Die Gartenlaube (1863)/Heft 8
Die Thür, die in den Zuschauerraum des Saales führte, hatte sich leise geöffnet. Der Vertheidiger hatte nach ihr hingesehen. Da waren der Unwille, die Angst in seinem Gesichte. Ich folgte seinem Blicke nach der Thür hin und sah ein feines, blasses, fast noch kindliches Mädchengesicht an der Thür. Das Kind schien so eben eingetreten zu sein. Sie sah sich schüchtern in dem Saale um. Dann suchten ihre Augen etwas. Sie trafen den Vertheidiger; sein Anblick schien sie zu erschrecken. Sie suchte schnell weiter und sah den Angeklagten. Ihre Augen hefteten sich wie brennend auf ihn; aber es war tiefe bebende Angst, die darin brannte. Sie sah nur noch ihn.
Sie war einfach gekleidet und schien den mittleren Ständen anzugehören. In ihrer Nähe achtete Niemand auf sie. Außer dem Vertheidiger und mir hatte wohl Keiner sie gesehen. Der Angeklagte hatte die Augen nicht aufgeschlagen. Ob sie in irgend einer Beziehung zu dem Angeklagten oder dem Vertheidiger stand, konnte ich in keiner Weise enträthseln.
Es waren neue Zeugen eingetreten. Die Leute aus dem Kruge an der Eisenbahnstation Wiekel wurden vernommen. Der Angeklagte hatte, als er auf der Eisenbahn weiter nach H. fuhr, sein Pferd in dem Kruge stehen lassen und wollte erst am Morgen um fünf Uhr mit dem ersten Zuge von H. wieder angekommen und von da nach kurzer Rast zum Schlosse zurückgeritten sein. Nach der Behauptung der Anklage wäre er schon am Abend um zehn Uhr mit dem letzten Zuge von H. wieder in dem Kruge angelangt, sofort zum Schlosse geritten und nur zum Scheine nach Wiekel zurückgekehrt. Ueber die eine und über die andere Behauptung wurden die Leute des Kruges vernommen.
Der Präsident bemerkte dabei, daß die sorgfältig in der Voruntersuchung abgehörten Eisenbahnbeamten nicht die geringste Auskunft hätten geben können; keiner von ihnen wolle den Angeklagten gesehen haben; bei dem großen, stets wechselnden Verkehr auf der Bahn könne man aber auch unmöglich auf den Einzelnen achten. Die Beamten seien deshalb um so weniger heute wieder vorgeladen, da der Umstand, daß der Angeklagte wirklich in H. gewesen, unzweifelhaft festgestellt sei.
Die Leute aus dem Kruge wußten gleichfalls nichts, was die Angaben der einen oder der anderen Seite hätte bestätigen oder bestreiten können. Auch in dem Kruge war ein großer und verwirrender Verkehr gewesen, und da wußte man nichts, als daß der Angeklagte, als er nach H. gefahren, dem Hausknechte sein Pferd zur Besorgung bis zu seiner Rückkehr am andern Morgen mit dem Frühzuge übergeben, und daß er am andern Morgen gleich nach der Ankunft des Zuges wieder dagewesen und nach einiger Zeit nach Schloß Hard zurückgeritten sei. Ob er auch in der Nacht dagewesen und auf seinem oder einem anderen Pferde fortgeritten und wieder zurückgekehrt sei, davon wußte Niemand etwas. Es könne sein, es könne nicht sein; der Stall des Kruges habe offen gestanden und es seien viele Pferde darin gewesen.
Die Leute des Schlosses Hard wurden vernommen, und sie bestätigten die Anklage. Sie hatten fast Alle den Freiherrn gesehen und erkannt, auf das Bestimmteste, Unzweifelhafteste, an seinem Gesichte, seiner Gestalt, seiner Kleidung. Er war nur wenige Schritte weit an ihnen vorüber gerannt; sie hatten den zornigen, befehlenden, drohenden Blick in seinem Gesichte gesehen; der Blick hatte sie zurückgeschreckt. Sie hatten unmittelbar darauf gehört, wie er davongejagt war, und sie hatten dann den Todten in seinem Blute unter den Fenstern der Freifrau gesehen. Die Freifrau selbst hatte sich nicht blicken lassen. Die Anklage hatte nichts übertrieben; sie hatte nicht genug gesagt.
Nur ein einziger von den Zeugen sagte anders aus; er behauptete, der Mann, der auch an ihm, wie an den Uebrigen, in der Nacht vorüber gerannt, sei nicht der Freiherr, sei ein Anderer, ein Fremder gewesen, der allerdings mit dem Freiherrn große Aehnlichkeit gehabt habe. Er verblieb bei dieser Behauptung aller Vorhaltungen ungeachtet mit einer Beharrlichkeit und Zähigkeit, die nur in seiner festen inneren Ueberzeugung wurzeln konnte.
Aber die Erscheinung des Menschen, der in solcher Weise allen den Anderen widersprach, bot so sehr das Bild des Schwachsinnes, fast des Blödsinnes dar, daß auch jene Beharrlichkeit eben nur als die Zähigkeit des Blödsinnes aufzufassen war. Der Zeuge war der Hundewärter des Schlosses, ein Bursche von achtzehn Jahren, auch körperlich verkrüppelt, aus Mitleid schon von der früheren Schloßherrschaft aufgenommen, und wegen seiner Liebe zu den Hunden, zu allem Anderen aber untauglich, als deren Wärter und Pfleger bestimmt. Mit seinen Hunden lebte und verkehrte er seitdem, bei ihnen schlief er; er habe nicht mehr Verstand als sie, behaupteten die Leute des Schlosses. Er hatte auch in der Nacht des Mordes neben dem Hundestalle geschlafen, und ein Knurren der Thiere hatte ihn geweckt. Gleich darauf hatte er die beiden Schüsse gehört. Er war in den Garten gelaufen und hatte den fliehenden Mann gesehen, der auch unmittelbar an ihm vorübergerannt war. Aber es sei nicht der Herr, es sei ein ganz fremder Mensch gewesen, der nur dem Herrn ähnlich gesehen habe.
„Aber alle Anderen sagen, es sei der Herr gewesen!“ hielt ihm der Präsident vor.
„Aber ich sage, daß er es nicht war.“
[114] „Und warum sagt Ihr das?“
„Weil es nicht der Herr war.“
„Und warum war es nicht der Herr?“ fragte der Präsident, zu dem beschränkten geistigen Zustand des Burschen heruntergehend.
„Der Mensch war größer, als der Herr.“
„Das war Alles?“
„Und er hatte so glühende Augen, wie der Herr sie nicht hat.“
„Sonst aber sah er aus, wie der Herr?“
„Das that er wohl.“
„So könnte es doch der Herr gewesen sein!“
„Aber ich sage Ihnen, daß er es nicht war.“
„Ihr könntet Euch geirrt haben!“
„Aber meine Hunde irrten sich nicht.“
„Eure Hunde?“
„Sie kennen den Herrn, und sie knurrten, sie wollten aus dem Stalle, als wenn sie auf einen Fremden los wollten.“
„Es war ja auch ein Fremder da, der Erschossene!“
„Der war ihnen kein Fremder, sie kannten ihn, wie den Herrn, und der Mensch kann sich irren, Herr, aber ein Hund nicht.“
Dabei blieb er, mit jener Zähigkeit; er wurde zuletzt eifrig. Das Nämliche hatte er schon in der Nacht des Verbrechens zu den Leuten gesagt. Sie hatten den Narren ausgelacht. Ueber den Blödsinnigen lächelte man auch jetzt nur, die Geschworenen, die Zuschauer, selbst die ernsten Richter, nur nicht der Angeklagte und sein Vertheidiger.
Die Zeugnisse dreier anderer Leute des Schlosses warfen einen um so tieferen Ernst in den Saal zurück. Sie wurden mit der lautlosesten Spannung angehört, denn sie enthielten das Todesurtheil des Angeklagten; sie stellten den Mord fest und lieferten den Mörder auf das Schaffot.
Die Kammerjungfer der Freifrau wußte zwar keinen einzigen Thatumstand zu bekunden, der auf ein engeres oder gar unerlaubtes Verhältniß zwischen der Freifrau und dem Grafen Hochhausen hätte schließen lassen; sie hatte auch bis zu der Nacht des Mordes nicht einmal eine Ahnung eines solchen Verhältnisses gehabt. Dasselbe hatten auch alle anderen Zeugen ausgesagt. Wenn wirklich eine Liebschaft zwischen dem Grafen und der Freifrau bestanden habe, meinten sie, so müßten die Beiden ihre Sache sehr geheim zu halten gewußt haben, man habe nichts davon merken können.
Aber die Kammerjungfer war Zeugin folgender Thatsachen: Um sieben Uhr des Morgens nach dem Morde war der Freiherr zurückgekommen. Er hatte sich sofort in das Zimmer seiner Frau begeben und die Thür hinter sich abgeschlossen. Die neugierige Zofe war ihm gefolgt. Sie hatte bisher noch keinen Einlaß bei der Herrin erhalten können. Konnte sie nicht sehen, so wollte sie hören. Sie lauschte an der Thür des Zimmers. Die Gatten sprachen leise mit einander. Aber die Frau weinte laut, und zuletzt sprach auch der Mann laut, und die Kammerjungfer hörte deutlich, wie er zu der Frau sagte: „Mein Kopf liegt auf dem Block des Henkers. Ich muß ihn zu retten suchen. Du bleibst meine Frau; aber nur darum. Und nur bis dahin, daß ich gerettet bin. Sprichst Du bis dahin ein Wort, fügst Du zu dem einen Morde den zweiten hinzu, so ist auch Dein Leben verwirkt. Du weißt, es ist immer in meiner Hand; nach meinem Tode in der Hand des Todten, des Hingerichteten.“
Die Worte hatten der Horchenden zugleich wie Abschiedsworte geklungen. Sie hatte ihren Posten verlassen. In der That war der Freiherr gleich darauf aus dem Zimmer der Frau zurückgekehrt. Die Kammerjungfer hatte ihre Herrin erst am Abend gesehen.
„Angeklagter,“ sagte der Präsident, als die Zeugin ihre Aussage beendigt hatte, „wollen Sie über dieses Zeugniß sich auslassen? Es ist besonders gravirend für Sie.“
Der Angeklagte erhob sich mit ruhigem Stolze, indem er kurz erwiderte:
„Mein Herr, ich pflege mich mit meinen Dienstboten nicht zu streiten, und – wer horcht, lügt.“
Da weinte aber die Zeugin laut auf. Sie schien eine durchaus ordentliche, verständige Person zu sein.
„Herr Präsident!“ rief sie, „so wahr ich hoffe, zu Gott zu kommen, so wahr habe ich nicht gelogen, kein Wort, keine Sylbe. Gehorcht habe ich, ich war neugierig; aber eine Lügnerin bin ich darum nicht. O, hätte ich es nicht gethan! Ich gäbe mein halbes Leben darum!“
Man konnte den Ausdruck der Wahrheit nicht wahrer und nicht überzeugender hören, als in den Worten, den Mienen, den Bewegungen, dem Schluchzen des weinenden Mädchens. Aber ich mußte plötzlich wieder auf etwas Anderes achten. Als der Angeklagte nach seiner Antwort an den Präsidenten sich wieder niederlassen wollte, warf er vorher den ruhigen, stolzen Blick im Saale umher, und auf einmal starrten seine Augen nach einem Punkte und sein bleiches Gesicht wurde noch blässer; ein Ausdruck tiefer Wehmuth schien es zu durchziehen. Indeß er ließ sich nieder, und man sah nur wieder sein stolzes, kaltes, theilnahmloses Gesicht. Ich war seinem Blicke gefolgt, wie vorhin dem des Vertheidigers, und ich traf denselben Gegenstand, nach dem eine Stunde vorher dieser mit jenem Unwillen und dann mit der plötzlichen stechenden Angst geblickt hatte.
Das blasse, feine Mädchengesicht war noch neben der Thür, in der letzten Reihe der Zuschauer. Es war in dem Augenblicke, als ich zu ihr hinsah, von dunkler Röthe übergossen. Ihre Augen waren niedergeschlagen. Ihr Blick mußte dem des Angeklagten begegnet sein. Sie schlug ihn unmittelbar nachher wieder nach ihm auf. Er sah nicht mehr nach ihr; er sah vor sich hin. Die Röthe ihres Gesichts verschwand; ein tiefer Schmerz durchzog es. Sie setzte sich, und ich konnte sie nicht mehr sehen. Ich meinte, sie habe sich hinter den Leuten niedersetzen müssen, um unbemerkt weinen zu können.
Der Nachtwächter des Schlosses Hard wurde vernommen. Sein Nachtdienst auf dem Schlosse bestand darin, daß er während der Nachtstunden sich wachend in seiner Stube und unten im Hause aufhielt und von Stunde zu Stunde das Schloß mit den Nebengebäuden umging. So war es auch in der Nacht des Mordes gewesen. Er hatte seinen Umgang um zehn Uhr, um elf Uhr gemacht, und es war ihm nichts Verdächtiges vorgekommen, auch in dem Garten hinter dem Schlosse nicht, durch den sein gewöhnlicher Weg ihn führte. Um zwölf Uhr war ihm zwar hinten in den Feldern der Galopp eines Pferdes aufgefallen; aber es war noch weit entfernt vom Schlosse, es schien ihm nicht näher zu kommen; so hatte er nicht weiter darauf geachtet und seinen Weg fortgesetzt. Er war zu den Scheunen und Remisen gegangen, hatte sich überzeugt, daß da Alles in Ordnung sei, und hatte nun zu seiner Stube zurückkehren wollen. In der Nähe der letzteren war plötzlich der Freiherr auf ihn zugetreten und hatte ihm befohlen, zu dem Zimmer der Herrin zu gehen und ihr durch die Thür zuzurufen, daß so eben der Herr zurückgekommen sei; er solle nichts Anderes sagen und nicht so laut rufen. Der Freiherr war eilig gewesen und hatte sehr blaß ausgesehen; seine Augen hatten so sonderbar geleuchtet. Den Zeugen hatte ordentlich ein Schreck erfaßt. Er war sofort in das Schloß gegangen und war dem Befehle nachgekommen.
„Ich horchte zuerst eine Weile an der Thür,“ erzählte er. „Ich hörte nichts. Dann klopfte ich leise an. Sofort erhielt ich Antwort. Wer da klopfe? fragte es. Es war die Stimme der gnädigen Frau. Der Nachtwächter, antwortete ich.
„Was giebt’s?“ fragte sie eilig und erschrocken. „Es ist doch kein Unglück geschehen?“
„Der gnädige Herr kommt soeben zurück,“ sagte ich.
„Warum sagt Ihr mir das?“ fragte sie mich noch.
Aber der gnädige Herr hatte mir verboten, etwas Anderes zu sprechen; ich antwortete daher nicht und kehrte geschwind zurück. Ich ging wieder zu meiner Stube. Den Herrn hatte ich nicht mehr gesehen. Als ich gerade die Thür zu meiner Stube aufschließen wollte und über die Sache noch nachdachte, hörte ich auf der anderen Seite des Schlosses, im Garten, einen Schuß fallen. Während ich hineilte, fiel schon der zweite. Nachher fanden wir den Grafen todt in seinem Blute.“
„Warum,“ fragte der Präsident den Zeugen noch, „hattet Ihr anfangs bei Eurer Vernehmung in der Voruntersuchung alle diese Umstände abgeleugnet?“
„Der alte Bartholomäus hatte es mir so befohlen,“ antwortete der Zeuge.
„Wer ist der alte Bartholomäus?“
„Der Kammerdiener des Herrn, der auch heute als Zeuge hier ist.“
Der Präsident wollte den Zeugen entlassen. Der Vertheidiger bat, ihm noch vorher einige Fragen vorlegen zu dürfen. Es wurde ihm gestattet.
„Habt Ihr Euren Herrn bestimmt erkannt?“ fragte der Vertheidiger den Zeugen.
[115] „Ich werde doch meinen Herrn kennen!“ war die Antwort.
„Aber es war Mitternacht!“
„Ich kenne ihn auch bei Nacht, und der Mond schien, und der Herr stand keinen Schritt weit von mir, und er trug den langen grauen Mantel, in dem er am Tage vorher ausgeritten war.“
„Sagtet Ihr aber nicht, der Blick seiner Augen sei Euch so sonderbar vorgekommen?“
„Das war auch so; aber es waren doch seine Augen.“
„Und seine Stimme – erkanntet Ihr auch sie?“
„Ich erkannte auch die.“
„Und sie kam Euch nicht anders vor, als sonst?“
„Sie war wohl etwas sonderbar.“
„In welcher Weise?“
„Sie schien mir zu zittern; sonst kann ich nichts sagen. Aber es fiel mir auf.“
„Noch Eins, nannte er Euch bei Eurem Namen?“
Der Zeuge stutzte; er sann nach. „Ich erinnere mich nicht.“
„Besinnt Euch.“
Der Zeuge besann sich – es dauerte lange. Der Präsident wurde ungeduldig. Er wandte sich an den Vertheidiger, etwas scharf; gereizt war er früher gewesen, und er mochte wohl nicht haben vergessen können, daß er es hatte sein müssen. „Wozu überhaupt die Frage an den Zeugen?“
„Ich lege Gewicht darauf.“
„Und welches?“
Der Zeuge hatte sich besonnen. „Nein, nein,“ sagte er. „Der Herr hat mich nicht bei meinem Namen genannt, und es fällt mir jetzt auf.“
„Wie nannte er Euch denn?“ fragte der Vertheidiger.
„Er nannte mich gar nicht.“
„Und wie nennt er Euch sonst, wenn er mit Euch spricht?“
„Christian, oder auch Nachtwächter.“
„Gab er überhaupt zu erkennen, daß er wußte, wer Ihr wart?“
Der Zeuge mußte sich wieder besinnen. „Nein,“ sagte er dann. „Ich kann es nicht sagen. Er sprach mit mir, wie er auch mit einem fremden Menschen hätte sprechen können.“
„Gut,“ sagte der Vertheidiger. „Und nun noch Eins. Nannte Euch der Herr die Lage des Zimmers seiner Gemahlin?“
„Er wußte ja, daß ich es kannte,“ antwortete der Zeuge.
„Aber gab er durch seine Worte zu erkennen, daß auch er es kannte?“
„Das kann ich nicht sagen.“
Der Vertheidiger hatte an den Zeugen keine Frage mehr, aber er hatte eine Bemerkung an die Geschworenen.
„Meine Herren Geschworenen,“ sagte er ihnen, „ich bitte Sie, die Aussage dieses Zeugen wohl im Gedächtnisse zu bewahren. Sie werden dann zwei bemerkenswerthe Thatsachen festhalten. Zuerst, daß diesem Zeugen, dem einzigen, der in jener Nacht die Stimme des Mörders gehört hat, diese Stimme sonderbar vorgekommen und daß ihm dies schon gleich damals aufgefallen war. Zum andern, daß der Mörder durch kein Wort zu erkennen gegeben hat, daß ihm der Name des Nachtwächters oder nur dieser selbst, und ferner die Lage des Zimmers der Freifrau bekannt gewesen sei. Sie werden dabei bemerkt haben, daß dieser Zeuge seinen vollen klaren Verstand hat, und ganz den Eindruck eines besonnenen und wahrheitsliebenden Menschen macht. Sollte in Beziehung auf ihn und seine Aussage noch irgend ein Zweifel obwalten – er steht noch da, für mich würde es die größte Genugthuung sein, wenn er noch weiter befragt würde.“
Die Geschworenen sahen wohl einander an; auch die Richter; es schien ihnen nicht klar werden zu wollen, welches Gewicht auf jene unbedeutenden Nebenumstände gelegt werden könne, allen den bestimmten Zeugnissen gegenüber, daß der Angeklagte da gewesen sei. Am nachdenklichsten war der Staatsanwalt; indeß auch er hatte keine Frage weiter an den Zeugen. Aber einen besonderen Grund mußte der Vertheidiger zu seinen Fragen an den Zeugen und zu der Hervorhebung der Antworten desselben haben, trotz seines unbeweglichen und undurchdringlich ruhigen verschlossenen Gesichts. Ja, ich glaubte es gerade in der Undurchdringlichkeit dieses Gesichts zu lesen.
Der letzte Zeuge wurde in den Saal geführt, der alte Kammerdiener Bartholomäus, der mehr der Vertraute, als der Diener seines Herrn war, der in der Voruntersuchung anfangs gar nichts hatte wissen wollen und dann die wichtige Mittheilung gemacht, daß er es gewesen, der dem Angeklagten die Untreue seiner Frau entdeckt hatte und so zu dem Morde die wenn gleich unvorsätzliche Veranlassung geworden war. Ja, er war der einzige Zeuge, der überhaupt etwas über diese Untreue bekunden konnte, und ohne diese war kein Grund zu der That des Angeklagten zu denken, schwebte also die ganze Anklage wie in der Luft. Sein Zeugniß war daher das erheblichste von allen. Es war deshalb auch wohl bis zum Schlusse der Vernehmung der Zeugen verschoben. Seine Abhörung wurde von dem Präsidenten mit besonderer Sorgfalt bewirkt. Er war ein noch sehr kräftiger alter Mann. Sein finsteres Wesen zeigte zugleich Entschlossenheit und Verschlossenheit, dabei eine Ehrlichkeit, die trotz jenes finsteren Wesens Vertrauen zu ihm einflößte.
„Sie stehen schon lange in den Diensten des Angeklagten?“ fragte ihn der Präsident.
„Ich stand schon bei seinem seligen Vater in Diensten,“ war die Antwort. „Ich war mit ihm aus Deutschland nach Spanien gegangen. Er war ein braver Mann, so blieb ich bei ihm. Auch sein Sohn war brav, mein jetziger Herr, und ich blieb auch bei ihm und ich bin mit ihm durch die Welt gereist, bis wir hierher kamen.“
„Sie haben mithin große Anhänglichkeit an Ihren Herrn und sind ihm zu Danke verpflichtet?“
„Gewiß.“
„Ich muß Sie um so mehr ermahnen, hier nur die Wahrheit auszusagen.“
„Ich werde.“
„Sie haben in der Voruntersuchung lange mit der Wahrheit zurückgehalten.“
„Es war ein Fehler von mir.“
„Und was hatte Sie dazu veranlaßt?“
„Die Liebe zu meinem Herrn, den ich als ein kleines Kind auf meinen Armen getragen hatte, aber –“
„Aber?“
„Ich bin katholisch, Herr, und da ich zur Beichte ging und dem Geistlichen Alles offenbarte, da hielt mir der vor, welch eine große Sünde ich begangen hätte, und befahl mir, sofort zum Gerichte zu gehen und die volle Wahrheit zu sagen. Das that ich.“
Der Mann sprach Alles kurz, klar, in einem eben so ruhigen, wie festen und überzeugenden Tone.
„Was der Zeuge da erklärt hat,“ bemerkte der Präsident den Geschworenen, „wird durch die Acten der Voruntersuchung vollkommen bestätigt.“ Er fuhr dann in der Befragung des Zeugen fort.
„Sie hatten schon einige Zeit vor dem Tode des Grafen Hochhausen ein Gespräch mit Ihrem Herrn über den Grafen. Von welchem Inhalte war es?“
Der Präsident hatte durch die Frage sofort den Kern der Antwort getroffen, die der Zeuge zu geben hatte. Die Antwort wurde dem Zeugen schwer. Er kämpfte sichtlich mit sich, bevor er sprach, und wurde blaß und roth; er wollte seinen Herrn ansehen, aber er konnte die Augen nicht zu ihm erheben; man sah die Brust des alten Mannes arbeiten. Aber er mußte antworten.
„Es muß heraus, Herr Präsident,“ sagte er. „Gott weiß, wie schwer es mir wird.“
Er hatte sich das Herz genommen, nach seinem Herrn hinzublicken. Der Angeklagte saß nicht mehr in seiner bisherigen Theilnahmlosigkeit da. Er hatte sein Gesicht aufgerichtet. Seine großen, dunklen Augen warfen sich, wie drohend, auf den Zeugen. Es mochte unwillkürlich geschehen, aber der alte Mann war erschrocken. Er stockte und konnte nicht sogleich weiter sprechen. Dann ermannte er sich wieder.
„Ja, lieber, gnädiger Herr,“ sagte er zu seinem Herrn, „ich muß die Wahrheit sagen. Es geht um die Seligkeit, und was der Herr im Himmel über Sie beschlossen hat –“
Er mußte doch wieder abbrechen und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Dann wandte er sich wieder an den Präsidenten und er fuhr klar und ruhig in seiner Aussage fort, und was er sagte, wurde mit verdoppelter Aufmerksamkeit angehört. Die kleine Zwischenscene, der Kampf des treuen Dieners mit dem gewissenhaften Zeugen hatte wohl nur wenige Menschen im Saale ohne Rührung gelassen.
„Unter den Herren,“ sagte er jetzt, „die oft nach Schloß Hard kamen, war auch der Graf Hochhausen. Er war freundlich aufgenommen und wurde der Freund meines Herrn. Um se schrecklicher war es mir, als ich entdeckte, daß er darauf ausging, an [116] meinem braven Herrn zum Verräther zu werden, daß er nur darum in dessen Freundschaft und Vertrauen sich hineingelogen hatte, um ihm sein Glück, seine Ehre, um ihm Alles zu stehlen. Schon im verflossenen Winter hatte ich einmal zufällig ein Gespräch mit ihm und der Herrin belauscht, worin er dieser von seiner Liebe vorsprach ihr sagte, daß er ohne sie nicht leben könne, und dergleichen Worte. Die Freifrau wies ihn entschieden und mit Entrüstung zurück, und verbot ihm das Schloß, wenn er nicht sein Ehrenwort gebe, nie wieder so etwas zu ihr zu sprechen. Er gab das Versprechen. Ich sah die Herrin unbefangen, wie vorher, und hatte die Beiden nie wieder allein beisammen gesehen. Ich dachte, er habe sein Wort gehalten, und machte daher dem Herrn keine Mittheilung von dem, was ich gehört hatte. Ich glaubte, es nicht thun zu dürfen, um seiner und der Herrin Ruhe willen. Hätte ich es dennoch gethan! Der Graf war ein ehrloser, wortbrüchiger Mann gewesen –“
Vorn in den Bänken des Zuschauerraums entstand eine Unruhe. Die vornehmen Herren und Damen saßen da, Herren und Damen von Adel, Officiere und ihre Frauen. Zischeln des Unwillens wurde laut, drohende Blicke trafen den Zeugen. Der alte Mann hörte das Eine, sah das Andere. Der Präsident war der vornehmen Welt gegenüber verlegen geworden. Der greise Diener sah furchtlos nach den unruhigen Bänken hinüber und mit erhöhter Stimme fuhr er fort:
„Der Graf Hochhausen war ein Nichtswürdiger, ein Elender. Meine Herrin war eine brave, treue Gattin gewesen. Er hat sie verdorben, durch Künste der Hölle, durch ehrlose Büberei –“
Der Zeuge wurde noch einmal unterbrochen. Nicht von jenen vornehmen Zuschauerbänken aus. Der Angeklagte erhob sich plötzlich von der Anklagebank. Sein Gesicht glühte, seine Augen flammten, seine Lippen zuckten.
„Bartholomäus!“ rief er mit lauter, zorniger Stimme dem Zeugen zu. „Du verleumdest Deine Herrin! Du entehrst Deinen Herrn!“
Der Zeuge brach zusammen.
„Herr, Herr –“ rief er.
Der alte Mann mußte sich auf einem Stuhle niederlassen, der neben ihm stand. Er war den Officieren, als sie vorhin vernommen wurden, hingestellt worden. Der Präsident nahm strenge das Wort.
„Angeklagter, Sie haben nicht das Recht, den Zeugen zu unterbrechen. Sollte es noch einmal geschehen, so werde ich Sie sofort aus dem Saale hinausführen lassen und den Zeugen ohne Ihre Gegenwart vernehmen.“
Der Angeklagte hatte nur mit Ungeduld die Worte des Präsidenten anhören können.
„Lassen Sie mich hinausführen,“ rief er heftig, leidenschaftlich. „Glauben Sie, mein Herr, ich könne es ruhig anhören, daß meine und meiner Gattin Ehre geschmäht wird? Meine Frau ist das reinste, das treueste Weib auf der Erde, und dieser alte Mann ist ein Verleumder, ein elender, gemeiner, undankbarer Lügner. Mag er aufstehen und das Gegentheil sagen. He, Mensch, stehe auf. Wiederhole Deine erlogene Anklage gegen Deine Herrin, gegen die Ehre Deines Herrn. Stehe auf, befehle ich Dir.“
Es war dem Präsidenten nicht möglich gewesen, den Strom, den Sturm seiner Worte aufzuhalten. Der alte Diener saß wie vernichtet da. Er wollte sich erheben, dem Befehle seines Herrn zu gehorchen. Er sank zurück. Der Präsident nahm wieder das Wort.
„Angeklagter,“ sagte er, „ich bedauere, daß Sie mich dazu zwingen, von meinem Rechte und von meiner Pflicht Gebrauch machen zu müssen. Die Ruhe der Verhandlung darf hier nicht ferner gestört werden. Welchen Eindruck Ihr leidenschaftliches Benehmen, das Ihnen selbst an dieser Gerichtsstelle keine Mäßigung gestattet, auf die Herren Geschworenen machen muß, das mögen Sie sich selbst sagen. – Gerichtsdiener, führen Sie den Angeklagten aus dem Saale.“
Der Angeklagte hatte sich schon erhoben.
„Hinter dem Rücken des Gefesselten,“ sagte er stolz, „können Feigheit und Verrath Alles, eine edle Frau schmähen, einen Ehrenmann zum Schaffot verdammen.“
Weint nicht um mich, beneidet mir mein Glück,
Denn was, berauscht, die Leier vorgesungen,
Das hat des Schwertes freie That errungen.
(Aus der Zueignung vor Körner’s Liedercyklus.)
Von all den im Befreiungskriege gefallenen deutschen Helden hat wohl keiner im Herzen des ganzen Volkes sich ein bleibenderes und ehrenvolleres Angedenken zu erringen vermocht, als Körner. Er war „zugleich ein Sänger und ein Held“, begeistert von der erhabensten Liebe für sein geknechtetes Vaterland, für dessen Befreiung er sein junges, schönes und so unendlich viel versprechendes Leben opferte. Ganz abgesehen von seiner persönlichen Tapferkeit und von seinem keine Gefahr scheuenden Muthe, hat Körner an den Erfolgen jener blutigen Zeit einen bedeutenden Antheil, denn keiner verstand es so wie er, seine Begeisterung in Worte, in Lieder zu kleiden, die bei Alt und Jung von gleich erhebender Wirkung waren und die den Fahnen des Volksheeres so manchen heldenmüthigen Kämpfer zuführten.
Fünfzig Jahre sind seit der Entstehung jener Lieder verflossen, die inzwischen das geliebte Eigenthum der ganzen Nation geworden sind. Aber Hunderte von Jahren können noch vergehen, ohne daß sich die Wirkung dieser Kraftgesänge abschwächen wird. Der Hauch jener gewaltigen Zeit weht in erhebender Frische in den Körner’schen Vaterlandsliedern, und das ist es, was ihnen auch eine unvergängliche Dauer sichert.
„Leier und Schwert“ ist der Titel, welcher der Sammlung jener Lieder in Körner’s Werken voransteht, und in diesen beiden Worten drückt sich das ganze Leben des Dichters aus: er sang und kämpfte; denn nicht blos durch seine Gesänge, auch durch seine That wollte er den wehrhaften Männern Deutschlands ein unsterbliches Beispiel geben.
In den früheren Jahren huldigte der Dichter gern romantischen Leidenschaften und gefiel sich besonders darin, als Troubadour mit seiner Laute umherzuschweifen. Er war ein vorzüglicher Lautenspieler, und, wie er oft sagte, seine Leier war auch sein Stolz, seine Geliebte. Später theilte er seine Liebe zwischen Leier und Schwert, seine Eisenbraut, die ihn in den Tod begleitete.
Allen Verehrern Körner’s – und wer wäre dies nicht! – ist es gewiß nicht uninteressant zu erfahren, daß die süßtönende Begleiterin seiner Streifzüge, die Leier, und auch das erste Schwert, mit dem der Dichter in den Kampf eilte, noch heute wohlbehalten im Besitze einer Leipziger Familie sich befinden. Derselben Familie verdanken wir auch nachfolgende Mittheilungen aus Körner’s Leben und besonders über dessen Erlebnisse und Rettung nach jenem mörderischen Ueberfall bei Kitzen.
Die Körner’sche Familie in Dresden war mit der des Kaufmann Kunze in Leipzig auf das Innigste befreundet, und es herrschte zwischen ihnen der herzlichste Verkehr. Der Appellationsrath Körner, des Dichters Vater, der edle, treue Freund Schiller’s, traf mit Letzterem mehrere Male in Leipzig zusammen; dann waren diese beiden Männer stets willkommene Gäste im Kunze’schen Hause, und dorthin brachte der Rath Körner im Jahre 1799 auch zum ersten Male seinen Sohn mit. Dieser war damals erst acht Jahre alt, fand jedoch in Wilhelm, dem mehrere Jahre älteren Sohne Kunze’s, sofort einen warmen Freund, denn der Knabe Körner muß es schon damals so gut als in späterer Zeit verstanden haben, sich die an Jahren reiferen Personen rasch zu Freunden zu machen.
Der Knabe Körner wurde Carl gerufen, denn Theodor war nur sein zweiter Taufname. Doch da er unter diesem später seine ersten dichterischen Versuche drucken ließ, so nannte man ihn allgemein von da an nur Theodor Körner. Seinem Vater war dies anfangs nicht ganz lieb, denn Schiller hatte aus herzlicher Liebe zu dem Freunde seinen eigenen 1793 geborenen Sohn [117] ebenfalls Carl genannt, und oft sprechen die beiden glücklichen Väter in ihren Briefen von den Erwartungen und Hoffnungen, die sie in die Entwickelung ihrer Kinder setzen.
In seinen nachgelassenen handschriftlichen Aufzeichnungen beschreibt der erst im vergangenen Jahre verstorbene Wilhelm Kunze den Knaben Körner als einen herzlich guten, aber auch ziemlich verzogenen Knaben, da ihm sein Vater trotz aller Sorgfalt der Erziehung zu viel Willen ließ. Hierdurch wird auch das lange Schwanken des Jünglings in der Wahl eines Lebensberufes erklärbar. Der Hang zum Romantischen machte dem feurigen Körner jede anhaltende Beschäftigung verhaßt; nichts gefiel ihm besser, als das Umherschweifen in Wald und Feld, kleine Ausflüge in Dresdens Umgebung, auf welchen die geliebte Leier seine unzertrennliche Begleiterin war. In Folge ernsten Drängens von Seiten des Vaters entschloß er sich endlich, die Bergwissenschaft zum Gegenstand seines Studiums zu machen und ging 1808 nach Freiberg, wo er auch wirklich eine Zeitlang dem gewählten Berufe mit energischem Fleiße oblag. Der praktische Bergbau zog ihn anfangs ganz besonders an, während er sich später hauptsächlich mit Mineralogie und Chemie beschäftigte. Im Jahre 1810 gab Körner seine bergmännischen Studien auf und kam auf die Universität nach Leipzig, wo er wieder mit Kunze, der sich dem Handelsstande gewidmet hatte, in die freundschaftlichsten Beziehungen trat.
In jener Zeit gab es unter den Studenten in Leipzig fortwährende Reibungen zwischen den Verbindungen, und es darf bei dem so leicht erregbaren Gemüthe Körner’s nicht Wunder nehmen, daß er bald den thätigsten Antheil an jenen Kämpfen nahm.
Kunze schreibt hierüber: „Körner war bald in so viele Studentenhändel verwickelt, daß ein Duell das andere jagte. Als ein Muster eines fidelen Burschen war er stets von den Pedellen verfolgt und gesucht, so daß er kein festes Quartier mehr behalten konnte und öfters spät Abends in mancherlei Verhüllungen zu mir kam, nur um die Nacht bei mir zuzubringen. Seine Freunde hatten offene Casse bei ihm, und aus Güte des Herzens versetzte er für sie Alles.“
Diese Verwickelungen wurden für Körner immer ärger, und ein Duell war die Veranlassung, daß Körner heimlich von Leipzig fliehen mußte. Ueber diesen für des Dichters ganzes künftiges Leben entscheidenden Zweikampf besitzen wir den Bericht eines Zeitgenossen Körner’s, des Dr. med. G. Müller, und wir nehmen denselben um so lieber hier auf, als dadurch eine wesentliche Lücke in den Biographien des Dichters ausgefüllt wird.
„Körner hatte,“ berichtet Dr. Müller, „einem Duelle, die zur Zeit der modischen Spionage Napoleon’s stets entdeckt und ganz besonders hart bestraft wurden, nicht ausweichen können und war mit seinem Gegner, den üblichen Secundanten und dem Arzte – [118] Dahl – an einem Sonntagsmorgen auf dem Kampfplatze, einem Gehölze bei dem Dorfe Eutritzsch, gegen eine Stunde den Leipzig entfernt, zufammengetroffen. Da Körner ein guter Fechter war, so hatten ihn die Secundanten gebeten, seinen Gegner zu schonen, weil dieser weniger in Führung der Waffen geübt. Körner hatte dies auch beobachtet, damit nicht eine erhebliche Verwundung stattfände, durch die das Duell leicht verrathen werden konnte. Der ungeübte Gegner hatte aber weder Schonung noch Rücksicht genommen, und Körnern eine Prima mit dem Schläger über den Kopf gehauen, durch welche nach Spaltung des Hutes die Spitze des Schlägers an der Stirn herabgeglitten war, und am Bogen der Augenbrauen die Augenhöhlenschlagader an derjenigen Stelle zerschnitten, wo diese durch die Oeffnung am Augenhöhlenrande auf die Stirn tritt, worauf sich die Schlagader offenbar in die Augenhöhle zurückgezogen hatte, ein Fall, der für die Technik unerfahrener und ungeübter Wundärzte eine schwere Aufgabe war. Auf dem Kampfplatze war Dahl zwar schon bemüht gewesen, die Blutung zu stillen, da dieses jedoch nicht hatte gelingen wollen und die Spaziergänger aus Leipzig bei der vorschreitenden Tageszeit Störung veranlaßten, so war beschlossen worden, den Verwundeten nach der Stadt zu bringen. In Ermangelung eines Wagens war nun Körner mit einem leichten Verbande um den Kopf zu Fuße fortgewandert. Wenn aber an einem warmen Sommermorgen ein junger Mann in einen langen Mantel gehüllt mit verbundenem Kopfe auf einer Promenade einherschreitet und von Zeit zu Zeit Blut von sich giebt, da das über das Gesicht fließende Blut sich stets im Munde sammelte, so ist dieses in einer kleinen Stadt, wie es Leipzig damals war, eine Erscheinung, die bald zum Tagesgespräch wurde, und deshalb war Körner’s Duell so bald dem Universitätsgerichte verrathen worden.“
An demselben Morgen wollte unser Berichterstatter einen Freund, der in Leipzig Arzt war, in dessen Wohnung in der Grimmaischen Vorstadt besuchen. Erst nach wiederholtem Klopfen öffnete man ihm, und er fand in jener Wohnung den verwundeten Körner, mit dessen Behandlung jener Arzt und zwei Studenten der Medicin beschäftigt waren. Es wollte diesen wenig erfahrenen jungen Leuten nicht gelingen, die starke Blutung zu stillen, und man befand sich in großer Verlegenheit, da man sich um so mehr hüten mußte, weitere ärztliche Hülfe zu requiriren, als nach damaligen Gesetzen in Sachsen noch die Aerzte der Duellanten stets bestraft wurden. Müller sah jedoch ein, daß bei längerem Zögern eine Verblutung erfolgen mußte, und er übernahm es, selbst einen erfahrenen Wundarzt herbei zu holen. Glücklicher Weise wurde jedoch, als er zu jenem Zwecke das Haus kaum verlassen hatte, die Blutung gestillt und alle Gefahr damit beseitigt. Es wurde nun beschlossen, Körner in die Wohnung eines Freundes zu schaffen, da in seiner eigenen Wohnung das stattgefundene Duell leichter verrathen werden konnte. Nach Müller’s Bericht sollte Körner, sobald er geheilt wäre, auf die neu errichtete Universität nach Berlin gehen, wo man es hoffentlich mit den Zeugnissen nicht so genau nehmen würde, für den Fall nämlich, daß jenes Duell entdeckt und wie gewöhnlich mit Relegation von der Leipziger Universität bestraft werden möchte. Schon am nächsten Tage war denn auch wirklich eine Vorladung vor das Universitätsgericht erfolgt, der Körner allerdings nicht Folge leisten konnte, worauf denn auch dessen Relegation durch Anschlag an das schwarze Bret erfolgte. In Berlin aber wurde er später wegen nicht ausreichender Zeugnisse dennoch nicht zur Universität zugelassen.
Im August des Jahres 1811 ging Körner nach Wien, und hier begann für ihn ein neues Leben, denn er hatte sich das Ziel gestellt, fortan nur der Dichtkunst seine Kräfte zu weihen. Mit welchem Erfolge er dies that, ist bekannt. Hauptsächlich beschäftigte er sich in Wien mit dramatischen Arbeiten, durch die der zwanzigjährige junge Mann bald die Stelle eines k. k. Hoftheaterdichters erhielt. Er glaubte sich am Ziele seiner Wünsche angelangt, denn auch die Liebe beglückte ihn. Eine vorzügliche, tugendhafte und schöne Schauspielerin, Toni Adamsberger, hatte sein Herz gewonnen, und selbst Körner’s Eltern segneten diesen Bund, da auch sie von den Vorzügen dieses holden Mädchens bezaubert waren.
Unterdessen aber zogen von Westen her die verderbenschwangern Gewitterwolken immer dichter über Deutschland zusammen; der französische Usurpator traf alle Anstalten, unserm geknechteten Vaterlande den Todesstoß zu versetzen. Allein jetzt regte sich auch mächtiger als je die Vaterlandsliebe und gab sich durch Tausende von erhebenden Beispielen kund. Im Frühjahr 1813 erschien der Ausruf an die deutsche Jugend zur Bildung von Freicorps und fand in Körner’s Herzen sogleich den lautesten Wiederhall. Das Vaterland war in Gefahr! Sollte der hochherzige Körner da allein zurückbleiben und nichts für die Rettung der Freiheit seines Volkes wagen? Er verließ die geliebte Braut, gab seine glänzende Stellung auf und eilte nach Breslau, wo er unter Lützow’s Schaaren als Jäger eintrat. Begeisterung erfüllte ihn, als er die Menge edelmüthiger Waffengenossen um sich sah, und rasch entstanden jene feurigen Kriegslieder, die bald Gemeingut aller Befreiungskämpfer wurden.
„Im April 1813,“ berichtet Kunze, „kam Lützow’s Freischaar nach Leipzig, und Körner, als Oberjäger, ließ sich bei mir einquartieren. Er beabsichtigte damals zwölf freie deutsche Lieder herauszugeben und brachte deren elf mit, als er zu mir kam. Das zwölfte „Lützow’s wilde, verwegene Jagd“ schrieb er am 24. April 1813 hier auf dem Schneckenberge. Hierauf dictirte er es mir in die Feder, gab mir die übrigen elf Lieder sammt dem Titel als Manuscript und wünschte, daß ich für die Herausgabe besorgt sein möchte.“
Die Herausgabe jener Lieder unterblieb damals noch, doch waren die meisten derselben bereits in Aller Munde.
„Es war an einem Sonnabende,“ fährt Kunze sort, „als Körner das erwähnte zwölfte Lied vollendete; am Tage darauf sollte das Corps abmarschiren. Bei der Aufstellung auf dem Markte wurde Körner zum Officier ernannt. Seine Uniform erforderte wenig Abänderung, und auch dabei konnte ich ihm helfen. Die Uniform wurde bei mir in der Eile mit der Officiersabzeichnung versehen; einen Säbel konnte ich ihm geben, dagegen ließ er mir den Hirschfänger, den er bisher getragen hatte, zurück. Gegen Mittag rückte das Corps aus, und lange Zeit erfuhr ich nichts von ihm.“
Bei der Unsicherheit der damaligen Verkehrswege darf dies nicht auffallen; nicht allein Kunze, sondern auch Körner’s übrige Leipziger Freunde, deren er eine Menge zählte, blieben ohne Nachricht von ihm. Wir wissen, welche Ungeduld sich der kühnen Lützow’schen Freischaar bemächtigte, als sie die ersehnte Thätigkeit so lange nicht entfalten konnte und meist größern Armeecorps zugetheilt wurde. Die Verzweiflung erreichte den höchsten Grad, als der am 4. Juni 1813 zwischen den Franzosen einerseits und von Preußen und Russen andererseits geschlossene Waffenstillstand bekannt ward. Der Kampfesmuth der Lützower sollte also wieder ohne Nahrung bleiben. Lützow, der inzwischen Körnern zu seinem Adjutanten erhoben hatte, beschloß, mit seiner Reiterschaar vom sächsischen Voigtlande aus sich mit der Infanterie seines Corps zu vereinigen.
Von französischer Seite hatte man Lützow von dem abgeschlossenen Waffenstillstand in Kenntniß gesetzt, allein die kampfesmuthige Schaar stellte die Feindseligkeiten nicht ein, weil Lützow vorgab, diesen Waffenstillstand nicht respectiren zu können, da er keine officielle Anzeige desselben von seinen Vergesetzten erhalten habe. Die Franzosen geriethen hierüber in die äußerste Wuth, und Napoleon gab den Befehl, das Lützow’sche Corps – diese brigands wie er sie nannte – aufzusuchen und zu vernichten.
Der Herzog von Padua, welcher damals Befehlshaber der französischen Truppen in Leipzig war, erhielt die Weisung, den Plan seines kaiserlichen Protectors sofort in’s Werk zu setzen, und alsbald ließ jener General mobile Colonnen bilden, welche das Lützow’sche Corps aufsuchen sollten. Eine dieser Colonnen bestand aus einem Bataillon württembergischer Infanterie unter dem Commando des Oberstlieutenant Kechler, und derselbe Officier, welcher damals Adjutant Kechler’s war, hat uns die folgenden nähern Umstände mitgetheilt, damit seine so oft geschmähten Landsleute eine Rechtfertigung finden möchten.
In Zeitz erfuhr Kechler. daß Lützow’s Corps in der fünf Stunden entfernten Stadt Gera angelangt sei, und er sandte deshalb seinen Adjutanten als Courier nach Leipzig, um schleunig Verhaltungsbefehle einzuholen. Der Adjutant, den man von Seiten des französischen Generalstabes in Leipzig höchst mißtrauisch behandelte, erhielt die Weisung: daß Kechler’s Colonne dem Lützow’schen Corps, sobald dies bei Zeitz vorübermarschirt sei, auf dem Fuße folgen solle, jedoch ohne einen Angriff zu unternehmen. Am nächsten Tage fand auch bei Zeitz der Vorbeimarsch der Lützower statt, und Kechler’s Truppen folgten jenen, dem erhaltenen Befehle gehorchend. [119] Etwa nach einer Stunde des Marsches ritt Lützow mit seinem Adjutanten Körner gegen die Württemberger zurück und forderte durch einen Trompeter den Commandanten der Colonne zu einer Besprechung auf. Die nun von Lützow gestellte Frage, ob ein Angriff beabsichtigt sei, beantwortete Kechler verneinend und setzte hinzu, daß er nur Befehl habe, Lützow zu folgen. Es wurde dann zwischen diesen beiden Officieren verabredet, daß keines der Corps das andere angreifen dürfe, ohne dasselbe von dem Beginn der Feindseligkeiten vorher in Kenntniß zu setzen.
So folgte Kechler’s Colonne am 17. Juni 1813 dem Corps Lützow’s bis in die Gegend von Kitzen, wo beide Truppen Halt machten, und hier erfuhr Kechler, daß indessen eine starke Heerabtheilung mit Reiterei und Artillerie unter dem Befehle des Generals Fournier von Leipzig her bereits in dem nahegelegenen Städtchen Lützen eingetroffen sei. Dorthin begab sich Kechler mit seinem Adjutanten und meldete Fournier das Vorgefallene. Mit dem zwischen Kechler und Lützow getroffenen Uebereinkommen wegen eines Angriffes schien Fournier einverstanden, aber nur zu bald ließ sein ganzes Benehmen erkennen, daß er beabsichtige, so rasch als möglich mit überlegener Macht Lützow meuchlerisch zu überfallen. Kechler und sein Adjutant (unser Gewährsmann) beschlossen, Lützow vor der ihm drohenden Gefahr schleunig zu warnen, denn die Achtung gegen die muthigen Freiheitskämpfer und die auch durch Despotengewalt nie zu unterdrückende Vaterlandsliebe war auch in jenen braven Officieren mächtiger als der Gehorsam, den sie gezwungen und mit blutenden Herzen dem Tyrannen Napoleon hatten schwören müssen. Kechler sandte deshalb sogleich mit jenem geheimen Auftrage den Cavallerieoberlieutenant Grafen Ferdinand von Reischach an Lützow ab, um diesen von dem ihm drohenden Unheil in Kenntniß zu setzen. Graf Reischach erreichte jedoch Lützow’s Schaar nicht mehr zeitig genug, denn Fournier hatte in aller Eile durch die Reiterei Normann’s Lützow überfallen und sein Corps aus einander sprengen lassen. Es steht fest, daß Normann, der am 18. Oktober 1813 gegen den Willen des Königs von Württemberg mit 800 Reitern zu den Alliirten überging, nur nothgedrungen dem Befehle Fournier’s Folge leistete, und die eben erzählten Thatsachen beweisen, wie leicht es jenen Truppen werden mußte, die keinen Verrath ahnenden Lützower zu werfen.
Körner, der als Parlamentär einer feindlichen Abtheilung entgegenritt und nicht an Gegenwehr dachte, erhielt von dem Officier der Feinde einen Säbelhieb über den Kopf und konnte sich nur mit Mühe in den nahen Wald retten, wo er wie durch ein Wunder seinen Verfolgern entkam. Ermattet sank er vom Pferde und erwartete den Tod, denn er vermochte nicht mehr, sich weiter zu schleppen. Aber als Held und Dichter wollte er sterben, noch hatte er Macht über seine Sinne und blutend entwarf er das herrliche Sonnet:
Abschied vom Leben.
Die Wunde brennt; – die bleichen Lippen beben. –
Ich fühl’s an meines Herzens matterm Schlage,
Hier steh’ ich an den Marken meiner Tage –
Gott, wie Du willst! Dir hab ich mich ergeben. –
Das schöne Traumbild wird zur Todtenklage. –
Muth! Muth! – Was ich so treu im Herzen trage,
Das muß ja doch dort ewig mit mir leben! –
Und was ich hier als Heiligthum erkannte,
Ob ich’s nun Freiheit, ob ich’s Liebe nannte:
Als lichten Seraph seh’ ich’s vor mir stehen; –
Und wie die Sinne langsam mir vergehen,
Trägt mich ein Hauch zu morgenrothen Höhen.
Noch sollte dies aber nicht des edlen Dichters Schwanengesang sein, denn mitleidige Bauern fanden ihn am nächsten Morgen und brachten den Verwundeten mit heldenmüther Aufopferung vorsichtig in das nahe Dorf Groß-Zschocher, und obgleich ein feindliches Commando jenes Dorf besetzt hielt, ward Körner doch glücklich beim Gärtner des Rittergutes untergebracht und versteckt. Auch wundärztlicher Beistand war bei der Hand, doch mußte man rasch auf weitere Hülfe und Flucht denken.
Zuerst schrieb der verwundete Dichter an seinen Vater, um diesen nicht in Ungewißheit über sein Schicksal zu lassen und um entstellenden Gerüchten vorzubeugen. Auch hier war größte Vorsicht nöthig für den Fall, daß der Brief unterwegs in falsche Hände gerathen möchte, und auch um die französische Postspionage zu täuschen. An seinen Vater schrieb daher Körner:
Euer Wohlgeboren nehme ich mir die Freiheit zu melden, daß, du Sie durch mancherlei Nachrichten über meinen Zustand in Besorgniß sein dürften, ich Ihnen betheuern kann, ich sei gesund und noch mein eigner Herr. Ich denke von hier, aus dieser Versicherungscasse meines Ichs, nach meinem zweiten Vaterlande, doch bis jetzt nur nach Karlsbad zu wandern. Ich bitte Euer Wohlgeboren, dieses meiner lieben Frau nach Wien zu melden, da mir vielleicht die Gelegenheit dazu fehlen sollte. Lassen Sie sich also durch kein Gerücht schrecken; ich lebe jetzt bei vortrefflichen Leuten, die mir jeden Schmerz vergessen machen. Genehmigen Sie mit Ihrer ganzen Familie die Versicherung meiner ausgezeichneten Hochachtung.
Dies ist der Name des jugendlichen Helden aus Körner’s Trauerspiel „Zriny“, und der Verwundete wählte diese Unterschrift, um seinem Vater jeden Zweifel über die Urheberschaft des mit schwacher Hand geschriebenen Billets zu ersparen.
Hier in Groß-Zschocher konnte jedoch Körner unmöglich bleiben, da er Entdeckung fürchten und auch bessere ärztliche Hülfe haben mußte. Nichts lag in diesem Zustande der Noth ihm näher, als der Gedanke an seine Freunde in Leipzig. An Kunze schrieb er deshalb:
„Lieber Wilhelm!
Du wirst mir einen sehr großen Freundschaftsdienst erweisen, wenn Du zu mir heraus, zum Gärtner des Gutsherrn kommst. Ich liege stark verwundet, doch keineswegs gefährlich. Deiner Betty tausend herzliche Grüße. Verschwiegenheit brauche ich Dir wohl nicht erst anzurathen!
Groß-Zschocher, am 18. Juni 1813.Beide Briefe wurden einem zuverlässigen Boten übergeben und zuvörderst an den als treuen Freund bewährten Kaufmann Kunze nach Leipzig geschickt. Wie erschrak dieser, der seit jenem Tage des Ausmarsches nichts wieder von Körner erfahren, als er jetzt diese Trauerbotschaft erhielt! Doch hier galt es rasches, entschlossenes Handeln. Kunze ging also zuerst zu dem in Leipzig wohnenden Besitzer des Rittergutes Groß-Zschocher, um dessen Rath zu hören. Es war dies aber ein überaus ängstlicher Mann, der den unüberlegten Schritt (wie er es nannte!) seines barmherzigen Gärtners tadelte und auf schleunige Fortschaffung Körner’s drang. Es war allerdings eine gefährliche Sache, mit der feindlichen Partei auch nur im geringfügigsten Verkehr zu stehen, denn die französische Besatzung Leipzigs unter dem Befehle des Herzogs von Padua ahndete jedes derartige Verbrechen auf das Strengste.[1]
Durch den schlechten Erfolg des ersten Schrittes ließ sich Kunze jedoch durchaus nicht abschrecken; er suchte vielmehr einen andern, nicht minder bewährten und ergebenen Freund Körner’s, den Dr. Wendler, einen allgemein geachteten Arzt, auf und hier fand er sogleich bereitwilliges Gehör und die Versicherung thätigster Mithülfe, um den verwundeten Helden mit eigner Gefahr dem sichern Verderben zu entreißen. Allein die größte Vorsicht war nöthig. Nach reiflicher Ueberlegung beschlossen die beiden hochherzigen Freunde des Dichters, einen redlichen, ihnen ergebenen Fischer mit in’s Geheimniß zu ziehen. Vorher wurden jedoch dem treuen Boten wohlweislich Kleider und eine Perrücke für Körner mitgegeben, damit er sich bei seiner weiter beabsichtigten Flucht unkenntlich machen konnte. Auch ließ man ihm einen Platz im Walde genau bezeichnen, wo sich morgen zu einer bestimmten Stunde die rettenden Freunde einfinden und ihn abholen wollten.
Am nächsten Tage in der frühesten Morgendämmerung fuhren Kunze und Dr. Wendler auf dem Kahne des Fischers nach dem Dorfe [120] Schleußig, einem als Ziel bei Spazierfahrten auf dem Wasser sehr beliebten Orte. Von hier aus begaben sie sich, scheinbar wie harmlose Spaziergänger, in den Wald und trafen auch an der bezeichneten Stelle Körner in seiner Verkleidung. Es war eine Scene traurigen und zugleich erhabenen Wiedersehens, doch durften sich die drei Männer den Ausbrüchen ihrer Gefühle nicht rückhaltlos hingeben, denn noch immer streiften feindliche Truppen in der nächsten Umgebung, um nach flüchtigen Lützowern zu suchen. So rasch, als es Körner’s Zustand gestattete, eilte man zu dem harrenden Kahne, und diesen führte der treue Fischer auf den kleinen Gewässern zwischen der Pleiße und Elster, welche das Holz durchkreuzen, bis an die Wiese hinter dem ehemaligen Rudolph’schen Garten. Bei Dr. Wendler, der dort ein Besitzthum hatte, wurde Körner in einer Dachkammer versteckt und vor Allem in chirurgische Behandlung gegeben. Der größte Theil der edelmüthigen Rettung war gelungen, doch schwebten die Retter und der Gerettete noch immer in großer Sorge wegen nachträglicher Entdeckung.
„An selbigem Tage“ – erzählt Kunze weiter – „wurden noch viele von Lützow’s Schaar gefangen (in Leipzig) eingebracht, welche in dem Garten auf der Bastei an dem Schlosse Pleißenburg bivonakirten. Mit Württemberger Officieren, die bei mir im Quartier lagen, ging ich auf die Bastei und bat die Officiere, Körner unter den Gefangenen aufzusuchen. Ich ergriff diese Finte, um die Officiere sicher zu machen, weil ich Furcht hatte, sie möchten mir Unruhe anmerken, die wohl denkbar war. Als es nach wenig Tagen mit Körner so weit war, daß er transportirt werden konnte, so fuhr Dr. Wendler mit ihm in Begleitung zweier Damen, als gälte es eine Spazierfahrt, zum Thore hinaus auf sein Gut Kahnsdorf. Dort pflegte sich Körner noch einige Zeit, fuhr von da nach Frohburg zu dem Freiherrn von Blümner, dann nach Chemnitz und so durch den Beistand treuer Freunde wurde er glücklich über die böhmische Grenze nach Karlsbad gebracht. Wir schöpften jetzt freier Athem. – Viele von Körner’s Cameraden wurden damals noch in dem Walde von Groß-Zschocher versteckt aufgefunden und gefangen genommen. Er selbst wurde nicht entdeckt und rettete so eine nicht unbedeutende Feldcasse, die er bei sich hatte und welche er später mir zur Verwahrung gab.“
Des Dichterhelden fernere Schicksale auf seiner kurzen, aber ruhmvollen Laufbahn sind allgemein bekannt. Er war der gefeierte Liebling des Lützower Freicorps, seiner für Deutschlands Befreiung kämpfenden Waffenbrüder. Dieses herrliche Ziel aber sollte für Körner unerreichbar bleiben, denn schon am 26. August 1813 fand er in dem Kampfe bei Gadebusch den Heldentod. Sein Schwanengesang war das Schwertlied gewesen, das er kaum beendet hatte, als die Angriffssignale ertönten. Die Trauer der Lützower um ihren gefallenen geliebten Cameraden war eine wahrhaft ergreifende, und eine Menge rührender Züge hat uns die Geschichte des Corps davon bewahrt.
Es währte lange Zeit, ehe die Todesbotschaft an Körner’s Angehörige und Freunde gelangte. Monate lang waren sie in Ungewißheit über die Schicksale des Helden geblieben. Kunze erfuhr erst nach der Schlacht von Leipzig, am 23. October, seines gefallenen Freundes Heldentod durch Körner’s Waffenbruder, den Grafen Dohna. Welche Trauer diese unerwartete Nachricht bei der großen Menge seiner Leipziger Freunde hervorrief, ist kaum zu beschreiben.
Erst jetzt konnte Kunze die Herausgabe der ihm von Körner übergebenen zwölf freien deutschen Lieder ohne Gefahr wagen, und er ließ dieser Sammlung den Bericht über des Dichters Tod, wie ihn Graf Dohna als Augenzeuge gegeben, vordrucken.
Körner’s Vater kam erst im Frühjahre 1814 nach Leipzig und ward von Kunze an jene Stelle im Walde geführt, wo man seinen Sohn damals verwundet aufgefunden hatte. Auch der alte Gärtner in Groß-Zschocher, der ungeachtet der ihm drohenden strengen Bestrafung den schwer verwundeten Helden aufnahm und pflegte, ward aufgesucht, und Körner’s Vater setzte dem Braven für den Rest seines Lebens ein Jahrgehalt aus.
Seinen Bericht schließt Kunze folgendermaßen:
„Körner’s Vater gab hierauf eine kleine Sammlung meist noch ungedruckter Gedichte seines Sohnes unter dem Titel „Leier und Schwert“ heraus, was mich veranlaßte, mir von dem Vater als ein Andenken Körner’s Laute zu erbitten, mit welcher er früher stets als Troubadour umherstreifte. Beide, Leier und Schwert Körner’s, sind in unverändertem Zustande, so wie sie 1813 waren, in meinem Besitz.“
Wie wir schon oben bemerkten, ist im vergangenen Jahre dieser treue Freund Körner’s gestorben, aber des unsterblichen Dichters Nachlaß, Leier und Schwert, wird von der Familie als ein unschätzbares Vermächtniß bewahrt und geehrt.
Körner’s nicht minder treuer Freund, Professor Dr. Wendler, ist ebenfalls unlängst vom Leben geschieden. Er erhielt nach Körner’s Tode von dessen Familie ein nicht minder herzliches Andenken, das Bild des Dichterhelden, das von dessen einziger geliebter Schwester Emma gemalt worden war.
Am 9. November war natürlich die Badesaison längst vorüber. Mit dieser hatten auch die Dampfschiffsfahrten zwischen Rostock und Warnemünde aufgehört; nur ausnahmsweise noch wurden Segelschiffe durch die Dampfschiffe von einem Orte zum andern bugsirt. Der Warnemünder lebte wieder in stiller Einsamkeit und tröstete sich in derselben mit dem Gedanken, daß sieben Monate später die heißersehnten geldbeladenen Badegäste wieder einzurücken beginnen würden. Dann und wann fuhr wohl noch eine mit Sand oder Steinen beladene Jölle nach Rostock, aber auch dies mußte wegen der vorgerückten Jahreszeit bald aufhören. Der Verkehr mit der Mutterstadt beschränkte sich im Wesentlichen auf die Herbeiholung der nothwendigen Lebensbedürfnisse.
Aus der gegebenen Schilderung ersieht man, wie vortrefflich sich der Hafenplatz zum ersten Zufluchtsorte für die beiden Flüchtlinge eignete.
Gegen Mittag erreichte ich den Weg, der sich dicht an die Dünen bei Warnemünde hinanzog. Der Sturm brauste noch immer aus Nordost, und die Brigg tanzte wie ein Korkstöpsel auf der Rhede. Kinkel, Schurz und meinen Freund N. sah ich mir vom Strande aus entgegenkommen und gegen die Kraft des Sturmes ankämpfen. Ich verabschiedete meine Droschke und ging auf die Freunde zu.
„Willkommen, willkommen,“ tönte es mir entgegen. „Wie stehen die Actien in Rostock?“
„Herzlich willkommen,“ erwiderte ich. „Wir können dreist à la hausse speculiren. Aber, mit Ihrer gütigen Erlaubniß, wer heißt Sie denn am hellen Tage an der Seeküste promeniren und sich der unnöthigen Gefahr des Verraths aussetzen?“
„O,“ entgegnete Schurz, „diese biederen Seemannsnaturen mit ihren wettergebräunten Gesichtern und ihren „Südwesters“ auf den Köpfen wissen wohl mit den Elementen zu kämpfen und den Tücken des Meeres Trotz zu bieten, aber die Tücken der Menschen ahnen sie nicht einmal, viel weniger noch sind sie fähig, Leuten wie wir, die Schutz in ihrem Heimathsort gesucht haben, die Gastfreundschaft zu brechen und sie zu verrathen.“
„Wir konnten der Schönheit und Großartigkeit der Natur nicht widerstehen,“ rief Kinkel. „Wir hörten das Brausen des Meeres und den Sturm durch die Takelagen der Schiffe heulen und pfeifen, und sahen in der Ferne die Myriaden von weißglänzenden Häuptern riesiger Wellen. Mit unwiderstehlicher Kraft zog es uns fort an’s Meeresufer. Und wie reich sind wir belohnt! Wie majestätisch rollen die Wogen daher, und wie erhaben ist die ruhige Gleichförmigkeit ihrer Bewegung in dem anscheinenden Chaos des Ganzen, wie überwältigend der Anblick, wenn die Wogen sich brechen und ihren Schaum gen Himmel spritzen und wie ein Heer von Furien und Dämonen brausend und zischend auf das Ufer zustürzen! Jetzt erst empfinde ich die Grausamkeit der Menschen, die mich so lange im Kerker schmachten ließen und so lange mir Deine Schönheit entzogen, o göttliche Natur!“
[121] Und im Entzücken über den majestätischen Anblick breitete er seine Arme gegen das Meer aus, als wollte er die große Natur an sein Herz drücken. Seine Brust hob sich und mit vollen Zügen schlürfte er die herrliche Seeluft, wie wenn dieser Augenblick ihn entschädigen sollte für die dumpfe Kerkerluft und den Staub des Spulrades, welche er so lange Zeit hatte athmen müssen.
Unser Aller bemächtigte sich eine tiefe Rührung und eine feierliche Stimmung, und wir gingen eine Zeit lang schweigend weiter. Darauf wandte ich mich an Carl Schurz und sagte zu ihm:
„Die braven Warnemünder thun Ihnen allerdings nichts zu Leide. Aber das Gerücht, daß zwei Fremde sich hier zu einer so ungewöhnlichen Zeit aufhalten, könnte doch nach Rostock dringen und die Aufmerksamkeit der dortigen Polizei um so mehr erregen, als voraussichtlich die steckbriefliche Verfolgung Kinkel’s nicht lange auf sich warten lassen wird. Es ist daher mein Plan, Sie vorerst nach Rostock zu schaffen, wo Sie so lange verborgen leben können, bis sich die Gelegenheit bietet, Sie mit einem Schiff nach England zu schaffen.“
„Wie rasch sind die dänischen Inseln zu erreichen?“ fragte Kinkel.
„In sechs Stunden können Sie mit einem Dampfschiffe von hier nach der Insel Falster kommen.“
„Können wir nicht in einem Boot hinüberfahren?“
„Allerdings. Im Sommer geschieht dies wohl dann und wann. Aber um diese Jahreszeit würde sich schwerlich ein Warnemünder dazu verstehen. Ueberdies ist die Landung in Falster gefährlich, weil man nicht wissen kann, ob die dänische Regierung sich wegen ihres Verhältnisses zum deutschen Bunde nicht verpflichtet hält, Sie auszuliesern.“
„Wie lange kann es dauern, daß ein Schiff zu unserer Disposition steht?“ fragte Kinkel.
„Das läßt sich noch nicht bestimmen. Einstweilen handelt es sich nur darum, Sie vorläufig in Sicherheit zu bringen.“
„Sollte es unter diesen Umständen nicht besser sein, wir führen nach Hamburg und suchten von dort nach England zu entkommen? Es werden dort alle Tage Schiffe nach England gehen.“
„Ganz richtig. Aber Sie würden dort der preußischen Polizei geradeswegs in die Arme laufen. Denn in Hamburg und Bremen wird man vorzugsweise vigilant sein, eben weil die Flucht von dort aus am leichtesten zu bewerkstelligen ist. Jedenfalls aber vermehrte sich die Gefahr für Sie um die durch Zurücklegung des Weges von hier nach Hamburg entstehende Chance. Mit der Eisenbahn, deren Bahnhöfe zu Hagenow und Hamburg bewacht sein werden, dürften Sie natürlich nicht reisen, und wenn Sie mit einem Fuhrwerk fahren, so könnten Ihnen die Gensd’armen in den Weg kommen.“
„O, vor diesen fürchten wir uns nicht,“ rief Schurz und griff nach seinen in der Seitentasche befindlichen Pistolen. „Wir sind hinlänglich darauf vorbereitet, es mit zweien oder dreien von ihnen aufzunehmen.“
„Ich zweifle nicht daran,“ versetzte ich, „daß Sie im Falle der Gefahr zum Aeußersten entschlossen sind und daß es Ihnen im Nothfalle nicht darauf ankommen würde, ob Mecklenburg ein paar Gensd’armen mehr oder weniger besäße. Aber Sie müssen eine solche Gefahr vermeiden. Eine den Gens’darmen gelieferte Schlacht würde Ihrer Flucht gar nicht förderlich sein, vielmehr die gesammte norddeutsche Polizei in Bewegung setzen und auf die richtige Spur leiten. Aber selbst wenn die Chancen für das Gelingen der Flucht über Hamburg weniger ungünstig wären, als sie es sind, so würden doch meine Freunde und ich aus unserer Obhut Sie nicht entlassen. Sie sind unser anvertrautes Gut, und wir sind dafür verantwortlich, Sie glücklich von hier fortzuschaffen. Vertrauen Sie daher uns ganz. Der Kaufmann Ernst Brockelmann in Rostock bietet Ihnen durch mich sein Haus als Asyl an. Als einer der bedeutendsten Schiffseigner wird er Rath für Ihre Weiterbeförderung zu schaffen wissen. Wir haben außerdem einen Plan miteinander besprochen, wonach man Ihre Spur hier verliert und Sie plötzlich wie Meteore wieder in Rostock auftauchen.“
Wir gelangten mittlerweile zum Wöhlertschen Gasthofe. Das Mittagsessen stand schon bereit. Ein erquickender Schlaf, dessen die Flüchtlinge sich in der verflossenen Nacht nach den furchtbaren Aufregungen der vorhergehenden Tage zu erfreuen gehabt hatten, und die gesunde frische Seeluft hatten sie sichtlich gestärkt. Meine beruhigenden Mittheilungen hoben ihre Stimmung, und so speisten wir denn in der heitersten Laune.
„Womit haben Sie sich denn gestern die Zeit vertrieben?“ fragte ich.
„Die Herren haben fortwährend geschlafen,“ erwiderte N. „Ich habe mich während der Zeit schrecklich gelangweilt, wiewohl ich mich über ihren langen Schlaf freute. Erst gegen Abend standen sie auf, und dann haben wir noch spät aufgesessen und geplaudert.“
„Ja,“ sagte Kinkel scherzend, indem er auf Schurz zeigte, „der „Kleine“ dort hat so fest geschlafen, daß er es nicht bemerkt haben würde, wenn auch zehn preußische Polizisten hereingetreten wären, um mich fortzuschleppen.“
„Da thun Sie ihm doch Unrecht,“ erwiderte N. „Ich habe Ihren Freund auf die Probe gestellt. Ich wollte sehen, wie weit seine Wachsamkeit ginge, und schlich mich ganz sachte nach dem Zimmer, in welchem Sie beide Ihren sechsstündigen Nachmittagsschlaf hielten. So leise wie ich konnte öffnete ich die Thür. Da sah ich Sie im festen Schlafe, aber Ihr Freund schlug sofort die Augen auf, richtete sich in die Höhe und ergriff seine oben auf seiner Bettdecke liegenden geladenen Pistolen. „Gut Freund“ rief ich und trat eilends meinen Rückzug an.“
„Der „Große“ scheint mir sehr undankbar zu sein,“ sagte Schurz zu Kinkel, „und wenn ich mir die Sache recht überlege, so thut es mir eigentlich leid, daß ich ihn nicht seinem Schicksale überlassen habe.“
„Du, nimm Dich in Acht, reize den Löwen nicht; ein Glück für Dich, daß Du mein Befreier bist!“ rief Kinkel mit komischem Pathos. „Nun aber,“ fügte er hinzu und blickte Schurz zärtlich an, „kann ich Dir nicht zürnen. Hast Du nicht Alles für mich eingesetzt? Komm, wir wollen Frieden machen, stoße mit mir an. Deine Gesundheit!“
Wir stießen die Gläser zusammen und leerten sie auf des Befreiers Wohl.
„Ja,“ sagte Kinkel ernst, „wenn Dir Deine wunderbare Flucht aus Rastadt nicht gelungen wäre, dann säße ich nicht hier, und wo Du jetzt wärest, das wissen die Götter.“
„Als ich mich unter der Rastadter Brücke verborgen hielt und die verteufelte Schildwache mit ihrem Bajonnetgewehr durch die Oeffnung in der Brücke stieß, um auf gut Glück zu erproben, ob ein Mensch oder eine Ratte darunter steckte, da fehlte nur eines Haares Breite, und ich wäre den elenden Tod des Aufspießens gestorben. Davor bin ich glücklicher Weise behütet und ich bin froh, daß ich hier sitzen und diesen ganz ausgezeichneten Seefisch essen kann. Ich denke, auch Dir schmeckt das Essen?“
„O ganz vortrefflich,“ erwiderte Kinkel. „Der Schlaf und die Seeluft haben mich so erquickt, daß ich einen wahren Wolfshunger habe.“
„Die Warnemünder Kost wird Ihnen auch besser gefallen als die Spandauer,“ bemerkte ich.
„Die Kost in Spandau hat mich gerade nicht verwöhnt. Man machte mit mir nicht mehr Umstände, als mit einem gewöhnlichen Zuchthaussträfling. Zum Lager hatte ich einen Strohsack. Die spitzen Strohhalme haben mich oftmals aus dem Schlaf geweckt und mir die Backen wund gerieben. Die Züchtlingskost war fast ungenießbar. Nur viermal im Jahre, nämlich an des Königs Geburtstage und am ersten Feiertage von Weihnachten, Ostern und Pfingsten, erhielten wir Fleisch. Aus Wasser und trockenem Brode bestand meine Hauptnahrung.“
„Bekamen Sie keine Butter?“ fragte ich.
„Ja, die habe ich mir in Spandau durch meine Arbeit zu verschaffen gewußt. Als ich noch in Naugard war, da hatte ich eine humanere Behandlung. Der Director des dortigen Zuchthauses, Schnuggel, gehörte freilich zu den Erzfrommen und empfing mich mit den salbungsvollen Worten: „„Mein Sohn, Du mußt Deinen Blick nun ganz von der Außenwelt abwenden und Dich einzig und allein mit Deinem Gott beschäftigen.““ Aber er wollte doch die ihm von Berlin ertheilten strengen Instructionen an mir nicht zur Ausführung bringen. Darum schickte man mich nach dem Spandauer Zuchthause, dessen Director Jeserich man die nöthige Energie zutraute, um meinen Trotz, wie man es nannte, zu brechen und meinen Geist zu beugen. Ich sollte das aufgegebene wöchentliche Pensum spulen. Wer sein Pensum nicht schafft, wird bestraft, zuerst mit Entziehung der warmen Kost und dann mit Prügeln. Ich that das Möglichste, um mein Pensum fertig zu bringen. Der Triumph sollte meinen Feinden nicht werden, daß sie draußen mit höllischer Schadenfreude [122] hätten erzählen können. „„Wissen Sie schon, der Professor Kinkel hat sich in Spandau so aufsätzig betragen, daß er nach dem Zuchthausreglement mit Rohrhieben hat gezüchtigt werden müssen? Es thut uns wirklich leid um den Mann.““ Ich nahm meine ganze Kraft zusammen. Meine Hände rieben sich wund und bluteten. Trotz der wüthendsten Schmerzen spulte ich fort. Meine Energie siegte. Als der Herr Director meine Arbeit am Ende der Woche nachsah, war er erstaunt über meine Leistung. Ich hatte, was wenigen Zuchthaussträflingen im Anfange gelingt, das volle Pensum fertig gebracht. Allmählich heilten die Wunden, und an die Stelle derselben bildete sich eine unempfindliche harte Hornhaut. Ich erlangte eine solche Fertigkeit im Spulen, daß ich mehr als das Pensum zu leisten vermochte. Dafür empfing ich reglementsmäßig eine kleine baare Vergütung, und mit dieser verschaffte ich mir wöchentlich einige Loth Butter, so daß ich an Sonntagen mein Brod nicht trocken zu essen brauchte.“
„Hatten Sie denn gar keine geistige Nahrung?“
„Außer der Bibel hatte ich kein Buch. Und bei dem gänzlichen Mangel geistiger Thätigkeit war die körperliche Arbeit eine wahre Barmherzigkeit. Ohne diese hätte mich die Isolirhaft zum Wahnsinn geführt.“
„Weg mit den traurigen Bildern der Vergangenheit!“ rief Schurz. „Wir wollen uns an die Gegenwart halten und der schönen Aussicht uns erfreuen, daß wir bald aus dem Bereiche unserer Feinde sein werden.“
„Du hast Recht,“ erwiderte Kinkel. „Ist mir doch seit Kurzem so viel Liebes widerfahren und eine solche Aufopferung entgegengetreten, daß vor solchem Glanze die düsteren Schatten vergangener Leiden verschwinden müssen. Dürfen wir nicht mit Vertrauen dem dereinstigen Siege unserer Sache entgegensehen, wenn die Aufopferungsfähigkeit unserer Partei in so hellem Glanze strahlt? Der Demokratie ein Hoch!“
„Die Demokratie soll leben!“ riefen wir begeistert und leerten unsere Gläser.
„Allens kloar, Harr Wiegerts,“ rief der Warnemünder Lootse, dessen Boot ich zu halb vier Uhr bestellt hatte, mit rauher Seemannsstimme in die geöffnete Thür hinein.
Wir brachen auf und stiegen in die an der „Wöhlert’schen Wäsche“ bereit liegende Jölle. Der Nordoststurm hatte noch nicht nachgelassen. Das Boot war mit starkem Ballast versehen. Nur ein Segel war beigesetzt und dies noch dazu eingerefft. Unser Lootse nahm die Schoten[2] in die Hand, um im Nothfalle das Segel fallen lassen zu können. „Ick will up de Schoten passen,“ sagte er zu mir, „und Se sünd wol so god und stiern (steuern) ’n bäten, Harr Wiegerts.“ –
„Ja, wenn Se nich vör mi bang sünd.“ –
„O wie führn jo hüt nich tom iersten Mal mitenander, Harr Wiegerts, ick wet jo, dat Se stiern könen.“ –
Ich setzte mich ans Steuerruder. Wir stießen ab, und vorwärts schoß das Boot wie ein Pfeil. Und als das Boot so dahin flog, mit seinem spitzen Vordertheil das Wasser schaumspritzend zertheilend, und sich dann und wann so auf die Seite legte, daß das Wasser über Bord lief, da hätte man glauben sollen, wir müßten uns in den Grund segeln. Aber die Warnemünder Jöllen liegen wie die Enten auf dem Wasser, ihr scharfer Kiel schützt sie vor dem Umfallen, und wenn nur gut aufgepaßt wird, so segelt man mit ihnen ohne Gefahr. Unsere beiden Freunde freuten sich des ungewohnten Schauspiels. Als wir auf den sogenannten Breitling kamen, wo der Wind so recht ansetzte und die Wellen über unser Boot hinüberschlugen, brachen sie in laute Rufe der Bewunderung aus. In weniger als einer halben Stunde waren wir fast eine Meile die Warnow hinaufgesegelt. Hinter dem Holze am rechten Warnowufer schwenke ich das Steuerruder rechts, und das Boot stieß ans Ufer. Wir stiegen ans Land. Ich drückte unserem Lootsen ein gutes Fährgeld in die Hand und sagte zu ihm:
„Wenn Se to Huus kamen und tofällig fragt werden söllen, wo Se uns henführt hadden, denn bruken Se se dat ja grar nich to seggen.“ –
„Sihr woll, Harr Wiegerts,“ erwiderte er und nickte bejahend, indem er die Hand an seinen „Südwester“ legte und damit Abschied nahm.
Wir gingen den am Holze sich hinziehenden Weg hinan und wandten uns nach dem auf der Anhöhe liegenden Dorfe Krummendorf, dem Stelldichein, welches ich mit Ernst Brockelmann verabredet hatte. Fast gleichzeitig mit uns traf dieser dort ein; er war seinem Wagen voraufgegangen. Brockelmann umarmte die beiden Flüchtlinge und drückte ihnen in herzlicher Weise seine Freude darüber aus, daß ihm ein Antheil an dem Gelingen ihrer Flucht reservirt sei. „Sie werden nun zu mir kommen und für eine kurze Zeit sich gefallen lassen müssen, meine Gäste zu sein,“ fuhr er fort. „In Rostock giebt es keinen Platz, wo Sie sicherer wären, als bei mir. Mein Haus hat Ausgänge und Schlupfwinkel die Menge, und es würde schon einer ansehnlichen Polizeimacht bedürfen, um Ihnen die Flucht von dort abzuschneiden. Ueberdies ist es nichts Ungewöhnliches, daß Fremde, mit denen ich in Geschäftsverbindungen stehe, bei mir logiren. Es hat daher Ihr Aufenthalt in meinem Hause nichts Auffälliges. Inzwischen werde ich die Vorbereitungen treffen, damit Sie baldmöglichst nach England kommen können. Haben Sie Vertrauen zu mir. Mit Gottes Hülfe wird Alles wohl gelingen.“
Der Wagen war inzwischen herangekommen. Die beiden Flüchtlinge stiegen mit Ernst Brockelmann hinein. Ich selbst zog es vor, mit N. zu Fuß nach der „Fähre“, einem am rechten Warnowufer der Stadt gegenüberliegenden Vergnügungsort, zu gehen und mich von dort mit einem Boot nach der Stadt übersetzen zu lassen. Um von Krummendorf zu Wagen nach Rostock zu gelangen, bedarf es eines längeren Weges, der nach der Petrivorstadt und über die Petri-Warnowbrücke in die Stadt führt. Auf diesem Wege gelangten die Freunde in die Stadt. Ernst Brockelmann fuhr mit den beiden Flüchtlingen nach seinem Hause, in welchem sie als zwei so eben mit dem Eisenbahnzuge angelangte fremde Kaufleute, mit Namen Kaiser und Hensel, vorgestellt wurden.
Johanna Kinkel, die hochherzige deutsche Frau, hat zuerst den Plan zur Flucht ihres Mannes gefaßt. Carl Schurz, mit der Kinkel’schen Familie eng befreundet und ein begeisterter Schüler und Verehrer Kinkel’s, sagte bereitwilligst seine Unterstützung zu. In der badischen Revolutionsarmee hatte er, ein Jüngling von 20 Jahren, als Officier und Adjutant im Stabe Tiedemann’s, des Commandanten von Rastadt, gedient, während sein Lehrer Kinkel, der damals 32 Jahre alt war, sich als Gemeiner hatte einrangiren lassen. Ungeachtet schon die Preußen in Rastadt eingezogen waren, hatte er doch durch die Flucht, deren Ausführung seiner Entschlossenheit und Klugheit ein glänzendes Zeugniß ausstellt, seinen Verfolgern sich zu entziehen und nach der Schweiz zu entkommen gewußt. Dies sichere Asyl verließ er, der steckbrieflich Verfolgte, um in Bonn, wo sein Vater Gastwirth war und wo Jedermann ihn kannte, mit Frau Kinkel das Nähere wegen der Flucht ihres Mannes zu verabreden. Der Dr. Falkenthal, später durch den „Berliner Hochverrathsproceß“, welcher ihm das Leben kostete, bekannt geworden, ward von ihr, nachdem er, wie der Staatsanwalt Nörner behauptet, im Juni 1850 von ihren Intentionen durch den Assessor Bergeroth unterrichtet und für den Plan gewonnen war, brieflich ersucht, die Zelle ihres Mannes nach einer gelieferten Beschreibung zu ermitteln. Derselbe entsprach diesem Wunsche, begab sich zu diesem Behufe nach Spandau, erforschte die Zelle und theilte das Resultat seiner Forschungen an Frau Kinkel mit. Nachdem Carl Schurz im Juli 1850 der politischen Versammlung in Braunschweig, wo ich seine Bekanntschaft gemacht, beigewohnt und sogar an der Debatte sich betheiligt hatte, ging er nach Bonn zurück. Demnächst machte er sich auf den Weg nach Berlin, um persönlich bei der Befreiung mitzuwirken, weil, wie er nach Aussage des Staatsanwalts Nörner einem Freunde mitgetheilt hat, die bisher mit der Ausführung derselben betrauten Personen kein hinreichendes Geschick und keine hinreichende Thatkraft besäßen, und traf dort am 11. August ein. Er nahm seine Wohnung in der Markgrafenstraße Nro. 26 bei Rhodes und Müller. Gleich am anderen Tage verletzte er sich beim Baden die linke Hüfte so erheblich, daß er durch drei Herren in seine Wohnung geschafft werden mußte. Hier wurde er zuerst von dem Dr. Lapierre und später von dem Dr. Tendering, seinem Universitätsfreunde, behandelt. Dieser Unglücksfall unterbrach nicht allein die Ausführung seines Planes, sondern setzte ihn auch der Gefahr der Entdeckung aus. Schurz war aber nicht der Mann [123] dazu, um sich durch solchen unglücklichen Zufall entmuthigen zu lassen. Er genas bald wieder und begann nun um so energischer die Vorbereitungen zu seinem Unternehmen.
Als Schurz eines Tages auf der Straße ging, begegnete er einem alten Universitätsfreunde. Er suchte ihm auszuweichen. Dieser aber erkannte ihn und redete ihn, indem er ihm in neckischer Weise mit dem Finger drohte, mit den Worten an: „Ich weiß schon, warum Du hier bist!“ Schurz erschrak, aber er blieb unbefangen. Dieser Vorfall bestimmte ihn, sich seinen alten Universitätsfreunden aus Bonn, welche in größerer Zahl in Berlin studirten, offen zu nähern, weil er mit Recht dadurch um so mehr auf ihre Discretion rechnen zu können glaubte. Er präsentirte sich ihnen im Kaffeehause von Pietsch in der Leipziger Straße, wo sie vielfach verkehrten, und ward von ihnen jubelnd begrüßt. In Gesellschaft seiner Freunde führte er seinen wahren Namen, Fremden gegenüber nannte er sich Jüssen. Am 10. September verließ er aus Besorgniß, von der Polizei entdeckt zu werden, seine Wohnung, reiste nach Hamburg, kehrte von dort nach 14 Tagen wieder zurück und nahm dann seine Wohnung bis zur Flucht Kinkel’s bei dem Dr. Falkenthal in Moabit.
Fast drei Monate verweilte Schurz in Berlin, unbelästigt von der sonst so scharfsichtigen Berliner Polizei. Um die für die Flucht nothwendigen Geldmittel aufzubringen, konnte der Kreis der in das Geheimniß Eingeweihten nicht auf Wenige beschränkt bleiben. Hervorragende Mitglieder der demokratischen Partei waren von dem Vorhaben in Kenntniß gesetzt, und diese konnten wiederum nicht umhin, denjenigen ihrer Gesinnungsgenossen, deren pecuniären Beistand sie in Anspruch nahmen, allgemeine Mittheilungen über das, was im Werke war, zu machen. Allerdings waren es nur Wenige, welche den Fluchtplan in seinen Einzelnheiten entwarfen und kannten. Aber um die beabsichtigte Flucht Kinkel’s wußten Viele. Schon die Zahl derjenigen, von denen einzelne directe Hülfsleistungen in Anspruch genommen wurden, war nicht unbedeutend. Auch in Mecklenburg hatte man dazu verschiedene Persönlichkeiten gewonnen; man bedurfte ihrer, um die Relais bereit zu halten. Es freuet mich, es hier aussprechen zu können, daß alle diejenigen Mecklenburger, an die man sich von Berlin aus gewandt hat, bereitwilligst der an sie gerichteten Aufforderung entsprochen haben und zur bestimmten Zeit und am bestimmten Ort mit den Relais zur Hand gewesen sind. Der Zufall hat es gewollt, daß von den Relais kein Gebrauch gemacht werden konnte. Aber der gute Wille war da. Diejenigen unter ihnen, welche der demokratischen Partei angehörten, bedürfen keiner Anerkennung, denn sie thaten nur ihre Pflicht, indem sie zur Rettung ihres Gesinnungsgenossen, eines der hervorragendsten Führer der demokratischen Partei in Preußen, in der Stunde der Noth herbeieilten. Aber die gerechte Anerkennung darf demjenigen unter ihnen nicht versagt werden, welcher, der entgegengesetzten Partei angehörend, dennoch nicht zögerte, sich der Gefahr auszusetzen, als es galt, nicht dem politischen Gegner, wohl aber dem Menschen die rettende Hand zu reichen. Viel größer als die Zahl derjenigen, welche bei der Flucht direct thätig sein sollten, war die Zahl derjenigen, deren Geldmittel in Anspruch genommen wurden. Dessenungeachtet wurde das Geheimniß strenge bewahrt. Wenn Viele um ein Geheimniß wissen, so kommen sonst leicht unbestimmte Gerüchte in’s Publicum. In diesem Falle verlautbarte nichts. Die Polizei hatte nicht die geringste Ahnung von dem, was sich ereignen sollte, keine Warnung drang zu ihr. Man hat später viel von einer Begünstigung der Flucht von oben gefabelt. Die Reaction hat das Ihrige dazu beigetragen, solchen Fabeln Vorschub zu leisten. Als das Opfer ihren Händen entschlüpft war, da verbarg sie, um sich in der öffentlichen Meinung zu rehabilitiren, ihre Ohnmacht unter der Maske der Großmuth. Die Reaction war nicht großmüthig – wann ist sie es jemals gewesen? – aber die Polizeispione waren einem Kinkel gegenüber machtlos. Auf alle Fälle war es aber zweckmäßig eingerichtet, daß um den Fluchtplan selbst nur sehr wenige zuverlässige Personen wußten, so daß auch wenn die Polizei Wind von dem Unternehmen bekommen hätte, die Fäden zu demselben sehr schwer hätten aufgefunden werden können.
Die nöthigen Geldmittel wurden von der demokratischen Partei in Preußen, namentlich in Berlin und Stettin, aufgebracht. Ein bedeutender Beitrag kam von einer Seite, von welcher man es am wenigsten erwartet hätte. Die russische Baronesse Brüning, geb. Fürstin Lieven, gab zu dem Befreiungsversuch in hochherziger Weise die Summe von 2000 Thaler. Sie war bereits im Mai um dieselbe Zeit, wo Kinkel von Naugard nach Spandau transportirt wurde, in Berlin eingetroffen, um durch Verwendung bei den dortigen Behörden seine Lage zu verbessern. Im Juni kehrte sie nach kurzer Abwesenheit nach Berlin zurück und wohnte dort bis etwa Mitte Juli im Hotel de Rome. Die preußische Polizei hatte einige Zeit nach der Befreiung Kinkel’s Kunde von der Betheiligung der Fürstin am Unternehmen bekommen, und ließ in Hamburg, wo sie sich gerade mit ihrem Gemahl aufhielt, nach vorgenommener Haussuchung, bei welcher sich compromittirende Briefe fanden, ihre Sachen mit Beschlag belegen. Der Verhaftung entzog sie sich durch die Flucht nach England. Auch bedeutende Geldsummen und Werthpapiere wurden von der Polizei in Beschlag genommen. Diese aber mußten dem Baron Brüning, der sie als die seinigen reclamirte und von der Betheiligung der Frau an der Kinkel’schen Flucht keine Ahnung hatte, zurückgegeben werden. Einige Jahre später ist die Baronesse Brüning in London gestorben. Die Erinnerung an ihre That wird ihr die letzten Stunden leicht gemacht haben.
Nachdem Carl Schurz wieder hergestellt war, begab er sich fast jeden Abend zwischen 5 und 6 Uhr nach Spandau. Er wählte regelmäßig den auf dem rechten Spreeufer von Moabit nach Charlottenburg führenden Weg und legte diesen zu Fuß entweder allein oder in Gesellschaft Falkenthal’s oder eines anderen Freundes zurück. Von Charlottenburg fuhr er dann in einem einspännigen Wagen, welcher stets dem Schlosse gegenüber vor dem Kaffeehause von Morelli hielt, nach Spandau. Hier kehrte er bei dem Gastwirth Krüger ein und blieb, wenn er sich verspätet hatte, bei demselben die Nacht. Durch Falkenthal’s Vermittelung machte er die Bekanntschaft verschiedener in Spandau wohnender Personen, welche seinen Zwecken dienen konnten. Sie wurden in’s Geheimniß gezogen und sagten ihre Unterstützung zu. Schurz wagte sich auch in das Zuchthaus selbst. Falkenthal führte ihn darin umher und zeigte ihm die Zelle Kinkel’s.
Die Strafanstalt Spandau liegt innerhalb der Stadt. Sie bildet ein an vier Straßen grenzendes längliches Viereck und besteht aus zwei Abtheilungen, welche durch einen Querflügel getrennt sind. Sie hat zwei Eingänge von der Potsdamer Straße aus. Der eine, der Haupteingang, führt nach dem kleinen Hofe, der andere in die Dienstwohnung des Zuchthausdirectors Jeserich. Dem Haupteingange gegenüber führt eine steinerne Treppe in zwei Absätzen nach dem zweiten Stock hinauf. Die Zelle, welche sich auf dem zweiten Treppenabsatze unmittelbar links befindet, war Kinkel’s Isolirzelle. Diese erstreckt sich quer durch den Flügel von der Jüdenstraße nach dem Hofe und hat sowohl nach der Jüdenstraße als nach dem Hofe zu ein mit Eisenstäben versehenes Fenster. Das nach der Jüdenstraße führende Fenster ist von außen mit einem Blechkasten verwahrt, außerdem mit einem engen Drahtgitter und innerhalb mit einer aus zwei Flügeln bestehenden hölzernen Lade versehen, welche des Nachts mittelst eines Schlüssels verschlossen wird. Die Zelle selbst ist durch ein von der Decke bis zum Fußboden gehendes, aus starken, zwei Zoll von einander stehenden hölzernen Latten und hölzernen Querriegeln bestehendes Gitter in zwei Abtheilungen getrennt. Das Gitter hat eine ebenfalls aus Latten und Querleisten bestehende Thüre, welche nach der nach dem Hofe gerichteten Seite mit einem starken Schlosse versehen ist und während der Nacht verschlossen ward. Die Zelle hat nur den einen eben erwähnten Eingang von der Treppenflur aus und wird durch zwei mittelst verschiedener Schlösser verschließbare Thüren von starkem Holz verschlossen.
Nur zwei Wege gab es, Kinkel aus seinem wohlverwahrten Gefängniß zu befreien, entweder durch offene Gewalt oder heimlich durch List. Der erste Weg blieb außer aller Frage. Der zweite Weg war daher der einzige, welcher zum Ziele führen konnte. Er erforderte aber die Hülfe eines der Aufseher, welche Kinkel zu bewachen hatten. Die wichtigste und zugleich schwierigste Aufgabe war es, eine solche Hülfe zu gewinnen. Wie dies ohne Gefahr bewerkstelligen? Ein verfehlter Versuch konnte für immer die Sache zum Scheitern bringen. Die Vorsichtsmaßregeln wären verdoppelt und Kinkel wahrscheinlich in Ketten geschlagen worden, wenn die Behörde Kenntniß von dem Fluchtplan erhalten hätte. Man mußte also mit der äußersten Vorsicht zu Werke gehen. Es galt, einen der Aufseher zuvor für kleinere Dienstleistungen zu gewinnen, ehe man sich ihm [124] ganz anvertraute. Hatte er sich erst in strafbarer Weise compromittirt, so war die Gefahr des Verraths von seiner Seite, wenn man sich ihm schließlich entdeckte, auf das geringste Maß zurückgeführt. Der Verrath hätte die eigene Bestrafung des Verräthers zur Folge gehabt. Es gelang Schurz, den Gefangenwärter Brune, mit dem er zuerst Mitte October in der Nähe des Krüger’schen Hauses, später verschiedene Male auf dem Heinrichsplatze zusammentraf, zur Bestellung von Grüßen und später auch zur Ueberbringung von kleinen beschriebenen Zetteln und von Briefen zu bewegen. Schurz hatte sich die Zuneigung Brune’s gleich anfangs dadurch zu verschaffen gewußt, daß er sich ihm als speciellen Landsmann zu erkennen gab. Ersterer war nämlich aus Lieblar gebürtig, letzterer aus Sassendorf im Kreise Soest. Briefe Johanna Kinkel’s an ihren Mann und umgekehrt wurden demnächst durch Brune befördert. Dieselbe stand aber auch auf officiellem Wege mit Kinkel in Correspondenz. Diese ward freilich durch den Zuchthausdirector Jeserich beaufsichtigt, der die Briefe der Ehegatten persönlich auf’s Strengste controlirte. Dessenungeachtet enthielten dieselben manche werthvolle Mittheilungen, welche dem scharfen Auge des Herrn Directors entgingen. Aus eigener Erfahrung weiß ich, wie erfinderisch die Noth macht. Der Criminaldirector Bolte in Bützow, der sich einen scharfen polizeilichen Spürsinn zuzutrauen schien, wird bis auf den heutigen Tag nicht wissen, wie manche Briefe von verfänglichem Inhalt, welche ich schrieb oder empfing, durch ihn selbst befördert sind. Ich erinnere mich z. B., daß er persönlich mir den Brief brachte, in welchem mir, was damals noch ein strenges Geheimniß für mich sein sollte, die Verhaftung meines Bruders mit deutlichen, dem Criminaldirector freilich unverständlichen Worten mitgetheilt ward.
Nachdem in der angegebenen Weise der mündliche und schriftliche Verkehr zwischen Kinkel und der Außenwelt hergestellt war, konnte es nicht schwer fallen, mit demselben den Fluchtplan zu verabreden. Als dies geschehen war, blieb noch übrig, den Gefangenwärter Brune für den letzten entscheidenden Schritt zu gewinnen. Man konnte sich ihm jetzt ohne Gefahr anvertrauen. Er sicherte seine Unterstützung zu und hat sein Manneswort treu gehalten. Brune selbst legte später, als ihm der Proceß gemacht ward, das Geständniß ab, daß ein ihm unbekannter junger Mann – Carl Schurz –, der Rathsherr und Gastwirth Krüger in Spandau und ein oder mehrere ihm unbekannte Männer ihn zu dem Verbrechen verleitet hätten und daß ihm für die Ausführung desselben eine Belohnung von 400 Thalern versprochen und ausgezahlt sei. Aber noch im Laufe der Voruntersuchung nahm er die Angabe wider den Rathsherrn Krüger zurück, stellte in Abrede, daß er durch Bestechung gewonnen sei, und behauptete, daß er nur aus Mitleid mit Kinkel’s Familie die Befreiung unternommen habe. Die Geschworenen haben es verneint, daß Brune die ihm nach seiner anfänglichen, später widerrufenen Angabe versprochene Belohnung von 400 Thalern vorher wirklich erhalten habe. Einerlei, ob Brune die Belohnung erhalten, einerlei, wie groß dieselbe gewesen, gewiß ist, daß ihn nicht der in Aussicht gestellte Gewinn zu seiner That verleitet haben kann. Denn die Summe war jedenfalls kaum ein Aequivalent für das, was er aufgab. Seine Entdeckung war fast mathematisch gewiß und die Entsetzung von seiner Stelle die nothwendige Folge. Carl Schurz machte ihm das Anerbieten, mit ihm und Kinkel nach England oder Amerika zu entfliehen, wo man ihm und seiner Familie eine sorgenfreie Existenz bereiten wolle. Brune schlug dies aus. Wenn er auch sich selbst einem Andern zum Opfer bringen wollte, so durfte er doch seine Familie nicht dem Elende preisgeben. Darum wirft die etwa angenommene Belohnung keinen Schatten auf seine That. Das Gericht mußte ihn verurtheilen, der strenge Moralist wird die That als einen Amtstreubruch verdammen. Aber es giebt Handlungen, welche nicht vom bloßen Standpunkte des positiven Criminalrechts beurtheilt und nicht mit dem gewöhnlichen Maßstabe der Sittenkritik gemessen sein wollen. Brune ist einem höheren Pflichtgefühl gefolgt. Die hohe Geistes- und Gemüthsbildung Kinkel’s mußte in seiner Züchtlingskleidung und seiner jammervollen Lage einen um so mächtigeren Eindruck auf seine Umgebung, die gewohnt war, fast nur mit dem Auswurf der Menschheit zu verkehren, hervorrufen. Ein solcher Mann konnte Brune nicht als ein Verbrecher erscheinen, sondern nur als ein ungerecht Verfolgter, der aller Wahrscheinlichkeit nach in wenigen Jahren den Leiden der Haft erlegen sein würde, wenn nicht rechtzeitige Hülfe kam. Von ihm hing es ab, dem Jammer und Elende, das er täglich vor sich hatte, ein Ende zu machen, einen lebendig Begrabenen zu erlösen, den Gatten der Gattin, den Kindern den Vater, den Freunden den Freund zurückzugeben und unzählige Thränen zu trocknen. Alles dies bestimmte seine Handlungsweise. Die Liebe zu den Menschen stand ihm höher als seine Amtspflicht. Er wußte, daß er, ein unbedeutender geringer Mann in seiner socialen Stellung, den Zorn der Mächtigen auf sich laden würde, daß ihm eine langjährige harte Freiheitsstrafe in Aussicht stände. Dennoch wollte er nicht mit entfliehen, er wollte die Folgen der Verantwortlichkeit für seine That auf sich nehmen. Er opferte sich selbst, um einen Anderen zu retten. Ich habe nur Worte der hochachtenden Bewunderung für diesen Mann. Das deutsche Volk wird ihn in Ehren halten: er hat dem Vaterlande einen seiner besten Söhne und Patrioten und der deutschen Wissenschaft und Kunst einen ihrer würdigsten und begabtesten Jünger erhalten.
Am 10. October 1857 war in Laibach ein k. k. Förster gestorben, und fünf Jahre später setzte man in der Kaiserstadt Wien demselben Manne, der es im Leben nie über eine untergeordnete Dienststellung hatte bringen können, ein Monument, wie man sie nur den Großen der Erde errichtet, und die Enthüllung desselben erhob den 18. Januar 1863 zu einem Festtag, wie sie nur für Wohlthäter der Menschheit gefeiert werden.
War der Gefeierte Eines von Beiden? – Die Gegenwart muß mit tiefer Scham gestehen: er war Beides. Er war Beides und hat durch Beides für sich Nichts errungen, als im Leben das Loos eines deutschen Erfinders, und nach seinem Tode dieses Denkmal.
Joseph Ressel ist der Erfinder des Schraubendampfers, der im Seewesen, insbesondere im Seekriegswesen, eine neue Epoche begründete und eine ganze Reihe neuer Erfindungen und Verbesserungen im Schiffbau, bis zu Monitor und Merrimac herab, erst möglich machte; ferner erfand Ressel die atmosphärische Briefpost, die in der Vollkommenheit seiner Darstellung bis jetzt ebenso wenig zur Ausführung gekommen ist, wie das Schraubendampfschiff. Diese beiden Erfindungen sind jedoch nur die durch ihre englische und französische Ausbeutung am berühmtesten gewordenen Thaten seines großen Geistes. Wir stehen geradezu erschüttert vor den Zeugnissen der riesigen Fruchtbarkeit und Kühnheit desselben, wir müssen die Jahrzahlen seines Lebens wiederholt genau ansehen, um die häßlichen, widerlichen Hemmschuhe seiner Thätigkeit nicht in früheren Jahrhunderten zu suchen; aber leider ist es und bleibt es so: es hat ein Mensch mit uns gelebt, in dessen Kopf Erfindung sich an Erfindung reihete, jede sofort lebensfähig und kräftig ausgebildet, jede ein Werk des ernsten, rastlosen Nachdenkens, keine ein wohlfeiles Kind des Zufalls, die Mehrzahl hervorgerufen von dem mit wissenschaftlicher Klarheit ausgesprochenen großen Gesammtgedanken: „sämmtliche Naturkräfte der Herrschaft des Menschen durch die Macht des Genies zu unterwerfen“ – und eine wie die andere von seinen Zeitgenossen entweder ignorirt, oder nur beachtet, um vom Inland belächelt, vom Ausland geraubt, von der eigenen Regierung als unnütze eder unbequeme und störende Projectenmacherei zurückgewiesen oder gar von einer allzuväterlichen Polizei unterdrückt zu werden. Ja, es giebt noch Märtyrer, nur in den Kirchen suche man sie nicht mehr, sondern in den stillen Werkstätten solcher Erfinder, an denen Unkenntniß, Gleichgültigkeit, Neid und Hochmuth vornehm vorübergehen, bis das Ausland, mit den Millionen des Gewinns aus ihren Werken in der Hand, hohnlachend auf sie hinweist, um [125] den thörichten Michel höchstens zu einem neuen Denkmal zu begeistern.
Joseph Ressel’s Erfindungen sind nur zum kleinsten Theile bekannt geworden, da nur wenige zur Ausführung oder durch Patentirung wenigstens dem Namen nach in die Oeffentlichkeit kamen, die meisten und großartigsten handschriftlich in seinem Pulte der Auferstehng harrten. Es möge hier genügen, nach der Angabe öffentlicher Blätter und insbesondere Dr. Reitlingers (in seiner Festschrift zur Enthüllungsfeier des Ressel-Denkmals in Wien) die vorzüglichsten namentlich aufzuführen. Sie sind: ein neues und einfaches horizontal wirkendes Windflügelrad mit vertical stehendem Wellbaume, welches stets in Thätigkeit sein kann, ohne Rücksicht auf Stärke und Richtung des Windes; neue einfache Zapfenlager für Maschinen und Wagenachsen, um die Reibung auf ein Minimum zu reduciren; ein Schiff, welches mit der eigenen Kraft des abwärts fließenden Wassers, ohne Ruder, ohne Dampfmaschine, ohne Pferdezug, stromaufwärts fahren kann (1826 patentirt); eine Walzmühle zur Vermahlung des Getreides (1827 patentirt); ein einfacher Apparat, um aus den geeigneten Vegetabilien den Farbe-Gerbstoff zu ziehen und die Extracte in einen festen Zustand zu verwandeln (1829 patentirt); eine Presse mit Schrauben ohne Mutter zur Auspressung von Oliven etc. (1842 patentirt); eine neue Kanonenlaffete für Kriegsschiffe, um die Erschwerung der Seitenwände beim Rückstoß der Geschütze zu beseitigen; eine neue Boussole, welche unter jedem Längen- und Breitengrade, sowie unter jedem fremdartigen magnetischen Einfluß unverändert bleibt. Außer diesen und vielen anderen Erfindungen verbesserte er ferner noch das Lederzeug der Soldaten; er gab dem Bauer einen neuen Pflug, dem Salzmonopole eine billigere Salzgewinnung, lieferte Surrogate für das Schiffbauholz; ihm verdankt man die neue Bewaldung Istriens, er sorgte für die Entwässerung von Sümpfen und bot die Mittel zur Bewässerung der Sandebenen Aegyptens. Und wie er durch seine Einrichtung der Schraube das Kriegsschiff mit der Gewandtheit eines Ringers ausrüsten wollte, der am eigenen Platze sich wenden könne, so schreckte er auch nicht vor dem Gedanken zurück, einen Mechanismus herzustellen, um die Wasserkräfte in die Entfernung zu leiten und durch richtige Vertheilung ihrer Wirkung den Naturkräften in einem Lande den höchsten Werth zu verleihen. – „Ein Füllhorn des Segens und Reichthums hätte Ressel über Oesterreich ausgießen können“ – so ruft Reitlinger aus – „aber was fehlte, daß ein Ressel seinem Vaterlande eine eben solche Vermehrung seines National-Reichthums verschafft hätte, wie Watt und Stephenson dem ihren? – Englische Verhältnisse!“ –
Wie Joseph Ressel unter den deutschen, oder vielmehr den österreichischen Verhältnissen seiner Zeit elend zu Grunde ging, ist mit wenigen biographischen Worten angedeutet.
Ressel wurde im Jahre 1793 zu Chrudim in Böhmen von deutschen Eltern geboren. Er genoß das für ihn doppelt wichtige Glück einer wissenschaftlichen Vorbildung, mit der er einen theoretischen und praktischen Cursus des Land-Artilleriewesens verband, um sodann 1812 die Universität Wien zu beziehen. Hier waren Mechanik, Physik und Chemie seine Hauptstudien. Als aber nach zwei Jahren seine Eltern das Mißgeschick der Verarmung traf, mußte Ressel sich nach einem früher versorgenden Berufe umschauen; durch die besondere Vergünstigung eines kaiserlichen Kammerdieners erhielt er eine Freistelle an der Forstanstalt zu Mariabrunn und zeichnete sich hier so aus, daß er schon 1817 zum Districtsförster von Platerjach in Krain ernannt werden konnte. Von da wurde er im Jahr 1821 als k. k. Waldmeister nach Triest versetzt, der Stadt seines großen Wirkens und seiner bitteren Leiden.
Schon als Student, im Jahr 1812, hatte Ressel in der archimedischen Schraube eine neue Bewegungskraft erkannt und die Construction der Propellerschraube in einer Zeichnung dargestellt. In Triest sollte sie zur ersten Anwendung kommen; in der That, an einen günstigeren Ort konnte das Geschick Ressel nicht führen, wenn es auch die rechten Menschen für ihn dort hingestellt hätte. Diese waren jedoch so rar, daß Ressel erst nach fünf Jahren den aufopfernden Mann fand, der die Kosten einer Schraube, d. i. die Summe von 60 fl. (sechzig Gulden) daran wagte, – so vorlaut hatte sich in Triest bereits der Spott über die neue Sache ergossen. „Will er mit der Schraube das Meer anbohren?“ fragte man, man verlachte Ressel’s schöne Vorstellung vom Wasser als Schraubenmutter; ja selbst das, wodurch das schon oft angeregte Problem des Schraubenschiffes erst gelöst, erst zur wirklichen Erfindung erhoben wurde, Ressel’s Gedanke, für die Schraube einen neuen besonderen Raum am Hintertheile des Schiffs zwischen den Hintersteven und dem Steuerruder (jetzt Propellerbrunnen genannt) zu schaffen, ward nicht begriffen.
Endlich konnte mit einem kleinen Boot der erste Versuch gemacht werden, wobei die Schraube zwar nur von zwei Männern in Bewegung gebracht wurde, aber dennoch bewährte sich die Erfindung; [126] verlacht wurde sie nicht mehr, aber für eine Spielerei erklärt. Trotzdem nahm Ressel im Jahr 1827 ein Privilegium auf dieselbe und suchte sie nun im Großen zur Geltung zu bringen, und zwar mit Hülfe einer zu gründenden Gesellschaft. Da trat ihm die Triester Polizei entgegen, weil ein Engländer, Morgan, das Privilegium der Dampfschifffahrt zwischen Triest und Venedig besaß und dasselbe durch Ressel’s Plan gefährdet werden könne. Ein dem Vicekönig von Aegypten übersandtes Probeboot hatte nur den Erfolg, daß derselbe zwar vier Schraubenschiffe zu je 30 Pferdekraft bestellte, aber ohne die Mittel zum Bau derselben zu verwilligen. Endlich ließ sich ein reicher Triestiner Großhändler, Ottavio Fontana, herab, mit Ressel einen Vertrag über den Bau eines Schraubendampfers, jedoch blos von 6 Pferdekraft, abzuschließen. Der abermalige Eingriff der Polizei konnte in Wien nur durch die Zusage beseitigt werden, daß „die Sache ganz inländisch sein solle,“ d. h. daß nicht nur Schiff und Schraube, sondern auch die Dampfmaschine in Oesterreich gebaut sein müsse. – Schiff und Schraube waren längst fertig, aber auf die Dampfmaschine ließ das Gewerk St. Stephan bereits ein halbes Jahr vergeblich warten. Darüber kam das Jahr 1829 herbei. Da indessen durch einen Herrn Bauer (nicht mit unserm Wilhelm Bauer zu verwechseln), den Ressel in das Geheimniß eingeweiht hatte, Verbindungen mit den Franzosen angeknüpft waren, um die Schraube in der französischen Schifffahrt einzuführen, so sandte Fontana, um aus dem Privilegium den möglichsten Nutzen zu ziehen, Ressel nach Paris zum Abschluß eines Vertrags. Wirklich gelang die Probe der Schraube auf dem großen Canal beim Elephanten in Paris so ausgezeichnet, daß die drei Herren Picard, Malar und Rivier sich sofort ein Privilegium für sich geben ließen. Der ehrliche Deutsche war betrogen. Erzürnt wandte sich nun auch Fontana von ihm ab, und so saß Ressel in Paris ohne die Mittel, in die Heimath zurückzukehren. Da nahm sich ein vierter französischer Betrüger seiner an: ein Herr Messonier erfuhr, daß Ressel eine neue Art der Farben-Extraction erfunden habe; sofort bewog er ihn, ihm eine Fabrik nach der neuen Methode einzurichten. Und abermals ging Ressel, der sich nun einmal, wie alle wahren Genies, nicht abgewöhnen konnte, Treu und Glauben auch bei Andern vorauszusetzen, in die Falle. Die Fabrik mußte, das konnte Messonier sofort berechnen, einen jährlichen Gewinn von 30,000 Fr. abwerfen, und darum nahm auch er ein Privilegium für sich und speiste den Erfinder mit einer Summe von 1000 Fr. ein für allemal ab.
So kam Ressel nach Triest zurück. Nur widerwillig und erst von Wien aus dazu bewogen ging Fontana, nachdem endlich die Dampfmaschine angekommen war, an die vertragsmäßige Herstellung des Schiffs, mit dem die erste große Probefahrt geschehen sollte. Diese fand im Hochsommer 1829 statt. Das Schiff, „Civetta“, 60 Fuß lang, 11 Fuß breit, 6 Fuß hoch, legte, sobald die Schraube, welche 5 Fuß Spannung und 45 Grad Inclination hatte, in Bewegung gesetzt war, in wenigen Minuten eine halbe Seemeile zurück, schon mit 6 Pferdekraft war die Geschwindigkeit auf 6 Seemeilen per Stunde gesichert, – Alles jubelte dem glücklichen Ressel zu, – da – schmilzt von der elenden Dampfmaschine eine Röhre, das Schiff steht still, – und verloren ist für Oesterreich, für Deutschland, für Ressel die große Erfindung, denn nun verbietet die Triester Polizei alle weiteren Versuche, gleichzeitig erfahren Morgan’s Ansprüche eine neue Beachtung, und Fontana, froh seines Contractes ledig zu werden, stimmt mit dem gesammten Triester Publicum in den unsterblichen Schluß ein: „Weil von den drei Bestandtheilen, Schiffskörper, Schraube und Dampfmaschine, diese letztere gebrochen und die Schraube unverletzt geblieben ist, so ist die Schraube zum Betrieb der Dampfschifffahrt untauglich.“ – Es ist unglaublich, aber es ist so: dabei blieb’s! – Vergeblich processirte der arme Erfinder mit dem reichen Großhändler, er sank immer tiefer in Kummer und Noth und mußte sich endlich drein ergeben, todt geschwiegen zu werden. Ja, er war nunmehr seinen Oberbehörden sogar als unruhiger Projectenmacher verdächtig, erfuhr mannigfaltige Versetzungen und endlich die Versetzung – in Disponibilität, bis er im Jahr 1848 sich durch die Rettung des außerhalb Venedigs verbliebenen Theils der kaiserlichen Flotte für Oesterreich wenigstens verdient genug machte, um, bei der Reorganisation der österreichischen Marine, als Marine-Forst-Intendant (mit 800 fl. Besoldung) wieder angestellt zu werden.
Vorher, schon im Jahre 1840, erlebte er noch den freilich traurigen Triumph, auf der Rhede von Triest das erste große englische Schraubendampfschiff zu sehen, das nach seiner Erfindung von Engländern gebaut war. Daß man aber in England selbst den Einführer der Schraube, Smith, nur für den Verbesserer, nicht für den Erfinder derselben hielt, dafür spricht die Thatsache, daß im Jahr 1852 die englische Regierung einen Preis von 20,000 Pfd. Sterl. für Denjenigen ausschrieb, welcher der Erfinder der Propellerschraube sei und dies beweisen könne. – Ressel säumte nicht, noch im November 1852 diese Beweise durch Einsendung aller seiner Schriften und Documente auf officiellem Wege an die englische Admiralität zu liefern; – aber der Hohn sollte sich noch auf sein Grab setzen: die englische Prämie erhielten fünf Engländer, deren Namen die Admiralität nicht einmal bekannt machte; Ressel’s Papiere aber waren „verloren gegangen“! – Nur das eine Glück ward ihm, daß er diese letzte Kränkung nicht mehr erlebte. Um so eindringender sprechen nun die Worte zu uns, mit denen er seine Schrift „die Geschichte der Schraube im Vaterlande“ schloß: „So tragisch endete in ihrem Vaterlande die nämliche Schraube, welche jetzt nicht nur auf fremdem Boden, sondern auch in der k. k. Kriegsmarine großartig aufwächst. Der Erfinder und das Vaterland haben keine Ehre davon, und die Geschichte ist belogen!“
Warum wir diese Leidensgeschichte Joseph Ressel’s mit dem Bildniß Wilhelm Bauer’s schmücken? – Weil Deutschland nahe daran ist, zu Ressel’s Schicksal in dem Bauer’s ein Seitenstück zu liefern. Der bisherige Lebensgang des Letztern ist dem des Erstern in vielen Stücken, namentlich in den Erfahrungen mit Regierungen, Engländern und Franzosen, zum Erschrecken ähnlich, – und leider hat das für sein Vaterland so schmachvolle Schicksal Ressel’s noch immer nicht vernehmlich genug zum deutschen Volk gesprochen. Noch immer will man im Volke, ja selbst im Schooße des Nationalvereins, nicht bis zu der Einsicht vordringen, daß es allerdings Erfindungen giebt, deren Pflege und Ausführung nicht dem Privatcapital zu überlassen sind, sondern die ihrer Großartigkeit, Kostspieligkeit und – Einfachheit wegen von den Regierungen oder, wo diese nicht die Hand bieten, von der Nation in die Hand genommen werden müssen. Auf derselben Höhe des Werths wie die Eisenbahnen, die Telegraphen und das (hauptsächlich Kriegszwecken dienende) Schraubenschiff steht die unterseeische Schifffahrt, die Taucherkammer, die auf diese basirende Kabellegung im Weltmeer, sammt den Kabelstationen, sowie endlich die durch Bauer zu ihrer bis jetzt höchsten Entfaltung gebrachte Luftschifffahrt – aber man belächelt dies Alles so geistreich, wie die Triestiner die Schraube, trotzdem für alle Apparate Bauer’s Watt’s Ausspruch gilt: „Wie schwer muß es doch gewesen sein, diese Maschine zu erfinden, da sie so einfach ist!“ – Ja, schließlich tritt bereits sogar die Triestiner Logik gegen Bauer auf, denn: „weil die nöthige Summe zur richtigen Herstellung der Apparate zur Ausführung der Bauer’schen Erfindungen so schwer zusammen zu bringen ist, so – taugen seine Erfindungen nichts!“ – Bis heute, nach fast zwölfmonatlichem Sammeln, sind von 45–50 Millionen Deutscher kaum 8000 Thaler für W. Bauer zusammengebracht, das Ausland greift bereits nach den allzu vertrauensvoll veröffentlichten Erfindungen Bauer’s – und die Geschichte kann abermals belogen werden, abermals kann eine Ehre des Vaterlandes mit der des Erfinders verloren gehen, wenn die Nation es nicht besser will!
In holder Abwechselung kroch nun die besagte Schlange über die vom Prinzen Colibri eben verlassene Bühne, ihrem Kasten zu, sodann erschien, auf dem Arm getragen, ein Krokodil, und dann wieder einmal etwas Menschliches, nämlich eine Somnambüle. Sie somnambülte ganz gut, und mein Nachbar, wie es schien ein Schneidergeselle, bekam großen Respect vor ihr. Auch sie vertheilte,
[127] natürlich nicht umsonst, die üblichen gedruckten Zettel, aus denen der Empfänger mit Erstaunen ersieht, daß ihm schon einiges Unangenehme passirt ist, daß er sich vor einigen Menschen zu hüten, aber auch etwas Angenehmes zu erwarten hat.
Auf das dringende Verlangen des Publicums nach der so pomphaft angekündigten Thierbändigung durch ein vierjähriges Mädchen erschien endlich das Wunderkind, welches sich bis dahin auf der Straße herumgetrieben, aber offenbar keine Zeit gehabt hatte, sich zu waschen. Sie wurde in den von Bretern gebildeten furchtbaren Zwinger gehoben, setzte sich auf die Hyäne, die sich aber in ihrem Schlaf nicht stören ließ, gab dem Wolf einen Klaps, und aus war die Vorstellung.
Konnte man für einen Neugroschen mehr verlangen? Und doch waren Manche unzufrieden und sprachen von Schwindel; die anspruchsvollen Menschen!
Es würde jedenfalls viel zu weit führen, wollte ich nun in gleicher Weise noch alle übrigen derartigen Künstler schildern, denn sie sind in ihrer Verschiedenheit außerordentlich zahlreich. Doch eine weitere Art davon kann ich nicht ganz übergehen. Es sind die Wahrsager von Profession, nämlich die, welche blos wahrsagen. Versteht ein solcher seine Kunst recht, d. h. kann er, natürlich immer mit dem nöthigen Ernst, wo möglich immer etwas Anderes sagen, und versteht er aus dem äußern Ansehen der betreffenden zukunftsbedürftigen Person einige Schlüsse zu machen, so kann ihm eine gute Einnahme nicht fehlen, selbst wenn er es nicht lassen kann, mitunter einen Witz, natürlich auch nur mit ernster Miene, dazu zu machen. Einer dieser Straßenpropheten unterließ es fast nie, seine Prophezeiung mit den Worten zu schließen: „Kinder bekommen Sie mehr, als Sie brauchen“, oder auch: „Kinder bekommen Sie, drei Knaben und zwei Mädchen für einen Neugroschen“ (so viel betrug die Bezahlung für die enthüllte Zukunft). Seine moralische Gesinnung bewies dieser Prophet auch dadurch, daß er junge Mädchen, bei denen er dies für nöthig hielt, häufig warnte, sich ja nicht, d. h. zum Bösen, verführen zu lassen.
Für ein wesentliches Erforderniß eines erfolgreichen Kunstbetriebs werden von den reisenden Künstlern stets gute Schilder, d. h. außen aufgehangene Gemälde, gehalten, an denen sie es denn auch fast nie fehlen lassen. Denn selbst wenn sich der von ihnen gezeigte Gegenstand gar nicht dazu eignet, bildlich als Lockmittel zu dienen, wie z. B. Stereoskopen, die ja eben blos Bilder sind, so wird doch irgend ein fesselndes Bild, gleichviel welcher Stoff, außen aufgehangen. Besonders sind dazu orientalische oder antikclassische Seenen beliebt. Freilich versteigt sich aber auch die Kenntniß der Malerei bei unsern Künstlern meist nicht über den Horizont eben der Schilder. Als ich einst bei einer reisenden Bärenführergesellschaft ein Kameel zeichnete, hörte ich Jemand hinter mir fragen: „Zu was macht denn der Mann das?“ „Nun,“ antwortete der Sohn der Besitzerin, welcher außerdem auch noch der „Bärenbändiger“ war, „wenn er emal ens uf e Schild zu malen hat, da hat er’s doch gleich.“
Wie schnell übrigens das Malen dieser Schilder von Statten geht, glaubt man kaum. Ich habe eigentlich noch nie den Entstehungsort derselben kennen lernen, und solche Orte muß es doch irgendwo geben, aber zufällig sah ich einst in einer Menagerie ein solches Bild, eine große Eisbärenjagd à la Biard malen. Der Künstler war wahrscheinlich verschrieben worden; er malte das große nach Ellen messende Bild in zwei Tagen, sang dabei vortreffliche Arien und schien nie in Zweifel über die zu wählenden Farbentöne zu sein, so schnell wurde die Arbeit gefördert.
Etwas Rührendes hat es, wenn man auf diesen Schildern manchmal längst vergessene Compositionen von eigener Hand wieder auftauchen sieht, denn die betreffenden Künstler sind da gar nicht heikel, sie fragen nicht nach Eigenthumsrecht u. dgl., was ihnen gedruckt vorliegt, gilt für vogelfrei, und der Trost, daß die Schöpfung populär geworden, mag den ursprünglichen Schöpfer dafür entschädigen, daß sie, wenn auch vergrößert, doch nicht verbessert wurde.
Das Aushängen von Schildern und das energische Ausrufen sind es aber keineswegs allein, was zum Anlocken der Besucher dient; da giebt es noch allerlei Nebenmittel. Bei einer Menagerie werden natürlich möglichste Massen des zu verschlingenden Fleisches ausgelegt, nebst angeketteten Affen, Papageien u. dgl., während sich Gymnastiker und ähnliche Künstler gewöhnlich erst selbst dem Publicum noch vor der Vorstellung zeigen. Manchmal passirt den Leuten das Unglück, daß sie als Lockmittel, welches doch auf viel Schöneres schließen lassen soll, gerade das Interessanteste am Eingange ausstellen. So war auf der letzten Leipziger Messe von einer Thiergesellschaft, aus einem jungen noch kindlichen Bären, einer alten blinden Hyäne, zwei alten Affen und einem jetzt überall gezeigten Maskenschwein bestehend, gerade der lebenslustige Bär außen angebunden (hoffentlich nicht als üble Bedeutung), und drinnen war die ganze Neuigkeit, daß man erfuhr, die Hyänen wachsen bis zum zwölften Jahre und werden dann blind.
Auch manche Kunstreitergesellschaften lassen ihre activen Mitglieder vor der Vorstellung dem Publicum sich zeigen, wie dies z. B. die Gesellschaft Reimschüssel that. Bei dieser Gesellschaft habe ich mir übrigens einst ein nicht ganz geringes Verdienst erworben. Es war gerade in der ersten Zeit des russisch-türkischen Krieges, als dieselbe ihre Vorstellungen in Leipzig gab. Da mir die Vorstellungen zu wenig Abwechselung zu haben schienen, so gab ich einem der Chefs den Rath, er solle doch eine Episode aus besagtem Kriege darstellen. Die Niederlage der Russen an der Donau war damals noch in frischem Andenken, ich schlug als Einleitung eine Haremsscene vor, welche dann durch Russen, die die Odalisken begehrten, gestört werden sollte, und woraus sich endlich der allgemeine Krieg mit schließlicher Niederlage der Russen zu entwickeln hatte. Leider wurde der erste Theil des Vorschlags nicht acceptirt, immerhin sah ich aber noch zu meiner großen Genugtuung, wie trotzdem das neue Stück fast täglich vor zahlreichem Publicum gegeben wurde, wobei denn die neugebackenen Türken nie versäumten, sich vor der Massacrirung der Russen dem außenstehenden Publicum zu zeigen.
Ein nicht zu verachtendes Hülfsmittel, um die Leute anzulocken, ist es auch, aus dem Innern der Bude oder des Zeltes fabelhafte Töne erklingen zu lassen. Das Blasen auf Muscheln ist schon etwas zu abgedroschen, es will nicht mehr ziehen. In einer Menagerie ist es deswegen sehr wichtig, wenn die Löwen das Brüllen recht verstehen, es lockt das oft mehr als alles Anpreisen. In einer jüngst in Leipzig gewesenen Menagerie mußte daher ein Bär die Stelle des gerade fehlenden Löwen vertreten, es wurde ihm, wenn außerhalb der Bude sich Publicum versammelt hatte, so lange mit einer eisernen Stange zugeredet, bis er endlich den Zweck seines Daseins erfüllte und durch schmähliches Brüllen die Leute draußen von seinem wirklichen Dasein überzeugte. Es liegt darin ein tiefer Sinn. Denn man kann es Niemandem verdenken, wenn er auf die außen gemalten Jagden und auf die unendliche Aufzählung der drinnen zu schauenden Thiere Nichts mehr giebt; das gläubige Gemüth ist zu oft angeführt worden, es will also ein sicheres Zeichen, und als das kann immerhin noch das Brüllen eines Thieres angesehen werden.
Eine schlimme Situation für die Betheiligten ist es übrigens, wenn, was gar nicht selten vorkommt, dieselbe Kunstbranche oder derselbe Gegenstand zu gleicher Zeit von Mehreren gezeigt wird, und wenn vollends solche Concurrenten durch die Tücke des Schicksals, welche sich da gern hinter die Behörden steckt, nebeneinander placirt werden. Ein solcher Fall kam kürzlich vor. Drei Riesinnen, darunter sogar eine schwarze, waren unmittelbar nebeneinander aufgestellt, und natürlich blieb nur die eine die Siegerin. Auch ich saß zu ihren Füßen und staunte. Daß sie, wie selbstverständlich, auch somnambülte, erwähne ich nur als Beispiel, daß dazu keineswegs eine schwächliche Natur und ein langes Kleid unumgänglich nöthig sind. Die Hauptsache blieb immer ihre imposante Erscheinung, die einen Herrn sogar so weit hinriß, daß ihn seine Stimmung die Bank, auf der er saß, noch nicht niedrig genug finden ließ. Eine andere Riesin, welche übrigens nicht mehr zu jung war, tanzte sogar, und als liberale Französin erlaubte sie den Zweifelnden, sich durch das Gefühl zu überzeugen, daß sie nicht ausgestopft sei.
Bei der großen Concurrenz auch unter den wandernden Künstlern ist natürlich immer der im Vortheil, welcher „Etwas noch nicht Dagewesenes“ bringt. Als daher in Leipzig von der Schauspielergesellschaft Magnus „der geschundene Raubritter“ aufgeführt wurde, wobei dem Publicum erlaubt war, hineinzureden und die Schauspieler während ihres gewiß anstrengenden Spieles mit Bier, Apfelsinen, Würstchen und dergleichen zu erquicken, so war dies in der That etwas ganz Neues, und der Zulauf, aber auch in Folge davon der Scandal so ungeheuer, daß die Wiederkehr von den Vätern der Stadt untersagt zu sein scheint.
[128] Dagegen dürften keine derartigen Bedenken gegen die Wiederkehr einer Künstlergesellschaft vorliegen, welche sich auch kürzlich als „noch nicht dagewesen“ producirte. Im Gegentheil kann es dem Publicum nur stets zur moralischen Genugthuung gereichen, wenn es endlich einmal Individuen im Schweiße ihres Angesichts arbeiten sieht, welche es, obgleich dieselben mit großer Kraft und Ausdauer begabt sind, nur als Schmarotzer zu kennen gewohnt ist. Mich wenigstens beschlich ein süßes Rachegefühl, als ich hier mehrere Mitglieder der weitverzweigten Familie Floh theils an kleine Droschken, Rüstwagen oder Schubkarren gespannt und dieselben ziehen resp. schieben, theils von ihnen ein Caroussel in Bewegung setzen oder sie aus dem Seile gehen sah. Sie können also auch arbeiten, warum thun sie das nicht immer? diese Frage drängte sich gewiß manchem Beschauer auf.
Denjenigen wandernden Künstlern nun, welche nicht das Glück haben, etwas Neues bieten zu können, bleibt immer noch der Ausweg, etwas Altes für eine Neuigkeit auszugeben. Da die Behörden dem Erfindungstalente dieser Künstler einen nicht genug anzuerkennenden Spielraum gewähren, so wäre es undankbar diesen nicht zu benutzen. So läßt man z. B., wenn man gar nichts Besseres weiß, schnell einen Seehund aus der Handelsmenagerie von Hagenbeck in Hamburg kommen, der immer einen Bottich voll hat. Ein solcher Seehund ist ungeheuer brauchbar, er kann gezeigt werden als Seepferd, Seelöwe, Seebär, Seekuh, Wallroß, Eisroß, Seeweib, Seedrache, Seetiger, kurz die Reihe der Namen ist unerschöpflich, zu denen sich ein gemeiner deutscher Seehund eignet. Aehnlich ist es mit den neuerdings erfundenen Maskenschweinen, sie gelten als Elephanten-, Rhinoceros-Schweine, wobei letzteres Wort aber möglichst verschluckt wird.
Es giebt Leute, welche über solchen Schwindel, wie sie es nennen, sich ärgern können, und ich erinnere mich z. B., daß ein Herr einst einem solchen armen Künstler, weil derselbe einen starken Ziegenbock als Alpen-Steinbock zeigte, die fürchterlichsten Vorwürfe machte. Der seltsame Mann! wenn er wußte, wie ein Alpen-Steinbock aussieht, mußte er auch wissen, daß man einen solchen nicht für einen Silbergroschen zeigt. Das Entree ist überhaupt gewöhnlich der beste Maßstab dafür, ob das zu Schauende von ernster oder heiterer Seite aufgefaßt sein will. Grollen wir daher diesen Anfängern unter den wandernden Künstlern keineswegs, und wünschen wir im Gegentheil einem Jeden, daß er so weit komme, um, wie die Kunstreitergesellschaft Suhr und Hüttemann, 1 Thr. Entree nehmen zu können.
Eine Häuser-Fabrik. Wer von Stuttgart aus einen Ausflug nach der berühmten landwirthschaftlichen Akademie zu Hohenheim unternimmt, dem kann das rege Leben und Treiben nicht entgehen, das sich auf den hart an die Straße anstoßenden kolossalen Bauplätzen entfaltet; wer aber näher herangeht, falls ihn nicht der „verbotne Eingang“ oder die Stentorstimme des Portiers zurücktreibt, und nun gewahr wird, wie hier Massen von Steinen behauen, dort Balken zugerichtet werden, dort der Ambos von kräftigen Schlägen ertönt, dort die Feile des Schlossers schrillt, in allen Ecken und Enden der umliegenden Gebäude sich Hunderte geschäftiger Hände regelt, und das Gewerbe in allen seinen Gestalten hervortritt, den wird, wenn man ihm sagt, daß das eine Häuser-Fabrik sei, ein um so größeres Verlangen ergreifen, diese in ihren Einzelnheiten näher kennen zu lernen, als ein solches Unternehmen, in dieser Ausdehnung wenigstens, vielleicht einzig bis jetzt auf dem Continent dasteht.
Fragen wir nach der Entstehung eines so originellen Etablissements, so ist diese in der mehr und mehr gesteigerten Baulust zu suchen, welche sich der würtembergischen Residenz zu dem letzten Jahrzehnt bemächtigte, und welche die dortigen Bauhandwerker nicht mehr entsprechend befriedigen konnten. So kam es, daß im Jahre 1858 die Herren Schöttle und Comp. einen Geschäftsbetrieb in’s Leben riefen, welcher den Zweck hatte, sowohl ganze Häuser, von der Grabarbeit an bis zur gänzlichen Vollendung, mittelst Selbstbetriebs für eigene Rechnung zum Wiederverkauf herzustellen, als auch für Rechnung Anderer Bauten und Baureparaturen aller Art, sei es auf Grund gemachter Angaben und vorgelegter Pläne, oder auf Grund selbstgefertigter Baubeschreibungen und Zeichnungen zu übernehmen, und entweder nach allen oder nach einzelnen Theilen durch eigenen Betrieb bis zur letzten Vollendung auszuführen.
Wie zu erwarten, erhob sich aus der Mitte der zünftigen Gewerbe ein lebhafter Widerspruch gegen Errichtung eines solchen Etablissements, die Centralstelle für Gewerbe und Handel aber setzte die Ertheilung der Fabrikconcession an die Unternehmer durch, weil es deren tieferer Einsicht nicht entging, daß gerade ein solches Unternehmen anregend und hebend auf die gesammten Baugewerbe einwirken müsse und dabei einem fühlbaren Bedürfniß abgeholfen werde. Und so hat auch die Erfahrung gezeigt, daß die Schöttle’sche Fabrik auf die Bauthätigkeit Stuttgarts den günstigsten Einfluß ausgeübt hat, und indem sie durch eine Reihe von Bauausführungen darthat, von welch günstigem Erfolge die ökonomische Herstellung zweckmäßig eingerichteter, mit anständigem Aeußern versehener Wohnungen begleitet sei und welchen Vorzug es verdiene, wenn ein Bauunternehmer nur mit einer Firma statt mit so und so viel einzelnen Gewerben es zu thun habe, rief sie ähnliche Unternehmungen von Seiten der zünftigen Gewerbsmeister hervor, welche nun stärker beschäftigt waren als früher.
Um nun auf die Organisation dieses weitschichtigen Geschäfts etwas näher einzugehen, so begeben wir uns zunächst, da man bei jedem Hausbau mit dem Riß beginnen muß, in das architektonische Büreau, wo man ein Personal, zahlreicher als bei mancher Baubehörde, vorfindet; hier werden die Baupläne nach jedem beliebigen aufgegebenen Baustyle selbst gefertigt, bezüglich aus einer auserlesenen Sammlung architektonischer Werke entnommen. Um aber auch die Bauunternehmer in den Stand zu setzen, sich die namentlich bei dem Ausbau, bezüglich der innern Decoration eines Hauses erforderlichen Materialien und Zuthaten selbst nach Belieben auswählen zu können, unterhält die Fabrik ihr eigenes Musterlager von meist englischen, französischen und amerikanischen Musterstücken, welches immer mit den neuesten Erzeugnissen auf das Vollständigste assortirt wird; darin finden wir namentlich ein ausgewähltes Sortiment von Papier- und Ledertapeten, Verzierungen an Thüren, Fenster, Treppengeländer, Thür- und Fensterbeschläge, Thürgriffe, Glockenzüge, alle Arten Schlösser und Schloßvorrichtungen, Ventilatoren für Zimmer, Oefen und Kamine, kurz alle zu dem erwähnten Zwecke gehörigen Requisiten. Außerdem aber sind noch dort, mehr um einen instructiven Ueberblick über die im Geschäft erforderlichen Werkzeuge zu geben, als für den eigentlichen Geschäftsbetrieb selbst, alle Arten Werkzeuge zu Erd- und Steinarbeiten, Hämmer, Bohrer, Schraubenzieher, Hobel- und Stemmeisen, Mauerkellen, gleichfalls nach den neuesten und zweckmäßigsten Modellen. An das architektonische Büreau schließt sich ein kaufmännisches, verbunden mit einer Magazin-Verwaltung, an.
Der technische Betrieb erfolgt zum größten Theil in der zu Stuttgart gelegenen Fabrikanlage, nur einige Branchen werden auswärts betrieben. Dies ist zunächst der Steinbruchbetrieb, welcher 5 Keuperbrüche, 4 Sandsteinbrüche und 1 Süßwasserkalkbruch umfaßt, ferner die Dampfsägerei, verbunden mit einem Holzlager und Zimmerplatz in der Nähe von Berg, bewegt von einer Dampfmaschine von 40–45 Pferdekraft, welche nicht allein große und kleine Kreissägen, sondern auch die zu den Zimmerarbeiten bestimmten 4 Maschinen treibt. Sodann gehört hierher noch eine gleichfalls auswärts befindliche Ziegelei, wo eine Dampfmaschine von 8–10 Pferdekraft sämmtliche hierzu erforderliche Maschinen treibt: dies sind 2 Lehmquetschmaschinen, 3 Backsteinmaschinen, von denen die größte in 10 Arbeitsstunden 20,000 Stück liefert, 2 Aufzüge, um die geformten Waaren in die oberhalb des Fabriklocals befindlichen Trockenräume und von da wieder zurück in die Oefen zu bringen. Weiter sind dort noch im Gange ein Pferdegöpelwerk zum Thonmahlen, 6 Ziegelöfen, je 15,000 Stück fassend, 2 Kalköfen, 1 Thonwaarenofen nach eigentümlicher Construction, eine Thon- und Sandmühle mit Staubmühle und andere Vorrichtungen, die wir, da hieraus schon der gewaltige Umfang des Geschäfts zur Genüge hervorgeht, nicht weiter anführen mögen.
Die Steinhauer- und Maurerarbeiten, die Zimmer- und Wagnerarbeiten, die Schlosser-, Schmiede- und Flaschnerarbeiten, die Schreiner-, Glaser- und Dreherarbeiten, die Maler-, Tapezierer- und Anstrichsarbeiten gehören gleichfalls zum Geschäftsbetrieb der Fabrik, und werden soweit thunlich in dieser selbst gefertigt; den verschiedenen Werkstätten jeder Branche stehen Arbeitsmeister vor. Sämmtliche in diesen Werkstätten erforderlichen Maschinen, von deren einzelner Aufzählung wir absehen, werden durch eine Dampfmaschine von 25 Pferdekraft getrieben. überdies werden, namentlich zum Transport von Baumaterial, noch 50 Pferde verwendet. Die durchschnittliche Anzahl der Arbeiter beträgt zu Sommerszeiten gegen 1500, im Winter etwa die Hälfte davon.
- ↑ Wir wollen nur ein Beispiel der französischen Gerichtspflege anführen. Am Tage vorher, am 17. Juni, hatte bei Ankunft eines Parlamentärs ein kleiner Zusammenlauf von Neugierigen stattgefunden und man hatte der Aufforderung, auseinander zu gehen, nicht rasch genug Folge geleistet. Einige übelberüchtigte Subjecte hatten sich sogar zu Thätlichkeit hinreißen lassen. Eine dazu niedergesetzte Commission verhängte über die Ruhestörer sehr strenge Festungs-, Zuchthaus- und Gefängnißstrafen. Die Stadt aber mußte zur Sühne, daß ein so furchtbares Verbrechen in ihren Mauern vorgekommen war, nur – 80,000 Thaler Contribution zahlen.
- ↑ „Schoten“ ist ein Kunstausdruck für die Taue am unteren Ende des Segels, mit welchen dieses am Boote befestigt wird.