten in dem unheilvollsten Kampfe, mitten im wüthenden Handgemenge der streitenden Parteien suchten die Augen, suchte das angstvoll schlagende Herz des Freiherrn ein junges, edles Weib, das Weib, das er liebte von seiner Kindheit an, deren Schicksal ihr Gatte, sein nächster Blutsverwandter, in seine Hand gelegt.
Er hatte die Treppe glücklich erreicht, welche nach dem von Ludwig dem Sechszehnten bewohnten Theil des Schlosses führte. Durch den Qualm, der aus dem brennenden Seitenflügel durch alle Räume drang, in seinem Fortschreiten aufgehalten, gelangte er nur auf weiten Umwegen und vielfach irrend an die Stelle, an welcher, wie er erfahren, die Schweizer gefochten. Todte, Verwundete und Sterbende zeigten ihm die Richtung an, welche er einzuschlagen hatte. Oben an: Eingang des Saales, auf den die große Treppe mündet, lagen sie dicht über einander, hingemäht wie die hohen Garben eines reichen Feldes, die Vertheidiger des Königs und des Thrones.
Seitwärts, nur wenig Schritte von dem Leichenhügel der Tapfern, die den Aufgang zur Treppe vertheidigt, saß ein Weib. Ihr Haar hing aufgelöst an ihrem Haupte nieder, ihr Antlitz war blaß wie die Wangen des Mannes, dessen Haupt in ihrem Schooße ruhte. So starr, so schmerzvoll, so vernichtet sah sie aus, daß Niemand es gewagt hatte, sie anzutasten, daß auch der Rohesten keiner sich unterfangen, sich an dem Verwundeten zu versündigen, über welchem so verzweiflungsvolle Liebe Wache hielt.
„Veronika!“ rief Ulrich, da er sie erblickte, Veronika, so finde ich Dich!“
„Komm! komm! er lebt! noch lebt er!“ rief sie ihm entgegen, „hilf mir! noch ist’s Zeit!“
Der Graf schlug matt die Augen auf. „Es ist vorbei!“ sagte er leise. „Führe sie fort! fort von hier!“
„Nein! nein!“ versetzte Ulrich, indem er den Verwundeten mit dem Shawl verhüllte, den er von den Schultern der Gräfin riß, um der Menge den Anblick der Schweizer Uniform zu entziehen; und als wolle das Schicksal ihm beistehen, so fanden sich ein paar Männer, die mitleidig mit dem Elend und dem Jammer der schönen jungen Frau freiwillig Hand anlegten, den Verwundeten aus dem Schlosse zu entfernen.
Es war ein langer, heißer, schwerer Weg. Auf dem Sitze eines zertrümmerten Prachtsopha’s, den man als Bahre benutzte, hatte man den Grafen gebettet, und Hülfe erkaufend, wo sie zu finden war, gelangte man mit dem sterbenden Grafen, denn sterbend war er, über die Seine und in sein Hotel.
Die Freifrau empfing ihn in dem Saale, in welchem sie ihn gestern wiedergesehen. Er war bei voller Geisteskraft und äußerst ruhig. Als er die Schwester sah, wendete er das Haupt nach ihr und reichte ihr die Hand.
[185] „Es ahnte mir gestern,“ sagte er, „daß es mit uns zu Ende ginge,“ und mit jenem melancholischen Lächeln, das ihm von jeher eigen gewesen war, sagte er: „Einer muß der Letzte sein!“
„Du nicht! Du nicht!“ rief Veronika, die an seinem Lager kniete, „Du wirst leben, Joseph, der Arzt –“
„Kann mir nicht helfen!“ sagte der Graf, und dann seine Hand auf ihr Haupt legend, fügte er hinzu: „Du hast Dein Wort gehalten! Bis in den Tod getreu!“
Er seufzte, ein leiser Schauer flog über sein Antlitz und durch seine Glieder, seine Lippen bewegten sich noch, aber was er sagte, verstanden die Seinen nicht mehr. – War es der Name der Frau, welcher sein Leben angehört, war es der Name des Königs, für den er gestorben, oder noch ein reuevolles Wort des Dankes für die Unglückliche, deren Liebe er gekränkt und verschmäht – wer will das sagen?
Stumm standen die Ueberlebenden an seiner Leiche, sein Tod schloß die lange Reihe seiner Ahnen, die Devise der Grafen von Rottenbuel erfüllte sich an ihm, und mit düsterm, thränenlosem Blicke auf ihn niederschauend, während sie ihm die Augenlider schloß, wiederholte die Freifrau seine Worte: „Einer muß der Letzte sein!“
Dann aber schlug sie die Hände in gewaltigem Wehkrampfhaft zusammen, und ihr festes Herz erzitterte in der Klage um den einzigen Bruder und um den Untergang ihres alten stolzen Stammes und Geschlechts!
Ich hatte es mit Jungfer Ursula verabredet, daß ich ihr die Erzählung zu lesen geben würde, welche ich nach ihren schriftlichen und mündlichen Mittheilungen zusammen zu stellen unternahm.
Als ich meine Arbeit beendet hatte, brachte ich sie ihr. Sie behielt sie ein paar Tage, und als sie mir dieselbe dann zurückgab, fragte ich sie, ob sie zufrieden sei, und ob sie glaube, daß ich den innern Zusammenhang der Personen und Ereignisse, soweit derselbe aus den vorhandenen Papieren nicht zu ersehen war, richtig ergänzt hätte.
„Ja!“ sagte sie, „so wird’s gewesen sein, und ich habe es mir selbst oft so gedacht; nur wie es nachher geworden ist, das haben Sie nicht berichtet.“
Ich erinnerte sie, daß sie selbst mir die Erzählung von dem späteren Schicksal ihrer Eltern noch schuldig geblieben sei, und da wir eben an dem Abende allein beisammen waren, holte sie nach, was ich noch zu wissen nöthig hatte. Weil sie aber bei ihrer Erzählung die handelnden Personen immer als ihre Großmutter und ihren Vater und ihre Mutter bezeichnete, welche Bezeichnung den Leser nur verwirren kann, so will ich auch den Schluß der Geschichte, wenn schon möglichst mit den Worten der Jungfer Ursula, so doch mit den Eigennamen der betreffenden Personen zu Ende führen.
Der Zustand von Paris und die völlig untergrabene Gesundheit der Gräfin bestimmten die Freifrau und Ulrich, auf eine schleunige Abreise zu dringen, die jedoch nicht leicht in’s Werk zu setzen war, denn Veronika bestand darauf, nicht ohne die Leiche ihres Gatten in die Heimath zurück zu kehren. Als dann die Bekanntschaften des Freiherrn ihm endlich die Erlaubniß und die Papiere verschafften, welche in dem revolutionirten Lande, mitten durch ein von Mißtrauen und Verdacht aufgeregtes Volk, den Transport eines verschlossenen Sarges möglich machten, trat man die traurige Reise an, die nur langsam von Statten ging.
Es war schon Herbst, als die Gräfin auf dem einsamen und hochgelegenen Rottenbuel eintraf, dennoch verweigerte sie es, mit der Freifrau nach Thuris zu gehen oder das im Prätigau gelegene Schloß Calanz zu beziehen, welches Graf Joseph in seinem Testamente, da es nicht zu dem Majorate gehörte, sondern Privatbesitz war, seiner Witwe als persönliches Eigenthum verschrieben hatte.
Was man auch thun mochte, Veronika zu überreden und zu überzeugen, daß sie es nöthig habe, unter Menschen zu sein, daß sie den Ihren den Trost bereiten möge, sie pflegen und warten, zu dürfen, sie wies es mit fester und ruhiger Entschiedenheit zurück.
„Ich muß Zeit haben, das, was ich erlebte, zu begreifen!“ gab sie stets zur Antwort, und es war unverkennbar, daß irgend ein Eindruck, über welchen sie nicht sprach, ihr die Erinnerung an den Tod und an die Todesstunde des Grafen noch furchtbarer machte. Aber sie verschwieg ihn fest, und erst als sie schon eine Greisin war, ließ eine ihrer Aeußerungen es Ursula errathen, daß sie noch in den letzten Augenblicken des Grafen eine Begegnung mit der Marquise gehabt hatte, die ihr das Herz vollends zerrissen; was jedoch geschehen war, das hat sie Niemandem anvertraut.
Der Graf hatte in seinem letzten Willen die Hoffnung ausgesprochen, daß es der Liebe seines Neffen, der er, ohne es zu wissen, störend in den Weg getreten sei, einst gelingen werde, Veronika’s Herz zu rühren und ihr Ersatz zu bieten für das Unglück ihrer ersten Ehe. Aber die Gräfin gehörte nicht zu der Zahl der Frauen, die sich leicht zu trösten und es zu vergessen vermögen, daß sie ihres Herzens Liebe begraben und daß ihnen damit die Hälfte ihres eigenen Seins genommen ist. Ihr Schmerz war ihrem Cultus, dem ausschließlich zu leben ihr Bedürfniß war, und erst nach vielen Jahren gewann sie die Seelenfreiheit, welche es ihr möglich machte, der Bewerbung Ulrich’s Gehör zu schenken, seine Treue als einen Segen anzuerkennen und seine Frau zu werden.
Die Ehe war würdig und schön, wie man es von dem Charakter der beiden durch ihr Leben geprüften Menschen erwarten konnte. Veronika hatte die Leiche des Grafen in Calanz begraben lassen und sich so sehr an diesen Aufenthalt gewöhnt, daß der Freiherr nach seiner Verheirathung darein willigte, dort seinen eigentlichen Wohnsitz aufzuschlagen.
„Wir führten ein Leben,“ erzählte Jungfer Ursula, „von dem eben nicht viel zu sagen war. Wir hatten Wohlstand, Friede im Hause, Verwandte und Freunde im Lande und in der Nachbarschaft, und ich wüßte mich aus meiner Kindheit keiner besonderen Ereignisse zu erinnern, denn selbst die Kriegsjahre gingen an uns gnädig genug vorüber, und was ich davon weiß, habe ich nur von Hörensagen behalten, wie mir scheint.
Im Jahre 1814 aber, als ich schon ein erwachsenes Mädchen und die Mutter eine Frau von nahezu fünfzig Jahren war, saßen wir einmal spät Abends unten im Saale Alle beisammen, die Eltern, der Bruder und ich. Es war Ende April, aber das Frühjahr kam spät und war sehr kalt, und hier oben bei uns in den Bergen lag noch Schnee. Wir hatten einen starken Föhn, die Wetterfahnen auf den Thürmen pfiffen gellend auf ihren Angeln, und der Wind schüttelte die Bäume so heftig, daß die Aeste knarrten. Aus den Rinnen floß das thauende Wasser plätschernd herab, und von allen Bergen rieselte es nieder, daß das Wasser überall stark geworden war und man es rauschend dahinströmen hörte. Die Wege waren grundlos, denn der Schnee war noch nicht ganz fortgeschmolzen, und von Besuch und von Fremdenverkehr war also nicht die Rede. Jedermann war froh, wenn er zu Hause bleiben konnte, und die Mutter sprach das eben aus, als die Hunde anschlugen und es an der Pforte klingelte.
Gleich darauf kam der Diener herein und meldete, daß der Wirth aus dem Kruge da sei und den Vater sprechen wolle. Damals war Bünden schon eidgenössisch geworden,“ schaltete Veronika ein, „und der Wirth war also so gut wie wir, oder kam sich doch wenigstens so vor. Der Vater sagte ihm daher, daß er sich setzen solle, er schien’s aber sehr eilig zu haben, denn er, der sich das sonst von unser Einem nicht zweimal anbieten ließ, blieb stehen und sagte, er bäte um Entschuldigung, aber es sei ihm eine Frau, eine kranke Frau in’s Haus gekommen, die er nicht recht verstehen könne, da sie französisch rede, und was er verstehe, das sei so verwirrtes Zeug, daß er meine, sie rede irre. Sie sehe nicht besonders aus, habe auch nur armseliges Gepäck bei sich. Aber so lange sie auf den Beinen gewesen, habe sie sich großes Ansehen gegeben, und nun sie darnieder liege, halte sie immer ein Bild in den Händen, das sie am Halse hängen habe. Er wisse nicht, was er aus ihr und mit ihr machen solle, und er bitte deshalb, ob nicht der Vater einmal herunterkommen wolle, um zu sehen, was es mit der Person auf sich habe, und ob man den Doctor kommen lassen müsse oder nicht.
Wo es einem Leidenden beizuspringen galt, da durfte man bei dem Vater nicht erst zweimal anfragen, und die Mutter war da noch viel schneller bei der Hand. Die Eltern hießen den Diener sogleich eine Laterne besorgen, die Mutter nahm ihren Capuzenmantel um, und so gingen sie mit dem Wirthe auf dem nächsten Wege nach dem Krug. Dabei erfuhren sie auf meines Vaters Frage, wo denn die Kranke hergekommen sei, daß des Wirthes Sohn sie mitgebracht habe. Er hatte deutsche Herrschaften über den Splügen nach Italien gefahren, und im Gasthof zu Chiavenna, wo er die Nacht mit seinem Gefährt gerastet, war die Fremde zu ihm gekommen und hatte mit ihm darüber verhandelt, daß er sie [186] für einen billigen Retourpreis nach der Schweiz mitnehmen möge, von wo sie nach Frankreich in ihr Vaterland zurückkehren wolle. Der Wirth in Chiavenna hatte ihm zugeredet, sie nicht abzuweisen, denn er hatte sie wahrscheinlich los zu sein gewünscht, und am ersten Tage der Reise hatte sie ihrem jungen Fuhrmann zu verstehen gegeben, daß sie eine vornehme Dame sei, die durch die Revolution aus Frankreich vertrieben worden, und daß sie jetzt, da der rechtmäßige König wieder von seinem Lande Besitz genommen habe, nach Paris zurückkehre, wo es ihr an Ehre und Reichthum garnicht fehlen könne.
Der Wirth schalt, als er das erzählt hatte, auf seinen Sohn und nannte ihn einen einfältigen Tropf, daß er sich solche Dinge aufbinden lasse, da man doch in der Schweiz seit den Zeiten der französischen Emigration der Leute genug im Lande gehabt habe, welche goldene Berge versprochen und nicht einen gebogenen Heller in der Tasche gehabt hätten. Und die Kranke bei mir im Hause, sagte er, sieht gerade so aus, als gehörte sie auch zu den Emigranten.
Sie waren während des Sprechens nach dem Wirthshaus gekommen, der Wirth ging den Eltern voran, den Flur entlang, an der Küche vorüber in das Nebenhaus. Da machte er die Thüre auf, und in dem großen Bette am oberen Ende der Stube sahen die Eltern beim Schein einer kleinen Oellampe die Fremde, die mit geschlossenen Augen dalag. Weil es aber dunkel in der Stube war, so daß man das Gesicht der Kranken nicht deutlich erkennen konnte, hieß die Mutter ein Licht herbeibringen, und nachdem sie es so hingesetzt hatte, daß sein Schein der Leidenden nicht beschwerlich fiel, schlug sie den Bettvorhang vollends zurück und trat an das Lager heran.
Davon ermunterte sich die Fremde, die wie im Halbschlaf gelegen hatte, schlug die Augen auf und richtete sich jäh auf ihrem Lager in die Höhe; und in der Bewegung, in dem Blick war Etwas, das meine Mutter bis in’s Herz traf. Eine Erinnerung, eine Vermuthung stiegen in ihr auf, die sie einsetzten, sie winkte dem Vater, und eben als der herankam, sagte die Kranke, als bemerke sie die Ueberraschung meiner Eltern: „Ah! Sie wundern sich! Sie glauben nicht, daß ich’s bin, weil Sie mich hier finden! Aber nur Geduld! nur Geduld! noch wenig Tage und –“ – sie lachte, sah mit irrem Blick umher, und sprach dann schnell und leise, als flüstre sie mit einer neben ihr stehenden Person, sodaß es unmöglich war, ihre Rede zu deuten.
Indeß es bedurfte dessen nicht. Das Auge meiner Mutter hatte sie nicht betrogen: die kranke, im Fieber glühende Frau, die verfallene Gestalt, um deren eingesunkene Wangen das bereits ergraute Haar verwirrt umherhing, war die stolze, die einst so strahlende Marquise von Vieillemarin, war die Frau, welche meiner Mutter die Tage ihrer Jugend so schmerzensreich gemacht hatte.
Wie vor einem Gottesgerichte standen die Eltern einen Augenblick sprachlos vor dem Krankenbette; dann aber thaten sie, was Menschenpflicht gebot. Man sendete nach dem Arzte, die Mutter wollte wissen, ob die Marquise in’s Schloß zu uns zu bringen sei, und als der Arzt dies bewilligte, wurde gleich am andern Morgen ihre Uebersiedlung bewerkstelligt. Die Mutter selbst übernahm ihre Pflege, aber sie hatte das schwere Amt, das ihr die alten traurigen Erinnerungen weckte, nicht allzulange zu üben. Noth und Entbehrungen, Verzweiflung und zügellose Hoffnungen hatten an der Unglücklichen ihr Werk gethan, und eine Gehirnentzündung zehrte den Rest ihrer Kräfte in wenig Tagen auf.
Sie hatte keinen hellen Augenblick. Bald schien sie sich in der Nähe der Königin Maria Antoinette zu glauben, bald mußte sie meinen, unter armen Leuten zu sein, deren Hülfe sie in Anspruch nahm. Dazwischen tauchten Bilder aus den Tagen der Schreckenszeit vor ihr auf. Sie sprach vom Temple, von der Guillotine, sie nahm Abschied, und dann wieder drückte sie das Bildniß, das sie an ihrem Halse trug, an ihre Lippen und betheuerte, daß sie in ihrer Treue nie gewankt, daß sie nie ein anderes Bild im Herzen getragen habe, und daß es nun an der Zeit sei, ihre Liebe und Treue zu belohnen. Sie ließ Alles mit sich geschehen, nur als meine Mutter einmal den Versuch machte, das Bild in die Hand zu nehmen, um zu sehen, wen es darstelle, schrie die Marquise auf, bedeckte das Portrait mit beiden Händen, und in dem Augenblicke erkannte sie auch das Antlitz meiner Mutter, denn sie faßte nach ihr, sah ihr starr in die Augen und sagte: „Was wollen Sie hier, Gräfin? Sie gehören nicht hierher, nicht hierher!
Sie waren nicht treu, schöne Gräfin!“ – Darauf lachte sie wieder, wie das oft geschah, und dann rief sie: „Er war treu! mir! mir! – Ich will’s ihm auch vergelten, der Prinz soll’s ihm vergelten, wenn ich nur erst dort bin!“
Die Mutter hat mir einmal diesen letzten Abend der Marquise geschildert. Es war, als müßte sie mit einem Menschen davon sprechen, um die Erinnerung los zu werden. – In der Nacht, welche diesem Abend folgte, ist die Marquise hier drüben, in dem blauen Zimmer verschieden. Niemand als die Mutter ist bei ihrem Tode zugegen gewesen, und wie ich die Mutter kenne, hat sie überhaupt Niemand bei der Kranken lassen mögen, damit kein Anderer es hören sollte, wenn die Marquise etwa von dem Grafen Joseph gesprochen hätte.
Als die Marquise dann gestorben war, sah man, daß das Medaillon an ihrem Halse das Bildniß und eine Locke des Grafen von Artois enthielt. Es mußte einmal eine kostbare Fassung gehabt haben, aber die Steine waren ausgebrochen. Die Noth hatte die Marquise sicherlich gezwungen, sich ihrer zu entäußern. Ich kann Ihnen das Portrait einmal zeigen, wenn Sie es sehen wollen; mein Bruder hat es als ein Andenken, als ein Curiosum aufbewahrt.“
„Und Sie wissen nicht,“ fragte ich, „welches das Schicksal der Marquise in den Jahren von siebzehnhundert zweiundneunzig bis achtzehnhundert vierzehn gewesen ist?“
„Nein,“ versetzte Ursula, „aber wir können es doch annähernd vermuthen. In dem kleinen Koffer, den sie bei sich führte, fanden sich einige Briefe des Grafen von Artois, die in kühlem Ton abschlägige Antworten auf Bittgesuche enthielten und auf bessere Zeiten vertrösteten. Einer war nach Florenz, ein paar nach Neapel und einige andere nach Wien adressirt. Die Marquise wird also wohl an verschiedenen Höfen, an denen sie bourbonistische Sympathien voraussetzen konnte, ihr Heil versucht haben, und ist, wie so viele Andere, endlich nahe am Ziele, im Augenblick der Restauration, die ihr vielleicht auch Hülfe gebracht haben würde, dem Elend erlegen.“
Jungfer Ursula brach hier ab. „Wollen Sie morgen einmal mit mir nach dem Kirchhof gehen,“ sagte sie, „so will ich Ihnen zeigen, wo meine Eltern und wo Graf Joseph begraben sind. Seitwärts, aber noch in unserm Erbbegräbniß, ist das Grab der Marquise.“
„Und die Freifrau?“ fragte ich.
„O!“ versetzte Jungfer Ursula, und ihr ganzes liebes Gesicht hellte sich auf. „Die Großmutter ist auch über das achtzigste Jahr hinaus gekommen, wie die Mutter, und ich kann wohl sagen, sie und meine Eltern sind Alle jung geblieben bis auf ihre letzten Stunden. Ich glaube, es war das gute Gewissen, das ihnen den frohen Muth gegeben hat, nachdem die Jahre des Grams für meine arme Mutter überstanden waren. Es ist dann auch, wie ich Ihnen neulich sagte, darauf gehalten worden, daß Keiner von der Familie mehr im Ausland gedient hat. Sein eigner Herr sein, pflegte der Vater zu sagen, heißt erst ein Mensch sein! und,“ fügte sie hinzu, „ich möchte eigentlich auch nicht einmal eines Menschen wirklicher Herr sein! Es ist freilich wahr, der Adel hat hier aufgehört, zu bestehen, hat hier seine Rechte verloren, aber wenn sie mich in der Familie bisweilen auch darum verlachen, mir, ist wohler seitdem. Ich gönne Jedem das Seine und mag lieber zufriedene Menschen und gute Freunde, als Unzufriedene und Neider um mich haben.“
Sie sprach das, als habe sie diese Empfindung in gewissem Sinne zu entschuldigen, und sie wußte nicht, die gute Seele, wie hell ihr altes schönes Angesicht in seiner herzlichen Menschenliebe mir dabei in die Seele leuchtete.
Nicht das Bild des Grafen von Artois, das man mir zeigte, habe ich zu besitzen gewünscht, aber Jungfer Ursula’s Bild wollte ich gern haben, und ihr Bruder brachte sie auch dazu, es für mich malen zu lassen. Es ist mir, wie die ganze Erinnerung an sie, das Beste und Liebste, was ich von meiner Schweizerreise heimgebracht.
[187]
Gesattelt steht das Roß der Zeit
Und scharrt mit ungeduld’gem Hufe,
Die Mähne schwillt, die Nüster speit,
Es reckt das Ohr nach einem Rufe.
Lang stand es still, doch nun begehrt
Es unaufhaltsam weiter, weiter,
Ein Königreich – nicht für ein Pferd,
Die ganze Welt für einen Reiter.
Ihr Herrn und Ritter, die so lang
Sich auf dem Sattel stolz gebrüstet,
Was steht ihr nun und zaudert bang?
Ist keiner, den der Ritt gelüstet?
Nach rückwärts habt ihr oft gehetzt
Das edle Roß mit blut’gen Sporen,
Ging euch zum Ritt nach vorwärts jetzt
Der Muth und das Geschick verloren?!
Noch steht gebückt am Roß der Knecht
Und hält gehorsam euch den Bügel;
Stets wie ein altgeheiligt Recht
Nahmt ihr aus seiner Hand die Zügel;
Und doch hat er das Roß gezäumt,
Er hat’s mit seinem Schweiß gefüttert,
Und wenn sich’s unter euch gebäumt,
Hat ihn der Hufe Schlag erschüttert.
Habt Acht! habt Acht! denn zögert ihr,
Will keiner unter euch sich rühren,
Leicht faßt den Knecht dann die Begier,
Einmal die Zügel selbst zu führen,
Und stößt die nackten Fersen er
Wildkräftig in des Rosses Seiten,
Scheu stürmt es unter ihm einher
Und wird die Ritter überreiten!
Nr. 2. Das Billardspiel.
Es giebt geborene Billardspieler, wie es geborene Rittergutsbesitzer giebt; – Andere können sich wieder ihr Leben lang plagen, sie bringen’s nicht dahin, den Stecken gerade zu halten (die Kunstausdrücke: Queue, Double, Schwein etc., giebt es für sie gar nicht); sie schmieren nie das Queue mit Kreide und spielen ewig mit dem falschen Balle. Für diese ist unser Artikel nicht geschrieben, das sagen wir im Voraus, – obwohl gerade sie ihn vielleicht am eifrigsten lesen werden –; denn er nützt ihnen nichts. Aus den Leuten wird nichts, und wenn ihnen der heilige Billardus selber Unterricht gäbe!
Zu einem guten Billardspieler gehört vor allen Dingen Lust an körperlicher Bewegung, Gewandtheit, rascher Blick und rascher Entschluß, Herrschaft über Muskel und Nerven, denn nichts verwirrt das Auge und die Hand mehr, als die Unterwerfung unter augenblickliche Verstimmungen, und endlich – nach der Meinung Vieler – ist die Kenntniß der französischen Zahlen bis siebenundvierzig – achtundvierzig heißt Partie – eine unumgängliche Bedingung.
Ein Theil dieser nothwendigen Requisiten muß von Haus aus vorhanden sein, ein anderer läßt sich aneignen. Immer aber muß es für den Billardspieler Wichtigkeit haben, sich der Gründe bewußt zu werden, warum er so und nicht anders spielen darf, um einen gewünschten Effect zu erreichen; denn derjenige, der nur nach Instinct, und weniger nach rationeller Ueberlegung dieses Geist und Körper zu gleicher Eleganz bildende Spiel handhabt, wird im günstigsten Falle mitunter wohl das Richtige treffen, aber nie mit Sicherheit den Erfolg voraussagen können.
Das Billardspiel beruht auf sehr einfachen Principien, die es zum Theil mit dem Kegelspiel gemein hat.
Bekanntlich wird auf dem Billard die Kugel (der Ball) durch einen Stoß mittels eines Stabes (Queue) in Bewegung gesetzt. Je nachdem aber dieser Stoß den Ball oben, unten oder in der Mitte oder auf der Seite trifft, sind die Bewegungen des Balles auch verschieden.
Wird das Queue (wir bequemen uns des Sprachgebrauchs, der, gegen die französische Grammatik, das Instrument in Deutschland allgemein als ein Neutrum behandelt) mitten auf den Ball gestoßen, so wird derselbe genau in der Richtung des Stoßes fortgeschleudert. Im Anfange seiner Bewegung gleitet er über die Fläche des Billards, vorzüglich wenn der Stoß sehr heftig war, wie eine abgeschossene Kanonenkugel, die über die Fläche eines glatt gefrorenen See’s rutscht. Allmählich aber wirkt die Reibung auf der Unterlage, und der Ball nimmt eine nach vorn gerichtete Drehung an, ähnlich einem Wagenrade, das sich auf der Straße fortbewegt. Trifft ein genau auf die Mitte gestoßener Ball – wie in Fig. 1 der Ball a – auf einen andern ruhenden Ball a’, so theilt er diesem seine Bewegung mit; entweder ganz, so daß er nun auf dessen Platze stehen bleibt – (dies geschieht, wenn er beim Zusammenstoß eine noch vorwiegend gleitende Bewegung hatte) – oder nur theilweise, so daß ihm noch ein Theil seiner Geschwindigkeit bleibt und er dem getroffenen Balle nachläuft. Der letztere Fall tritt ein, wenn die Kugel während ihres Laufes bereits in eine rollende Bewegung übergegangen ist.
Daher laufen auch alle die Bälle, welche wie b in Fig. 1 hochgestoßen worden sind – vorausgesetzt, daß sie den andern Ball voll getroffen haben – hinter diesem her.
Ein Tiefstoß, wie er auf den Ball c ausgeführt wird, theilt diesem eine Drehung nach rückwärts mit, als ob der Ball in einer Richtung laufen wollte, die der Richtung des Stoßes entgegengesetzt ist. Dies Bestreben kommt auch zur Geltung, sobald durch den Zusammenstoß mit dem Balle c’ die Bewegung nach vorn auf [188] den letzteren übertragen worden ist. Der Ball c läuft dann auf demselben Wege wieder zurück oder er bleibt wenigstens auf dem Platz des zweiten Balles stehen.
Es versteht sich, daß, je weiter der zu treffende Ball vom Spielball entfernt steht, um so mehr die durch einen solchen sogenannten Klappstoß dem letzteren mitgetheilte rückwärts gerichtete Drehung durch die Reibung auf dem Tuche aufgehoben wird, und daß daher diese interessanten Stöße viel leichter gelingen, „wenn wenig Tuch zwischen den beiden Bällen ist.“
Alle gerade, d. h. auf die senkrechte Mittellinie gestoßenen Bälle prallen, wenn sie an die Bande kommen, unter demselben Winkel, unter welchem sie anschlagen, wieder ab; nicht so aber die schief, gleichviel ob an der rechten oder linken Seite, gestoßenen.
Sehr häufig kommt es vor, daß Sonntags-Billardspieler über den eigenthümlichen „falschen“ Abschlag der Bande schimpfen. Sie haben meist Unrecht; denn die Ursache, daß der Ball in einem andern Winkel abprallt, als er angespielt war, liegt nicht in der Bande, sondern in dem Spieler, der seinen Ball nicht gehörig in der Mitte trifft.
Jeder schief gestoßene Ball bekommt durch den Stoß eine Drehung nach der Seite hin, auf welcher er von dem Queue getroffen worden ist, in Folge deren er, wenn er an die Bande kommt und dort seine Bewegung nach vorn verliert, das Bestreben hat, an der Bande hinzulaufen und zwar nach der Seite hin, auf welche der Stoß erfolgt ist. Nehmen wir in Fig. 2 den Ball a als ein Beispiel, so können wir daran gleich einen der eclatantesten Fälle erläutern, dessen glückliche Ausführung von den Billardjüngern unter sich gewissermaßen als ein Gesellenstück betrachtet wird, – den Fall nämlich, wo die Caroline am unteren Rande des Mittelloches aufgestellt ist, und durch den hart an derselben Bande, aber oberhalb des Mittelloches, stehenden Spielball a mittels Double in das Mittelloch gespielt werden soll. Es scheint diese Anforderung mit den Gesetzen des Rückschlags nicht vereinbar, allein da die Praxis die Möglichkeit darthut, so muß sich doch auch eine gesetzmäßige Erklärung für die Ausführung finden. Bekanntlich muß der Ball a, damit er in der durch die Abbildung verdeutlichten Weise von der Bande abprallt, mit dem Queue auf der rechten Seite getroffen werden. Er gleitet dann zwar in der Richtung des Stoßes über das Billard, dreht sich aber während dieses Laufes nicht wie das Wagenrad von oben nach unten, sondern in der Weise, wie es die Pfeile andeuten, von links nach rechts, um sich selbst. An der Bande angekommen, möchte er in Folge dieser Drehung nach der rechten Seite laufen, während ihn die Elasticität der Bande nach b zurückwerfen will. Das Ergebniß ist, daß er sich keiner der beiden auf ihn einwirkenden Bewegungen hingiebt, sondern einen Mittelweg einschlägt und in einem Winkel von der Bande abprallt, der sich um so mehr nach rechts neigt, je schiefer der Ball auf dieser Seite von dem Queue getroffen war. Er wird also auch bei einer gewissen Stärke und Schiefe des Stoßes auf dem Rückwege von der Bande die Caroline in das Loch werfen können.
Es versteht sich wohl von selbst, daß jeder schiefgestoßene Ball in einer derartig scheinbar abweichenden Richtung auch von einem anderen Balle und nicht bloß von der Bande abprallt. Zu Anfang der sogenannten Kegelpartie werden die beiden Bälle häufig so aufgestellt, wie es in Fig. 2 durch d und e bezeichnet ist. Es ist Aufgabe, beide Bälle durch den Ball f in die betreffenden Ecklöcher zu spielen, oder wenigstens beide mit diesem Balle zu berühren (zu caramboliren); und dieselbe ist auf folgende Weise lösbar. Man stellt sich gerade auf einen der beiden Bälle auf, trifft mit dem Queue den Spielball f möglichst schief und heftig auf derjenigen Seite, auf welcher der andere mitzuberührende Ball steht, in unserm Falle also links; zugleich aber so, daß er den ersten Ball e zwar ziemlich, aber doch nicht ganz voll trifft, sondern ebenfalls etwas auf der Seite nach dem Balle d zu. Wenn der Stoß gut ausgeführt war, so bewegt sich der Spielball in der Richtung der punktirten Linie und dreht sich zugleich in der Richtung der Pfeile um sich selbst. Durch den Anprall an e vermehrt sich diese Drehung und wird so stark, daß sie den Ball f nicht in der Richtung nach g zurücklaufen läßt, sondern ihn nach der Bande hinzwingt. Er schlägt, wie vorhin der Ball a, einen Mittelweg ein, der ihn in einer krummen Linie der Bande wieder zuwendet, und trifft so auf den Ball d, welcher dadurch in das nebenbefindliche Loch gestoßen wird. Der Ball e ist vorher schon durch einen Quetscher in das andere Eckloch getrieben worden.
Außer auf der Kenntniß von der Wirkung der verschiedenartigen Stöße, beruht aber die Kunst des Billardspieles hauptsächlich auch darauf, mittels des gestoßenen Balles einen andern nach einer bestimmten Richtung, entweder in die am Tisch des Billards angebrachten Löcher, oder in aufgestellte Kegel, oder endlich nach einem dritten Balle hinzutreiben.
Der Stoß, welchen ein laufender Ball auf einen ruhig stehenden ausübt, wirkt allemal so, daß der letztere sich genau nach der dem Berührungspunkt entgegengesetzt liegenden Richtung fortbewegt. Für gerade und volle Bälle versteht sich dies von selbst, für die nicht ganz voll getroffenen aber zeigt es eine kurze Betrachtung. Wenn z. B. zwei Bälle auf dem Billard so nahe aneinander stehen, daß sie sich berühren, wie die Bälle a und b in Fig. 3, und ein dritter c wird in der angedeuteten Weise auf a gespielt, so wird sich dieser zunächst, weil er voll getroffen worden ist, allerdings in der Richtung c a weiter bewegen wollen. Dabei [189] muß er aber den Ball b auf die Seite schieben, und Jedermann weiß nun, daß in diesem Falle der letztgenannte Ball in der durch den Pfeil angedeuteten Richtung nach dem Eckloch weiter läuft.
Der Punkt also, wo man einen Ball zu treffen hat, damit er einen bestimmten Weg einschlage, läßt sich sehr leicht finden, wenn man jene Richtungslinie sich durch den Ball hindurch verlängert denkt. Damit in Fig. 3 d nach dem linken Mittelloche gehe, muß er von e an dem Punkte g getroffen werden. Daraus läßt sich der durch die Praxis bestätigte Schluß ableiten, daß die letzte Möglichkeit, einen Ball zu schneiden, dann gegeben ist, wenn die Richtung, nach welcher er gehen soll, auf der Richtung, in welcher der Spielball steht, senkrecht steht. Die Caroline d kann also nur durch solche Bälle nach der linken Mitte gemacht werden, die rechts von der Linie AB stehen.
Jeder auf der Seite getroffene (geschnittene) Ball verhält sich so, als wäre er schief gestoßen worden; und das ist vorzüglich zu beachten, wenn der gespielte Ball an die Bande trifft, weil er dann in ganz entsprechender Weise, wie wir es bei Fig. 2 gesehen haben, abprallt; daher bieten die sogenannten Schnittdoubles dem Mindergeübten so große Schwierigkeiten. Ebenso erleidet der Spielball, nachdem er den andern Ball getroffen, eine Drehung, als ob er um den getroffenen Ball herum laufen wollte, die ihn nicht unter demselben Winkel wieder vom getroffenen Balle abprallen läßt, unter welchem er ankam, sondern seinen Lauf nach der Bahn des zweiten Balles mehr oder weniger mit ablenkt. Nach den Gesetzen der Elasticität allein müßte z. B. der Spielball e, wenn durch ihn die Caroline d geschnitten wird, in der Richtung nach f hin abprallen; dies thut er aber in der Wirklichkeit nicht, sondern er geht unter einem viel flacheren Winkel ab und trifft, wie bekannt, noch gewöhnlich den unteren Carambolball a.
Da die Drehung des Balles nach der Seite einen wesentlichen Einfluß auf den Abschlag von der Bande ausübt, wie uns Fig. 2 gezeigt hat, so sind die Schwierigkeiten, welche sich der Ausführung der doublirten Bälle in den Weg stellen, auch viel größer, als die, welche gewöhnliche Schnittbälle darbieten.
Es wird zwar von allen Seiten als einzig zu beachtende Regel das Gesetz gepredigt, daß der Ball unter demselben Winkel abschlägt, unter welchem er an die Bande ankommt; allein das gilt ganz streng nur für sehr wenige Bälle. Die meisten Bälle sind von Haus aus nicht gerade getroffen worden, sondern bringen eine Drehung, welche die Abschlagsrichtung verändert, schon mit an die Bande; alle übrigen aber, die nicht ganz steil auf die Baude auftreffen, erhalten eine solche, auch wenn sie ganz voll und gerade gestoßen worden sind, weil im Augenblick des Anschlags nur der berührende Punkt des Balles in seiner Fortbewegung aufgehalten wird, während die übrigen Punkte eine gewisse Geschwindigkeit behalten, mit der sie sich nach vorwärts bewegen wollen, und die zu einer Drehung um den Berührungspunkt führt. Man muß dies berücksichtigen und Bälle wie r in Fig. 4 etwas weniger flach an die Bande spielen, als es das oben ausgesprochene Abschlagsgesetz verlangt.
Um einen Ball sicher zu doubliren, wird man aber nichtsdestoweniger sich in Gedanken den Winkel vorzustellen haben, unter welchem er an die Bande angeschlagen und wieder zurückgeworfen würde, falls lediglich die Gesetze der Elasticität in’s Spiel kämen. Dem Anfänger macht dies Schwierigkeit, und selbst für fertige Spieler giebt es Fälle, in denen die goldene Praxis nicht ausreicht.
Vorzüglich sind die Triples, Quadruples etc. bei denen der Ball zwei, drei, vier und mehrere Mal die Bande berühren soll, ehe er sein Ziel erreicht, nur durch lange Uebung zu erlernen. Da aber die Richtungen, die ein doublirter, triplirter etc. Ball einschlägt, von mathematischen Gesetzen bestimmt werden, so kann man auf dem Papiere sich die Wege verzeichnen, und dieselben Aufgaben mit Bleistift und Lineal lösen, die auf dem Billard Einem gegenübertreten können. Für ein Double z. B. findet man den Punkt der Bande, nach welchem der Ball zu spielen ist, sehr leicht, wenn man, wie in Fig. 4, an das Billard a, b, c, d ein anderes a², b², c², d² sich angeschoben denkt, und nach dem entsprechenden Punkte auf diesem zweiten (Hülfs-) Billard visirt. Diese Visirlinie giebt die Richtung, in welcher der Ball zu spielen ist, wenn er durch Abschlag von der Bande sein Ziel erreichen soll. Soll also der Ball B durch den Ball A in das Mittelloch e gespielt werden, so muß er so getroffen werden, als ob er nach e² auf dem Billard 2 direct gehen sollte, also an m; dagegen an n, wenn er in die Ecke d gehen soll, in welchem Falle er in der Richtung nach d¹ gespielt wird.
Bei einem Triple muß der Ball zweimal die Bande berühren, ehe er an dem bestimmten Orte ankommen darf. Man findet den Punkt, nach welchem er dann zu spielen ist, auf ähnliche Weise, indem man sich noch ein zweites Billard neben das vorhin gedachte angesetzt denkt; für Quadruples ist noch ein drittes nöthig. Die Figur 5 zeigt uns, in welcher Weise diese Hülfsbillards sich um das ursprüngliche gruppiren. Es sind nämlich, um alle möglichen Doubles zu bestimmen, ihrer schon 4 nöthig, die sich an die Seiten des Hauptbillards anlegen, und die in unserer Zeichnung mit der Ziffer 2 bezeichnet sind. Zwischen und neben diesen stehen die Triplebillards (8), die durch 3, und dann die Hülfsbillards für Quadruples (10), die durch die Ziffer 4 kenntlich sind.
In welcher Weise sich die Figur für Bälle höheren Ranges als Triple und Quadruple vervollständigt, leuchtet aus dem Schema von selbst ein.
[190] Mit Hülfe dieser Zeichnung kann man augenblicklich finden, auf wie vielerlei und auf welche Arten ein Ball doublirt, triplirt etc. werden kann. Man darf nur von dem Punkte, auf welchem der Ball steht, nach allen Löchern der betreffenden Hülfsbillards (also den mit 2 bezeichneten, wenn die Doubles, nach den mit 3 bezeichneten, wenn die Triples gesucht werden sollen etc.) Linien ziehen. Diejenigen von diesen Linien, welche von innen in die Löcher der Hülfsbillards treffen, und dieselben nicht bloß von außen berühren, also die quer über die Fläche des Hülfsbillards hinweglaufen, geben allemal eine Richtung an, nach welcher der Ball gemacht werden kann. Das Loch, in welches der in dieser Richtung gespielte Ball endlich läuft, ist kein anderes als das durch denselben Buchstaben bezeichnete, nach welchem man auf dem Hülfsbillard visirte. Will man den weitern Lauf des Balles verfolgen, so sucht man für den Punkt, wo die Bande von ihm berührt wird, die Richtung, indem man nun die Hülfsbillards von nächst niederm Range zu Rathe zieht. Denn nachdem der Ball einmal schon von der Bande abgeschlagen ist, wird aus einem Quadruple ein Triple, aus einem Triple ein Double etc. Um die Richtung zu finden, nach welcher ein Ball in ein bestimmtes Loch auf dem Billard zu spielen ist, wird man unter diesen Hülfsbillards aber allemal nur ein einziges brauchbar finden. Denn es ist in diesem Falle die Regel zu berücksichtigen, daß die Richtungslinie des Balles nicht bloß quer über die Fläche des Hülfsbillards, sondern auch quer über die Fläche des Hauptbillards hinlaufen muß. Es bietet aber durchaus keine Schwierigkeit, mit Hülfe einer solchen Zeichnung die Bahn eines Balles anzugeben, der 5, 6, 7 oder mehr Mal die Banden berühren soll, ehe er in ein bestimmtes Loch geht. Und wenn es auch in der Praxis schwierig, wo nicht gar unmöglich ist, sich rasch mit den ja nur in Gedanken existirenden Hülfsbillards zurecht zu finden, so wird ein solches Billardspielen auf dem Papier das Auge doch auch für die Beurtheilung der Bälle in der Wirklichkeit im höchsten Grade üben.
Manchmal geht Studiren doch über Probiren!
Tagebuch-Blätter von Adolf Stahr.
Auf der Terrasse – Maestro Gaetano Braga – Girolamo Induno und seine Errettung – Garibaldi und seine Verheirathung – Der Mangel an Straßen und Schulen – Die italienischen Priester – Marchese d’Azeglio.
Ich schreibe Dir auf der Terrasse im Schatten des blühenden Oleanders und des Weinstocks, die sich über mir zur Laube wölben. Alles ringsumher ist sanfte sonnenbeglänzte Stille. Nur die Wellen des Sees, der gestern bei starkem Winde hohe weißschäumige Wogen schlug, heute aber wie ein blauer Stahlspiegel, den Himmel mit seinen leichten weißen Wölkchen widerstrahlend, im hellen Sonnenglanze vor uns liegt, murmeln und plätschern ihr eintöniges Liedchen tief unten an den Steinquadern der Terrasse, wie sie es vor fast zweitausend Jahren zur Zeit des alten Plinius Secundus gethan, der auch von hier aus, an diesem „göttergeliebten Ufer“ seines Lacus Larius, so manche seiner Episteln an die Freunde in dem fernen Rom geschrieben hat. An der andern Seite der Terrasse sitzt die junge Gattin unseres Wirthes, eine Freundin der Familie Venini, die Signora Giulia Marcionni, eine der schönsten Italienerinnen, die meine Augen je gesehen, eine wahre „Julia“ an Schönheit, plaudernd neben einem jungen schwarzköpfigen Milanesen, einem überaus feinen, mädchenhaft zierlichen jungen Manne, der in einem nahen Bade seine im Freiheitskampfe empfangenen Wunden ausheilt, und täglich hinabkommt, hier auf der Terrasse zu frühstücken. Er hat unter Garibaldi in Sicilien und Calabrien gefochten und eine furchtbare Narbe, die vom Schädel über die linke Schläfe sich hinabzieht – ein Andenken, das ihm eine gesprungene Kartätschenkugel, die seinen Kopf streifte, zurückgelassen hat, – giebt davon sichtbare Kunde. Er ist ein reicher Kaufmannssohn ans Mailand, und außer einem jungen neapolitanischen Maestro, der sich in diese Einsamkeit zurückgezogen hat, um seine neue Oper für die Scala fertig zu componiren, und der dicht neben uns in einem ziemlich spelunkenhaften Privathause sich und seinen Flügel einquartiert hat, ist er unser einziger Genosse auf der Terrasse der Casa Marcionni.
Der Maestro heißt Gaetano Braga, hat schon zwei Opern in Neapel und Wien und eine andere in Paris ausführen lassen, und gilt für das begabteste musikalische Genie des jungen Italiens. Er ist, wie wir, täglicher Gast in der Familie Venini, die ihn sehr hoch halten, und an sprudelndem Humor und ausgelassener Lebendigkeit des Wesens ein echtes Kind seiner vulcanischen Vaterstadt. Wenn er in seiner rothen Garibaldiblouse mit irgend einer Tisch und Stühle überschwingenden Capriole früh Morgens singend und trällernd auf der Seeterrasse erscheint, während wir noch auf unserm Zimmer sind, so ist es, als wenn mit ihm eine ganze Compagnie lustiger Gesellen eingerückt wäre, denn er macht Lärm für zehn. Bald singt und tremulirt er mit seiner überaus klangreichen, südlich biegsamen Stimme irgend welche heroische Opernarien, während er sich dazu mit wahrhaft orchestermäßigem Spectakel auf dem Pianoforte des an die Terrasse stoßenden Salons begleitet und dazwischen irgend welche Scherzreden mit der ab- und zugehenden Signora Giulia wechselt; bald ruft er, irgend ein Volkslied trällernd, die vorüberfahrenden Schifferbarken an, die mit ihrer Ladung zum Markte nach Menaggio ziehen, bald improvisirt er recitativisch irgend eine Scene mit dem aufwartenden Cameriere – kurz, wenn von irgend einem Menschen, kann man von ihm sagen: qu’il a le diable au corps (daß er den Teufel im Leib’ habe). Das bewies er gestern Abend bei Venini’s, wo sich ganz zufällig durch Besuche aus Mailand und Como eine Gesellschaft von zehn bis zwölf Personen zusammengefunden hatte, was aber die Hausfrau nicht im Mindesten genirte, da die Bewirthung in solchen Fällen hier zu Lande, wo man spät dinirt, die allereinfachste von der Welt ist, und das Hauptvergnügen in der Unterhaltung besteht. Die Sorge für die letztere übernahm diesmal der Maestro in einer Weise, welche den Abend zu einem der interessantesten Musikabende machte, die ich jemals erlebt. Man begriff nicht, woher er die Kraft und Ausdauer der Stimme und die Fülle des Humors hernahm, mit der er in ununterbrochener Folge, singend und spielend uns mit aller erdenklichen, heitern und ernsten Musik, Opernarien und Bravourarien, neapolitanischen Volksliedern, Lazzi’s und Buffonerien der wunderbarsten Art überschüttete, alle Spielweisen der neuesten Virtuosen, alle Gesangs- und Actionsmanieren der Hauptsänger und Sängerinnen der Scala komödirend nachahmte, bald in dieser, bald in jener Manier moderner Componisten carikirend improvisirte und, wenn wir glaubten, daß er mit Kraft der Stimme und Erfindung am Ende sei, uns mit immer neuen, noch unglaublicheren, gleichsam spielend hingeworfenen Leistungen überraschte und aus dem Scherz in den Ernst, aus dem Ernste in den Scherz zurückwarf. Als ich gegen meinen Nachbar, einen jungen einundzwanzigjährigen Officier, einen Verwandten der Familie Venini, der seine Decoration auf dem Schlachtfelde bei Capua erworben – meine Bewunderung darüber ausdrückte, wie solch’ eine fast vierstündige Ausdauer physisch möglich sei, antwortete er mir: „O, er hat heute Nachmittag schon bei uns drüben in Menaggio ganz Aehnliches, noch Wunderbareres geleistet, darum ist er auch heute Abend nicht ganz mehr bei Kräften!“ – Die Lebenskraft dieser Kinder des Südens ist eben stärker als die unsre.
Dabei aber ruht dieses musikalische Sprühteufelwesen auf einem Fundamente sehr solider musikalischer Bildung. Als er etwas müde wurde und ich mich mit ihm in ein Gespräch einließ, fand ich in ihm einen Kenner und begeisterten Verehrer der deutschen Musik und ihrer Heroen, unter denen er für Beethoven und Mozart gleiche Begeisterung zeigte und unter den neueren Mendelssohn als seinen Lieblingsmeister und Lehrer zu verehren bekannte. Auch die Leistungen der Zukunftsmusik, die er vorher auf die allerheiterste Weise praktisch komödirt hatte, beurtheilte er nicht ohne gerechte Anerkennung, die er mit dem geistreichen Epigramme [191] schloß: „Ich fürchte nichts für die Zukunft der Musik von der Musik der Zukunft!“ – Zum Schlusse sang die ganze Gesellschaft noch auf unsern Wunsch die Garibaldihymne, deren Anfang: All’ arme! all’ arme! (Zu den Waffen!)
Als wir spät Nachts nach Hause gingen, ertönte noch von einer Barke her der zweistimmige Gesang heimkehrender Schiffer zu uns herüber. Ich kannte die Melodie; es war dieselbe, die ich vor drei Jahren manche Nacht am andern Ufer auf der Terrasse der Majolica vernommen hatte. Mir ward ganz heimisch dabei zu Muthe!
Gestern habe ich eine sehr interessante Bekanntschaft gemacht. Als wir von einem Frühspaziergange nach der Höhe, auf welcher die alte Herrenburg von Varenna liegt, zurückkehrten, fanden wir in dem Frühstückssalon unseres Gasthauses ein hellloderndes Kaminfeuer und an demselben sitzend ein schönes junges Paar, das die Nacht durch mit einem Vetturin von Lecco hergefahren war und sich von der Morgenkälte der Fahrt an dem behaglichen Feuer aufwärmte.
„Es ist nicht für mich, sondern für meine Frau,“ – sagte nach einigen Gesprächsworten, gleichsam entschuldigend, der schöne stattliche junge Mann, den ich an seinem ganzen Aussehen und an dem neben ihm stehenden Malerportefeuille als einen Künstler zu erkennen glaubte, – „denn ich bin der Kälte und Nachtfahrten schon anders gewohnt, sondern für meine Signora hier, die heute zum ersten Male eine solche Nachtfahrt gemacht hat.“ In diesem Augenblicke brachte uns der Barcarol der Signora Venini eine Aufforderung derselben zu einer am Nachmittage zu unternehmenden Fahrt über den See nach Menaggio zu der Villa des ihr befreundeten Marchese d’Azeglio, die wir zu sehen gewünscht hatten. Bei der Nennung des Namens Venini bemerkte der Fremde, daß er gleichfalls die Familie kenne, und daß er gekommen sei, um das Grab eines geliebten Freundes zu besuchen, der in ihrer Villa begraben sei. So gab ein Wort das andere, und es fand sich, daß er der Maler Girolamo Induno aus Mailand, Bruder des Malers Domenico Induno sei, daß ich beider Brüder Arbeiten vor sechs Jahren auf der großen Welt-Kunstausstellung zu Paris gesehen hatte,[1] und ihm den Inhalt derselben angeben konnte. Der Freund aber, zu dessen Grabe er pilgerte, war eben jener unglückliche, von den Oesterreichern in Mailand erschossene Doctor Ginami, von dessen tragischem Geschicke ich vorher erzählt habe. –
Girolamo Induno ist ein Lombarde der besten Art, einer von denjenigen, die in ihrer gesetzten Ruhe und Einfachheit einen Zug deutschen Wesens und Charakters haben. Wir näherten uns einander mit jener Schnelligkeit, wie sie nur die Gunst des Reiselebens und jener Zauber plötzlich entdeckter gegenseitiger Beziehungen möglich macht, der bei solchem durch die Gunst des Zufalls herbeigeführten Begegnen in der Fremde sich doppelt wirksam erweist. Er mochte ungefähr im Anfange der Dreißig stehen. Kräftig gebaut, über Mittelgröße, breitbrüstig, ein Ausdruck milden Ernstes in den Zügen des wohlgeformten, nachdenklichen, von dunkelbraunem Barte eingefaßten Gesichts, von höchster Einfachheit in Sprache und Benehmen, und von einer überaus ansprechenden verläßlichen Treuherzigkeit des ganzen Wesens, die aus seinen dunkelbraunen Augen leuchtete, – der Eindruck des Ganzen halb Künstler, halb Soldat. Und Soldat ist er gewesen, ein Soldat der Freiheit seines Landes, von seinem neunzehnten Jahre an, wo er im Jahre 1848 zu Garibaldi’s Fahnen eilte und in Welschtyrol und 1849 in der ewig denkwürdigen Vertheidigung Roms unter dem großen Volkshelden kämpfte. Im Jahre 1855 machte er den Krimfeldzug als Künstler mit, und malte dann wieder bis zum Jahre 1859, wo der zu seiner Staffelei zurückgekehrte Künstler Pinsel und Palette wieder zur Seite warf und auf’s Neue die Büchse ergriff, um dem Rufe des geliebten Führers zu folgen. Aus dell’ Ungaro’s Buche la difesa di Roma wußte ich, daß der Künstler und wie tapfer er in Rom gekämpft hatte. Von ihm selbst erfuhr ich einiges Nähere über seine wunderbare Errettung bei dem blutigen Strauße, der um die Villa Corsini gegen die Franzosen zu Anfange der Belagerung gestritten ward.
Er war mit einem Cameraden in einem Eckzimmer der weitläufigen Villa postirt gewesen, als die Franzosen die schwachbesetzte Villa überfielen. Sein Camerad ward neben ihm am Fenster feuernd erschossen; er selbst überhörte das Rückzugssignal und sah sich wenige Minuten später abgeschnitten und im Versuche, sich durchzuschlagen, von einem Trupp eindringender Franzosen zurückgeworfen, die ihn, als er sich nicht ergeben wollte, von mehreren Kugeln und von nicht weniger als einundzwanzig Bajonnetstichen an Armen, Brust und Schenkeln verwundet, für todt zurückließen. Als er erwachte, fand er sich im Garten liegend am Fuße der hohen Terrassenmauer, auf der er zuletzt gestanden zu haben sich erinnerte. Ob er herunter gefallen oder von den Feinden herunter geworfen sei, wußte er selbst nicht mehr. Von Blutverlust erschöpft, schleppte er sich in stundenlanger Anstrengung unter dem Schutze der eingebrochenen Dunkelheit, auf allen Vieren kriechend, zu den Seinen zurück, wo seine Wunden untersucht und keine derselben tödtlich erfunden wurde. Nach einigen Wochen konnte er wieder in den Dienst eintreten.
Von Garibaldi sprach er nur in den Ausdrücken der tiefsten Verehrung. Er habe „den Muth eines Löwen und das Herz eines Kindes.“ „Kein Feind kann ihn täuschen, aber er wird leicht die Beute eines Jeden, der ihm unter der Maske der Freundschaft und der Liebe zum Vaterlande naht, und dem er einmal sein Vertrauen geschenkt hat. Seine Affaire mit der Marchese Raimondi ist ein trauriger Beweis davon!“ Ich fragte, ob er mir über diese vielbesprochene Geschichte etwas Näheres mittheilen könne, und erfuhr von ihm, der die Sache in nächster Nähe miterlebt hatte, Folgendes:
Der Besitzer der größten aller Villen am untern Comersee, Marchese Raimondi, hatte eine Tochter von großer Schönheit, die sich durch ihre Exaltation für die italienische Sache im Jahre 1859 und durch ihre zur Schau getragene Begeisterung für den populärsten aller italienischen Volkshelden auszeichnete. Als Garibaldi mit seinen Schaaren beim Beginne des italienischen Feldzuges in den Gebirgen zwischen dem Lago maggiore und dem Comersee operirte, gelang es ihr, demselben persönlich nahe zu kommen, indem sie ihm einige Male, nicht ohne eigene Gefahr, Nachrichten über die Stellungen, die Stärke und die Absichten der gegen ihn ausgesandten österreichischen Abtheilungen selbst überbrachte. Ihre patriotische Hingebung, die Kühnheit, mit der die schöne Amazone den Gefahren Trotz bot, die begeisterte Verehrung, mit der das schöne Weib ihm huldigte, machten Eindruck auf Garibaldi, der ihr um so unbedingter vertraute, als die Kundschaften, die sie ihm brachte, ihm nicht unwesentliche Dienste geleistet und ihn und die Seinen einmal sogar vor einer großen Gefahr bewahrt hatten. Die Donna ihrerseits hatte es gar kein Hehl, daß sie für den Helden von glühender Leidenschaft entbrannt sei, daß sie das Leben nicht ertragen könne, wenn er nicht der Ihrige werde. Sie wußte es dahin zu bringen, daß der General am Ende des Feldzugs eine Zeit lang sein Quartier in dem Schlosse ihres Vaters, der ehemaligen Villa Odescalchi, unweit Como nahm, und hier vollendete sie die Eroberung des Helden. Garibaldi war 52 Jahr, sie weit über die Hälfte jünger; aber der Gedanke, daß ein begeistertes Mädchen, ein Tochter Italiens, kein größeres Glück kenne, als sich ganz dem geliebten Helden ihres Vaterlandes zu weihen, ihm seine letzten Lebensjahre durch ihre Liebe zu verschönern, hatte an sich nichts Unglaubliches oder auch nur Auffallendes. Und Donna Teresa war schön, für den Mann ihres Herzens ebenso wie für die Sache Italiens bis zum Fanatismus begeistert, und Garibaldi’s Herz war jung und glaubensvoll. Seine geliebte Anita war seit zehn Jahren todt, seine Tochter und sein Sohn Menotti waren erwachsen, und Donna Teresa schien ganz dazu geeignet, ihm die Lücke in seinem Dasein auszufüllen, die der Tod seines geliebten Weibes, die alle seine Schicksale und Gefahren bis zum letzten Hauche kühn und treu getheilt hatte, in sein Leben gerissen. Dennoch schwankte er längere Zeit; „es schien ihm eine Untreue gegen das Gedächtniß seiner Anita,“ wie er gegen seine Vertrautesten äußerte, „eine Andere an ihre Stelle treten zu lassen,“ und nur die Ueberzeugung, welche die junge Marchese in ihm zu erregen wußte, daß sie es nicht überleben werde, sich von ihm verschmäht zu sehen, gab endlich bei ihm den Ausschlag. Einige anonyme schriftliche Warnungen, welche er erhielt, die das Betragen der Marchese klug berechnete Verstellung nannten, verschmähte er in der Geradheit seines vertrauenden Sinnes. So ward der unwiderrufliche Bund geschlossen. Kaum eine Stunde nach der Ceremonie der Trauung aber traf ihn der vernichtende Schlag. Ein Cavalier aus Bergamo, der herbeigeeilt war, um ihn vor dieser Verbindung [192] mit einer Unwürdigen zu bewahren, und leider zu spät gekommen war, brachte ihm die überzeugenden Beweise, daß das unselige Weib sein Vertrauen schmählich betrogen, daß sie nicht nur vorher die Geliebte eines piemontesischen Officiers aus Bergamo gewesen sei, sondern das sträfliche Verhältniß mit ihrem Buhlen auch noch nach ihrer Bekanntschaft mit Garibaldi fortgesetzt habe. Garibaldi war tief erschüttert. Er verließ in derselben Stunde die Villa Raimondi und ging ohne alle Begleitung nach Genua, wo er sich sofort nach seiner einsames Felseninsel Caprera einschiffte. Der König entließ den Verräther sofort aus dem Dienste, der, um sein Leben vor den ihm drohenden Kugeln der Waffengefährten Garibaldi’s zu erretten, nach England entfloh und jetzt mit der Verrätherin in irgend einem Winkel der Schweiz versteckt lebt. –
Ich fragte, ob die Sache in Garibaldi einen tieferen Eindruck hinterlassen habe. „Nur im Anfange,“ versetzte der Künstler; „da haben mir Freunde gesagt, daß sie sein Antlitz nie so düster und traurig gesehen hätten. Aber das dauerte nicht lange. Seine Seele ist zu sehr erfüllt von dem Gedanken an sein Vaterland, als daß solche persönliche Eindrücke in ihm haften könnten, und ich bin überzeugt, daß er nach einigen Wochen und Monaten bereits die ganze Sache so rein vergessen hatte, als wenn er sie niemals erlebt hätte!“
Nachmittags fuhren wir mit unserer Freundin hinüber nach Menaggio, das über und über im Festschmuck der italienischen Tricoloren prangte, weil der zur Inspektion von Mailand gesendete Oberst die dortige Nationalgarde musterte, die überall vom 18–36. Jahre als Mobilgarde dient, vom 37–60. zur Aufrechterhaltung der Ordnung verwandt wird. Die Energie und Schnelligkeit, mit der die Regierung diese und andere Einrichtungen betreibt, ist bewundernswerth, obschon natürlich noch Alles sehr in den Anfängen ist.
Vorzüglich ist für das Schul- und Unterrichtswesen noch viel zu thun, das hier ganz unglaublich vernachlässigt ist, und unser Freund, der Neapolitaner de Sanctis, der jetzige Unterrichtsminister des Königreichs Italien, den ich vor fünf Jahren im Exil als Lector der italienischen Sprache an der Universität zu Zürich kennen lernte, wird alle Hände voll zu thun haben, um hier Licht und Luft zu schaffen. „Was uns vor Allem noth thut, sind Schulen und Straßen!“ schrieb neulich ein Freund aus der Provinz Neapel, „die werden uns nachhaltiger helfen, als hunderttausend Mann, gegen die Umtriebe der Priester und Briganten.“ Straßen hat man hier, aber an Schulen fehlt es überall, weil es – an Lehrern fehlt. Die Pfaffen, die dafür desto zahlreicher sind, kann man dazu nicht brauchen, theils weil sie dazu nicht befähigt sind, theils weil man ihnen die Jugend nicht anvertrauen darf und mag. „Aber was thun denn Euere Priester jetzt?“ fragte ich unsere Freundin, mit der ich dies Capitel bei der Ueberfahrt verhandelte. „Was sie thun?“ – war die Antwort – „je nun, sie treiben Seidenbau und mästen Vieh, suchen auf alle Art Geld zu machen, nehmen den armen Landleuten den letzten Soldo aus der Tasche, verleihen Geld zu wucherischen Zinsen, haben Liebschaften mit ihren Dienstmädchen und andern Frauen, spielen, rauchen und gehen auf die Jagd.“ Das Letztere hatte ich selbst gesehen, als ich neulich auf dem Dampfschiffe mit einem Geistlichen, einem schönen, starkgebauten Mann in mittleren Jahren, zusammentraf, der seine zwei Jagdhunde an der Leine, die Doppelflinte über dem priesterlichen Rocke auf dem Rücken hängend, die Jagdtasche an der Seite, eine wunderliche Figur machte.
„Aber,“ fragte ich weiter, „sind denn das nicht eigentlich lauter Dinge, die Euren Priestern verboten sind?“
„Freilich sind sie verboten,“ war die Antwort, „aber es ist eben, wie es ist, und sie thun eben, was ihnen gefällt. Vor allen Dingen aber sind sie hier meist gut österreichisch. Diese jetzige Generation ist nicht mehr zu ändern, man muß sie laufen und allmählich an Auszehrung sterben lassen. Märtyrer aus ihnen zu machen, würde nur schaden. Wir brauchen ein Menschenalter, um das Volk aufzuklären und die alten Schäden gründlich zu bessern. Das arme Volk, das von Preßfreiheit und andern Freiheiten noch nichts versteht, und darum auch noch nichts davon hat, das ebensoviel und noch mehr steuern und zahlen muß, als früher, und dem die Pfaffen für Geburt, Hochzeit, Begräbniß und Seelenmessen den letzten Centesimo aus der Tasche ziehen, – dies arme, seit Jahrhunderten vernachlässigte, unwissende Volk bedarf vor allen Dingen des Unterrichts, der es über seine zu erwartenden Vortheile aufklärt, um patriotisch im Sinne der Gebildeten zu werden. Bis jetzt ist ein solcher Aufschwung von ihm kaum zu verlangen, und das Einzige, was es fühlt und empfindet, ist, daß es nicht mehr von einer fremden Polizei gehudelt und geschoren und nicht mehr von Spionen aus den eignen Landsleuten verrathen wird. Das Aufhören der denuncirenden Spionage ist der einzige Segen, den es bis jetzt von der Befreiung empfindet.“
Das Wichtigste für mich an diesen Mittheilungen war, daß sie ganz laut in Gegenwart der beiden Barkenführer, und in italienischer Sprache, also ihnen verständlich, geschahen, und daß der ältere von beiden mehrmals bei den Herzensergießungen über die Pfaffen beistimmend mit dem Kopfe nickte. Ich habe später noch viele Beobachtungen gemacht, die darauf hinausgehen, daß Italien am Beginn einer religiösen Wandlung steht, gegen welche die politische des Augenblicks an Wichtigkeit für die Welt weit zurücktritt. Es hat sich in den gebildeten Schichten eine Energie des Hasses gegen die Priesterherrschaft aufgesammelt, und ich bin wiederholt einem Freimuthe der Aeußerung in konfessionellen Dingen und Glaubenssachen begegnet, gegen den wir in Deutschland weit zurückstehen.
Die Villa des Marchese d’Azeglio liegt auf der Höhe über Menaggio dicht neben der prachtvollen Villa Mylius, zu welcher eine halbe Stunde weit aufsteigend eine treffliche Kunststraße mit gewaltigen Steinbrücken über Abgründe und Gebirgsbäche hinaufführt, ein Geschenk, wie eine Inschrift auf einem Denkmale am Wege sagt, das der reiche Begründer des genannten großen Mailänder Handelshauses, der verstorbene Banquier Mylius, mit wahrhaft fürstlicher Großmuth den Gemeinden von Menaggio und den umgebenden Ortschaften gemacht hat. Der Marchese d’Azeglio war nicht anwesend. Er lebt jetzt meist auf seiner Villa bei Canero am Lago maggiore, und hat die hiesige Villa seiner Frau, von der er sich getrennt hat, überlassen.
Die Villa des großen Schriftstellers, der zugleich als Staatsmann, Dichter und Künstler sich auszeichnete, ist nur von bescheidenen Verhältnissen, im Vergleiche zu den andern Palästen der Reichen und Großen, welche die Ufer des Sees erfüllen, aber es interessirte mich, die Räume zu sehen, welche der frühere Ministerpräsident selbst mit seiner Hand ausgeschmückt hat. Es sind Illustrationen zu einem seiner beliebtesten historischen Romane „la Sfida di Barletta“, welche in Freskomalerei die Wände des Salons bedecken, und deren landschaftlicher Theil ein sehr bedeutendes Talent der Naturauffassung verräth. In der That hatte sich der junge Marchese bereits durch langjährige Studien in Rom einen bedeutenden Künstlerruf erworben, von dem mehrere seiner Arbeiten im Louvre zu Paris und im Schlosse zu Turin Zeugniß geben, ehe ihm seine beiden Romandichtungen „Ettore Fieramosca“ und „Nicolo de’ Lapi“ einen Rang nächst Manzoni erwarben. Als Publicist mit seinen Freunden Gioberti und Balbo wirkend und ihren Ruhm theilend durch seine Schrift „degli ultimi casi di Romagna“ (über die jüngsten Vorfälle in der Romagna) und durch viele andere Werke, wurde er seit 1846 die Seele der Reformen, mit welchen Pius IX., der ihn hoch schätzte und zu sich berief, die italienische Bewegung einleitete. Er vergoß an der Spitze seiner Legion sein Blut bei Vicenza für die Befreiung seines Vaterlandes und ward von Victor Emanuel bei seinem Regierungsantritte an die Spitze des Ministeriums gestellt, eine Stellung, die er nur nach langem Widerstreben annahm. Es ist etwas Antikes in solchen Persönlichkeiten, die den Künstler, Dichter und Schriftsteller mir dem Krieger und Staatsmann vereint aufzeigen; und antik erschien hier in seiner Villa auch die Sinnesart des Mannes, die sich in der allem und jedem Prunk abgewandten Einfachheit seines Wohnsitzes zeigte, dessen Hauptschmuck die herrliche Aussicht ist, die ich ohne Frage als die schönste über den See bezeichne.
Nicht zu übersehen!
Mit nächster Nummer schließt das erste Quartal, und ersuchen wir die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das zweite Quartal schleunigst ausgeben zu wollen.
Leipzig, im März 1862.
- ↑ Man sehe: „Nach fünf Jahren“. Pariser Studien auf der großen allgemeinen Kunstausstellung des Jahres 1855 von Ad. Stahr, Rh. I. S. 114.