Die Gartenlaube (1863)/Heft 2
Amanda war eine jener Frühlingsnaturen, denen der Glaube an das Unglück schwer wird. Lächelnd und sorglos blickte sie in’s Leben, wie in einen grenzenlosen, blauen Morgenhimmel. Wohl überschlich sie manchmal der Gedanke an ein nahes Ende des Vaters, aber das waren vorübergehende, wesenlose Schatten. Es ist unmöglich, dachte sie, als sie einige Stunden später auf ihrem Stübchen über seinen Handarbeiten saß. Gott muß uns den Theuren erhalten, denn das Leben seines Kindes blüht nur auf dem seinen fort. Noch steht er ja im schönsten Mannesalter, und welch ein Mann ist er! Seine Vorgesetzten sehen in ihm nicht den Untergebenen, sondern den Freund, das Muster eines redlichen Beamten. Die Stadt und Bürgerschaft zählt ihn stolz zu den Ihrigen. Der Fürst, unser hoher Nachbar, zeichnet ihn auf jede Weise aus. Mit einem mäßigen Gehalte weiß er sich ein behagliches Dasein zu schaffen, und mich zu bilden, scheut er keine Opfer. Selbst die zarte Sorgfalt der Mutter konnte sein Herz ersetzen; Freude und Friede wichen nie aus diesen bescheidenen Räumen. Jedes von uns Beiden ist dem andern nothwendig; jedes trägt und wird von der höchsten Liebe getragen. Die neue Verbindung mit einer andern Familie ist für den Vater ebenso erfreulich als tröstlich. In einer Vermählung mit Theodor sieht er die Gewißheit, daß seine Grundsätze und Tugenden fortdauern. Und der Himmel sollte ihn, der so viele Fremde glücklich machte, nicht das Glück seines eigenen Kindes erleben lassen? Nein – bald wird er wieder heiter lächeln und genesen, mich als Braut, als das Weib Theodor’s segnen!
Und damit erschlossen sich ihr neue, trostreiche Bilder der Zukunft. Die Nadel entfiel ihren Händen, und das Mädchen lehnte sich zurück, so daß das Sonnenlicht voll auf die braunen Haare, das feine Gesicht und die schwellende Gestalt fiel. Die frischen, recht zum Kuß geschaffenen Lippen öffneten sich über den weißen Zähnen mit einem Lächeln. Die langen Wimpern verschleierten halb die braunen Augen, die auf den gestickten Rosen ihrer Arbeit ruhten, während die Seele rosigen Jugendträumen nachhing. Sie sah sich von einer frisch ergrünten Natur umgeben, Arm in Arm mit dem geliebten Gatten wandelnd.
Als sie in der Dämmerstunde am Bett des Kranken wieder Platz nahm, befremdete sie das stumme, nachdenkliche Wesen, der starre Blick des Vaters. Sein Geist schien der gewohnten Thätigkeit nachzuhängen, denn seine Lippen flüsterten Zahlen, und die Finger schieben auf die Bettdecke Ziffern, schienen sie auszulöschen und wieder zu schreiben.
„Vater,“ brach endlich Amanda die bange Stille, „warum hast Du keinen Blick für mich? Lange schon sitze ich neben Dir, und Du hast meine Anwesenheit noch kaum bemerkt!“
Der Rendant wandte sein Antlitz nach der Sprechenden und sah sie mit großen, fremdblickenden Augen an. „Kommst Du von Scybylski?“ fragte er dann.
„Was hätte ich bei dem zu suchen?“
„Kommt Reinhold nicht?“
„Ja, er wollte Dich Abends besuchen.“
„Wie viel Uhr ist es?“
„Sieben Uhr.“
„Jetzt zieht der Herr Rath auf unserm Büreau den Ueberrock an; der Herr Kreisrichter ist schon fort, der hält niemals länger als bis fünf Uhr aus. Jetzt kommt der Rath an mein Pult. Guten Abend, Herr Kreisgerichtsrath!“ Der Rendant verbeugte sich im Bett vor einer unsichtbaren Person.
„Vater!“ rief Amanda ängstlich und berührte den Arm des wachen Träumers.
„Ja so,“ sagte er traurig, „ich bin krank, und mein Pult steht leer. Ob der Herr Rath wohl im Vorübergehen nach meinem Platz blicken wird? Ich habe ihm Jahr für Jahr und Abend für Abend an derselben Stelle und mit demselben Glockenschlag einen guten Abend und eine Prise geboten. Er ist kein Schnupfer, er mußte jedesmal niesen … Prosit, Herr Kreisgerichtsrath! … Ja so! heute niest er nicht, denn heute ist Niemand da, der ihm eine Prise reicht! Wenn er nur nicht krank deswegen wird! das regelmäßige Niesen that ihm gewiß gut. … Jetzt tritt er an Scybylski’s Pult. …“
Der Kranke richtete sich jetzt krampfhaft empor und starrte mit weit geöffneten Augen in’s Leere. „Was zischelt er mit dem Actuarius? Was blättern sie denn in den großen Büchern? Es sind meine Bücher! Ich will nicht, daß man in meinen Büchern … Alles in Ordnung, Herr Kreisgerichtsrath! Alles in Ordnung!“
Er sank erschöpft in die Kissen zurück. Pastor Reinhold trat ein. Günther erkannte ihn.
„Gut, daß Sie kommen, Herr Pastor. Ich habe eine Gewissensfrage an Sie. Halten Sie das Lotteriespiel für eine Sünde?“
„Als Leidenschaft kann es leicht zur Sünde werden.“
„Glauben Sie aber nicht, daß Gott einem Bedrängten auch auf diesem Wege aus der Noth helfen kann?“
„Wer vermag des Herrn Mittel und Wege zu erforschen?“
[18] „Wir haben doch Beispiele! Mein Vorgänger im Amte war ein armer Mann mit sieben Kindern. Unser Fürst – das Gericht war damals noch fürstlich – schenkte ihm einmal ein Viertelloos; es gewann. Der Beglückte wurde Landmann und besitzt jetzt ein schönes, einträgliches Gut im Gebirge.“
„Spielst Du denn auch, Vater?“ fragte Amanda.
Der Rendant stockte und zupfte verlegen an der Bettdecke. „Ich?“ erwiderte er zögernd. „Ich spiele nicht. Es war nur eine flüchtige Idee von mir; ein kranker, arbeitloser Mann kommt auf allerlei Pläne und Träumereien. Es wäre doch gar zu schön, wenn eines Tages der Postbote mit einem Brief käme, in dem geschrieben steht: das Loos Nummer so und so hat 7000 Thaler oder noch mehr gewonnen! Wenn das eintrifft, schenk’ ich dem Briefträger funfzig baare Thaler … das heißt, wenn ich einmal spielen sollte.“
Er schwieg und schien nette Träume zu spinnen. Das Liebespaar flüsterte zusammen. Es ging auf zehn Uhr; da schrie der Rendant plötzlich auf und wies nach dem Fenster, das nach dem Garten ging und nur wenige Fuß über der Erde lag, denn des Rendanten Zimmer waren im Erdgeschoß. Ein Gesicht, ein wohlbekanntes, hatte sich an den Scheiben gezeigt und war schnell wieder verschwunden.
„Da! da, Scybylski!“ rief Günther. Er war noch blässer geworden. Amanda trat an’s Fenster. Wirklich sah sie draußen im Mondlicht den Actuarius über die verschneiten Beete nach der Gartenthüre huschen.
„Warum kommt er nicht herein?“ sagte sie verwundert.
„Soll ich ihn hereinrufen?“ fragte der Pastor und griff nach seinem Hut.
„Nein, nein!“ bat Günther. „Laßt ihn gehen!“
Die beiden Andern schoben die Ursache seiner Aufregung auf die Krankheit. Der Pastor verplauderte noch ein halbes Stündchen, dann empfahl er sich. Amanda machte sich im Nebenzimmer ein Lager zurecht und versank bald in Schlaf. Von des Vaters Lager aber floh der Schlaf. Draußen regte sich nichts; nur der Wächter sang von Stunde zu Stunde sein eintöniges Lied. Elf Uhr – zwölf Uhr – Eins! Und wieder starrten Günther’s Augen in’s Leere, wieder schrieben seine Finger auf die Decke Zahlen, löschten sie aus und schrieben wieder. Er sah im Geiste seinen Collegen und Nachfolger über den großen Büchern sitzen, die sonst wohlverschlossen in seinem, in des Rendanten Pulte lagen. Er rechnete mit seinem Traumbild, revidirte und addirte eine endlose Reihe von Posten. Was für eine Menge von Namen! Er kennt alle, weiß genau, was sie gegeben, und was er in die Bücher eingetragen hat. Nur arme Leute, sehr arme Leute! Aber es summirt sich doch! Der Mann im Traumbild schüttelt den Kopf, blättert zurück und beginnt auf’s Neue zu rechnen. Günther rechnet mit ihm. Jetzt springt der Mann im Traumbild auf und geht in der Stube auf und nieder. Günther’s Augen hängen brennend an ihm. Wenn er den Rücken kehrt, will er die Bücher vom Tische reißen. … Aber Jener sitzt schon wieder über den Folianten wie eine Eule, und verfolgt mit Aug’ und Finger Posten für Posten. Der Mann im Traumbild wischt sich den Schweiß von der Stirn, auch Günther ist in Schweiß gebadet. Die Blätter rauschen, aber die stummen Zahlen bleiben unverändert dieselben! Nein! jetzt wachsen sie riesengroß, verzerren sich und greifen wild in einander! Alles um ihn bewegt sich und kreist; nur das Antlitz des geträumten Mannes blickt ihn versteinert an; jetzt öffnet das Schattenwesen seine Lippen und flüstert – nein, es schreit, daß die ganze Stadt aus dem Schlafe fahren und es hören muß: Gefälscht! – – – – – – – – – – – – – – – – – – –
In derselben Nacht brannte in der einen Amtsstube des Kreisgerichts eine einsame Lampe und warf ihre Strahlen auf offene Bücher mit Zahlenreihen. Ueber sie gebeugt saß Scybylski.
Die Wärme des Ofens war längst verflogen, es war bitter kalt in der Stube, aber den eifrigen Rechner fror nicht, seine Stirne glühte, seine Pulse fieberten. Oft unterbrach er sich und starrte auf die Ziffern, als müßten sie unter seinen flehenden Blicken sich verändern. Aber die Zahlen blieben so, und ihre Summen waren erlogen. Endlich schob er stöhnend die Bücher bei Seite. Noch immer wollte er sich überreden, daß ein Fieber ihm die Klarheit raube und seine Sinne verwirre. Um sich zu sammeln, griff er zu einem Bündel von des Rendanten Acten. Er überlas einige Bogen und verstand Satz für Satz. Da fiel ein offener Brief aus dem Hefte zur Erde. Scybylski hob ihn auf und durchflog seinen Inhalt. Er war kurz:
„Sehr geehrter Herr Rendant! Umgehend ersuche ich Sie um Erneuerung der von Ihnen gespielten sechs ganzen Loose …“
Sechs ganze Loose macht jährlich sechshundert Thaler. Ein Mann ohne Vermögen, mit einem Gehalt von siebenhundert Thalern spielt mit sechshundert Thalern … Diese Rechnung war klar. Scybylski entsank das Blatt. „Amanda! arme Amanda!“ rief er und barg zusammenbrechend sein Antlitz in beide Hände. Er weinte.
Zwar faßte er sich nach einer Weile männlicher und bezwang die Thränen; aber die schmerzlichsten Gedanken zerrissen seine Seele. „Warum,“ rief er, „muß ich diese furchtbare Enthüllung machen und offenbaren? Wodurch habe ich diese Prüfung verschuldet? Ich, der Amanda mehr als Alles auf der Erde liebt, muß ihren Vater als Betrüger entlarven und dem Gerichte überliefern! Und ich sehe keine Rettung, keinen Ausweg! Schweigen darf ich, kann ich nicht! Meine rechte Hand würde ich hingeben und betteln gehen, dürfte ich diese Bücher, ohne Eid und Treue zu verletzen, den Flammen übergeben und mit ihnen Günther’s Schuld vernichten! So aber muß ich meiner Pflicht gehorchen, die Familie und mich für immer unglücklich machen!“
Er ordnete und verschloß sorgfältig Bücher und Papiere, dann schickte er sich zum Aufbruch an. Die Lampe verlosch, aber an den Fenstern glänzte schon der erste Frührothschein.
In der zehnten Morgenstunde nach dieser verhängnisvollen Nacht hörte Amanda, im obern Raume beschäftigt, den Vater plötzlich heftig klingeln. Als sie bestürzt in sein Zimmer eilte, rief ihr Günther entgegen: „Scybylski kommt; ich weiß, Scybylski kommt!“
Und in diesem Augenblicke ertönte auch wirklich die Glocke im Hausflur, und Amanda, welche zu öffnen ging, erschrak nicht wenig, als Scybylski mit höflichem Gruß eintrat. Der Schreiber, beim Anblick seiner geheimen Liebe selbst mit Gluth übergossen, bemerkte die Ueberraschung des Mädchens und stotterte etwas von Störung und Wiederkommen.
„Nein, Herr Scybylski,“ sagte Amanda schnell gefaßt und freundlich. „Sie sollten doch wissen, daß Sie uns nie stören. Ich erschrak nur über des Vaters Ahnungsvermögen. In dieser Minute hat er Ihren Besuch vorhergesagt.“
„Wirklich? Kann ich ihn sehen, darf ich ihn sprechen?“
Scybylski vermied es hartnäckig, dem Mädchen in die gefährlichen Augen zu schauen. Er mußte den Rendanten sprechen, aber in diesem Augenblicke wünschte er mit steigender Herzensangst, abgewiesen zu werden. Amanda jedoch erwiderte arglos:
„Gewiß, lieber Herr Scybylski, er wird sich freuen, Sie begrüßen und von der Amtsstube sprechen zu können.“
„Ich habe mit ihm über einen Rechtshandel zu reden.“ – Scybylski stieß jedes Wort mühsam heraus. – „Ist er – ist der Herr Rendant allein?“
„Niemand ist bei ihm. Mich halten meine Geschäfte ohnehin über Gebühr von der Krankenstube fern … Oder“ – setzte sie nach kurzem Besinnen hinzu – „ich werde nach dem Schloß gehen. Mein unruhiger Geist würde mich doch dann und wann zum Väterchen ziehen, und wer weiß, was für tiefe Staatsgeheimnisse mir da den Kopf verdrehen möchten. Aber warum treten Sie nicht ein?“
„Ich, ich erwarte noch die Ankunft des Herrn Gerichtsraths.“
„Ei, so fehlt ja nur der Kreisrichter, und unser Haus vereinigt das ganze hohe Gericht. Vertiefen Sie sich nicht zu sehr in die Rechtshändel, lieber Scybylski! Denken Sie nicht allein an das Heil des Staates, sondern auch an das Ihrige. Sie sehen selber krank aus.“
Sie drängte den Verlegenen einige Schritte an’s Licht zurück, das durch die offene Hausthür in den Flur fiel. „Wahrhaftig!“ sagte sie, und ihre Blicke ruhten mitleidig auf dem Antlitz des Schreibers, das die Spuren schlafloser Nächte trug. „Wahrhaftig, die Krankheit meines Vaters bürdet Ihnen zu viele Geschäfte auf. Sie haben sich überarbeitet.“
Scybylski’s Verlegenheit wuchs. „Sie sind so gut!“ sagte er. „Allerdings haben wir gegenwärtig auf dem Bureau viel zu thun und vermissen mehr als je die Kraft und Umsicht Ihres Vaters.“
[19] „So Gott will, wird er bald wieder seinen Pflichten nachkommen!“
„Gott gebe es!“ fiel er ein und ergriff in aufwallendem Gefühl die Hand des Mädchens. Dann trat er in die anstoßenden Gemächer, während Amanda auf ihr Stübchen eilte, um sich zum Gange nach dem Schloß anzukleiden.
Als sie, ihr Haar strählend, zufällig an’s Fenster trat, sah sie den Gerichtsrath und Kreisrichter durch den Garten schreiten, Beide schweigsam und mit ernstem Antlitz.
„Puh! welche Amtsmiene!“ dachte sie. „Was sie nur wieder haben! über welchen armen Menschen sie wieder den Stab brechen! Gott sei Dank, daß mein Bräutigam keine Gerichtsperson ist. Zwar könnt’ ich morgen Frau Actuarius werden; der Scybylski, der – – Aber Frau Pastorin klingt doch hübscher! Freilich, wenn mein Theodor im Schreiberrock steckte, dann dürften zehntausend Pastoren um mich werben, und ich würde zehntausend Körbe verabreichen.“
Ihr ganzes Gesicht lachte. „Zehntausend Ehrwürden als Anbeter! Wie komisch: diese Anträge, diese Erklärungen, Bitten, Betheuerungen und Schwüre! Aber am Ende wäre es doch langweilig, und nach dem ersten Dutzend schon müßte mich der Dreizehnte mit meinem Theodor trauen.“
Diese und ähnliche heitere Gedanken ausspinnend, vervollständigte sie ihre Toilette. Sie war sich ihrer körperlichen Vorzüge bewußt und besaß Geschmack und Kunst, dieselben durch eine gefällige, wenn auch einfache Kleidung zu heben. Sie wollte sich vom Vater verabschieden, aber die Zimmer im Parterregeschoß waren von innen verriegelt. „Als ob Jemand auf ihre Proceßgeschichten hören wollte!“ murrte sie und schlug, das Haus verlassend, den Weg durch die lange Pappelallee nach dem Schloß ein.
Die Luft war kalt, doch um so reiner und weiter. Der festgefrorene Schnee knirschte unter den Rädern der Lastwagen und Kohlenfuhrwerke, welche heute, am Sonnabend, die Straße belebten. Aus der Stadt wallte das Geläut der katholischen und protestantischen Kirche einträchtiglich über Wald und Gefild. In den Scheunen der fürstlichen Vorwerke aber dröhnte der fröhliche Sechsachteltakt der dreschenden Knechte. Von der Heerstraße abbiegend, wendet sich ein breiter und bequemer Weg die Höhe hinan, auf welcher das Schloß mit Basteien, Thürmen und altersgrauen Gebäuden stolz sich ausbreitet, ein ehrwürdiges Denkmal vielhundertjährigen Besitzes und wohlerhaltenen Reichthums.
Amanda wollte der Fürstin ihren Dank für die vielen Beweise zarter Aufmerksamkeit darbringen, welche dem Rendanten seit seiner Krankheit durch die edle, feinfühlende Dame zu Theil geworden waren. Allein die Herrschaft hatte den schönen Tag zum Besuch benachbarter Gutsherrn benutzt. Schnell entschlossen, schritt das Mädchen über den Schloßhof nach dem andern Flügel des Gebäudes und klopfte, nachdem sie sich mühsam über die vielen Treppen und in den langen Corridoren zurecht gefunden hatte, an die Thüre des alten Leibarztes.
Doctor Michaelis empfing die Tochter seines Patienten mit großer Freundlichkeit, denn ihm gefiel der schroffe Gegensatz seiner eigenen Weise, die heitere, sorglose Natur Amanda’s. Auch erinnerten ihn ihre Züge an ein geliebtes Wesen. Auf einem ähnlichen Antlitz hatte sein Auge in der Jugendzeit oft und schwärmerisch geruht und eine glückliche Zukunft gelesen.
Nach den ersten Grüßen und Fragen nöthigte er das Mädchen, in seiner Wohn- und Studirstube es sich bequem zu machen. Bücher und Schreibhefte wurden schonungslos vom Tisch geworfen, der vor dem Sopha stand.
„Sie sollen,“ rief der Greis, „mir nicht so bald wieder entfliehen! Solch angenehmer Besuch wird mir nur selten zu Theil. Auch sind Sie müde und von der scharfen Luft erkältet. Wir wollen ein Täßchen Thee trinken und eine Stunde angenehm verplaudern.“
Amanda erklärte sich ohne langes Zögern einverstanden, legte Hut und Mantel ab und bewegte sich frei und leicht wie daheim. Dem Diener, der auf Befehl das Nöthige zum Thee beschaffte, nahm sie alle weitere Sorge ab, mit Humor und Zärtlichkeit sich in die Rolle der Dame vom Haus schickend.
Als der Theekessel über die Gluth im Kamin gesetzt war, sah sie sich im großen, aber überfüllten und ungeordneten Gemach um.
„Herr Doctor,“ hub sie an und drohte schelmisch mit dem Zeigefinger, „Sie werden bald genug Ihre Gastfreundschaft bereuen! Es ist ein gefährlicher Kobold in die Gelehrtenwohnung eingedrungen. – Sie haben da ein schönes Gemach, liebster Doctor, ehrwürdige und bequeme Möbel und tausend hübsche Gegenstände. Aber – verzeihen Sie einem naseweisen Mädchen – dies Alles könnte noch hundertmal schöner, behaglicher sein, wenn – wenn Sie mehr auf Ordnung hielten! Erlauben Sie, bester Herr Doctor, daß ich hier nur ein Viertelstündchen die Hausfrau spiele und aufräume … Haben Sie keine Sorge um den Schreibtisch,“ fügte sie lächelnd hinzu, als der Gelehrte zögernd auf das traute Chaos seines Arbeitstisches sah. „Dies Heiligthum dürfen wir nicht berühren, das weiß ich leider vom Väterchen. Uebrigens steht jenem Riesenrücken die gelehrte Verwirrung recht wohl an.“
Der Doctor mußte lächeln und blickte wiederholt seinen alten Zimmergenossen, den verwundert starrenden Pudel an, während Amanda die Revolution in’s Werk setzte.
Unter ihren flinken Händen schien Alles sich von selbst zum schönen Ganzen zu ordnen, so daß Michaelis in wachsender Freude darüber dienstfertig nach ihren Winken darreichte und zurecht legte. Die Bücher stellte man wohlgeordnet in die Repositorien zurück; hier ward ein schwerer, geschnitzter Lehnstuhl vor ein bestimmungsloses Tischchen gerückt und auf das letztere eine Lampe oder Vase gestellt; dort mußte ein altes Gemälde seinen Platz mit einem andern tauschen. Die große, prächtige Büste einer Pallas Athene wurde hinterm Bollwerk schweinslederner Folianten hervorgeholt und auf den Schreibtisch gestellt; dort ward eine leere Console mit pompejanischen Schalen und Terracotten geschmückt. Die schwere Standuhr, die antiken Leuchter, die Instrumente und Globen, die hundert Gegenstände, welche der begüterte Mann während eines langen Lebens und auf weiten Reisen gesammelt hatte, erhielten einen besseren Platz und schienen jetzt erst da zu sein. Zuletzt wurde noch das Sopha in eine freiere Lage gerollt, wo es eine Ecke traulich ausfüllte. Für den Tisch davor fand sich eine Decke, und Amanda schuf ihn rasch zum einladendsten, freundlichen Theetisch um. Dann endlich trat sie an’s große Bogenfenster und faltete die schweren, dunkelfarbigen Vorhänge davor so, daß der Sonnenschein hereinströmen konnte und sich golden in die veränderten Räume ergoß.
Der alte Doctor sah sich eine Weile schweigend im Gemache um. Er fühlte in diesem Augenblick die Einsamkeit, in der er bisher gelebt und sich allen heitern Genüssen entfremdet hatte.
„Ich danke Ihnen, meine gute Fee,“ sagte er bewegt. „Zum ersten Male ist dem Einsiedler seine Klause behaglich!“
Nun setzte man sich an den Tisch, um den würzigen Trank zu schlürfen, welcher die Stirn erheitert und die Säfte lebhafter kreisen läßt. Auch des Pudels vergaß man nicht, und bald schmiegte sich dieser dankbar schmeichelnd an seine neue Freundin.
Michaelis ward im traulichen Gespräch mit seinem jungen Gast selbst verjüngt. Er sprach lebendig und mit offenem Gefühl, was Amanda an dem sonst so wortkargen Gelehrten nicht wenig überraschte. Belehrend und unterhaltend zugleich, wußte er des Mädchens Wißbegierde zu befriedigen, welche durch die wissenschaftlichen Apparate, die vielen alten Holzschnitte und Kupferstiche an den Wänden erregt wurde.
Als man sich endlich und ungern trennte, hatten wenige Stunden Beide einander näher gebracht, als jahrelanger Umgang es vermocht hätte.
… Dem Actuarius Scybylski war’s in des Rendanten Stube nach dreistündiger Verhandlung zu heiß geworden. Er trat vor die Hausthür und setzte sich in der kahlen Laube auf den Pfahl, welcher während der Sommerszeit eine Tischplatte trug. Die Laube war in den grünen Monaten mit der wilden Rebe und Rosengesträuch bewachsen. Er gedachte eines Juniabends, an dem Amanda ihm auf dieser Stelle eine Rose gepflückt und scherzend gegeben hatte. Heimlich küßte er damals die Blume, preßte sie zu Hause sorgfältig und trug sie seitdem, in feines Papier geschlagen, in seiner Brieftasche wie einen Talisman.
Als er vor wenigen Stunden in seinem Portefeuille ein Blatt mit Notizen suchte, die er zu schwerer Beschuldigung eines gewissen Mannes zusammengestellt hatte, fand er es zufällig neben dem Papier mit der Rose stecken. Er stützte das Haupt auf beide Hände und überließ sich unsäglich traurigen Gedanken.
„Wer wird bei solcher Kälte mit bloßem Kopf im Freien sitzen!“ sagte eine Stimme hinter ihm. Er sprang erschreckt empor.
„Fräulein Günther!“
„Ist die geheime Sitzung zu Ende?“
„Noch nicht – und ich weiß nicht, ob – –“
[20] Aber Amanda war leichtfüßig die Stufen hinan und in’s Haus gesprungen. Scybylski folgte ihr eilig, um sie zurückzuhalten, allein ebenso rasch sprang sie in des Vaters Schlafzimmer.
Man hatte einen Tisch mit Schreibgeräth, Actenbündeln und großen Büchern bedeckt und an das Bett des Kranken gerückt. Der Gerichtsrath und Kreisrichter saßen an diesem Tisch. Günther hatte sich in den Kissen emporgerichtet und war eben im Begriff, einen beschriebenen und untersiegelten Bogen zu unterzeichnen. Offenbar setzte Amanda’s Ankunft die Anwesenden in große Verlegenheit.
„Ich störe,“ sagte Jene. „Nur eine Frage, wie Dir’s geht, und einen Händedruck, lieber Vater, dann eil’ ich wieder fort.“
„Thue das, mein Kind!“ sagte Günther. „Ich fühle mich wohl und habe noch wichtige Geschäfte zu besprechen. Geh doch auf eine halbe Stunde zu Reinhold’s Mutter!“
„Wie Du befiehlst, Vater,“ erwiderte sie und empfahl sich.
Reinhold war nach einer Filiale gefahren, seine Mutter also allein zu Hause. Die kalte Höflichkeit, mit welcher Amanda empfangen wurde, war diese längst gewohnt. Auch sie zwang sich umsonst zu wärmerem Gefühl für die Mutter ihres Bräutigams, und oft konnte sie bei aller Ehrerbietung nicht widerstehen, den Spitzen der stolzen Frau auch ihrerseits leise Ironie entgegenzusetzen.
Anfangs floß das Gespräch ruhig dahin. Als aber Frau Reinhold mit vornehmer Herablassung ihr Bedauern ausdrückte, noch keine Zeit zum Besuch des kranken Rendanten gefunden zu haben, schilderte Amanda mit absichtlicher Lebendigkeit die allgemeine Theilnahme, deren sie sich zu erfreuen hätten.
Fürst und Fürstin, viele benachbarte Gutsherren, der Bürgermeister und die angesehensten Bürger der Stadt hätten den Vater wiederholt besucht. Die Herren vom Gericht machten kein Hehl daraus, wie schwer sie ihren Rendanten vermissen. Diesen Nachmittag erst hätten sie sich in seiner eignen Stube zu einer ohne Zweifel wichtigen Sitzung eingefunden. Das Mädchen schilderte mit breitem Behagen die geheimnißvolle Zusammenkunft, welche nun schon stundenlang dauere und selbst von der Tochter nicht unterbrochen werden dürfe. In kindischer Eitelkeit that sie sich darauf etwas zu Gute, der aufhorchenden Greisin zu erzählen, wie sie den Vater bei der Unterschrift eines dickbogigen Documents betroffen hätte.
„Das muß ohne Zweifel ein wichtiges Document gewesen sein,“ sagte die alte Dame. „Und der Vater hieß Dich wieder gehen?“ Sie versank in Nachdenken.
Amanda benutzte die Pause, sich zu empfehlen.
„Du sollst nicht allein Grund zum Stolz haben!“ dachte Amanda auf dem Wege nach Hause. „Die geheime Session hat gewirkt!“
Den Vater traf sie allein und in ungewöhnlich weicher Stimmung. Er hielt beide Hände seines Kindes und küßte sie.
„Vergieb mir, Amanda,“ sagte er leise.
„Ich Dir vergeben? Seit ich denke, hast Du ja nur Gutes an mir gethan.“
„Auch die Eltern haben ihren Kindern Manches abzubitten!“
„Was ist Dir, Vater? Du weinst?“
„Ich bin ein schwacher, alter Mann. Sind meine Haare in den letzten Tagen nicht völlig grau geworden?“
„Herzliebster Vater, rede nicht so! Du ängstigst mich. Fühlst Du Dich nicht wohl?“
Der Rendant athmete tief auf und nickte mit dem Kopf. „Unaussprechlich wohl.“
Nach einer Weile nahm er wieder des Mädchens Hand.
„Amanda! versprich mir etwas!“
„Alles, was Du willst!“
„Wenn ich sterben sollte, setze mir ein einfaches Kreuz auf mein Grab. Keinen Stein! keine prahlerische Inschrift! Nur ein Kreuz mit meinem schlichten Namen!“
Unaufhaltsam rollten jetzt die Thränen über Amanda’s Wangen. „Sprich nicht von Deinem Grab!“ rief sie. „Du wirst gesund werden und noch lange mein guter, lieber Vater bleiben!“
„Du hast Recht, mein Kind. Ich darf Gott nicht versuchen. Ich will Dich nicht verlassen! … So, und jetzt richte mir die Kissen in die Höhe. Ich bin müde und will endlich einmal wieder schlafen.“
Die Mutter Reinhold’s konnte heute keinen Schlummer finden. Die Erzählung Amanda’s von der geheimnisvollen Berathung beim Rendanten hatte eine peinliche Begierde in ihr erweckt, diesen Schleier zu lüften. Von Natur mißtrauisch machte sie sich tausend Gedanken über den dunkeln Fall. Sie kannte des Rendanten Geschäftskreis und mußte gar wohl, daß seine Thätigkeit nicht von solchem Umfang, von so ernster Wichtigkeit war, daß seine Person und Hülfe nicht entbehrt werden könnte. Ihn selber also, seine Privatverhältnisse mußte diese geheime Sitzung berühren. War’s ein Testament, was er unterschrieb? … Der karge Schlaf, welchen sie endlich fand, kühlte ihre Neugierde nicht. Sie war am Morgen fest entschlossen, hinter das Geheimniß zu kommen, denn eine dunkle Ahnung ließ sie hoffen, das eitle Mädchen bitter enttäuschen zu können. Sie rief sich Amanda’s Erzählung in’s Gedächtniß und sann darüber nach, von welchem der Betheiligten sie die Lösung des Räthsels erlangen könnte.
„Scybylski muß mir Aufklärung schaffen,“ sagte sie zuletzt. „Ein gutmüthiger Mensch, weich wie Wachs, schwach und arglos wie ein Kind. Auch hat er allen Grund, der Rendantenfamilie zu grollen, denn die ganze Stadt erzählt sich, daß er von der hochfahrenden Jungfer einen Korb erhielt!“
Frau Reinhold frühstückte allein. Es war Sonntag, und der Pastor bereitete sich zur Predigt vor. Als das Geläut der Glocken begann, hüllte sie sich in ihren Pelzmantel und trat an’s Fenster. Sie blickte hinab auf die festlich gekleideten Kirchgänger. Amanda ging vorüber und grüßte freundlich herauf. „Wie geputzt sie wieder ist!“ murrte Frau Reinhold. Jetzt schritt der Gerichtsrath vorbei. „Sucht der auch einmal den Weg zur Kirche? Vergangene Weihnachten war er zum letzten Male in der Predigt. Dem Herrn ist wohl ein Unglück passirt? Noth lehrt beten, selbst die Herrn Juristen! Dort kommt Scybylski geschlichen!“ Sie eilte rasch in’s Freie hinab. „Guten Morgen, Herr Scybylski!“
Der Actuarius fuhr beim Gruß der Frau Superintendentin scheu zusammen und erwiderte ihn verlegen.
„Der hat etwas auf dem Herzen!“ dachte sie. „Werden Sie uns nach der Predigt nicht besuchen? Sie machen sich so selten! Mein Sohn fragte gestern nach Ihnen. Vielleicht hat er Ihnen etwas mitzutheilen. Also pochen Sie bei uns an!“
Frau Reinhold hatte noch niemals so viel Worte an den Actuarius verschwendet. Aber der Letztere achtete heute darauf nicht.
„Ich werde von Ihrer Erlaubniß Gebrauch machen.“
„Ich rechne darauf!“ sagte die Frau Superintendentin mit gnädigem Kopfnicken und rauschte am Schreiber vorbei. „Meinen Sohn werd’ ich fern zu halten wissen,“ dachte sie. „Vielleicht, daß ich doch ein Fädchen finde, woran sich ein Plan gegen Theodor’s heillose Liebschaft knüpfen läßt.“
Ihr Sohn aber stand hoch auf der Kanzel, leuchtenden Auges, und predigte christliche Liebe und Milde. „Wer sich frei fühlt von Schuld, der werfe den ersten Stein auf sie!“
Die Stirn der Superintendentin blieb bei dem gewichtigen Wort glatt und glänzend wie Alabaster. Sie fühlte keinen Stachel. Sie war ja die Schuldlose! Ihren Eltern war sie gehorsam, ihrem Gatten treu, ihrem Sohn eine gute Mutter gewesen. Sie arbeitet und betet; an jedem Sonnabend empfangen die Armen der Gemeinde Almosen aus ihrer Hand. Keine Leidenschaft kennt sie, als den Stolz auf die Weihe ihrer Familie, und das ist ein gerechter, heiliger Stolz! Und wenn Christus mit liebeseligem Antlitz zwischen ihr und einer Verbrecherin stünde, sie würde den Arm gegen diese erheben und sagen: „Ich darf es, Herr; still ist mein Gewissen und stark meine Hand!“
Anders waren die Gedanken Scybylski’s. Die Wissenschaft von der Schuld dessen, den er vor allen Menschen hoch hielt, lastete auf seinem Gemüth, wie der Schatten nachbarlicher Felsen einen Seespiegel verdüstert. Alle mildernden Umstände, welche Veruntreuung begleiten können, rief er sich in’s Gedächtniß. Er versetzte sich in die Lage eines bedrängten Vaters, eines Vaters, der Amanda zur Tochter hat. Mit fiebernder Phantasie drängte er den besseren Glauben an sich als verblendete Eitelkeit zurück und überredete sich, daß er in ähnlicher Lage ähnlich handeln würde.
Und doch hatte Er das erste Schuldig gesprochen, den Stein gegen den Verbrecher erhoben! Der Widerspruch der verzeihenden Liebe mit den nothwendigen Gesetzen des Lebens, schneidender als je, zerriß sein Herz. Verbannt schien ihm jede Versöhnung aus der Wirklichkeit, und als die Gemeinde den Gottesdienst mit Gesang für einen Verstorbenen schloß, bewegten ihn die Anfangsworte „Nur im Grab ist Frieden“ zu Thränen. Er wünschte sich diesen ersten und letzten Frieden.
Es giebt wohl keinen zweiten deutschen Volksstamm, der sich so eifrig und, möchten wir beinahe sagen, so berufsmäßig mit dem lieben Gott beschäftigt wie der schwäbische; ja, sein ganzes öffentliches Leben, so weit das eigentliche Volk in seinem Inneleben davon berührt wird, reducirt sich heutzutage in vielen Landestheilen auf das kirchliche, auf das Pro und Contra in gewissen religiösen und dogmatischen Fragen. Der „Façons“, in welchen man einer von den weißen Cravatten in Stuttgart begünstigten crassen Pietisterei gegenüber, selig werden möchte, sind so mancherlei, als es eben Häupter giebt, die sich einen Anhang zu verschaffen wissen und den Muth und die Ausdauer besitzen, mit ihren kleineren oder größeren Gemeinden Fronte gegen die Prälaten und das Consistorium zu machen. Der Obscurantismus, der meist von der untersten Bank der Volksschule an durch alle Bildungsanstalten des Landes bis hinauf in’s alte Tübinger Stift und von da wieder heraus in Kirche und Schule als ausgesprochene „Regierungstendenz“, als das Schibboleth des Ministeriums Linden und seiner wenigen „Herren“ methodisch betrieben wird, dem sich keine noch so gediegene Intelligenz, kein noch so aufgeklärter Charakter, der im Dienste der Kirche und Schule von Württemberg einen Wirkungskreis behaupten will, für die Dauer entziehen kann, dieser unerbittliche, rücksichtslose Obscurantismus trägt allein die Schuld an den mancherlei „Winkelreligiönchen“, welche in Schwaben gegenwärtig existiren. Das Volk fühlt instinctartig den unnatürlichen gewaltthätigen Druck, der ihm von oben in seinen heiligsten Gefühlen angethan wird, in Ermangelung anderen geistigen Lebensstoffes greift es zur Sectirerei, und das Land, welches mit am ersten den alten Zunftzwang entschlossen über Bord geworfen hat, duldet in seinem kirchlichen [22] Leben alle mögliche Glaubenszünftelei. Daher haben wir denn nacheinander „Jerusalemsfreunde“, die das Christenthum mit Kalk und Steinen aufbauen, „Michael-Hahner“, pure Erbauungsmenschen, die aber der Staatskirche weit aus dem Wege gehen, „Neukirchliche“, mit dem Kirchendogma zerfallene Ultras des Pietismus, und wie alle die Secten heißen mögen, welche von ihrem schwäbischen Winkel aus die Augen der gesammten Christenheit auf ihre frommen „Bestrebungen“ gerichtet wähnen.
So hat sich das Volk mit Ausnahme weniger Orte, in welchen die Geistlichen ganz auf dem Boden des Volkes standen und ein echt patriarchalisches Verhältniß keine Störung aufkommen ließ, in tiefgehender Reaction gegen das Neue, welches seiner ganzen gut protestantischen Art zuwider ist, selber geholfen oder zu helfen gesucht. Da und dort, in Dorf und Stadt, stand ein „Mann“ auf – wie das Volk charakteristisch genug solche Leute heißt – verließ seinen Schusterschemel, seinen Ladentisch, seinen Schneiderstuhl, ja selbst die Kanzel, und erzählte den ihm andächtig lauschenden Zuhörern von den Resultaten seiner inneren Erleuchtung. Vergebens suchte man diesen „Mann“ von der Amtsstube und der Kanzel aus zu „dämpfen“, d. h. zu maßregeln; je mehr moralische Dragonaden man gegen ihn losließ, um so kräftiger wuchs sein Ansehen, sein Anhang unterm Volke; denn wie dieses früher in den Nationalistengeistlichen nur Miethlinge sah, die, vom Staate bezahlt, das „Pfarrgeschäft“ betrieben, so wendet es sich meistens mit noch größerem Mißtrauen jetzt von seinen pietistischen Seelsorgern ab, weil sein gesunder, kerniger, zur That drängender Sinn das Krankhafte, Naturwidrige und Gewaltsame des neuen Bekenntnisses wittert und deshalb nach wie vor zu seinen „Männern“ hält.
Wohl die hervorragendste, durchgebildetste und darum auch würdigste Erscheinung in der Reihe dieser „Männer,“ und dabei von durch und durch schwäbischer Art, ist der schon früher in dieser Zeitschrift (Jahrgang 1862 Nr. 15) geschilderte, aus dem geistlichen Staatsdienst ausgetretene Reiseprediger Werner; ihn hat auch unser Künstler, der junge Historienmaler Heck, als Repräsentant seiner gleichstrebenden Genossen gewählt; indessen geht doch aus der ganzen Anordnung seines Bildes zur Genüge hervor, daß nicht eine Portraitfigur Werner’s beabsichtigt war, sondern die Darstellung jenes so tiefen und schönen Zuges der Schwabennatur, das Streben nach Vergeistigung des Lebens und Erforschung der höchsten Wahrheiten.
Wie glücklich Robert Heck seine künstlerische Aufgabe gelöst hat, wie wirksam er einen an sich spröden Stoff, ohne der Natur untreu zu werden, zum lebensvollen idealen Kunstwerk gestaltet hat, wird auch der nicht in Schwaben lebende Beschauer seines schönen Bildes auf den ersten Blick inne werden. Jede Gestalt in dieser reichen Composition ist eine Repräsentation schwäbischen Lebens, ohne daß sie darum ihre tiefe ausdrucksvolle Beziehung zu dem allgemein Menschlichen verleugnen könnte. Von der tief-religiösen Andacht im Haupte des Dorfpatriarchen bis zu dem unschuldvollen Aufblick des kleinen Bauerkindes, von der intelligent freundlichen Miene der schönen jungen Pfarrerin bis zu dem skeptisch, fast wie geheime Polizeispionage dreinschauenden Gesicht der alten, von Devotion nach oben, von Sorge nach unten gekrümmten Dorfschulmeistergestalt ist jeder Zug, jede Figur eine treue Copie der schwäbischen Menschen, wie sie sich hier theilnahmvoll, dort neugierig, ohne Unterschied von Alter und gesellschaftlicher Stellung um den berühmten Reiseprediger in der Dorfscheune versammeln und seinem begeisterten Vortrage lauschen, dessen Eindruck sich in jeder Miene, je nach der Individualität und Stimmung des Einzelnen, verschiedenartig abspiegelt.
Aber nicht blos das Volksthümliche, das Localinteresse macht uns diese reiche Gruppirung um die edle Lessingsgestalt Werner’s anziehend; das Bild ist auch zugleich ein in Zeichnung und Farbe so wohl gelungenes harmonisches Kunstwerk, daß wir gleichsam von ihm den nämlichen künstlerischen Eindruck empfangen, den der Redner als religiöse Weihe in die Herzen seiner Zuhörer ausgießt.
Daß der fromme Denker und humane Menschenfreund Werner auch seine ästhetische Seite hat, diesen neuen interessanten Aufschluß über den merkwürdigen Charakter des seltenen und darum selten richtig gewürdigten Mannes danken wir diesem Bilde seines talentvollen Freundes Robert Heck.
Trotz ihrer schweren Bepackung trabten unsere Führer wie Rennthiere leichtfüßig über die Flächen weg, auf denen wir erst später einige aufgerichtete Schiefertafeln entdeckten, die ihnen nebst dem Kompaß zur Richtschnur dienten. Jetzt zeigten sie sich als Silhouetten auf der Höhe eines langen Rückens, wo man sie eben noch mit den Augen entdecken konnte; dann verschwanden sie in einer Terrainfalte, die sie den Blicken entzog. Man beeilte sich, ihnen nachzusetzen; aber auf der Höhe angekommen, zeigte sich nichts als öde Fläche, ähnlich der durchschrittenen, ohne erkennbaren Anhaltspunkt für die Richtung, welche sie genommen. Nun jodelt Hasselhorst seinen Tyroler Alpenschrei, der unserem Schiffsvolk schon längst zum Signal geworden; Vogt schreit mit aller Kraft seiner Parlamentslunge, und man horcht begierig nach einer Antwort von Seiten der Führer. Ein Regenpfeifer, der sein langweiliges Tü tü ertönen läßt, täuscht wohl in dem ersten Augenblicke, dann aber bleibt es still. Nun wird das Fernrohr hervorgenommen und jeder Felsen, der einen Mann vorstellen könnte, genau untersucht – keine Spur! Man wettert, flucht sogar trotz der genossenen christlichen Erziehung, dreht sich zehn Mal herum – da sitzen unsere Lappen, stumm wie Fische, hinter einem großen Steine und wundern sich sichtlich über unsere Aufregung.
Man schreitet wieder fürbaß; Vogt mit Herzen voran im Gespräche; Berna und der Capitain seitlich auf den Flanken, begierig ein Wild zu erschauen; Greßly halb am Boden kriechend, um der gedrückten Flora ein einsames Kind zu entreißen. Hasselhorst bildet dieses Mal ausnahmsweise den Nachtrab. Das „Auge der Expedition“, wie er seit der Adlerjagd genannt wird.
Läßt verzückt die Augen schweifen,
Gleich als hätt’ er was zu greifen
Auf dem öden Felsenplan.
Aber es ist nichts zu greifen; die Mappe bleibt geschnürt bis zur Rückkehr. Fläche und flache Steine – wie könnte da der Maler ernten?
Plötzlich schauert es vor unseren Füßen auf: zehn, zwanzig Rypen[WS 1], ein ganzes Volk in unmittelbarer Nähe. Unsere Jäger tragen noch die Flinte ungespannt im Bandelier; – bis sie fertig sind, haben die Rypen sich in der nächsten Vertiefung gedeckt. Der Springinsfeld Freitag jagt hinter ihnen her, und vergeblich versucht Hasselhorst, der sich der Erziehung des verwahrlosten Hundeviehs mit mehr oder weniger Erfolg gewidmet hat, ihn mit Rufen und Steinwürfen zurückzubringen. Endlich bewirken Jugenderinnerungen, was Scheltworte vergebens bezweckten. Der Hund ist offenbar einst dazu benutzt worden, Schafe zusammen zu treiben; er betrachtete uns nun als seine Heerde, die er verpflichtet ist zu decken, und so streicht er nach einigem Klaffen hinter den Rypen her, zuerst zu dem Nachzügler Greßly und dann den beiden Lappen nach, die wieder einen unabsehbaren Vorsprung gewonnen haben. Jetzt erst läßt sich die Verfolgung der Rypen organisiren. Von drei Seiten suchte man ihnen beizukommen; aber sie halten nicht weiter, und nur aus großer Ferne kann ihnen ein vergeblicher Schuß nachgejagt werden.
Indessen ist nun der Jagdeifer geweckt, und so geht es zum Theil auf Umwegen vorwärts. Rypen und Regenpfeifer locken bald nach rechts, bald nach links, und theils auf dem Hinwege, theils während der Rückkehr fallen in der That einige schmackhafte Braten in die Taschen der Jäger. Wunderbar scheint es manchmal, welch zähes Leben diese nordischen Vögel besitzen. Nicht zu sprechen von den Wasservögeln, welche unmittelbar in den Kopf oder Hals tödtlich getroffen sein müssen, sollen sie nicht in dem nassen Elemente aus Nimmerwiedersehen verschwinden – auch die Rypen fallen nur im Todeskampfe, und selbst dann noch wissen sie sich unter Steinen so gut zu verbergen, daß ohne Hund es unmöglich ist, sie aufzufinden. So schoß Berna auf ein paar Rypen, [23] die stolzen Fluges von dannen strichen. Wir glaubten sie gefehlt – hundert Schritte von dem Orte, wo sie eingefallen, lag die eine, unter dem Flügel in die Brust geschossen, todt hinter einem bergenden Steine. Es gelang auch, ein Nestküchlein zu fangen, dessen Mutter geschossen worden; die andern – denn es waren ihrer ohne Zweifel mehrere – entgingen jeder Nachforschung, obgleich man hätte glauben sollen, daß ein Versteck auf dem platten Boden gar nicht zu finden sei.
Kaum dürfte indessen die Jagdstreiferei auf die Schnelligkeit unseres Vorrückens einigen Einfluß geäußert haben; denn Drei von den Sechs waren unbewehrt, und je weiter der Weg sich spannte, desto mehr hielten die Nichtjäger darauf, den forteilenden Lappen zu folgen und dem Ziele sich zu nähern. Vielleicht mag auch zu diesem Eifer für die gerade Linie die Betrachtung, daß der Proviant den Lappen anvertraut war, das Seinige beigetragen haben. Zschokke’s kleine Erzählung in welcher die Compagnie nicht dem gegen die Feinde stürmenden Hauptmann, sondern dem Proviantwagen und dem Branntweinfäßchen der Marketenderin folgt, hat gewiß ihre menschlich berechtigte Grundlage.
Die halbe Meile aber spinnt sich endlos. Drei Stunden marschiren wir schon in ziemlicher Sonnenhitze; der Horizont des Meeres steigt immer höher; bei jeder Schwellung des Bodens glauben wir die letzte Höhe zu sehen; aber immer wieder kommt eine neue Senkung und eine neue Schwellung gegenüber, kaum höher als die erklommene. Deutschland kennt bis jetzt die Meilen, welche der Fuchs maß, indem er den Schwanz zugab; aber der Begriff der Lappenmeile scheint uns für den gewöhnlichen Hausmannsverstand fast ebenso unfaßlich, als diejenige einer Himmelsmeile. Zehnmal wurden die Lappen gefragt: Nordcap? und zehnmal kommt die Antwort zurück: Ikke![WS 2]
Endlich langen wir auf einer kleinen Höhe an und sehen vor uns ein kleines Querthal, über welches sich eine breite Kuppe erhebt, die mit entsetzlich steilen Wänden zu beiden Seiten gegen das Meer hinabfällt. Links und rechts dieselben senkrechten Abstürze, von welchen Risse ausgehen, die tief in den Hals des Vorgebirges einschneiden. Weit unten in der Tiefe, dem Spiele einer schäumenden Brandung ausgesetzt, eine kleine Bucht, in welcher Skansveg, die nächste Handelsstelle auf der Ostseite des Nordcaps, liegen soll. In der Ferne eine vorspringende Zunge, die in langem Zuge über den Ocean hinkriecht und ebenfalls mit steilen Wänden in die See fällt. Das ist Nordkyn, die vorspringendste, nördliche Spitze des Festlandes, während das Nordcap, auf dem wir stehen, nicht dem festen Lande, sondern der Insel Mageroe zugehört und auch hier, den Geographen zufolge, seinen Namen mit Unrecht trägt, da die nächste Kuppe zur westlichen Seite, Knioskjerodden, um etwas Weniges mehr nach Norden vorspringt. Es geht also dem Nordcap, wie vielen menschlichen Reputationen; es ist weder die nördlichste Spitze der Insel Mageroe, noch die nördlichste Spitze des Festlandes, und nichts destoweniger steht die Signalstange dort mit den Namen, die darauf eingeschnitten sind – und wer in Norwegen gewesen und das Nordcap nicht bestiegen hat, ist in Rom gewesen und hat den Papst nicht gesehen.
Also frisch hinauf nach der letzten Kuppe! Eine Rype, welche wie flügellahm vor uns her wackelt und uns offenbar von ihren Küchlein ablenken will, einige Goldregenpfeifer, die zur Verfolgung zu verleiten suchen, halten uns nur wenig auf. Um 5 Uhr ist die Höhe erreicht, die Signalstange begrüßt, ein Blick rundum auf die Aussicht geworfen, der Proviantsack aufgeschnallt und dann eine Runde zum fröhlichen Mahle gebildet, zu welchem Deutschland das solide, Norwegen und Frankreich das flüssige Element liefern. Schinken und Mettwurst, Bier und Champagner und ein durch vierstündigen Klettermarsch auf eine schwindelnde Höhe aufgestachelter Appetit – was kann der Mensch mehr verlangen?
Die Aussicht, welche wir von dem Cap aus umspannen, ist großartig durch die scheinbar unendliche Ausdehnung der Flächen, welche wir beherrschen. Ueber die Hälfte des Horizontes streckt sich die See, deren Bewegung, von solcher Höhe aus gesehen, fast gänzlich der Beobachtung sich entzieht, so daß nur die Brandung an den Küstenklippen, die wie ein ferner Sturm herauftönt, uns von dem hohen Seegange Kunde bringt. Zwei Schooner, die von Archangel aus gen Hammerfest zu segeln scheinen, liegen wie Punkte auf windstiller Fläche. Die See zeigt Streifen, wo das Wasser vom Winde gekräuselt ist, und unregelmäßige Flächen, welche, glatt wie ein Spiegel, das Bild der Wolken wiedergeben, die am Himmelsgewölbe fest zu stehen scheinen. Kaum wagt man, an den Rand der schauderhaften Abstürze vorzugehen, welche auf den Seiten in die Tiefe gähnen. Spitze Schieferplatten, nach dem Inneren des Landes zu einschießend, strecken ihre scharfen Kanten in die Luft hinaus, und unmöglich scheint es, daß ein Weg von unten her über diese überhängenden Klippen und Risse nach der Höhe führen könne. Die Fläche des Caps selbst ist so breit und so abgerundet, daß man links und rechts nur wenig von den ähnlichen Vorgebirgen sieht, die ihm nahe stehen, sobald man sich nur so weit von dem Stande entfernt, als nöthig, um einen sichern Standpunkt zu gewinnen. So bildet denn nördlich das weite Meer, südlich die weite Steinöde des Fjelds das trostlose Panorama, über das sich ein nebliger Himmel spannt.
Die Stunde, welche wir dem Gipfel widmen konnten, war bald in fröhlicher Weise vollbracht. So einfach das Gelage war, so trefflich mundete es; denn glücklich genug hatten unsere Lappen nur einige Bierflaschen zerbrochen, die Flaschen edlen Getränks aber verschont, das Moët und Chandon uns geliefert. Zum Schlusse nahmen wir die Stange, welche die Inschriften der Namen trägt, von ihrem Steinpostamente herab, schnitzten sie oben so zu, daß eine Champagnerflasche mit ihrem Halse wohl darauf befestigt werden konnte, und bargen in der Flasche einen Papierstreifen mit unseren Namen und Adressen und folgendem schlechten Verse, dem das Album des Brockenwirthshauses oder der Grimsel zur Entschuldigung dienen mögen:
Wer diesen Zettel uns wird bringen,
Dem sollen volle Gläser klingen,
Und kömmt er gar zur Mittagszeit,
Steht ein Couvert für ihn bereit.
Um sechs Uhr wurde der Rückmarsch angetreten. Die Lappen, deren Bürde trotz der Erinnerungssteine, womit wir den Proviant theilweise ersetzt hatten, wesentlich erleichtert war, verdufteten wieder in ungesehener Ferne vor uns her, während wir uns nach ihnen, den aufgerichteten Schieferplatten und der gewonnenen Kenntniß des Fjeldes leicht zu orientiren wußten. Zum letzten Herabsteigen wählten wir nicht den steilen Schuttkegel, den wir am Morgen erklommen hatten, sondern bogen etwas südlich in den Thalriß des Baches selbst ein, dem wir so gut als möglich auf meist üppig bewachsenen Schuttflächen folgten. Obgleich aber unser Weg bergab führte, gewannen wir doch nicht viel Zeit; denn auf der Hochfläche des Fjeldes ist es fast gleichgültig, in welcher Richtung man geht, und die Abhänge sind so steil, daß sie durch diese Steilheit großentheils wieder den Vortheil aufheben, welchen ihre Senkung für den Marsch gewährt.
Die Boote waren um halb 10 Uhr erreicht. Wir hofften jetzt günstigen Wind zu haben, da wir am Morgen gegen den Wind hatten aufkreuzen müssen; allein der Wind hatte sich gedreht, unserem gewöhnlichen Schicksale zufolge, das nach dem Ausspruche eines unserer Matrosen darin besteht, daß der Wind immer daher kommt, wohin wir wollen. Das keine Boot konnte noch aufkreuzen; unser „Grundsegler“ aber mußte bald sein Segel fallen lassen und einzig mit den Rudern die Rückfahrt vollbringen.
Das war gerade kein Vergnügen! Der Himmel hatte sich bedeckt, die wärmende Sonne war verschwunden, eine kalte Brise schnob aus Westen her feucht und neblig uns entgegen. Wir waren erhitzt, ja selbst in Schweiß gebadet von dem anstrengenden Marsche, der uns um so mehr ermüden mußte, als wir länger schon auf dem Schiffe nicht große Bewegung uns hatten geben können. So griff am Ende doch die Kälte durch trotz des Pelzwerkes, das wir vorsichtig in’s Boot genommen hatten. Wir saßen oder lagen still auf unseren Plätzen, Cigarren schmauchend und den Tag in Gedanken an uns vorüberziehen lassend.
Da rauscht etwas zur Seite an den Klippen des Tu-Fjordes in der Nähe der rothen Granitschichten, deren ich oben erwähnte und die bei heller Beleuchtung selbst vom Schiffe aus noch zu erkennen sind. Wir sehen auf, wenden die Blicke dorthin, da rieselt, strömt, springt und rast es herab von einer vorspringenden Klippe, ein wüthender Strom von Blöcken! Hoch auf spritzt das Meer, an hundert Stellen zugleich von den herabsausenden Felsmassen getroffen! Eine ungeheuere Staubwolke wälzt sich am Grunde der Klippe hervor, wirbelt nach oben, hüllt mehr und mehr mit weitem faltigem Mantel die ganze Erscheinung ein und breitet sich langsam über den Fjord aus. Nun bricht auch ein rollender Donner hervor und hallt tausendfältig in Klippen und [24] Klüften wieder. Eine gewaltige Masse verwitterter Felsen hat sich von der Spitze losgelöst und ist theils in den Fjord hinabgestürzt, theils am Wasserrande liegen geblieben.
So gewaltig ist der Eindruck der ganzen Erscheinung, daß selbst unsere Ruderer einen Augenblick inne halten, ihr zu lauschen. Langsam verliert sich die Staubwolke, nachdem sie noch, mit dem erzeugten Luftstrome emporwirbelnd, die ganze Wand bis zu der wenigstens 800 Fuß hohen Spitze eingehüllt hatte. Nun sahen wir auch einen Adler, der in majestätischen Kreisen aus der Wolke sich hebt, eine Zeitlang darüber schwebt und dann aus unseren Blicken hinwegstreicht. Hatte er vielleicht sein Nest, wie sein Verwandter in Skjerroe, unter den überhängenden Klippen angelegt, so daß es mit den halbflüggen Jungen in die bodenlose Tiefe gestürzt und zerschmettert ist unter nachfolgenden Felsen?
Viele tausend Tonnenlasten sind gewiß mit der Lawine von den Felsenspitzen herabgestürzt. Aus einer Entfernung von zwei Stunden Weges in gerader Linie, können wir noch die Trümmerstätte sehen wie ein breites, silbergraues Band, das sich senkrecht von oben nach unten mit stets breiter werdenden Grenzen hinzieht; sehen noch die überhängende Spitze, unter welcher sich die Massen loslösten; sehen noch die steile Böschung, in welcher sich die Felsenblöcke am Fuße angehäuft.
So hatten wir denn zum glücklichen Ende unseres Ausfluges ein lebendiges Bild der Zerstörung, die an diesen verwitterten Felsen nagt. Die Wellen höhlen beständig die steilen Wände am Grunde aus; von oben her dringt das Wasser in die Spalten und Ritzen des Felsgemäuers, das der Ewigkeit trotzen zu können scheint, und wenn der Frost des langen Winters dem Wasser nachdringt in die Erde und das Wasser im Inneren gefriert, treibt es keilförmig die Spalten auseinander durch seine unwiderstehliche Ausdehnung, lockert das Gefüge und sprengt endlich die Blöcke ab, die wuchtig in das Meer fallen. Dort aber erwartet sie eine neue Rolle: auf ihnen setzen sich die Tange und Algen, die Korallen und Polypen an, Muschel- und Krustenthiere heften sich an den neugewonnenen Grund, während weitaus, zu neuen Sand- und Schlammschichten, die zu Staub zermahlenen Trümmer sich unter dem Einflusse der Meeresströmungen ausbreiten.
Die unaufhörlich durch London auffluthenden und niederebbenden mächtigen Wassermassen der Themse haben in der Zeit der niedrigsten Ebbe einige Augenblicke, wo sich die schmutzigen Wellen des Wassers etwas glätten und ruhen wie unschlüssig, ob sie noch weiter ebben oder zum Fluthen umkehren sollen. Eine kurze Zeit der Ruhe, des Verschnaubens, während welcher die in tiefer Mitte eingeengte Themse wahrhaft scheußlich aussieht. Auf beiden Seiten steigen steile, breite Ufer hoch empor nach den Rändern, die mit Fahrzeugen aller Art, unfläthigen Kohlenbooten, Kähnen, Schaluppen, Dampfschiffen, mit schief und krumm daliegenden, hülflos und unbeholfen erscheinenden Frachtwagen des Wassers übersät sind, von „Schmutzlerchen“, d. h. überschlammten Jungen, welche Knochen, Eisenstückchen, Nägel und sonstigen Bodensatz des Weltverkehrflusses aufsuchen, durchstöbert werden und von rauchigen, baufälligen, unten halb verfaulten Schuppen, Warenhäusern, Krahnen, Flaschenzügen, Kisten und Kasten, Tonnen und Takelagen, Matrosenkneipen und Marineläden eingerahmt sind. Von dem Spiegel der tiefsten Ebbe bis zu dem der Hochfluth, welche allen diesen bloßgelegten Bodensatz und die Tausende der auf ihm ruhenden Fahrzeug-Kiele alle Tage zweimal wieder mit tobenden, grollend heraufdonnernden Wogen bedeckt, ist’s gute zwei Mann hoch, so daß die Schlote der unter den Brücken hin und herschießenden Dampfboote, die während des höchsten Wasserstandes sich tief beugen müssen, um unter den Bogen hindurchzukommen, auf dem Ebbespiegel keinen jener „Knickse“ zu machen brauchen. Die Themse ist einer der fluth- und ebbereichsten Flüsse, was den unermeßlichen Verkehr auf derselben ungemein erleichtert, da ihre landwärts sich wälzenden Fluthen den Schiffen, den Kohlenflotten, den Seefischern, den Leichtern und Lastkähnen in ihrem westlichen Laufe eben so viele Tausende von Pferdekräften umsonst liefern, wie die seewärts stürzenden Wogen der Ebbe den östlich gelichteten.
Ich glaube, man hat einmal berechnet, daß man mit diesen Pferdekräften der Themsewogen sämmtliche Dampfmaschinen Großbritanniens treiben könnte. Man muß sich eine Vorstellung von diesem dämonischen Gewoge zu machen suchen, wie es alle Tage mehrmals das ungeheuere Bett der Themse, unten eine gute Viertelmeile breit und über zwölf geographische Meilen lang, über zwei Mann hoch füllt und wieder leert, um die folgende Thatsache in allen ihren tragischen Schrecknissen mit zu empfinden.
Es war im Herbst Abends, als die Ebbe sich eben erschöpft hatte und die Wassermassen des Meeres vor der Mündung draußen eben ansetzten, ihren gewaltigen Rücklauf zu beginnen. Die Ebbe hatte also den niedrigsten Stand erreicht, so daß ein Schiff, das eben zwischen den östlichen Theilen Londons aus der Themse vom Weltmeere her angekommen war, in der Mitte ankern mußte. Auf der Südseite gegenüber liegt der schmutzige, niedrige Stadttheil Londons, Rotherhithe. Von dem niedrigen Wasserrande der Themse bis zum Ufer hinauf ist es ziemlich weit und geht es bergan über verschlammtes Gestein und allerhand Bodensatz. Schräg vom Ufer her auf dem jetzt wasserfreien Boden des Flußbettes entlang liegen hier und da eisern festgebannt riesige Ketten mit anderthalb Zoll dicken Gliedern, die „Buoys“ oder Warnungstonnen zu halten, die an gewissen Stellen festgebannt schwimmen, um den Schiffen zu sagen, daß hier Sandbänke oder sonst den Fahrzeugen gefährliche Feinde unten lauern.
Der Skipper oder Capitain des eben angekommenen Schiffes hatte große Eile, an’s Land zu kommen. Kaum hatte der Anker festen Fuß gefaßt, als er an der Schiffsleiter rasch in’s Boot hinunter sprang, in der Eile noch einige Befehle hinaufschickte und sich von zwei Matrosen an den niedrigen Wasserrand rudern ließ. Hier wartete er das Land kaum ab, sondern sprang rasch und rüstig aus dem Boote hinüber und im nebeligen Dunkel im Flußbette aufwärts nach Rotherhithe zu. Er rief nur eben zurück, daß man ihn hier um elf Uhr wieder abholen sollte. Die beiden Ruderer sahen ihrem Skipper nach durch das Dunkel und blickten sich pfiffig zu. Sie wußten, daß er einem liebenden Herzen entgegeneilte – nach zweijähriger Abwesenheit. Um so mehr fiel es ihnen auf, daß er nach einigen freudigen Sätzen aufwärts plötzlich still stand und mit unwilligen Ausrufen sich bückte. So gut sie durch die Dunkelheit sehen konnten, schien er mit etwas am Boden Liegenden zu kämpfen. Er stampfte mit dem einen Fuße, zuckte und zog und zerrte mit dem andern und fluchte herzhaft dazu.
„Verfluchte Kette!“ hörten sie ihn endlich wüthend und zappelnd ausrufen. Er steckte mit dem einen Fuße in dem Gliede einer ungeheueren Buoy-Kette. Aufwärts springend war er mit dem Fuße so tief in das massive Kettenglied hineingerutscht, wie es dem Zwischenraume nach kaum möglich erschien. Der Sprung hatte dem Fuße eine solche Wucht gegeben, daß er wie ein vom schweren Schlage getroffener Keil bis über den Knöchel dicht und fest hineingetrieben worden war, so daß es seinen größten Anstrengungen nicht gelang, den Fuß aus der furchtbaren eisernen Fessel herauszuschütteln.
Die beiden Matrosen eilten herbei. Der Eine unterdrückte ein schadenfrohes Lachen, als er sah, wie eigen und eisern sein gestrenger Herr Skipper in einer Falle gefangen dastand und vergebens zuckte und zerrte, den Fuß zu befreien.
„Komm, Bob, hilf!“ rief der Andere vorwurfsvoll. „Jetzt, Sir, mit dem Fuße tüchtig und tapfer gewackelt und gewichselt. Wir halten die Kette. Jetzt! Wupp!“
Aber es war leichter gesagt, als gethan. Der Skipper zog und zerrte, rang und ruckte mit aller Macht, so daß die Knöchel zwischen dem Eisen knirschten, aber vergebens.
„Jetzt halte Du die Kette,“ rief Bob zu Bill. „Sir, nun sacht, aber derb!“ So wie er sprach, packte er den Fuß mit beiden derben Fäusten und zog und drehte und zuckte und zerrte daß die Steine unter seinen Füßen geräuschvoll nachgaben und der Strumpf an dem gefesselten Beine quer durchriß – Alles vergebens. Der Skipper fluchte auf die Ungeschicklichkeit seines Matrosen und befahl ihm, loszulassen. [25] Nachdem der Capitain allein noch einen verzweifelten Versuch gemacht hatte, bat Bob um Erlaubniß, jetzt noch eine große Haupt-Attake zu machen. Der Gefangene, nochmals von der Vergeblichkeit seiner eigenen Anstrengungen überzeugt, ließ es willig geschehen. Bob machte sein Meisterstück: er zog und drehte, als wollte er eine Eiche aus der Erde reißen, so daß der Capitain laut aufschrie und in der größten Pein nach seinem Fuße griff. Er schüttelte sich in Qual und Zorn und schleuderte die Arme umher und fluchte und stampfte mit dem freien Fuße und schüttelte den gefesselten im höchsten Zorne und Schmerze, so daß Bob wie abgeschüttelt auf die schlammigen Steine fiel und sich mit einem Ausruf des Unwillens erhob, um den Capitain mit einem Blick zu bestrafen. Dieser Strafblick ward aber sofort zum herzlichsten Ausdruck des Mitleidens, als er sah, wie sein Capitain den Angstschweiß von dem wettergebräunten und doch blaß gewordenen Gesichte wischte.
Bis jetzt hatten sich nur ein paar Menschen eingefunden, zu sehen, was es hier für eine nächtliche Scene gäbe. Diese sahen darin eben noch einen guten Scherz des Schicksals. Der Rath des einen Zuschauers: „Schneid’t den Stiebel runter!“ ward mit Beifall und Gelächter aufgenommen.
„Stiebel ’runter, ja wohl!“ rief ein Anderer. „Das ist der gesetzliche Weg. Der Fuß ist in Chancery[1] und darf nur mit gänzlicher Ablederung wieder ’raus!“
Der Leidende hatte kein Ohr für den Spaß, und Bob machte der scherzhaften Seite der Sache durch die Bemerkung ein Ende, daß es einem rechtschaffenen Christen und Wassermanne besser anstehen würde, ein Licht zu holen, statt wie ’ne Landratte zuzusehen und Witze zu reißen. Der Mann begriff das auch und lief zum nächsten Publichause, um eine Laterne zu holen. Er kam mit einer solchen und verschiedenen Biergästen des Hauses schnell zurück. Mit Hülfe der Laterne und eines guten Messers schnitt der Skipper, beobachtet von etwa dreißig Augen, den Stiefel selbst soweit entzwei, als die furchtbare Eisenfessel zuließ.
„Nu fest!“ war der allgemeine Ausruf. Aber so riesenkräftig und heldenmüthig der Skipper auch zuckte, zog und zerrte, der Fuß kam nicht heraus. Die Andern halfen, so gut sie konnten. Einige hielten und unterstützten ihn, Andere zogen an dem Fuße, noch Andere hielten und drehten die Kette, und der Capitain stand da mit Schweiß auf der Stirn und zitternd mit den festgekniffenen Lippen, bald zusammenbrechend, bald wieder aufzuckend zu verzweifelten Anstrengungen.
Die Lage erschien nun Jedem sehr bedenklich. Und als der Leidende aufathmete und sich den Schweiß von der Stirn wischte und um sich sah, bemerkte man nur stille, theilnehmende Gesichter in dem spärlichen zitternden Laternenlichte. Selbst als ein Mädchen rasch und ernst ausrief, man möge die Kette zerhauen, lachte Niemand. „Wer holt ’n Stuhl für den Herrn?“ frug eine Frau mit ihrem Kinde auf dem Arm, „wie kann er noch stehen? Ich sehe, daß er ohnmächtig wird.“
Der Stuhl war bald da. Bill hatte seinen Herrn inzwischen fest und wacker unterstützt und gehalten. Der Skipper setzte sich. Vom Public-Hause kam ein Glas Cognac für ihn. Er stürzte es hinunter, sprang auf und erneuerte seine Anstrengungen mit der verzweifelten Riesenkraft, sich zornig, empört über sich selbst, schüttelnd wie ein Löwe in Banden. Auch wieder vergebens. Endlich wieder nachlassend, sah er sich unter der ziemlich groß gewordenen umstehenden Menge um und fragte: „Will nicht Einer ’nen Wundarzt holen?“ „Ich will!“ rief Bill eifrig und eilte davon wie ein Pfeil. Inzwischen lehnte sich der Capitain in seinem Stuhle zurück, kreuzte die Arme und unterdrückte seine Qualen wie ein Mann. Die Menge stand schweigend, starrend umher und sah einander und den Leidenden sorgend, verlegen, mitleidig, erschreckt und mit Grauen an.
So verging beinah eine halbe Stande, ehe Bill mit dem „ersten besten Doctor“ athemlos zurückkam. Es war ein Londoner „Chemist“, ein Verkäufer von Chemikalien ohne medicinische Kenntniß, wie sie in England tausendweise umherquacksalbern. Er preßte und drückte den Fuß und frug, ob das weh thue. „Ob’s weh thut!“ rief der Leidende vorwurfsvoll.
„Aderlassen!“ schrie plötzlich ein Mann aus der Menge.
„Ich dachte eben daran!“ bemerkte der Doctor, „aber auch daran, daß ich meine Lancetten nicht bei mir habe!“
„Ich hole sie!“ rief Bill.
„Danke,“ antwortete er, „aber ich muß selbst gehen. Meine Frau würden meine chirurgischen Instrumente keinem Unbekannten aushändigen.“
Während der Zeit hatte sich das Gerücht von einem sonderbaren Unglück auf dem Themsebette weit durch Rotherhithe verbreitet, und Personen aller Art und jedes Gewissens drängten sich herbei, Einige mit Laternen, Andere auf Booten von der Wasserseite her, so daß diese nächtliche Menge im Dunkeln, seltsam und stückweise von einzelnen Laternen beleuchtet, mit dem stärksten Lichte in der Mitte, um den Gefesselten und Gefangenen herum, zu dem unheimlichsten, malerischen Nachtlebensbilde ward. Der leidende Held der Scene sah erschreckend blaß aus, trotz seiner braunen Haut und der männlichen Ruhe, die er sich abrang, und trotz des Lächelns, das seine Lippen erlogen.
Endlich kam der Doctor mit seinem chirurgischen Besteck zurück. Er trat feierlich auf und öffnete seinen Kasten mit bedeutungsvoller Ceremonie. Mit wichtiger Miene wühlte er eine Lancette aus den blinkenden Messern und sonderbaren Schneide- und Stichinstrumenten heraus, machte die gehörigen Vorbereitungen und schlug eine Ader unter athemlosen Schweigen der Menge und in stärkster Beleuchtung der dicht herangedrängten Laternen. Der Doctor sprach ermuthigend, als er feierlich verkündete, daß er zu seiner Freude venöses und nicht arterielles Blut kommen sehe, und sah mit Wohlgefallen dem stark strömenden Blutflusse so lange zu, bis Jemand aus der Menge unwillig ausrief, man solle doch den Mann nicht todt bluten lassen. Aber der Skipper bestand darauf, noch einen Versuch zu machen, ehe die Wunde verbunden würde. So sprang er noch einmal auf und zog und zerrte und zuckte, renkte und schüttelte den blutüberspritzten Fuß und den ganzen Körper mit einer Wuth und Verzweiflung, die den Weibern und Mädchen umher manchen gellen Schrei mitfühlender Qual auspreßte und alle männliche Hände, die reichen konnten, zur Hülfe heranzog, während sie selbst durch ermuthigende Zurufe den entscheidenden Kampf zu unterstützen suchten.
Vergebens! Wieder vergebens!
Natürlich fing der Fuß zu brennen und zu schwellen an, und der Kampf beschleunigte die Entzündung. Endlich sank er mit einem schweren Gestöhn auf seinen Stuhl und lehnte sich erschöpft zurück.
„Wenn der Fuß,“ sagte der Doctor. „jetzt ein Weilchen Ruhe hätte, würde die Entzündung und Schwellung nachlassen.“
„Ich würd’n reiben mit Flanell und heißem Wasser,“ rief die Frau mit dem Kinde auf dem Arme.
Die Fluth war inzwischen bis etwa auf eine Elle an den Stuhl herangeschwollen. Ein unheimliches Murmeln und Flüstern traf das Ohr des Skippers. „Höchste Zeit! Mein Gott, die Fluth ist schon nahe! Keine Zeit zu verlieren!“ Er sah sich um und sprang auf und starrte eine Weile auf die unheimlich schwappenden, rollenden und rauschenden, dunkel sich wälzenden, auf den Wogenkämmen grell beleuchteten Fluthmassen. Dann wandte er sich wieder und zeigte den Umstehenden ein stieres, geisterbleiches Gesicht. Erneutes Zucken und Zerren, wobei der schlechte Verband der Wunde sprang und den Fuß mit quellendem Blute überzog.
In der Menge tobte ein Chaos von Ausrufen, Vorschlägen, Oppositionen, kreischenden Tönen, heulenden Schrecken. Dies Chaos ward plötzlich verdunkelt. Der Junge, der eine Fackel gehalten hatte, warf sie plötzlich weg und sprang aufwärts. „Die Fluth! die Fluth!“ schrie er und in demselben Augenblicke schwappten und klatschten die Wellen mit Gischträndern gegen den Stuhl und den eisengeketteten Fuß.
„Gott – Gott!“ rief der Capitain wild aufspringend, „kann mir Niemand helfen? Schreit um Hülfe! Ich kann nicht mehr. Gerechter Himmel, wollt Ihr hier stehen und zusehen, wie ein Mann zollweise ersäuft wird?“
„Keine Augst, Sir!“ murmelte ihm Bill besänftigend in’s Ohr. „Keine Bange, wir kriegen’s noch. Hier kommt Flanell und heiß Wasser. Vater Thems’ ist gut, Sir. Er läßt uns noch Zeit, er nimmt Vernunft an!“
„Aber ’s kommt!“ erwiderte der Skipper mit einem Schauder, der ihn schüttelte.
Die Reibungen mit heißem Wasser und Flanell wurden rüstig begonnen.
[26] „Hilft nichts mehr jetzt,“ bemerkte der Doctor kaltblütig, indem er den heranschlagenden und weit hin schwappenden Wogen auswich.
„Thut nichts,“ entgegnete die ihn reibende Frau ermutigend. „Noch geht’s. Versuchen Sie’s jetzt, lieber Herr! Ich denke, jetzt gelingt’s.“
Noch einmal versuchte er’s und in einer so stillen, verzweifelten, mit allen Muskeln angestrengten Weise, daß viele Umstehende ächzten und die Luft zischend einzogen, während er selbst keinen Laut durch die festgepreßten Lippen hören ließ. Die Frau hatte von unten zu helfen gesucht. Jetzt sprang sie auf, vom Gesicht, aus den Haaren triefend, und flüsterte Bob, der sie tüchtig unterstützt hatte, etwas in’s Ohr.
„Was? Was sagt sie?“ frug der Capitain eifrig.
„Etwas von ’nem guten Einfall, Sir! Etwas, Sir, das besser ist, als wie – Sir! Etwas – Kurz, Sir, besser – „better to leave a limb here than a life.“[2]
„Richtig, richtig! Gott sei Dank!“ schrie der Skipper, indem seine Augen in verzweifelter Hoffnung wild aufblitzten. „Schnell einen Wundarzt! Bein ab!“
„Dies Gem’man[3] wird’s gleich aus freier Hand thun,“ rief Bill scharf, indem er auf den „Chemisten“ lossprang. Dieser lehnte die Amputation mit dem Bemerken ab, daß dies ganz außerhalb seines Faches liege und er nichts davon verstehe. Mit einer verächtlichen Bemerkung gegen die „Landratte“ eilte der Matrose landaufwärts, um einen ordentlichen Wundarzt auftreiben. Die Frau, von den Leuten umher mehrmals Sal oder Sally genannt, die sich bisher so hülfsbereit gezeigt hatte, lief ihm nach, indem sie bemerke, daß der Fremde hier nicht Bescheid wisse, sie wolle ihn auf dem geradesten Wege zum nächsten Wundarzt führen.
Die Menge, die jetzt zu einer zahlreichen Versammlung geworden war, trat inzwischen immer weiter und weiter zurück, Zoll um Zoll von der steigenden Fluth zurückgetrieben, und belugte und beleuchtete den Unglücklichen unter Ausbrüchen aller möglichen Grade von Mitleid, Leidenschaft und Schmerz. Nur Einer blieb standhaft und ungescheucht neben ihm im Wasser stehen, Bob, sein treuer Matrose, ihn ermuthigend und haltend und die nahe bevorstehende Amputation als das natürlichste und sicherste Mittel der Befreiung darstellend. Mit Hoffnung und heiter blickte und sprach er landwärts, mit unterdrückter Furcht und herausforderndem Trotz gegen die immer ungestümer sich heranwälzenden Fluthwogen. Das Warten wurde bald peinlicher und peinlicher, da sich jede Minute zu längerer Qual ausdehnte. Aber endlich jauchzte die dunkele Menschenmenge auf und bewillkommnete Bill, die Frau und zwei Wundärzte, die rasch bis an den unsichern Fluthrand heraneilten. Um aber dem seltsamsten aller Patienten nahe zu kommen, mußten zwei Boote halb auf’s Trockene herangezogen und mit dem Hintertheile so gelegt werden, daß sie von da aus sich zu ihm überbeugen konnten. Die Scene war nur spärlich von einigen Laternen beleuchtet. Man rief nach Licht, nach Fackeln. Diese flackerten nach einigen Minuten hell genug, kurze, trübe, qualmende Schiffsfackeln, und warfen eine Beleuchtung über die Hauptgruppe und den Hintergrund von düstren Menschengestalten, die vielleicht mit jeder künstlerischen Effectscene aus gemalten Nachtbildern wetteifern konnte.
Die beiden Wundärzte sahen jetzt erst plötzlich mit Schrecken die Tiefe und das Entsetzliche der Gefahr. Das Wasser umtoste schon die Kniee des Unglücklichen und hob sich in einzelnen Wellen höher und höher.
„Gott sei Dank!“ redete sie der Capitain mit seemännischer Ruhe an, „daß Sie gekommen sind, Gentlemen. Sie sehen sofort, was nothwendig ist. Rasch! Keine Minute verlieren. Time and tide wait for no man.[4] Bein ab! Frisch drauf los. Bin gern bereit nun, dem zornigen Vater Thems Fersengeld zu zahlen.“
Er sprach dies mit Heiterkeit und setzte sich fest auf seinem Stuhle.
Die Wundärzte sahen sich beide erschreckt an und schwiegen.
„Verstehen Sie mich nicht?“ rief der Capitain. „Sie sollen sofort diesen Fuß hier amputiren, sofort, sogleich, ohne alle Ceremonie. Ein Schnitt ringsum in’s Fleisch, Knochensäge, fünf Minuten, dann bin ich frei.“
„In der Eile hat man uns nicht genau den vorliegenden Fall geschildert,“ bemerkte Einer von den Beiden, „so daß wir unsere Instrumente nicht –“
„Was? wieder ohne Instrumente? Warum schickten Sie nicht schon danach? Was stehen Sie da und gaffen einander an? Im Namen des Allmächtigen, schicken Sie danach!“
„Würde nichts helfen. Können nichts für Sie thun.“
„Wie? verstehen Sie mich denn noch nicht? Ich will den Fuß nicht herausgezogen, ich will ihn amputirt haben. Das zum Henker müssen Sie können. Das ist Ihre Pflicht. Es giebt keinen Ausweg.“
„Thut uns leid, aber wir könnten die Amputation nicht unterm Wasser vornehmen.“
„Nicht können? Ich sag’ Ihnen, Sie müssen. Ich will, wenn’s Wasser sein muß, nicht im Fluß-, sondern im anständigen Seewasser sterben. Sie müssen mich hier von diesem Tode abschneiden. In einer Stunde reicht das Wasser einige Fuß über meinen Kopf. Sie müssen die Amputation versuchen, sonst sind Sie an meinem Tode schuld.“
„Unmöglich. Aber sehr möglich, daß Sie den nun von Kälte kleiner gewordenen Fuß herausbringen. Versuchen wir’s.“
„Ja, ja, Sir, noch einmal,“ rief Bill. „Das letzte Mal ist Lohn für Alles vorher.“
„Auch Du machst Dich über mich lustig? Schäme Dich, Bill! Hab’ ich nicht alle meine Kraft erschöpft? Hier sitz’ ich, zum elendesten Tode nach Zollen verflucht. Und diese Herren klag’ ich als meine Mörder an, wenn sie mir die letzte Möglichkeit der Rettung abschneiden, statt des Fußes.“
Die letzten Worte, laut und leidenschaftlich ausgestoßen, drangen bis zu der erregten Volksmenge hinüber, und aufgebracht über diese scheinbare, für sie schauderhaft wirkliche Gleichgültigkeit gegen die Leiden eines Mitmenschen, erhoben sie ein wüthend wachsendes Geschrei gegen die Wundärzte. Unter Ausrufen, wie: „Gebt ’nen ’ne Lehre!“ „Laßt sie Themsebrei kosten!“ „Spielen wir Ersäufens mit ’nen!“ trat ein derber Kerl, den sie Dobbs nannten, als ihr Sprecher und Bevollmächtigter aus ihrer Mitte hervor, bis an die Kniee in’s Wasser und dicht vor die beiden Wundärzte. „Hier ist keine Zeit zum Schwatzen! Gleich die Instrumente geholt, sonst – hier ist der Aderlasser noch, der geht!“ –
Lautes Beifallsgebrüll unterstützte diesen Antrag, und der Skipper selbst bat jetzt wie ein Herrscher.
Die beiden Doctoren begriffen jetzt das Gefährliche ihrer Lage und beauftragten den Chemisten, die chirurgischen Instrumente zur Amputation zu holen. Der Eine schüttelte den Kopf dazu, aber der Andere suchte dieses Zeichen wieder gut zu machen, indem er ermuthigend von einer Amputation über dem Kniee sprach.
„Wo Sie wollen!“ rief der Skipper. „Ich bin nicht feig zu sterben. Aber ich will mein Leben von hier für ’nen anständigern Tod retten. Auf Salzwasser ist er zwanzig Jahre fast mein täglicher Genosse gewesen, der Tod, von Kindheit an. Hier wäre er gemein, boshaft, tückisch. Nicht hier!“
Dabei stand er fortwährend, aber zitternd und bebend vor Kälte und Erschöpfung. Bob hatte wieder den Chemisten begleitet. Bill schob das Boot dichter an seinen Herrn und suchte ihn zu halten, zu trösten, zu wärmen. Andere Boote waren auch herbeigekommen und festgeschoben worden am Uferrande. Die fieberisch erregten Menschenmassen drängten sich in ihnen und gaben ihnen bisher Halt, daß sie nicht schwankten auf den heranklatschenden Wogen. Doch wurden einige derselben schon unruhig, zumal als eine Frau aus dem einen in Ohnmacht zusammensank und herausgetragen werden mußte.
Die Betheiligung dieser unabsehbar gewordenen Menge war beinahe eben so furchtbar, wie das entsetzliche Ringen mit dem Tode in den Gliedern und Geberden des Capitains.
Der eine Wundarzt sprach rasch und viel mit ihm. Dies beruhigte die Menschenmassen zum Horchen und Lauschen, so daß man ihn deutlich sagen hörte: „Es wäre grausam, Sie länger durch Hoffnungen zu täuschen. Die Amputation ist unmöglich oder nur ein Tod in anderer Form. Vielleicht gelingt’s doch noch, den Fuß zu befreien. Wenn nicht, so wär’s besser, sofort etwa noch weltliche Dinge zu ordnen.“
Diese Worte waren kaum gesprochen, als ein entsetzlicher weiblicher Schrei hinter Bill im Boote den Capitain wie ein Schlag mitten in’s Herz traf. Die Worte des Arztes hatten ihn dumpf [27] betäubt, nicht überzeugt. Der Schrei sagte ihm, daß der Tod unvermeidlich sei.
„Wenn nicht am Knie,“ sagte er schwach, „warum nicht an der Hüfte? Das muß noch gehen!“
„Unmöglich! Nur unnöthige Grausamkeit, den Tod länger wegzulügen!“
Der Skipper hörte jetzt zum ersten Male aus diesen ruhig und entschieden gesprochenen Worten deutlich sein Todesurtheil. Er sah den andern Wundarzt an, der sein Gesicht wegwandte, um es ihn darin nicht noch einmal lesen zu lassen. Er sank in allen Muskeln gelähmt, todtkalt, in seinen Stuhl zurück. – Furchtbares Geschrei: „Schande! Elende Feiglinge! Werft sie in’s Wasser! Bindet sie auch an die Kette!“ u. s. w. verstummte durch ein noch entsetzlicheres Gekreisch. Der Capitain war rücklings in’s Wasser gefallen. Das Wasser hatte den Stuhl hinter ihm hinweggeschwemmt. Indem man ihn rasch emporzog, stieß er den durchdringenden Schrei des Entsetzens aus halb erstickter, sich Luft machender Kehle aus.
„Gott sei mit Ihnen!“ rief Bill, sich die Thränen aus den Augen reibend. „Es ist doch nur der Tod, der mehr als tausend Mal mit uns fuhr.“
„Nicht derselbe Tod, Bill, nein! Nein, nein, Bill! Hier niedergekettet – gemeines Wasser steigend, steigend, steigend! Mein Gott, thu’s vorher!“
Eine Hand berührte jetzt leise seinen Arm, die einer barmherzigen Schwester, welche ihn mit einem blassen, echt weiblich theilnehmenden und deshalb Trost ausstrahlenden Gesicht und Blick ansah, indem sie leise und liebevoll sprach: „Es ist nicht so schrecklich, als es scheint. Mein keiner Bruder lächelte, als er starb, und sagte, daß ihm der Tod gar nicht weh thue. Und Sie sind ein Mann. Nein, nein, fassen Sie sich; es ist wirklich nicht so schlimm, glauben Sie’s mir!“ Das Gesicht des Leidenden wurde weicher, ruhiger, indem er zuhörte.
„Wollen Sie einem Sterbenden noch eine Liebe versprechen?“ frug er leise.
Eine hervorstürzende Thränenfluth, ein krampfhaftes Schluchzen war ihre Antwort. Er bückte sich etwas an ihr Ohr und flüsterte ihr einige Worte zu. Dann zog er ein Taschenbuch hervor, schrieb einige Minuten lang in größter Hast hinein und überreichte es ihr mit den feierlich gesprochenen Worten: „Führen Sie’s gut aus. Gute Vorbereitung und dann erst die volle Wahrheit! Sie ist dann wohl stark genug. Und nun meinen Dank, mein Lebewohl!“
„Ich will, ich will,“ schluchzte die Barmherzige und wollte etwas hinzusetzen, aber sie unterdrückte es mit großer Anstrengung. –
„Was können wir noch für Sie thun?“ frug jetzt einer der Wundärzte.
„Huh, es ist so entsetzlich kalt! Wer schafft mir noch einen guten Schluck Cognac?“
„Ich, Capitain!“ rief Bill mit Energie. „Ich, Capitain, und das gehörig.“ Er sprang aus dem Boote und kam athemlos mit einer ganzen Flasche Cognac zurück, den der nächste Public-Haus-Wirth als die englische Universal-Hausmedicin schon bereit gehalten hatte.
Er gab ihm ein Glas voll und wollte noch mehr eingießen, als ihn der Wundarzt mit der Mahnung unterbrach, den Unglücklichen nicht betrunken vor den Thron des Ewigen zu senden. „Wer würde betrunken vor Victoria’s Thron erscheinen wollen?“ setzte er hinzu, „wie viel weniger vor dem des Ewigen!“
Ein neuer Tumult vom Wasserrande her unterbrach diese Scene. Die chirurgischen Instrumente waren angekommen. Die Fluth war weit über die Kniee des Niedergefesselten gestiegen und schlug sich wälzend und hinrollend in flüssigen Hügeln bis an die Hüften heran. Die Volksmenge, noch immer an dem Glauben festhaltend, daß die Amputation möglich und Pflicht sei, brach in neue Wuth aus, als die Wundärzte keine Anstalt machten, die Instrumente zu gebrauchen. Bill, der einsah, daß alle Hoffnung für seinen Capitain aufgegeben werden müsse und die in ihrem Leben gefährdeten Wundärzte nicht auch noch geopfert sehen wollte, gab flüsternd den Rath, sie im Boote nach der Mitte des Flusses hin unvermerkt in Sicherheit zu bringen. Dies geschah denn auch mit möglichster Eile, nachdem beide Aerzte ihrem Patienten still die zitternde Hand gedrückt hatten. Ihr Boot ward von dem bestochenen Ruderer still und ohne Aufsehen aus dem Wirrwarr der ringsum sich drängenden Fahrzeuge in die dunkele Mitte des Flusses hinübergeschoben.
Die Volksmenge auf dem Wasser und am Lande war unabsehbar groß geworden. Man schrie, stritt, jammerte, fluchte, kreischte in den verschiedensten Tonarten und Beleuchtungen, die hier und da immer noch vorübergehendes, unsicheres Licht auf verschiedene Rettungspläne zu werfen schienen, auf lange Taue, Pferdegetrappel am Ufer, blasse, großäugige, schreckenentstellte weibliche Gesichter, dunkele, derbe Männer in Booten und am Lande. –
Inzwischen schwoll und schwankte in immer breiterem, massenhafterem Gewoge der Fluthmasse, Zoll für Zoll, unbarmherzig, kalt und unerbittlich wie ein Fatum, der unvermeidliche Tod immer höher zum Herzen des unerlöslich Niedergefesselten hinan. Wer hielte es aus, solch einen heranschwellenden Tod zu schildern? Die Wogen umschlugen ihn bald über den Hüften, dann schwappten sie hinauf bis zu den Schultern, sie schlängelten sich in kalten, erstickenden Cirkeln um seinen Hals, sie gurgelten und trieben Blasen um seine Lippen, obgleich der Hals sich krampfhaft emporstreckte, noch einige Athemzüge des qualvollsten Lebens zu retten – ein so dämonisch-allmächtiges, unermeßliches Gut ist dieses oft verwünschte Leben noch in seiner unerhörtesten Qual! – So verschlangen ihn die entsetzlichen Wogen Zoll für Zoll, Glied für Glied inmitten einer unabsehbaren, rettungskräftigen – ohnmächtigen Menschenmenge. Endlich ein furchtbarer, ein einziger Schrei aus der Brust des Unglückseligen – sein letzter. Die Wasser schlossen sich über seinem Munde, sie drangen in die Nase – noch ein Kampf unter den Wogen mit heraufgeschwungenen Händen, dann dumpfes Donnern und Wälzen darüber hin – weithin verschallendes Stöhnen und Aechzen durch die nächtliche Menge.
Aus ihr schießt ein Boot mit zwei weiblichen Gestalten, beleuchtet von Fackeln, hervor nach der Stelle, wo eben noch die Arme des Verschlungenen sich emporstreckten. Die eine weibliche Gestalt ist jung, schön, kräftig. So steht sie im Boote, halb nackt, nur mit Hemd und Unterrock bekleidet. Sie stürzt sich in die Fluth und verschwindet. Die andere weibliche Gestalt biegt sich über den Rand des Bootes halb hinunter, gehalten von Männern. Man sieht Taue sich schlängeln, auf den Wogen hintanzen. Ringsum ist die Menschenmasse todtenstill. Endlich tauchen die beiden Frauengestalten wieder empor. Die junge erhebt sich triefend und schreit mit fester, klarer, durchdringender Stimme einen Befehl nach dem Ufer, einen andern nach Booten in ihrer Nähe, dann ein schrilles „Now!“ Die Boote rudern, Taue spannen sich. Am Ufer Pferdegetrappel. Sie ziehen. Ein Tau spannt sich bis hinüber. Ein Ruck – und der von Wogen Verschlungene wird, auf der Oberfläche hingezogen, sichtbar.
„Halt!“
Er wird in das Boot gehoben. – Er lebt!
Dämonisches Freudengeschrei. Im nächsten Hause am Ufer wird der Fuß untersucht. Er ist zerquetscht und zerschunden, aber heilbar. Der Capitain blickt zuerst mit Bewußtsein in die Augen seiner Braut. Sie – und die Barmherzige, in deren Händen sie sein Taschentuch erkannt hatte, – zwei Mädchen – haben ihn gerettet. Erstere – die Schöpferin und Leiterin des Planes – war hinuntergestiegen, um das Tau für zwei Pferde unter seinem Kniee zu befestigen, Letztere, ein anderes um Brust und Arme, für die Leute in den Booten, zu schlingen. Es war das einzige und letzte Mittel noch. Im Wasser hatte sich die Geschwulst etwas gesetzt; der kräftige Anzug der beiden Pferde, das Heben und Ziehen der Bootsleute thaten das Uebrige – der Capitain war gerettet.
Ein einfaches Mädchen hatte erdacht und vollbracht, was den Hunderten der Umstehenden unmöglich erschienen war.
Daß die Perser Turner sind, dürfte in Deutschland noch wenig bekannt sein. Wie lange sie diese Uebung treiben und durch wen das Turnen bei ihnen überhaupt eingeführt worden, vermag ich nicht anzugeben. Vermutlich stammt es, wie alles das wenige Gute, welches sie noch besitzen, aus der vorislamischen Zeit und ist vielleicht von den Griechen bei ihnen hangen geblieben, denn es steht, wie ihr ganzes Bischen Civilisation, die seit dem Eindringen des starren Islam keinen Schritt vorwärts gethan hat, noch auf einer sehr primitiven Stufe und findet sich, meines Wissens, bei anderen muhammedanischen Völkern nicht, wenigstens konnte ich bei den nomadischen Kurden und Turkmanen und bei den trägen Türken nichts davon entdecken. Plagen wir uns indessen nicht mit trockener Geschichte, sondern treten wir durch die niedrige Thür in das Turnhans (sorchane) ein, um uns das Treiben darin näher zu besehen.
Die Perser turnen nur bei nüchternem Magen, daher am frühen Morgen bei Tagesanbruch. Eine Ausnahme hiervon rücksichtlich der Zeit findet im Ramasan, dem muhammedanischen Fastenmonate, statt, wo bis Sonnenuntergang von Erwachsenen beiderlei Geschlechts durchaus nichts genossen werden darf, daher dann das Turnhaus nur erst eine und eine halbe Stunde etwa vor Sonnenuntergang besucht wird. Diese Zeit im Ramasan wählte ich, um das eine der beiden in der Stadt Rescht befindlichen öffentlichen Turnhäuser in Augenschein zu nehmen. Die Vornehmern daselbst sind jetzt theils zu sehr in ihren Vermögensverhältnissen zerrüttet, theils zu geizig, um sich ihre eigenen Turnlocale zu halten, von denen man wohl hin und wieder Spuren in verfallenden großen Häusern in Rescht, gut erhaltene Räume aber sonst in allen größeren Städten Persiens findet, in denen man persischer, d. h. ostentiöser ist, als in Rescht, wo Alle nur auf Geld noch etwas halten.
Schon außerhalb des fraglichen Locals, welches in einem elenden Basargebäude gelegen ist, tönte mir die bekannte monotone persische Handtrommel entgegen, und nachdem ich in den viereckigen niedrigen, durch ein Paar halb zerbrochene schmutzige Fensterchen matt erleuchteten dunstigen Raum mit gebücktem Kopfe eingetreten war, wäre ich beinahe über sie und einen Luti weggestolpert, welcher die bewußte Handtrommel über ein Kohlenbecken hielt, um die Feuchtigkeit aus dem schlaff gewordenen Felle zu verjagen und es dadurch beim Schlagen tönender zu machen, eine Manipulation, die bei jedem persischen Concerte in den feuchten kaspischen Provinzen alle 20–25 Minuten wiederholt werden muß, sollen nicht am Ende die Töne ganz stecken bleiben. Der Vorturner (Pehlewan), ein halbnackter hagerer Mollah mit röthlich gefärbtem Barte und stereotypem weißen Turban, entpfing mich und geleitete mich an dem einfachen Orchester, bestehend aus besagter Handtrommel und einem persischen Schellentamburin, vorüber nach dem Ehrenplatze dem Eingange fast gegenüber, wo ich mich mit gekreuzten Beinen (ein Vorrecht, welches nur Europäern und der Kadscharenfamilie öffenltich zukommt, während die Perser knieen, was für Europäer noch viel unbequemer sein würde, als das türkische Sitzen, an welches man sich leichter gewöhnen kann) an der Wand niederließ, um dem Turnen neben mir und vor und unter mir einige Zeit zuzuschauen.
Der eigentliche Turnplatz nämlich besteht in einer ziemlich großen, etwa mannshohen runden Vertiefung, die hier an den Seiten mit Backsteinen ausgekleidet, am Fußboden mit gelbem Sande beschüttet war. Die zwischen dieser Vertiefung und den schmutzigen vier Wänden hinlaufende schmale Erhöhung dient zum Einzelturnen oder zum Turnen mit den großen viereckigen Bretern, auf die ich weiter unten noch zurückkommen werde. In Teheran und in anderen größeren Städten in Persien soll die Vertiefung manchmal vieleckig und an den Seiten mit Filz ausgekleidet sein. Der Fußboden wird dort mit Reisig und Filzdecken, auf die man Sand aufschüttet, belegt, um ihn elastisch zu machen. Hier in Rescht bemerkte ich aber nichts von Elasticität; möglich, daß sie verloren gegangen war, wenn sie je bestanden hatte.
Zuerst stieg der halbnackte Mollah in den vertieften Raum, wohin ihm mehrere Turner folgten, Perser und Schwarze, fast alle in gleicher Naturtracht, d. h. in aufgestreiften oder kurzen blauen Baumwollenhosen, einige wenige in ganz kurzen Lederhosen, andere gar nur mit der rothblauen baumwollenen persischen Badeschürze bekleidet. Mit aufgehobenen Händen und Zeigefingern hüpften sie, ähnlich wie man bei uns den Chinesentanz nachahmt, im Gänsemarsche, Einer nach dem Andern, im Raume rund herum, indem sie dabei die Beine abwechselnd stark anzogen und in den Knieen beugten, die Hände ebenso abwechselnd erhoben und senkten. Dieser Einleitung folgte zu je Zweien das Ringen der Pehlewan, welche, wie die Widder bei ihren Kämpfen, stets mit den Köpfen beginnen, die sie sich in die Achselgegend gegenseitig einsetzen, und mit dem Rücken endigen, auf den der überwundene Gegner zu liegen kommen muß. Außerdem hat das Ringen nichts Besonderes, nur kommt es hierbei nicht sowohl auf die Kraft an, als mehr auf gewisse von den Pehlewan eingelernte Kniffe oder Kunstgriffe, die oft in unehrlicher Weise angebracht werden. Nach den Ringern producirten sich Einige ebenfalls paarweise mit den ungeschickten hölzernen Mil, schweren Keulen mit kurzen Griffen, die etwa unseren Handeln entsprechen, nur daß sie bei weitem größer sind, die sie aber recht geschickt zu handhaben wissen. Sie drehen erst eine in weitem Bogen herum, dann mit der anderen Hand die andere, hierauf beide zusammen. Endlich schwingen sie beide abwechselnd über dem Kopfe, und Manche gehen so weit, diese unbeholfenen Klötze in die Luft zu schleudern und sie dann ganz geschickt an dem kurzen Stiele wieder aufzufangen. Zwei kurze, kräftige schwarze Luti besaßen hierin sowie im Ringkampfe ganz besondere Fertigkeiten und stachen die eigentlichen Perser weit aus.
Währenddem turnten die Einzelnen auf dem oberen Raume, der mir dazu viel zu schmal und zu beengt erschien. Einige stemmten sich auf Füße und Hände zugleich, den Kopf nach vorn und häufig nach unten, und machten so vom Platze aus Vor- und Rückwärtsbewegungen, manche mit Ein- und Ausbeugen des Rückgrats zugleich, ähnlich wie bei unserer Bauchriege. Andere bedienten sich stehend oder auf dem Rücken liegend je zweier großer, länglich viereckiger schwerer Breter, ähnlich großen Holzschilden, die in der Mitte mit einem Loche versehen sind, in dem ein Querholz als Handhabe steckt. Diese Breter suchten sie mit ausgestreckten Armen einander zu nähern und von einander zu entfernen, wobei sie liegend den Fußboden mit ihnen berührten, stehend die Arme nach hinten zogen, so weit sie konnten.
Fast alle diese einfachen, zum Theile höchst schwerfälligen Uebungen können allerdings einen directen Einfluß vorzugsweise auf Kräftigung der Streck- und Beugemuskeln der Extremitäten und der Brustmuskeln ausüben. Die übrigen Körpertheile nehmen meist nur indirect an diesen Vorgängen Theil, und es sind daher vom persischen Turnen bei weitem nicht die Vortheile zu verlangen, die man vom schwedischen oder deutschen Turnen hoffen kann. Zudem wird dasselbe planlos und ohne ärztliche Indication getrieben, wiewohl es die persischen sogenannten Aerzte manchmal als Kräftigungsmittel nach erschöpfenden Krankheiten und bei Verdauungsbeschwerden anrathen sollen, wie sie auch das Kneten der Weichtheile in und außer den Bädern zuweilen verordnen, Beides natürlich ohne anatomische, physiologische und pathologische Kenntnisse.
Indessen bleibt es ein nicht zu verwerfendes Hülfsmittel für den europäischen Arzt, nach vollständig oder bei großentheils geheilten Lähmungen, zur Unterstützung des Chinins und Eisens bei Wechselfieberkachexieen, bei starken Milzanschwellungen nach Wechselfiebern u. s. w., und in diesen Fällen habe ich mich desselben oft mit Vortheil bei meinen persischen Kranken bedient. Denn ihnen eine Gymnastik zumuthen zu wollen, wie sie z. B. in Dr. Schreber’s vortrefflichem Werke enthalten ist, nach welchem ich dortige europäische Kranke im Zimmer turnen ließ, würde heißen, sich bei dem Perser lächerlich, folglich unmöglich machen. Ohnehin lauert er jeder Bewegung des Europäers auf, um ihr etwas in seinen Augen Lächerliches, weil Rasches oder ihm Ungewohntes, abzulauschen. Das Bewegen und Reiben der Gelenke und das Drücken, Reiben und Kneten des ganzen Körpers oder einzelner leidender Körpertheile in und außer den warmen Bädern, eine Art passiver Gymnastik, sind ausgezeichnete Mittel in manchen Gelenkkrankheiten und in Fällen, wo es darauf ankommt, ohne gleichzeitige große Ermüdung des Patienten, die peripherische Blutcirculation zu bethätigen und dadurch namentlich die Haut zu vermehrter Thätigkeit anzuregen, und [29] sie verdienten in Europa zu gleichen Zwecken weit mehr nachgeahmt zu werden, als dies bis jetzt geschieht.
Die Pehlewan, deren ich vorhin erwähnte, sind Ringer von Profession, und jeder Reiche oder Hochgestellte hält deren einen oder mehrere, um sich von ihnen etwas vorbalgen zu lassen. Auch sie kommen in Rescht mit dem Verfalle des Privatturnens immer mehr in Abnahme, und die wenigen, die noch vorhanden sind, gehören zu der Classe der Luti, d. h. der Lustigmacher, Musikanten, Tänzer, Sänger, Taschenspieler etc., die alle bei den Persern in demselben Rufe und Ansehen stehen, wie vor alten Zeiten bei uns etwa die Schauspieler. Daß auch Schwarze in den Turnhäusern mit turnen, könnte den Europäern auffallen, die da wähnen, daß der schwarze Sclave in Asien in demselben Abhängigkeitsverhältnisse zu seinem Herrn stehe, wie der schwarze Sclave in Amerika. Letzteres ist keineswegs der Fall, und die schwarzen Sclaven beiderlei Geschlechts, zumal wenn sie schon von Jugend auf in demselben Hause leben, gehören eben so gut zu der patriarchalischen Familie des Muhammedaners, wie die übrigen Diener, unter denen die älteren, weiße und schwarze, manchmal sogar einen großen Einfluß erlangen. Uebrigens giebt es sehr viele freigelassene Schwarze, und sie mit ihrem heiteren Naturell wenden sich dann häufig den freien Künsten zu, d. h. sie werden Luti. Und die Luti sind ja auch die Hauptbesucher der öffentlichen Turnhäuser. Daß Frauen und Mädchen von jeder Art Turnens gänzlich ausgeschlossen sind, versteht sich bei Muhammedanern von selbst. Der weiblichen Luti giebt es bei weitem weniger, und sie produciren sich nur in dem Harem.
Nachdem sich die Leute erhitzt und bei dem glühenden Kohlenbecken und dem furchtbaren Dunste in der Maihitze in Schweiß gebracht hatten, rieben sie sich gegenseitig trocken, zogen sich an und gingen hinaus, um beim Sonnenuntergange ihr Galjan (persische Wasserpfeife) zu rauchen, dann zu trinken und zu essen; ich aber war froh, diesem Schwitzbade, obwohl ich nur ruhig dort gesessen hatte, zu entkommen und nach Entrichtung eines freiwilligen Geschenkes von einem Toman (persischer Ducaten) wieder frische Luft zu schöpfen. Seitdem hat mich auch Niemand wieder in ein solches Loch bringen können.
Andere Turnübungen, außer den oben erwähnten, werden regelmäßig nicht vorgenommen. Klettern können die Perser fast gar nicht. Voltigiren ist ihnen unbekannt, ebenso Springen über Erhöhungen. Im Laufen leisten nur die Soldaten, die meist türkische Nomaden sind, Vorzügliches und die Bewohner der kaspischen Küsten, unter ihnen besonders die Gilaner. Auch Fußboten leisten hierin, wenn sie wollen oder müssen, manchmal Außerordentliches. Zum Springen über Gräben oder über Felsenrisse zwingt die Natur ihrer Heimath die leichten, mageren Gilaner und die kräftigeren Bewohner der unzugänglicheren Gebirge. Tanzen wird gar nicht geübt, da es Sache der Luti, also lächerlich und unanständig ist, selbst zu tanzen. Unanständig und, mit Ausnahme [30] etwa des Schaltanzes, ungraziös werden alle orientalischen Tänze auch von den Europäern gehalten werden müssen. Während derselben angebrachte Kunststücke, Verdrehungen des Körpers, Purzelbäume u. s. w. können das Interesse daran nicht erhöhen. Seiltanzen ist den Persern ebenfalls gänzlich unbekannt. Ueber schmale Stege passiren aber Sumpf- und Bergbewohner leicht und sicher. Was das Schwimmen anlangt, so sind, bei dem Mangel größerer Flüsse, die Perser darin sehr schlecht beschlagen. Die wenigen Gilaner, welche sich über dem Wasser zu halten vermögen, schwimmen nicht, sondern pudeln eine kurze Strecke entlang, aber nie in grundlosem oder in sehr bewegtem Wasser. Auf dem Rücken sah ich keinen Perser schwimmen. Wassertreten kennen sie auch nicht. Die in Afrika geborenen Schwarzen schwimmen meist auf dortige Manier, indem sie Wasser tretend mit den Armen abwechselnd weit ausgreifen, was, wenn auch rascher, als unser gewöhnliches (preußisches Frosch-) Schwimmen, nicht lange aushält. Bei uns pflegt man dieses Schwimmen mit der Bezeichnung „griechisches“ zu belegen. Im Rudern, Steuern und Segeln haben es die Perser nicht weiter gebracht, als ihre Vorfahren, und sie sind hierin mit den Tataren und Turkmanen, besonders aber mit den sehr gewandten Kalmücken, gar nicht zu vergleichen. Auch führen sie noch die schwerfälligen Schiffchen und die herzförmigen Ruder der classischen Zeiten. Die Perser besitzen wohl erbliche Admirale, aber keine Flotte, und für sie im Allgemeinen mehr, als für Andere, hat das Wasser keine Balken. – Schlittschuhlaufen ist bei Eismangel gänzlich unbekannt, ebenso Schlittenfahren. Wagen- und Kanonenfahren wird sehr wenig geübt. Ihr Reiten halten die Perser zwar für das beste in der Welt, allein es taugt nur etwas hinsichtlich der Ueberwindung bedeutender Terrainhindernisse und der Ausdauer, worin sie jedoch von ihren vortrefflichen Pferden noch übertroffen werden. Wie erbärmlich sie als Soldaten sind, ist den europäischen Exercirmeistern bekannt. Reihe und Glied sind ihrer Natur zuwider. Schießen können sie wohl, treffen aber nur, wenn sie einen festen Stützpunkt haben; dann aber zielen sie sehr sicher. Fechten wird nicht geübt. Mit ihrem geraden Kame stechen sie besser, als sie hauen, mit den krummen Säbeln aber können sie es mit keinem europäischen halbwegs guten Cavaleristen aufnehmen. Die persische Artillerie kann, wie die türkische, nur hinter festen Verschanzungen gefährlich werden.
Meines Wissens findet sich bis jetzt noch in keinem europäischen Reisewerke über Persien eine Beschreibung des persischen Turnens, und es dürfte geradezu auffällig erscheinen, daß selbst der bekannte Chevalier Chardin, der in seinem bändereichen Reisewerke die persischen Verhältnisse bis in’s Kleinste verfolgt hat, die Gymnastik der Perser als solche gänzlich übersehen zu haben scheint, wenn man nicht einen Grund dafür darin vermuthen könnte, daß doch erst die neuere Zeit dem Turnen überhaupt die Beachtung hat zu Theil werden lassen, die es verdient.
Wenn uns das Leben müde macht mit seiner vielgestaltigen Arbeit und Sorge – den Mann durch die Anstrengungen des Berufs, die Frau durch die tausend kleinen Mühen und Pflichten, welche sie der Ordnung und dem Behagen des Hauses schuldet –: so sehnen wir uns nach dem Frieden einer reineren, höheren Welt, die uns Erquickung bietet und Stärkung zu neuen Anstrengungen. Denn das Leben ist ein Kampf, der unablässig an uns nagt und zehrt, der uns hinabzuziehen droht in die Trostlosigkeit des Kleinen und Gemeinen, wenn uns eine zeitweise Flucht nicht rettet in jenes ideale Reich, das über der Wirklichkeit liegt und ihrem verwirrenden Getöse, – in das Reich des Schönen. Dort kommen wir wieder zur Sammlung und Ruhe, dort kehren mit den zerstreuten Lebensgeistern Muth und Vertrauen zurück. Wie ein Wanderer sich der kühlen, grünen Waldnacht freut, zu welcher er sich stundenweit durch den Staub und Sonnenbrand geräuschvoller Straßen hindurcharbeiten mußte, so fühlt sich die ermüdete Seele erquickt in der stillen Einsamkeit der idealen Welt. Diese Zuflucht ist Niemandem verwehrt, der sie aufsuchen will; sie ist kein Phantom, kein Wahn und Traum, wie Manche wähnen mögen, sondern klare, sonnglänzende Wirklichkeit. Freilich ist jene Welt ein „Wunderland“, wie die Schönheit selbst ein Wunder und Geheimniß ist; aber an ihrer Existenz kann nur zweifeln, wer das falsche Ideal einer flüchtigen, phantastischen Begeisterung mit dem wahren, aus tiefer, reifer Weisheit des Dichters entsprungenen verwechselt, das jeden Augenblick im Fleisch erscheinen und leben und athmen könnte, wie ein sterbliches Geschöpf. Was die erhabensten Geister aller Zeiten Großes und Herrliches hervorgebracht, was die Poesie geschaffen und die Künste gebildet haben, das wandelt und lebt in jener reichen Welt: es sind die in schönen Schein gekleideten ewigen Ideen – wahrer und lebensvoller, als die dem Wechsel und der Unvollkommenst unterworfenen irdischen Dinge. Den Griechen lag die Welt des Schönen nah und erschlossen vor Augen; sie gehörte mit zu ihrer sichtbaren Welt, und sie selber fühlten sich mitten darin; uns aber, die wir älter und verständiger geworden, ist sie fern gerückt. Der Ernst des Gedankens, der Zweifel, der Kampf mit dem Irdischen hat uns geschieden von jener heitern, vollkommen glücklichen Welt. Aber es giebt einen Weg dorthin, und diesen Weg wollen wir suchen.
Da die Brücke von hier dort hinüber in uns selbst Anfang und Befestigung findet, so können wir nicht von dort, wir müssen von hier, von uns selber ausgehen. Die Kunst zu leben verlangt viel Aufmerksamkeit, viel Geduld, Beharrlichkeit und Selbstverleugnung. Wenn man aber jeweilig sieht, daß man gegen die Beschränktheit, den bösen Willen oder die Gewöhnlichkeit vergeblich kämpft, und fühlt, wie man da und dort die Fehler, die man an Andern tadelt, selber gemacht und in der Uebereilung oder Leidenschaft verkehrt und thöricht gehandelt: so wird man verstimmt und verdrossen und hält in solchen Augenblicken das Leben für eine Last und das irdische Dasein für eine Kette von Ungemach. Zu Andern Zeiten dagegen ist unsere Stimmung freier, unser Geist heiterer und elastischer: das Schwere wird uns leicht und das Trübe und Verworrene klar. Was vordem für unser Verständniß keinen Zusammenhang hatte, gewinnt auf einmal Form und Gestalt vor unsern Augen; mit der helleren Einsicht wird auch unser Urtheil über die Menschen milder und gerechter. Gewiß erinnerst Du Dich auch solcher Sonnenblicke am Lebenshorizont – einzelner Tage und Stunden, welche Dich in der Arbeit rascher förderten, als sonst Wochen und Monate. Was solche glückliche Stimmungen herbeiführt, ist nicht bekannt; es mögen theils innere, theils äußere Verhältnisse, sowohl bürgerliche als geistige Veränderungen als Ursachen zu Grunde liegen. Oft ist es eine heitere Gesellschaft am vorhergehenden Abend, oft auch die Consequenz des ernsten Fleißes, so daß das Wort Goethe’s: „Tages Arbeit, Abends Gäste, saure Wochen, frohe Feste“ allerdings aus der Erfahrung stammt. Wenn wir aber in solchen Momenten eines gesteigerten Gemüths- und Geisteslebens schärfer sehen, wärmer empfinden und uns im ganzen Besitz all unserer Anschauungen und innern Erfahrungen fühlen, so schwinden die Nebel, welche jene höhere Welt uns verhüllten und in die Ferne rückten, und das Reich des Schönen tritt um so näher an uns heran, je empfänglicher wir für den Lichtstrahl geworden, der von dort zu uns herüber dringt. Es giebt noch einen andern Weg, die Brücke hinüber zu bauen, welcher ebenfalls von diesseits beginnt: die lebhafte Empfindung für das Naturschöne – von dem wir später umfänglicher zu reden haben. Ein kurzer Gang in’s Freie, oft nur ein Blick, der uns ein wenig Himmel, ein wenig Grün und ein Stückchen Ferne gestattet, reichen schon hin, die gestörte Harmonie der Seele herzustellen, alle Differenzen aufzulösen und das Gemüth wieder rein zu stimmen. Dann aber hören wir die „Harmonien“, die aus dem „Wunderland“ herüber klingen, und in den Saiten unserer Seele klingen sie leise nach.
Im Reiche der Schönheit begegnen wir jenen wunderbaren Gebilden, welche, von der Hand der Meister, der Poeten und Künstler, geschaffen, in unwandelbarer Jugend prangend, der Sterblichen Auge und Ohr entzücken und ihre Seele erheben über die Dürftigkeit dieser unvollkommenen Welt. Es sind die verkörperten [31] Ideen. Da wir beim Betrachten einzelner Kunstwerke auf das Innere und Aeußere desselben, auf die Form und Idee öfter zurückkommen müssen, so ist es nöthig, daß wir uns über den Begriff der Idee vor Allem ins Klare setzen. Dabei wollen wir aber von einer strengen Definition des Wortes absehen, weil wir nicht für die Wissenschaft, sondern „für’s Haus“ reden und uns mit einer Beschreibung der Sache begnügen können, wobei wir, wie ich hoffe, nichts verlieren werden.
Man empfindet zuweilen eine Sache tief und mächtig, ohne im Stande zu sein, das Empfundene genügend auszudrücken. Solche Stimmungen der Seele geben sich etwa kund beim Anhören einer ergreifenden Musik, oder wenn man am schwülen Mittag einsam im stillen Walde verweilt, oder am Morgen früh einen Berg mit weiter Aussicht besteigt, oder in tiefer Nacht zum besternten Himmel aufblickt, oder im Herbst das bunte Leben auf der Landstraße oder die Schiffe und Kähne auf dem Strom beobachtet, oder auf die fliegenden Wolken, die wandernden Zugvögel oder das fallende Laub sieht, oder sich der Ruhe freut, die am Abend niedersinkt auf Stadt und Dorf und Haus und Hof. Dergleichen Empfindungen sind zuweilen nur schwach und vorübergehend, zuweilen aber auch tief und stark und von dauerndem Eindruck. Wenn wir uns aber darüber aussprechen wollen, so finden wir selten die bezeichnenden Worte: wir sagen damit entweder zu viel oder zu wenig und nie das, was wir ausdrücken möchten. Nun giebt es aber Menschen, welche von Natur die Gabe besitzen, jene Seelenstimmungen, die wir Ideen nennen wollen, nicht allein reicher und tiefer als Andere zu haben, sondern dieselben auch mit Leichtigkeit zum Ausdruck zu bringen, sei es in Worten oder Bildern oder Tongemälden, so zwar, daß Jeder sofort in jene Seelenstimmung versetzt und der Idee theilhaftig wird. Die gefundene Form aber ist keine umständlich beschreibende, die auf einem längeren Weg zum Ziele käme, sondern kurz und bündig wie ein Sprüchwort, treffend, zündend wie ein Blitz, der die Seele erleuchtet, wie ein bedeutsamer Accord, eine Fülle von Gefühlen erweckend, – und dabei anmuthig, lieblich zu sehen oder anzuhören. Die Menschen, welche dieses Talent besitzen, sind eben die Dichter und Künstler. Sie verstehen die Sprache, welche tief Empfundenes und innerlich Geschautes leicht und sicher ausdrückt, – der Maler thut es mit Farben, der Bildhauer mit Thon und Marmor, der Musiker mit Tönen, der Dichter mit Gedanken und Bildern. Die Ideen sind demnach die Seele der Gedichte und Kunstwerke, die Form ihr wahrnehmbares, äußeres Gewand. Ein Dichter- und Künstlergeist kann nur geboren werden, denn die Kunst läßt sich weder lehren noch lernen. Was wir aber lernen können, das ist das Verstehen und Genießen der schönen Kunstwerke, das ist das Unterscheiden des Trefflichen vom Schlechten, was uns die Mode der Zeit oder das unreife Urtheil oder der verderbte Geschmack als gut aufdrängen will. Wessen Sinn für das Schöne erschlossen, wessen Geschmack durch die Kenntniß des Besten, was Poesie und Kunst hervorbrachten, gebildet ist, dem wird das Unschöne und Unedle sich nicht nahen dürfen; das Häßliche und Schlechte kann in seinem Innern keine bleibende Stätte finden.
Aber – könnte man hier einwenden – wozu bedarf es so großer Vorbereitungen, wenn die Welt des Schönen in den Dichterwerken und den Kunstschöpfungen der besten Zeiten zu finden ist? was braucht es weiter, als zu lesen und die Augen aufzuthun? Allerdings, wenn es sich um das bloße Sehen und Kennenlernen handelt. Ein Anderes aber ist Sehen und ein Anderes Verstehen. Oder willst Du Dir anmaßen, das, was die Größten und Besten als das Resultat ihres Lebens, als die Blüthe ihrer Bildung in ihren Schöpfungen niedergelegt, woran sie ein halbes Leben gelebt und manches Jahr geschaffen, beim einmaligen Lesen zu erfassen, mit einem Blick zu übersehen? Wenn jene Touristen-Karawane vor den Ueberresten des Poseidontempels in Pästum vorbei defilirt und mit dem Augenglas hinübersehend blos die Worte findet: „very nice, very nice indeed!“ so werden diese Kunstfreunde auch nicht mehr Genuß gehabt haben, als die Besucher unserer Concerte, Theater und Gemäldegallerien, wenn sie sprechen: „entzückend, herrlich, außerordentlich schön!“ Wenn man auch von dem Freund der Kunst und Literatur nicht das Urtheil des Kenners fordern darf, so soll er doch von sich selbst eine gewisse Rechenschaft verlangen. Er muß wissen, warum ihm etwas schön oder unschön dünkt, wodurch das Schöne schön ist, worin der Reiz und Zauber seiner Wirkung auf die Leser oder Betrachter liegt, und durch welche Eigenthümlichkeiten ein schönes Kunstwerk sich von Werken anderer Art, die von gleichem Werthe sein können, unterscheidet. Der sicherste Weg, ein richtiges Urtheil und einen guten Geschmack im Gebiete des Schönen zu erlangen, ist, viel Gutes zu sehen und oft zu sehen. Da aber die Wenigsten hierzu Zeit, Lust und Gelegenheit haben, so müssen sie sich einem Führer in die Welt des Schönen anvertrauen, der sie vorbereitet, anleitet und orientirt.
Nach Beseitigung des erhobenen Einwandes kehren wir zu der Vorstellung, die wir uns von der Idee gebildet, zurück und betrachten ihre Fortentwicklung zum Ideal. Ich halte diesen Gedankengang darum ein, weil ich glaube, daß man einen Gegenstand am besten begreift, wenn man seine Entstehung verfolgt. Aus der Idee, jener Stimmung der Seele an sich, geht noch kein Kunstwerk hervor, weder ein Gedicht, noch ein Drama, weder ein Gemälde, noch eine musikalische Production, obgleich die Seelenstimmung des Künstlers während seines Schaffens in ihrer Tiefe und Kraft fortwirken muß. Aber nach und nach gestalten sich jene Empfindungen zu einem Bild von Figuren, Gestalten, Handlungen, zu einem innern Gemälde, welches klar und lebendig vor der schöpferischen Phantasie des Künstlers steht. Dieses Bild, welches das Ideal genannt wird und vermöge der Empfindung zu Stande kommt, bildet gleichsam den zweiten Act des Vorgangs der Entstehung eines Kunstwerkes. Der dritte Act, der am meisten Zeit erfordert, ist dann die Ausführung mit den Mitteln, welche der besondern Kunstgattung zu Gebote stehen, – die äußere Darstellung für den Leser, Hörer oder Beschauer. Hier liegt die Frage nahe, ob nicht diejenige Ausführung die vollendetste sein wird, welche die Natur am treuesten wiedergiebt. Diese Frage muß verneint werden, sonst würden die Portraits von Denner, welche so genau waren, daß man jedes Härchen und jeden kleinen Riß in der Haut mit der Lupe nachweisen konnte, die vollkommensten sein; aber sie machen keineswegs einen großen Effect der Wahrheit; sonst müßten die Photographieen die ähnlichsten Bilder sein, eine Theatervorstellung bei Tage und zwischen wirklichen Bäumen und Häusern eine größere Wirkung haben, als das Spiel bei Lampenlicht mit Coulissen von Papier und Leinwand; – sonst müßten weiße Marmorstatuen, mit den Farben des Lebens angestrichen, schöner und vollendeter aussehen. Allein die Aufgabe der Kunst ist nicht, die Natur nachzuahmen, – das kann sie nur bis zu einem gewissen Grad, – sondern das Ideal in der Sprache und mit den Mitteln der Natur zur Darstellung zu bringen. Ein Kunstwerk darf der Natur nicht widersprechen, es muß das genaueste Studium derselben verrathen, aber es darf sie nicht erreichen wollen. Die Naturnachahmung ist nur ein Mittel zum Zweck. Das Schöne ist immer nur ein Schein, eine Täuschung, deren wir uns beim Betrachten desselben wohl bewußt sind, aber dieser Schein redet in der ergreifendsten Sprache zu uns, vermittelt uns das Höchste und Tiefste, was die Brust des Künstlers bewegt hat.
Jene scheinbare Unvollkommenheit bei der Ausfüllung ist aber keineswegs ein Verlust, sondern ein Gewinn für das Kunstwerk. Wenn ein photographisches Portrait nur den Moment geben kann und diesen in einem todten Abklatsch der Natur, so steht es in den meisten Fällen einer einfachen Stiftzeichnung – wenn auch nur in leichtem Umriß – von Künstlerhand weit nach; denn hier ist Auffassung, Geist, Allgemeines, – dort die Arbeit der vernunftlosen Maschine, welche nur wiedergeben kann, was der Augenblick ihr bietet; also muß es ein Vorzug sein, wenn der nachzubildende oder darzustellende Gegenstand durch den Geist des Künstlers geht („die Feuertaufe des Geistes erhält“), und dies ist in der That eine unabweisbare Bedingung alles Kunstschönen, wie bei den Gesetzen des Schönen weiter gezeigt werden soll.
Denken wir uns einen Maler, welcher, vielleicht durch irgend eine hübsche Landschaft, welche die Natur ihm bietet, zu der Idee einer beschaulichen Ruhe und Stille in der Einsamkeit angeregt wird. Er will ein Bild schaffen, welches diese Stimmung ausdrückt. Wird es ihm aber gelingen, wenn er sein Vorbild bis in’s Kleinste abschreibt und nachahmt? Gewiß nicht. Er muß das Vorhandene in sich aufnehmen und durch Wegnehmen und Zuthun, durch die geeignete Beleuchtung und Lichtvertheilung, durch ein glückliches Arrangement überhaupt den Gegenstand für seinen Zweck zurecht machen. Dann erhält er ein Bild, welches seine Stimmung klar ausdrückt, ohne das Vorbild so zu verändern, daß es unkenntlich würde. Es ist dieselbe Gegend, es sind dieselben Objecte, aber in einer geistigern, verklärten Weise; es ist die Wahrheit im schönen [32] Schein, welche den Charakter der Sache weit bestimmter ausdrückt, als in der gewöhnlichen Wirklichkeit. Selbst bei Uebertreibungen in’s Phantastische kann die höhere, poetische Wahrheit, die Sprache der Natur und des Lebens auf’s Treueste wiedergegeben werden. In den Volks- und Kindermärchen finden wir daher trotz der naiven Caricaturen, welche Nebensachen sind, eine Wahrheit, welche rührend und ergreifend ist. Läßt sich der Künstler oder Dichter verleiten, aus Liebe zu seinen sorgfältigen Beobachtungen der Natur und des Lebens, oder aus Eitelkeit, um sein Geschick zu zeigen, die äußere Darstellung zu sehr zu bevorzugen, so geräth er in die realistische Richtung und kommt in Gefahr, durch Vernachlässigung der idealen Komposition platt und gewöhnlich zu werden, während der Idealismus, in’s andere Extrem fallend, seine innere Conception zur Geltung bringen will, ohne den Formen und Zügen der Natur in der Ausführung ihr Recht zu geben, wodurch er leicht rhetorisch, hohl und phrasenhaft wird. Die realistische Richtung in der Malerei und theatralischen Kunst der Gegenwart giebt, obgleich vielfach bewundert und gepriesen, deutlich Zeugniß von dieser einseitigen Geschmacksverirrung.
Bei einer der reizendsten keinen Dichtungen Goethe’s, dem „Fischer“ („das Wasser rauscht, das Wasser schwoll“ etc.), lassen sich, wie mir scheint, Idee, Ideal und Ausführung sehr leicht erkennen, daher ich dieselbe als erläuterndes Beispiel für jene Begriffe für sehr geeignet halte. Die Idee zu dieser Ballade scheint dem Dichter gegeben zu sein durch das unheimliche Gefühl, welches uns beim Bade in einem tiefen Flusse, ober beim Hinunterblicken von einer Brücke in einen rasch dahineilenden Strom ergreift. Die dämonische Gewalt des Elements, welches den Menschen verlockend zu sich hinab ziehen möchte, ist die ursprüngliche Stimmung, welche auch in der Ausführung, im Rhythmus, in Bild und Wortklang fortwährend, bald in süßen, bald in unheilvollen tiefen Tönen sich geltend macht. Die Erfindung ist einfach: das Bild ist ein Fischer, unbefangen („kühl bis an’s Herz hinan“), den die Wasserfrau mit zauberischen Worten und Bildern bethört und in die Tiefe zieht. Die Ausführung ist meisterhaft, man braucht sich nur diese Verse laut vorzulesen, um ihre Musik und die Sirenengewalt der Gesänge jenes „feuchten Weibes“ zu empfinden.
Goethe entnahm die Idee zu seinen Schöpfungen aus den Erscheinungen der Wirklichkeit, um sie vertiefend und verklärend poetisch zu gestalten. Schiller ging den entgegengesetzten Weg. Sein gewaltiger Geist, welcher sich nicht in dieser Weise an die Wirklichkeit hingeben konnte, schöpfte die Idee aus seinem innersten Leben und suchte dann erst – oft mühsam und mit Anstrengung – die passende Erfindung und Form. – –
Dies möge genügen über die Welt des Schönen, welche uns hinaushebt über die Gewöhnlichkeit, diese nothwendige Zugabe zum Leben der Sterblichen, die uns oft lästig, aber vielleicht noch öfter gefährlich wird, weil sie uns niederziehen will, wie die Nixe den armen Fischer, in den Tod des höheren geistigen Lebens.
Geheimnißvoller Auswandererzug. Eine naturgeschichtliche Anfrage. Das Nachfolgende legen wir insbesondere den Männern der Naturwissenschaft zur Prüfung vor. Mitgetheilt wurde es uns von einem Kaufmann, der gegenwärtig in Mannheim lebt und der uns für die Wahrheit seiner Aussage eine Anzahl Zeugen genannt hat, deren Namen, wenn nöthig, veröffentlicht werden können. Wir lassen unsern Gewährsmann selbst reden.
Es war, schreibt er, im Jahr 1855. Ich wohnte mit meiner Frau in dem freundlichen Städtchen Donauwörth. Als ich einst von einer Reise zurückgekehrt war und mich müde zu Bett gelegt hatte, verspürte ich bald am ganzen Körper ein eigenthümliches, unausstehliches, beißendes Jucken oder vielmehr ein Brennen wie von Nesseln herrührend. Ich konnte nicht schlafen, stand auf und untersuchte mein Bett, weil ich mir dachte, ich könne wohl einen unwillkommenen Gast von der Reise mit heim gebracht haben. Da ich jedoch nirgends eine Spur von irgendwelchem Ungeziefer fand, so schob ich die Schuld meiner unheimlichen Belästigung auf irgend einen Körperausschlag und legte mich beruhigt wieder in mein Bett. Aber nach wenigen Augenblicken begann das unerträgliche Beißen von Neuem und dauerte in steigendem Maße fort. Müde und abgespannt erhob ich mich andern Morgens. Beim Untersuchen meines Körpers fand ich die Haut geröthet. Ich ließ sogleich die Bettlade auseinander legen und untersuchte wiederholt das ganze Bett, allein wiederum vergebens. Mittlerweile erschien der Arzt, Dr. P., der jetzt in Ichenhausen wohnt. Auch er war der Meinung, der Schmerz und die Röthung seien die Folgen eines flüchtigen Hautausschlages, der sich bald geben werde. Wirklich verschwand auch im Laufe des Tages das Jucken und die Röthe der Haut gänzlich.
Als es Zeit zum Schlafengehen war, freute ich mich herzlich darauf, das Versäumte der vorigen Nacht wieder nachzuholen. Müde und schlaftrunken sank ich in mein Bett – aber kaum hatte ich die Augen geschlossen, als das abscheuliche Jucken und Brennen am ganzen Körper von Neuem begann. Wiederum dieselbe Untersuchung des Bettes, dasselbe Resultat und abermals eine Nacht ohne Ruhe und Schlaf. Und wie diese zweite begann auch die dritte Nacht. Da sprang ich in wahrer Verzweiflung aus dem Bett, zündete drei Kerzen an und untersuchte wieder mein Lager von oben bis unten. Von dem, was ich suchte, konnte ich zwar auch diesmal keine Spur entdecken, jedoch fielen mir plötzlich auf dem Betttuch und dem Kopfkissen eigenthümliche in’s Graue spielende Streifen auf, die auf den ersten Blick als ein ganz dünner, durch Feuchtigkeit gebildeter Schimmel erschienen. Ich untersuchte die Streifen naher und näher. Da entdeckte ich zu meinem Entsetzen, daß dieser Schimmel sich bewegte und aus Millionen kleiner Insecten bestand, etwa in der Größe einer Stecknadelspitze. Jetzt erst bemerkte ich auch an meinem Körper und am Hemd eine unzählige Menge dieser Thierchen. Mein Hautausschlag war nun erklärt.
Sobald mein Herr Doctor erschienen war, gingen wir sogleich an eine mikroskopische Untersuchung der Schleimstreifen, und diese zeigte uns in den Thierchen eine Art Spinne, beinahe von der Gestalt einer Kreuzspinne. Wir forschten weiter. Wie sind die Thierchen in mein Bett gekommen? – Woher kommen sie? – Da sehe ich an der Tapete über meinem Bette einen etwa 2 Zoll breiten grauen Streifen, der hinauf bis an die Decke führt. Bei genauerem Beobachten erkennen wir in demselben eine Procession von abermals Millionen dieser Spinnchen. Wir stiegen auf einer Leiter bis zur Decke hinan, um zu entdecken, wo die saubere Wanderung hinführe. Sie ging an dem eisernen Kloben eines Schellenzugs durch die Mauer hindurch auf den Gang. Wir begaben uns auch dorthin und sahen nun, daß ein uns Allen sehr liebes – Schwalbennest hier gerade an der Stelle klebte, an welcher der Kloben wieder hervortrat. Dieses Schwalbennest hatten wir stets sehr sorgfältig gehütet und gehegt, weil wir uns so oft an dem Zwitschern und Ein- und Ausfliegen der muntern Vögelchen erfreuten.
Aber wie sah es nun in dem Nestchen aus? – Drei kalte, zum Theil schon halb verweste Schwälbchen lagen darin, umwimmelt von einer Legion dieser Spinnchen, welche ihren Auswanderungszug unaufhörlich nach meinem Zimmer und dem Bette zu fortsetzten. So war nun endlich die Heimath meiner Plagegeister aufgefunden.
Augenscheinlich ist, daß die armen, jungen Schwälbchen in Folge der massenhaften Zunahme ihrer Plagegeister zu Grunde gegangen und daß diese dann von Hunger getrieben waren, Ersatz bei bem nächsten warmblütigen lebenden Wesen zu suchen. Ob sie nun durch etwaige Feinheit ihrer Geruchsorgane oder ob sie durch den Zufall geleitet wurden, gleichviel, das Ziel ihrer Wanderung war mein Bett, weiter war ihr Zug nicht gekommen. Interessant ist noch, daß wir die Thierchen fast gar nicht vertilgen konnten; obgleich wir vier Tage lang alle Fugen des Zimmers verschlossen hatten und einen solchen Höllenschwefeldampf unterhielten, daß alle Fliegen todt an der Erde lagen, so blieb doch ein großer Theil des kleinen Ungeziefers an der Wand und in dem Bette lebendig. Erst nach Wochen war die letzte Spur desselben verschwunden und das Zimmer wieder bewohnbar.
Die Ungläubigkeit, mit welcher man diese meine Entdeckung überall aufnahm, wo man sich nicht, wie in Donauwörth, von der Wahrheit derselben mit eigenen Augen überzeugt hatte, deutet darauf hin, daß ähnliche Erscheinungen bei uns nur sehr selten vorkommen müssen. Ob dies in anderen Gegenden ebenso ist, oder ob es Gegenden giebt, wo diese Thierchen keine solche Seltenheit sind, darüber werden wohl die Männer vom Fach uns Auskunft geben.
Herr von Beurmann ist glücklich in Kuka, der Hauptstadt von Bornu, angekommen. Das Gerücht von der Beraubung, wenn nicht Ermordung, des Reisenden ist durch einen Schwindler und Betrüger mit Namen Salemi, der seit acht Jahren unter Aufsicht der türkischen Polizei in Mursuk steht, von Bengasi aus verbreitet worden. Wir schenkten dem Gerücht von Haus aus keinen Glauben, da es aber durch die Zeitungen die Runde machte, durften wir es auch den Lesern der Gartenlaube nicht verschweigen. Indem wir über weiter eingegangene Beiträge zur Fortführung der v. Beurmann’schen Expedition quittiren, erneuern wir unsere Bitte an die verehrten Leser, dies echt deutsche Unternehmen, das aus humanem Pflichtgefühl und wissenschaftlichem Streben betrieben wird, durch weitere Beiträge zu unterstützen.
Vom Gewerbeverein zu Waldheim gingen ein durch den Vorstand, Herrn Rob. Müller, 5 Thlr. – von G. v. d. L. in W. 1 Thlr.
Leipzig, 26. December 1862.
Der getroffene Löwe. Alle Freunde des großen Garibaldi möchten wir auf einen in der Leipziger Modenzeitung erschienenen Stahlstich: „der verwundete Held von Aspremonte“, aufmerksam machen. Das sehr hübsch gestochene Bild stellt den Helden kurz nach dem unglücklichen Gefecht dar, das sorgenvolle Haupt in die Hand gestützt, das getroffene Bein in der Bandage auf einen Feldstuhl ausgestreckt. – Keine Nebenfigur stört den wirksamen Eindruck des Ganzen – der Heiland des italienischen Volkes sitzt im weiten Zelte allein mit seinem Kummer und seinen Schmerzen. Das Bild kostet nur 10 Ngr.
- ↑ Chancery- (Kanzlei-) Gericht, berüchtigt, wie man aus Dickens wissen wird, durch langwieriges, kostspieliges Verfahren, das oft nur mit gänzlichem Ruin beider Parteien endet; jetzt ist’s etwas reformirt.
- ↑ Besser ein Glied hier zu lassen, als ein Leben.
- ↑ Gentleman – Herr.
- ↑ Zeit und Fluth warten auf Niemanden.