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Die Gartenlaube (1864)/Heft 33

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[513]
Unter dem Bauernkittel.
Eine wahre Geschichte.

Ein Sonntag-Morgen auf dem Lande! – Wer seine Poesie nicht kennt, Worte würden sie ihm nicht schildern; wen er aber umfängt mit seiner Stille, seinem Frieden, er wird sie fühlen, wenn auch sonst seine Brust nicht so zugänglich ist den weichern Empfindungen. Sie schmiegt sich an ihn, ohne daß er’s will; sie bannt ihn in ihren Zauberkreis, ohne daß er es ahnt.

Einer von Jenen, die da weniger sinnen und träumen, sondern mehr denken und handeln, war der junge Mann, der eben aus dem schattigen Dunkel eines Eichenwäldchens trat, ehe er den Graben übersprang, welcher den Wald von den Feldern trennte, unwillkürlich stehen blieb und hier auf eines jener malerischen Dörfer schaute, wie sie das alte Westphalenland wohl einzig in der Art aufzuweisen hat.

Jedes Haus inmitten eines Garten- und Wiesengrundes, der stattliche Hof des reichen Bauern ebenso von alten Bäumen umgeben, wie die niedrige Lehmhütte des Armen mit dem moosbedeckten Strohdach. Jedes Eigenthum umzäunt mit den Hecken des Weißdorns oder kurzem dichtverzweigten Buchengestrüpp, in dessen tiefes Grün sich hier und da eine wilde Rose hineingeflochten, dort wachsend, blühend, erstanden unverhofft wie die Freude, schnell vergehend wie das Glück, das sich momentan zeigt und verschwindet !

Nach der rechten Seite des Dorfes, etwas weiter hin zu den vom höhern Gebirgszuge vorspringenden bewaldeten Hügelketten, die das Landschaftsbildchen umkränzten, da hinüber schweifte der Blick des jungen Mannes am Waldessaum. Dort lag auch ein von alten Linden umschatteter Hof, neben von blühenden Hecken umgrenzten Feldern und Wiesen. Es war ein Bild, ähnlich dem so vieler andern, die hier, wie Perlen aneinandergereiht, eine Kette bilden. Und doch, wie so ganz anders erschien dieser Punkt dem Beschauer! wie anders dieses dunkle Grün der Bäume, über welche der aus dem Hause aufsteigende Rauch blaue Nebelbilder wob; wie anders die Aehren dieser Felder, die Flächen dieser Wiesen, über denen hell der Sonnenglanz leuchtete! Und wie klopfte erst das Herz beim Anblick des weiß und licht ihm entgegenschimmernden Hauses, über dessen Giebel eine Schaar bunter Tauben flatterte! Dort, dort war seine Heimath, da stand’s, sein Vaterhaus, dies liebe Haus, dem er länger denn drei Jahre fern gewesen.

In langsam feierlichen Tönen zitterten die Klänge der kleinen Dorfglocke über das stille Bild des Friedens, über das so laut und mächtig zu ihm redende Bild seiner Heimath hin. Er bedeckte einige Secunden die Augen mit der Hand. Es war nicht, um besser hinweg sehen zu können über die vom Sonnenlicht überstrahlten Felder vor ihm. Als er wieder hinschaute, da war das Auge feucht, das vordem so freudig geleuchtet; da lag über dem ganzen, eben noch so lebendig erregten Gesichte eine Stille, eine Wehmuth, die man einige Minuten zuvor diesen Zügen nicht zugetraut hätte.

Wohl hatte der junge Mann eines jener Gesichter, die in lebendiger Treue jeden Eindruck des Innern wiederspiegeln; doch, nach dem Aeußern zu urtheilen, würde man sein Inneres gerade nicht so weicher Regungen fähig gehalten haben. Es war mehr ein ernster, charaktervoller Kopf, ein Gesicht, das starke Leidenschaften verrieth, ein Auge, das leuchtete, aufflammte und blitzte. Auch jetzt blitzte es in dem Auge – vorüber war der Schatten der Wehmuth, und fest und forschend wandte sich der Blick zurück in den Wald, wo heitres Lachen ertönte und eine andere Stimme hell aufjauchzte.

In der nächsten Secunde tauchte aus dem Waldesdunkel ein Paar auf, das Arm in Arm daherschritt. Beide trugen Westphalens Landestracht, und ihm stand der Rock von weißem Linnen, der schwarze, breitkrämpige Hut ebenso gut, wie dem jungen Mädchen das von silbernen Spangen gehaltene Mieder, der faltige Rock, das Häubchen mit den langen Bändern. Geradaus schritten sie dem Manne entgegen, der eben seine Heimath erschaut; sie sahen ihn auch in der nächsten Secunde und mußten ihn ebenso rasch erkennen, denn sie schrie laut auf: „Der Andreas!“ und er wiederholte erbleichend: „Wahrlich, der Andreas!“

„Heinz! Ilse!“ rief der junge Mann freudig, trat aber zurück, als zwei offenbar völlig verstörte Gesichter ihn anstarrten. „Was ist?“ setzte er hastig hinzu, und sein dunkelgebräuntes Antlitz entfärbten Angst, Schreck, Vermuthung.

Das junge Mädchen, das noch eben so herzlich gelacht, begann bitterlich zu weinen; sein Begleiter reichte dem Jugendfreunde die Hand und sprach ernst: „Willkommen, Andreas, wenigstens mir willkommen, Du weißt, ich hab Dich immer lieb gehabt.“

„Um Gottes Barmherzigkeit willen – im Namen aller Heiligen, was ist hier vorgefallen, was habt Ihr? ist – ist doch nichts – der Anne geschehen – oder sind meine Eltern gestorben? ist mein Bruder –“

„Niemand ist todt drüben im Hofe, Andreas! Doch sag’ mir erst, woher Du kommst, wie’s kommt, daß Du so plötzlich hier bist? Ich hörte, Du würdest noch lang abwesend bleiben.“

„Heinrich!“ entgegnete der Andere leidenschaftlich, „Heinrich, Du hast wohl den Verstand verloren, daß Du meinst, ich könne [514] Dir etwas sagen, etwas erzählen, wenn Du so bleich bist und die Ilse weint, als ob das Herz ihr brechen sollte? Was habt Ihr? sprich, Du weißt, ich bin sonst kein Hase, zittere aber jetzt am ganzen Leibe vor Todesangst und Pein! Heinrich, Ilse, sagt mir, was geschehen ist; denn ist auch Keiner todt dort im Hause, so doch wohl Jemand sterbenskrank oder – –“

Das Mädchen warf sich lauter schluchzend in das Gras und barg den Kopf tief in den Schooß; der junge Bauer aber nahm den heimkehrenden Freund am Arm und zog ihn fort von dem Platz mit sich in den Wald, indem er rief: „Warte hier auf mich, Ilse; bin ich jedoch in einer Stunde nicht wieder da, so gehe ruhig nach Hause.“




In Westphalen findet man bei den reichen Bauern und Hofbesitzern oft ebenso alte, sonderbare Statuten und Gesetze über Erbe und Erbrecht, wie bei der Aristokratie jenes Landes, das sich das Land der „rothen Erde“ nennt. So alt jener Name, so alt jene Gesetze. So beharrlich, wie Westphalens Volk seine schwarze Erde „rothe Erde“ nennen wird, wenn auch tausend Gelehrte und Nichtgelehrte den Bewohnern des Landes beweisen wollten, daß sie Unrecht haben, ebenso beharrlich werden sie festhalten am Wort und Gesetz ihrer Vorfahren und sich’s nicht nehmen lassen, es unverändert zu vererben auf Kind und Kindeskinder.

Eines dieser Gesetze unter den begüterten Familien jenes Landes ist: daß der älteste Sohn alleiniger Erbe des Gutes oder Hofes wird. Dies Statut hat im Bauernstande, ebenso wie in der Aristokratie, schon vielfach Jammer und Elend nach sich gezogen und ist der Fluch geworden für Manche; es hat Adel und Volk aber auch den Segen gebracht, daß ihre reichen Familien nicht verarmten und das Erbe der Väter, von Geschlechtern zu Geschlechtern übergehend, sich in ihnen erhalten hat und erhalten wird.

Zu einem der reichsten Bauern des alten Westphalenlandes gehörte der Hofbesitzer Claus Dalenkamp. Er hatte zwei Söhne, Martin und Andreas. Martin, der Erstgeborne, war sein einstiger Nachfolger auf dem Hofe, seine Freude, sein Stolz und Liebling. Ueber diesen Sohn ging ihm schon seit Jahren nicht mehr die, welche er sonst seinen höchsten und größten Schatz genannt, sein Weib. Martin war sein Ein und Alles, und hatte er den Knaben schon als Kind gehalten, wie seinen Augapfel, um so mehr liebte er ihn, als derselbe heranwuchs zur Lust und Freude der Eltern.

Sah man Martin Dalenkamp, so konnte man sehr wohl den Stolz des Vaters, den Triumph der Mutter begreifen, denn er war in der That der schönste junge Bursche auf Meilen in der Runde, dabei thätig, fleißig von früh bis spät und stets bedacht, den Eltern ihre Liebe zu vergelten. Groß, schlank, blond, mit lichten blauen Augen und von blendend frischer Gesichtsfarbe, vertrat er in seiner ganzen äußern Erscheinung den Typus des westfälischen Volkes, war auch ernst, still, langsam und bedacht, wie die Kinder jenes Landes mehr oder minder sind.

Der zweite Sohn, Andreas, fast fünf Jahre jünger als Martin, war der völlige Gegensatz des Bruders, nicht allein im Aeußern, auch in Sinn und Charakter. Mit Augen, dunkel wie die Nacht, verband er Haar und Teint, die beide einem Südländer hätten zur Ehre gereichen können. Er hieß im Dorfe und der Umgegend auch nur der „schwarze Andreas“, und dieser „schwarze Andreas“ machte als Kind und Jüngling den Eltern durch seine tausend wilden Streiche viel Sorge und selbst Kummer. Kein Baum zu hoch für ihn, kein Bach zu tief, und mehr denn zehn Mal war er als Knabe dem Vater für todt in’s Haus gebracht, wenn die schwankenden Aeste der Baumkronen ihn nicht getragen und er zu Boden gestürzt oder mühsam unter dem Eise hervorgezogen worden, in das er eingebrochen war.

Trotz seiner Wildheit hatte er das beste Herz der Welt, und, um die Wahrheit zu gestehen, hatten nicht nur die jungen Dirnen den „armen“ Andreas lieber, als den „reichen“ Martin, auch die Mütter und Väter, außer seinen Eltern, sagten schmunzelnd: „Das ist ein echter Bursche!“

Daß die Eltern den sanften stillen Martin gar so sehr liebten und den Erstgebornen als einzig Wunder in der weiten Gotteswelt hinstellten, das that dem schwarzen Andreas oft weh. Machte er als ein in den Sitten der Väter Erzogener und für alle westfälischen Gebräuche blind Eingenommener auch keinen Anspruch an einen Ziegel oder Stein auf dem ganzen Hofe, so doch an die Liebe der Eltern, und diese besaß und behielt uneingeschränkt Martin. Indeß kümmerte es ihn seit der Zeit nicht mehr so tief, wo eine Schwestertochter seiner Mutter, ein armes, verwaistes Bauermädchen, auf den Hof kam und diese kleine Anne seine Spielgefährtin wurde.

Vier Jahre machten die kleine Anna zu einem großen schlanken Mädchen, und ehe Andreas zum Militär, zur Garde nach Berlin, kam, verlobte sich der achtzehnjährige Jüngling mit ihr. Sie beschlossen, den Bund ihrer Herzen geheim zu halten, bis Andreas seine Dienstzeit vollendet und in die Heimath zurückkehrte; sie ahnten nicht, daß Einzelne um dies Verlöbniß wußten.

„Die Claußen-Anna vom Hofe“, wie das Mädchen unter den Bewohnern des Dorfes hieß, entfaltete sich zu einer immer blendendern Schönheit, und vielleicht ein Jahr, nachdem Andreas fort, bat Martin seine Eltern, ihm das Mädchen zum Weibe zu geben.

Martin’s Wunsch war den Eltern Gesetz, und hätten sie es auch vielleicht lieber gesehen, daß er die Tochter des reichen Schulzen heirathete, die dem hübschen Erben sehr gewogen war, so wagten sie’s doch nicht, dem Liebling ihres Herzens einen Wunsch zu versagen, und die reiche Hofbesitzerin verkündete daher ihrer armen Schwestertochter unter Thränen der Freude das ihr bevorstehende Glück.

Wie erschrak die gute Frau, als die schöne Anna für die Ehre dankte und versicherte, sie liebe Martin nicht genug, um sein Weib zu werden! Martin aber, der „stille, sanfte Junge“, wie seine Eltern ihn nannten, der nebenan lauschte, gerieth außer sich. Fest preßte er die Lippen auf einander, noch krampfhafter die Hände zusammen, aber ruhig, lächelnd, trat er wenige Augenblicke später in die Kammer zu Mutter und Base und sagte freundlich: „Ueberreden sollt Ihr die Anne nicht, liebe Mutter; denn sagt sie nicht gern Ja, so ist’s besser, ich nehm’ eine Andere zur Frau.“

Diese Worte halfen ihm mehr voran im Herzen des eiteln und hoffährtigen Mädchens, als die demüthigste Bitte. Es kränkte und verletzte sie nicht wenig, daß der reiche Bruder so schnell Abstand nahm von seinen Wünschen, während der arme Andreas seit ihrer Kindheit sich um ihre Zuneigung beworben und, ehe sie sich ihm verlobt, Wochen, Monde um das Versprechen der Treue gebeten hatte und nicht müde geworden war, ihr seine heiße Liebe in beredter Weise zu schildern.

Der stille, bedächtige Martin kannte aber das junge Mädchen besser, als der leidenschaftliche und verblendete Bruder. Wohlweislich fiel er Anna daher nicht mit glühender Bewerbung zur Last, bat auch seine Mutter inständigst, Nichts in der Angelegenheit zu thun, und bewies der betroffenen Waise, daß er sich ihre Weigerung nicht im Mindesten zu Herzen genommen.

Ging oder fuhr er künftig zur Stadt, so brachte er ihr die schönsten silbernen Miederspangen oder das feinste Tuch zu Kleidern mit, er schenkte ihr die hübschesten Schuhe, die schwersten Bänder und überreichte ihr Alles mit den einfachen Worten: „Damit Du siehst, daß ich Dir nicht gram bin, Anne!“

Das beleidigte Mädchen hätte dem so schnell erkalteten Bewerber gern manchmal all die herrlichen Sachen vor die Füße geworfen, so ärgerte es seine Ruhe; es liebte jedoch den Putz zu sehr und wußte nur zu gut, wie hübsch die schönen Schuhe an seinen kleinen Füßen aussahen und wie herrlich die Bänder zu seinem reichen blonden Haare standen. So dankte Anne denn immer heiterer für die Gaben, dankte nach Jahresfrist sogar sehr warm dafür und zugleich mit einem Lächeln und Erröthen, das auf den stillen Martin berauschend wirkte.

Er war aber zu bedächtig, um sich nur von Lächeln und Erröthen bestechen zu lassen, zu klug, um das für genügend in einem so schwankenden Herzen zu halten, als welches er das der Base nun kannte. So machte er denn noch andere Proben, um sich von der Sinnesänderung Anne’s zu überzeugen, er näherte sich bald diesem, bald jenem hübschen Mädchen im Dorfe, wandte sich aber dann der Schulzentochter wieder zu und erklärte fortan Monate hindurch, während er immer häufiger den Schulzenhof besuchte, daß dort doch die erste Schönheit in Westphalen sei, und das in Gegenwart der reizenden Anne, die längst einstimmig für die Krone aller schönen Mädchen erklärt worden war. Hatte doch außer Andreas sogar ein Maler gesagt, sie sähe aus wie eine Madonna, und gab’s, wenn sie zur Stadt kam, nicht einen vornehmen Herrn, der sie nicht voll Ueberraschung angesehen oder nicht einem Begleiter [515] laut ein Wort der Bewunderung zugerufen! Und nun sollte die Schulzentochter mit ihrem plumpen Gesicht, ihren breiten Füßen, hübscher sein, als sie! o das war unerträglich und sie zankte sich eines Abends auch tüchtig mit Martin über diese Behauptung.

Um das Maß ihres Aergers voll zu machen, sah die Schulzentochter seit des jungen Hofbesitzers Annäherung die schöne Anne stark über die Schultern an und sagte ihr sogar eines Morgens: „Wenn Martin heirathet, wird Dich die neue Frau sicher nicht im Hause behalten.“ Weinend saß am Abend dieses Tages, einem milden schönen Abend gegen Ende des Frühlings, die schöne Anne am Saum des Eichenwäldchens, weinte über der hochmüthigen Schulzentochter Worte, die ihr in Aussicht stellten, den Hof der Muhme verlassen zu müssen, weinte auch weil Andreas lange nicht geschrieben, hauptsächlich aber flossen ihre Thränen doch dem Umstande, daß die Dorfleute erzählten, Martin würde bald freien. Wie sie so sinnend und grübelnd da saß, von fern den schönen Hof sah, dessen Herrin sie hätte sein können, da kam Martin eilig über den Fußpfad zwischen den Feldern daher.

„Ich gehe dem Boten entgegen!“ rief er Anne zu und wollte ohne weitere Erklärung an ihr vorüber.

„Bringt er Dir Etwas mit?“ fragte sie aufstehend und trat ihm näher.

„Da ist er! nun kannst Du es gleich mit ansehen!“ entgegnete Martin, ohne auf des Mädchens verweinte Augen zu achten, ohne anscheinend das freundliche Lächeln zu bemerken, mit dem sie zu ihm aufblickte. Er that als habe er nur Sinn und Augen für den Boten, der ihm mit grinsender Freundlichkeit und einem stechenden Blick auf Anne ein Kästchen übergab und dann sagte: „Der Goldschmied versicherte, so schöne Krallen habe er noch an keinen Bräutigam verkauft und die Schulzentochter könne sich arg freuen.“

Martin wandte sich ab. Der Bote ging, Anna stand mit klopfendem Herzen da.

„Bist Du versprochen, Martin?“ stieß sie plötzlich hervor.

Martin schien die Frage nicht gehört zu haben, er entnahm dem Kästchen eine Schnur der schönsten Bernsteinperlen und zeigte sie dem Mädchen. Bernsteinperlen, „Krallen“ wie sie heißen, sind in Westphalen auf dem Lande der übliche Schmuck für Bräute. Anne sah die herrlichen Perlen und konnte nicht zweifeln – Martin war versprochen! Gern hätte sie laut aufgeschrieen vor Aerger und auch vor Jammer, denn sie liebte jetzt den kalten, bedächtigen Martin seit Monaten mit einer Leidenschaft, wie sie solche nie für Andreas empfunden.

Der kluge, berechnende Erbe hatte sich dieses schwache Herz gezogen, bis es ihm in glühender Liebe anhing. Stolz und Scham brachten das Mädchen zwar dahin, all seine wild erregten Gefühle zu verbergen; sprach es aber auch mit ziemlicher Ruhe seinen Glückwunsch aus, bebte doch die Stimme und Thränen stiegen unwillkürlich in seinen Augen auf. Anne wandte sich zur Seite. Da fühlte sie plötzlich die Bernsteinperlen um ihren Hals gelegt, da umfaßten sie ein paar starke Arme, leis fragte eine Stimme: „liebst Du mich denn wirklich?“ und nun gab sich des Mädchens Entzücken in kurzem Aufschrei, in lebendig lautem Worte kund.

Der erste Kuß brannte auf ihren Lippen, sie hielten sich fest umschlungen. Plötzlich trat Jemand zwischen sie, schleuderte das Mädchen mit den Worten: „Treubrüchige! Verrätherin!“ zur Seite, und Martin bei der Brust packend, murmelte er mit erstickter Stimme: „Elender Bube!“

Es war der Freund und Spielgefährte des Andreas, Heinrich Kamphagen, im Dorfe kurzweg „Heinz“ genannt. Sohn eines ehemals begüterten Bauern, war er jetzt einfacher Knecht beim Schulzen. Mißwachs, dann ein Brand, hatten seinen vermögenden Vater sehr heruntergebracht, und nachdem dieser sich in allem Unglück noch dem Trunke ergeben, war’s mit der Familie und dem letzten Wohlstand völlig bergab gegangen. Als Heinz erwachsen, starb sein Vater, der Hof fiel in die Hände der Gläubiger, und der junge Bursch besaß Nichts, als ein redliches Herz, guten Willen und kräftigen Körper. Der Schulze des Dorfes nahm ihn in Dienst, und sein Fleiß, seine Treue und Zuverlässigkeit machten ihm bald einen guten Namen. Bei jenen Wechselfällen seines Geschicks war Andreas sein Freund geblieben, und während gar Mancher sich über den „armen Knecht“ voll Dünkel erhoben, zu denen auch Martin gehört, hatte Andreas sich immer fester und inniger an Den geschlossen, der mit so viel Kraft und Stärke sein hartes unverschuldetes Loos trug. Heinz hatte dies Benehmen dem Jugendfreunde nicht vergessen; er glaubte auch, es ihm schuldig zu sein, während Jener fern, über dem Mädchen zu wachen, das, wie ein Zufall ihm offenbart hatte, Andreas’ Braut war.

Mit finstern Augen, mit trotziger Miene hielt der arme Knecht den reichen Bauernsohn einige Secunden fest, dann mochte ihm wohl die Erkenntniß kommen, daß sein Freund für das meineidige Mädchen zu gut sei. Er ließ Martin los, indem er sagte: „Daß Ihr nur eine solche elende Dirne lieben mögt, die als Braut Eueres Bruders sich mit Euch einläßt!“

„Anne mit Andreas versprochen?“ rief Martin.

„O über Dich scheinheiligen Heuchler!“ schrie jetzt Heinrich voll Zorn. „Meinst Du, ich hätt’s vergessen, als ich Dich damals oben im Buchenhag getroffen? entsinne Dich doch, wie Du zusammengekauert wie ein Häufchen Unglück hinter der Hecke lagst und Deinen Bruder belauertest, als er grad’ dieser meineidigen Weibsperson den goldenen Reif an den Finger steckte und sie ihm ewige Treue gelobte. So wie mich damals ein Zufall in Deine Nähe geführt, so vorhin, als Dir der Schurke von Bote an der Kirchhofsmauer zuflüsterte, wo des schwarzen Andreas schönes Liebchen sei, und Du ihm für die Nachricht einen Thaler schenktest, den zweiten ihm gabst, als er Dir versprach, das von den Perlen in ihrer Gegenwart zu sagen, was Du ihm vorbetetest und der alle Sünder auch sicher hier oben wie ein Staarmatz nachgeschwatzt hat. O, hätte ich nur eher Zeit gehabt zu kommen, da hätt’ ich Dich vielleicht noch von der Sünde und dem Betruge – sie aber vom Meineid abgehalten!“

Martin entgegnete kein Wort, sah aber den Knecht mit Augen an, die einen minder beherzten Burschen sicher hätten erbeben machen. Heinrich kümmerte dies bleiche wuthentstellte Gesicht des sonst so ruhig leidenschaftslosen Martin eben so wenig, wie dessen zornfunkelnde Augen; er maß ihn, dann die Anne mit einem Blick unbeschreiblicher Verachtung, wandte sich dem Feldpfade zu und rief bitter: „Fürwahr, Die sind einander werth!“

Martin und Anne standen sich noch eine Weile schweigend gegenüber; darauf gingen sie stumm nebeneinander ebenfalls durch’s Feld dem Hofe zu. Verstört traten sie durch das kleine Thor in der Wiesenumzäunung; dort aber blieb das Mädchen stehen und indem es stolz den Kopf zurückwarf, sagte es ziemlich heftig: „Jetzt ist’s Ehrensache, daß Du mich heirathest, und je eher desto besser! Wir sind Beide schuldig; aber der Lump von Knecht soll sich nicht rühmen, uns Redlichkeit und Treue beigebracht zu haben.“

Sie gab ihm die Hand, und er nannte sie von dem Augenblick an seine Braut. Sieben Wochen später, an demselben Morgen, wo Andreas in die Heimath zurückkam, war Martin’s und Anne’s Hochzeitstag; die Glocken-, die ihm entgegentönten, als er das Vaterhaus sah, waren die Hochzeitsglocken des Bruders und Der, die ihm einst Liebe und Treue gelobt hatte.




Zwei Jahre waren vergangen. In dem Stadtgefängnisse zu M. las man einem des Mordes endlich überführten Gefangenen sein Urtheil vor. Es lautete auf Tod durch’s Beil. Er hörte die Worte an, ohne eine Sylbe zu entgegnen, und erst als der Gerichtsbeamte ihm zum zweiten Male mit tiefer Bewegung zurief: „Ihr könnt nun an die Gnade Seiner Majestät des Königs appelliren, der ein eben so gütiger wie milder Herr und Richter ist!“ antwortete der Gefangene: „Ich werde es thun, meiner armen Eltern wegen.“

Der Richter entfernte sich. Der Geistliche, der mit ihm gekommen war, blieb in der Zelle, in welche durch das kleine vergitterte Fenster jetzt ein Strahl des Sonnenlichts fiel. Es zitterte in hellem Lichtreflex über die auf dem Schemel zusammengesunkene Gestalt des Mannes, der des Mordes überführt war und nun das Antlitz in den von Ketten aneinandergeschlossenen Händen verborgen hatte. Mehrere Minuten betrachtete der junge Priester dies Bild der Trauer und des Schmerzes, dann trat er dem Unglücklichen nah und seine Hand sanft auf die dichten schwarzen Locken des Jünglings legend, sagte er ernst und eindringlich: „Andreas, Du bist unschuldig!“

Der Gefangene zuckte zusammen, die Ketten klirrten laut, er schauderte, blickte dann empor und sprach ruhig: „Herr Baron, kommen Sie endlich von dem Wahne zurück! er martert mich mehr als mein Elend.“

[516] „Und doch, Andreas, werde ich Dir diese Worte so lange zurufen, bis Du endlich die Wahrheit gestehst.“

„Die Wahrheit? Hörten Sie denn nicht, daß ich jetzt nach fast zweijährigen Verhören und Verhandlungen endlich des Mordes überführt bin?“

„Du selbst gestandest ihn doch aber nicht ein?“

„Weil, wie der Herr vom Gericht neulich sagte, ich ein zu hartnäckiger Bösewicht bin.“

„Nein, Andreas, und tausendmal nein, weil Du den Mord nicht begangen hast. Ich kenne Dich besser, ich beurtheile Dich richtiger.“

„Sie, Herr Baron, sehen in mir noch immer den wilden, aber gutmüthigen Knaben, der mit Ihnen spielte, wenn Sie im Schloß Ihres Onkels zum Besuche waren.“

„Und Du, mein lieber Andreas, siehst in mir leider einzig auch jenen Knaben, der den Schlitten seiner kleinen Cousine Flora schob, den Neffen des Freiherrn K*, und doch bin ich schon lange nicht mehr Adolar von K*, vielmehr seit vier Jahren schon Pater Ignaz, ein Priester des Herrn, der kürzlich seine letzte Weihe empfangen hat.“

„Entschuldigen Sie das, ich kann Sie aber nicht gut anders nennen.“

„Nenne mich, wie Du willst, denn das kümmert mich nicht, mich betrübt einzig, daß Du in mir nicht Deinen Beichtvater sehen willst.“

„Nicht will, o nein, ich kann nicht – kann wirklich nicht beichten, frommer Vater.“

„Es würde Dir Erleichterung sein, Andreas. Seit fast zwei Jahren sitzest Du in dieser Zelle, hast kaum zehn Worte mit irgend Jemand gesprochen, Du bist den Gerichten, bist den Geistlichen gegenüber stumm geblieben, und seit den acht Tagen, wo ich zu Dir komme, der Spielgefährte Deiner glücklichen Kinderjahre –“

„Glücklichen Kinderjahre?“ wiederholte der Gefangene bitter. „Die kenne ich nicht.“

„Wie? Du hattest doch so brave Eltern, die Dich liebten.“

„Mich liebten sie nie.“

„Andreas!“

„Gewiß nicht, Herr! an ihrem Erstgebornen, an meinem Bruder Martin hing einzig ihr ganzes Herz.“

Der Geistliche schaute unwillkürlich düster zu Boden. Vielleicht dachte auch er an seinen ältern Bruder, den Majoratsherrn, der seit fünf Jahren mit seiner schönen Cousine Flora verheirathet war. Als er wieder emporblickte, bemerkte er, daß das Auge des Gefangnen starr an einer Spinne haftete, die durch das geöffnete Fenster der Zelle hinaus an die dicken Eisenstäbe kroch und im Licht, im Sonnenschein draußen verschwand.

„Andreas!“ rief der Priester bewegt, „Du siehst jener kleinen Spinne so traurig nach; irre ich nicht, beneidest Du sie.“

„Sie ist frei! wohl ihr!“

„Andreas, könntest Du denn nicht auch frei sein?“

Der Gefangene blickte hastig in die forschend auf ihn gerichteten Augen und schnellte wie eine Feder von seinem Sitze empor.

Da klirrten seine schweren Ketten lauter denn zuvor, und heftiger als vorhin schauderte er zusammen. Langsam, sehr vorsichtig, fast ohne Hände und Füße zu bewegen, ließ er sich wieder auf den Schemel nieder. Es war ersichtlich, daß er das rasselnde Geräusch des gegliederten Eisens vermeiden wollte. „O diese Ketten, diese furchtbaren Ketten!“ sagte er in dumpfer Verzweiflung, „wären sie nur nicht!“

„Rede die Wahrheit. Andreas, und sie fallen ab.“

„Um sich schwer, viel schwerer um einen Andern zu legen!“ murmelte der Unglückliche düster.

„Aber um Den, der’s verdient, um den Mörder!“

„Um den Mörder!“ wiederholte der Gefangene leise. Große Tropfen kalten Schweißes traten auf seine Stirn, er lehnte den Kopf zurück gegen die weiße Kalkwand der Mauer, und sein blasses Gesicht wurde geradezu todtenbleich. Hell und heller blitzte es auf in seinen tiefen dunkeln Augen, dann schloß er diese Augen, wie wenn er auch den Blick schließen wollte vor einer schweren, zu schweren Versuchung.

„Andreas, Andreas, den wahren Namen des Mörders!“ rief der Priester flehend.

Der Gefangene sah auf. In die Züge seines Gesichtes war wieder jene starre unbezwingliche Ruhe, dieselbe kalte, finstere Entschlossenheit getreten, die seit fast zwei Jahren Alle zur Verzweiflung gebracht, welche mit ihm verkehrt, mit ihm gesprochen, auf ihn einzuwirken versucht hatten; es war der Ausdruck, der ihm endlich bei Einzelnen den Namen eines hartnäckigen, eines verstockten Sünders gemacht. Die Gewandtheit und der gute Wille der Richter, namentlich aller derer, die durch ein gewisses Etwas im Gesicht und Wesen des jungen Bauern fest an seine Unschuld glaubten und die Möglichkeit aufboten, ihn zu Geständnissen zu bringen, waren an diesem Schilde abgeprallt. Die Milde wie der Zorn verschiedener Geistlichen hatte sich gebrochen an diesem Panzer hartnäckigsten Schweigens. Selbst dem Pater Ignatius, der seit acht Tagen wieder in M. war und von dem Mörder gehört, in ihm den Jugendgespielen wiedererkannt und ihn seitdem täglich besuchte, hatte der Ausdruck schon tiefsten Kummer bereitet. Er sah auch jetzt voll Schmerz, daß wieder Alles vorbei, daß vorläufig nicht das Geringste mehr zu hoffen und zu erwarten sei, daß der, den er für unschuldig hielt, auch in seinen Augen als Mörder dastehen wollte.

Ernst, traurig den Unglücklichen anblickend, sah er plötzlich diesen furchtbaren Ausdruck starrer Ruhe wieder schwinden, sah einen feuchten Glanz in den großen ernsten Augen.

„Andreas!“ rief er freudig, rief er voll Hoffnung.

Der Gefangene deutete stumm nach dem kleinen offenen Fenster in der Höhe der Zelle, der Sonnenstrahl war fort, die Spinne aber in’s Gefängniß zurückgekehrt.

Minute nach Minute verging. Keiner sprach ein Wort, nichts unterbrach die Todtenstille ringsum. Der Gefangene hatte seine gewöhnliche Stellung angenommen, den Kopf gestützt in die mit Ketten geschlossenen Hände, das Antlitz bedeckt. Der Priester starrte noch empor zu dem Fenster. Da durchzitterte plötzlich der Donner von Kanonen die Luft, da erschallte feierliches Glockenläuten. Beides brach sich in dumpfen, bald ersterbenden Tönen an den dicken Mauern des Kerkers. Den Gefangenen weckten Ton und Klang nicht aus seinen Gedanken, den Priester aber stürzten sie in ein Meer von Gedanken. Ueber sein stilles, ernstes und trauriges Gesicht strömte jetzt eine Fluth von Licht und Leben, eine Fülle von Freude und Hoffnung. Er war verwandelt, das milde Auge leuchtete, das Gesicht strahlte in Verklärung.

Da trat der Schließer in die Zelle, um dem Gefangenen frisches Wasser zu bringen. Mit trüben, ernsten Augen sah er von Einem zum Andern und schüttelte traurig sein greises Haupt. Der Geistliche begegnete seinem hoffnungslosen Blick mit einem hoffnungsvollen, doch die Miene des Gefangenwärters heiterte sich darum nicht auf.

Der Priester sprach ein kurzes Gebet, trat seinem ehemaligen Jugendgespielen nahe, legte leicht seine Hand auf dessen Schulter und sprach freundlich: „Leb’ wohl, Andreas, ich muß jetzt fort; ich bin zur Tafel bei unserm König befohlen, der eben seinen Einzug in die Stadt gehalten hat. Morgen komme ich wieder.“

(Schluß folgt.)




Eine freie Burg deutscher Wissenschaft.

„Wir wollen eine freie Burg deutscher Wissenschaft bauen,“ hat der verewigte Hans Caspar v. Orelli vor einem Menschenalter bei Gründung der Züricher Hochschule gesagt. Und das Züricher Volk hat seinen Spruch wahr gemacht. Jetzt steht sie auch dem leiblichen Auge sichtbar da, diese freie Burg deutscher Wissenschaft. Ein bedeutsamer Anblick ist es, der sich dem Ankömmling auf dem Züricher Bahnhofe darbietet! Er tritt hinaus in ein buntes Gewühl geschäftiger Menschen. Es begleiten ihn Lastwagen mit Baumwollenballen, die den Spinnereien zueilen; es begegnen ihm Kisten mit seidenen Geweben, dem Producte der fleißigen Hände des Landes. Vor seinen Füßen rauscht die mächtige Limmat, deren Gewalt er drüben benutzt sieht zum Treiben lärmender Maschinen. Der Ankömmling überschreitet die großartige Brücke, die erst kürzlich in kühnen Bogen über den Fluß gespannt ist. Die Bürgerschaft hat dafür tief in den Geldsack gegriffen, aber nur, um ihn desto mehr wieder zu füllen. Alles deutet auf [517] leidenschaftliches Jagen nach Gewinn. Jetzt zieht der liebliche waldbekränzte Hügel am Limmatufer den Blick des Ankömmlings nach oben. Da sieht er in gebietender Stellung über den rauchenden Schloten, über den klappernden Hämmern, über den knarrenden Lastfuhrwerken einen herrlichen Palast sich erheben. Der Bau, im edelsten Renaissancestyl aufgeführt, ist ein Werk unseres Gottfried Semper. Es ist kein Königspalast, in welchem stolze Fürsten ihre prachtvollen Feste feiern. Nein, es ist die freie Burg deutscher Wissenschaft, von der wir sprechen. Das zürcherische Volk hat sie freiwillig hingestellt und hat damit gezeigt, daß es kein niedriges Krämervolk ist, daß die bürgerliche Arbeit den Sinn für die höchsten Güter der Menschheit nicht erstickt, daß vielmehr jene in einem freien Volke den gesundesten Boden bildet, aus welchem die schönsten Blüthen idealen Strebens emporblühen.

Das eidgenössische Polytechnicum in Zürich.

Das Gebäude wird zwar erst in der nächsten Zeit feierlich eingeweiht werden, aber es beherbergt doch schon seit diesem Frühjahr die beiden hohen Schulen der Schweiz, die zürcherische Hochschule und das eidgenössische Polytechnicum. Die ältere der beiden Schwesteranstalten, die zürcherische Hochschule, verdankt ihr Dasein jener Bewegung der Geister, die im Anfang der dreißiger Jahre durch Europa fluthete. Die Männer, welche in Zürich an der Spitze dieser Umwälzung standen, wollten eine bleibende Stätte für freie Bewegung der Geister gründen, darum stifteten sie die Hochschule. Und es ist diesen edlen Männern wirklich gelungen, ein Institut zu schaffen, welches einzig in seiner Art dasteht. Ein seltenes Zusammentreffen von glücklichen Umständen machte diese Anstalt, deren Budget nicht größer ist als das eines Bataillons Soldaten, zu einem hervorragenden Centrum des deutschen wissenschaftlichen Lebens. Oder sollte man diesen Namen einer Hochschule versagen, die im Laufe von kaum dreißig Jahren eine Reihe von Männern hat aussenden können, wie Schönlein, Pfeuffer, Hasse, Kölliker, Henle, A. Schmidt, Hildebrand, Bluntschli, Engel, Ludwig, Moleschott, Keller, Dirnbierg, Lebert, Mommsen, Nägeli, Köchly, Hitzig etc.? Diese Männer, die jetzt, so viele ihrer noch leben, die ersten Lehrstühle Deutschlands in ihren Fächern einnehmen, haben sie nicht alle ihre produktivsten Jahre in Zürich gewirkt?

Zu den glücklichen Bedingungen für das Gedeihen der Züricher Hochschule gehört vor Allem der Boden, auf dem sie erwachsen ist. Die Schweiz ist für jeden Deutschen ein Land der Sehnsucht. Schon die herrliche Natur übt eine mächtige Anziehung. Noch mehr aber wirken die Zustände. Der Deutsche sieht in ihnen, und mit Recht, das Ideal, welches der germanische Geist erreichen kann, wo er sich frei entwickelt. Darum folgt jeder deutsche Gelehrte so gern einem Rufe nach der Schweiz. Uebrigens haben die Eingebornen selbst ein ansehnliches Contingent zu den in der Wissenschaft hervorragenden Männern gestellt. Gehören doch schon unter den angeführten Namen nicht die kleinsten geborenen Schweizern. Und auch gegenwärtig wirken an der Züricher Hochschule viele europäische Notabilitäten, die Landeskinder sind. Es genüge zu erinnern an Oswald Heer, den Schöpfer der fossilen Entomologie, an Arnold Escher, den berühmten Kenner der Alpen. Ueberhaupt ist der alemannische Stamm der Schweiz unter den deutschen Stämmen nicht der letzte, was Befähigung und Neigung zur wissenschaftlichen Thätigkeit betrifft. Die Geschichte der deutschen Wissenschaft giebt seit Jahrhunderten davon das glänzendste Zeugniß. Auch kann es dem aufmerksamen Beobachter in der Gegenwart nicht entgehen, daß die ganze Bevölkerung von Zürich einen besondern Sinn für Wissenschaft besitzt. Wissenschaftliche Vorträge finden stets ein zahlreiches Publicum, an den wissenschaftlichen Vereinen betheiligen sich auch Nichtgelehrte mit großem Eifer, vor Allem ist der schweizerische Student durchschnittlich sehr fleißig und von wahrhaft wissenschaftlichem Interesse beseelt.

Auch die Lage Zürichs an den äußersten Grenzmarken germanischer Sprache und Gesittung gereicht seinen höheren Bildungsanstalten nur zum Vortheil. Das polyglotte Gewühl verschiedener Nationalitäten führt dem Geiste neue Bildungselemente zu und spornt ihn, seine nationale Eigenart zu Ehre und Geltung zu bringen. [518] Wir könnten unseren Söhnen gewiß nicht leicht eine bessere praktische Schule des echten deutschen Patriotismus geben, als indem wir sie zur Züricher Hochschule schickten. Nicht selten führt die Mischung der Nationalitäten auch zu den pikantesten Scenen. So fand vor einigen Jahren ein literarisches Banket statt. Es war zahlreich von Studirenden der Hochschule und des Polytechnicums besucht. Einer derselben, ein hochgewachsener blondlockiger Jüngling mit blitzenden blauen Augen, ein echter Sproß des alten Sachsenstammes aus der Lüneburger Haide, brachte ein Pereat auf Napoleon und ließ sich im jugendlichen Ungestüm fortreißen, sein Pereat auf die ganze französische Nation auszudehnen. Sofort erhoben sich die anwesenden Franzosen und Italiener pfeifend und zischend. Nur der Geistesgegenwart des bekannten F. Wille aus Hamburg gelang es, den Sturm noch zu beschwören. Kaum hatte sich dieser gelegt, als G. A. Wislicenus in einer Rede über Schleswig-Holstein von „dänischer Tücke“ sprach; da standen die anwesenden Dänen und Norweger auf und verließen still das Local. Man ließ sie ziehen, sie werden sich wohl mit Recht getroffen gefühlt haben. So rauschten in lebendigem Flusse Dissonanzen und Accorde vorüber, wie in einer Symphonie. Solche Scenen können nur in Zürich vorkommen. So klein sie erscheinen, sollten sie nicht doch auch ernste Belehrung und Anregung, namentlich für das jugendliche Gemüth bieten?

Das sind einige von den Eigenthümlichkeiten des Bodens, in welchem die Züricher Hochschule wurzelt. Fragen wir nun, wie und von wem sie gepflegt worden ist, so werden wir wiederum einen der Factoren finden, welche diese Anstalt zu hoher Bedeutung bringen konnten. In der That, es sind hervorragende Männer gewesen, die mit dem Bestehen der Hochschule das zürcherische Erziehungswesen geleitet haben. Die Stelle des Erziehungsdirectors ist seit den dreißiger Jahren überhaupt die erste Stelle im Staate. Mehrere derselben haben in den weitesten Kreisen berühmte Namen. So war es anfangs C. F. Keller, der berühmte Pandektist, der als Erziehungsdirector an der Spitze der Züricher Hochschule stand. Zwar ist sein Name durch seine spätere poetische Thätigkeit in Berlin befleckt worden, aber die eminenteste Befähigung wird ihm Niemand absprechen, und in seiner Stellung als Züricher Erziehungsdirector hat er sie nur im guten Sinne verwendet. Später haben nacheinander Alfred Escher und Dubs, der dermalige Bundespräsident, an der Spitze des Erziehungswesens gestanden. Für Beide war diese Stellung der Ausgangspunkt ihrer großen staatsmännischen Laufbahn. Sie gehören jetzt zu den einflußreichsten Staatsmännern der Eidgenossenschaft und sind als solche jedem Zeitungsleser zu geläufige Namen, als daß es nöthig wäre, über sie noch mehr zu sagen. Dubs’s Nachfolger, Dr. Suter, ist gegenwärtig Erziehungsdirector. Sein Name ist zwar in weiteren Kreisen noch wenig gekannt, da er bis jetzt noch nicht in der eidgenössischen Politik aufgetreten ist, die meist ausschließlich im Auslande Beachtung findet; allein in schwungvoller, umsichtiger und gewissenhafter Behandlung seines Ressorts giebt er seinen Vorgängern nichts nach.

Eine Eigenthümlichkeit in der Leitung der zürcherischen Hochschule besteht schon darin, daß jene Erziehungsdirectoren ausnahmslos junge Männer waren. Da giebt es denn nichts von jenem in Vorurtheilen eingerosteten bureaukratischen Schlendrian. Der leitende Staatsmann greift selbst mit frischer Hand an und steht in beständigem unmittelbaren Verkehr mit dem Lehrkörper. Von einem langweiligen Instanzenzuge von Behörden und Referenten ist nicht die Rede. Selbstverständlich sind diese Vorzüge zum Theil an die Kleinheit des zürcherischen Staatswesens geknüpft. Man sieht hier, beiläufig sei es gesagt, einmal einen Vorzug der Kleinstaaterei – freilich ist die Kleinstaaterei der Schweiz republikanisch.

Die Jugend der leitenden Staatsmänner hat nun auch, gleichsam durch Anziehung des Gleichartigen, den Lehrkörper zu einem jugendlichen gemacht. Derselbe ist von jeher bis auf den heutigen Tag fast ausschließlich aus jungen Männern zusammengesetzt gewesen. Es sind z. B. augenblicklich höchstens sechs derselben über fünfzig Jahre alt. Daß dieser Umstand einer Hochschule ein ganz eigenthümliches Gepräge aufdrücken muß, begreift sich leicht. Den ganzen Werth davon kann man aber ermessen, wenn man einmal die gelehrten Perrücken so mancher deutschen Universität auf einem Haufen zusammensitzen gesehen hat.

Den genannten Vorzug verdankt übrigens die Züricher Hochschule zum Theil einem Mangel, nämlich dem Mangel an – Gelde. Zwar thut ökonomisch der Staat Zürich für seine Hochschule verhältnißmäßig zehnmal soviel als Preußen und fünfundzwanzigmal soviel als Oesterreich für die seinigen, aber eine Bevölkerung von 250,000 Seelen kann bei der aufopferndsten Bereitwilligkeit doch keine großen Summen aufbringen. So waren denn allerdings die leitenden Behörden schon darauf angewiesen, bei Berufungen immer vorzugsweise ihr Augenmerk auf Gelehrte zu richten, die noch keine einträglichen Stellen inne hatten und darum mäßige Ansprüche machten. Das große Verdienst der Behörden besteht aber darin, daß sie mit bewundernswerthem Scharfblicke – der in ihnen fast traditionell zu sein scheint – junge aufstrebende Talente herauszufinden wußten, welche sich dann in ihrer Wirksamkeit an der Züricher Hochschule Anerkennung und Ruf – mancher einen großen Namen – gemacht haben. In der That wüßte ich in dieser Beziehung kaum einen Fehlgriff zu bezeichnen.

Meisterlich verstanden es die Behörden auch Vortheil zu ziehen von der zeitweise traurigen politischen Lage des großen deutschen Vaterlandes. Wie manchen seiner edelsten Bürger stießen übelberathene Regierungen aus! Hier fanden die Verbannten Aufnahme und wurden Zierden der Hochschule. Ohne dies hätten Oken, Temme, Mommsen, Köchly und andere schwerlich jemals in Zürich gelehrt.

Mit Gründung des eidgenössischen Polytechnicums im Jahre 1855 trat die Hochschule in eine neue Phase ihrer Entwickelung. Die näheren Umstände der Gründung jener Anstalt und ihre Beziehungen zur zürcherischen Hochschule sind so eigenthümlicher Art und bergen so wichtige Keime zukünftiger Entwickelungen in sich, daß sie wohl verdienen in weiteren Kreisen bekannt zu werden. Schon längst lag den schwungvollsten Staatsmännern der deutschen Schweiz, neuerdings namentlich Alfred Escher, Kern und andern, der Plan sehr am Herzen, die Züricher Hochschule zu einer eidgenössischen zu erweitern. Die französisch redende Schweiz war jedoch diesem Plane wenig geneigt. Um diese dafür zu stimmen, nahmen jene Politiker in ihren Plan die Gründung eines eidgenössischen Polytechnicums auf, welches in der wälschen Schweiz seinen Sitz haben sollte. Mit diesem Doppelvorschlag traten sie vor die Bundesversammlung. Die eidgenössische Hochschule war der Angelhaken, das Polytechnicum der Köder für die Westschweiz. Aber der Hecht war klug und biß den Köder ab, die Angel ließ er fahren. Kurz, es wurde blos der das Polytechnicum angehende Theil des Vorschlages angenommen. Doch jene Staatsmänner ließen sich dadurch in ihrer Richtung nicht beirren. Das augenblickliche Mißlingen ward für sie Veranlassung nur einem noch höheren Ideal nachzustreben, das jetzt mit sicherem Schritt seiner Verwirklichung entgegengeht. Dieses Ideal ist nichts Geringeres, als die wahre noch gar nirgends dargestellte universitas litterarum, eine hohe Schule, auf welcher wirklich Alles, was den Namen Wissenschaft im höchsten Sinne verdient, gepflegt und gelehrt wird. Und wahrlich, die technischen Wissenschaften haben auf diesen Namen nicht weniger Recht als so manches, was in dem scholastischen Bau der vier Facultäten Platz gefunden hat! Sollten diese erhabenen technischen Wissenschaften, die unter unseren Augen die Welt umgestalten, ewig verdammt sein auf engherzig angelegten Drillanstalten eingeschulmeistert zu werden – blos weil diese Wissenschaften damals, als die Universitäten gestiftet wurden, noch nicht erfunden waren? Nein, der Rahmen der Universitäten muß erweitert werden, so daß er jene Wissenschaften mit umspannen kann, denen wir Eisenbahnen und Telegraphen verdanken und die auch an innerer Würde, an Tiefe der Speculation und an folgerechter Gedankenentwickelung den Wissenschaften der vier alten Facultäten um kein Iota nachstehen. Diese neuen Wissenschaften müssen endlich mit den alten in engen gegenseitig befruchtenden Verkehr treten und wie sie auch in wahrhaft humaner Weise dem freien Schüler gelehrt werden.

Es ist interessant zu verfolgen, wie diese Idee einer wahren universitas litterarum, welche in der Geschichte der höheren Bildungsanstalten Epoche machen wird, durch eine Verkettung von zufälligen Umständen sich in’s Dasein ringt. Jene Staatsmänner, welche sie mehr oder weniger bewußt erfaßt hatten, brachten nach Verwerfung der eidgenössischen Hochschule durch die Bundesversammlung vor Allem einen Compromiß zu Stande, daß wenigstens Zürich der Sitz des Polytechnicums werde. Sofort wurde nun aus scheinbar äußeren Gründen – nämlich einfach der Ersparniß wegen – eine Verbindung mit der Züricher Hochschule in verschiedenen Beziehungen hergestellt. Der Züricher Staat, welcher das Gebäude für das eidgenössische Polytechnicum zu erstellen hatte, [519] richtete es so ein, daß darin auch für seine Hochschule Raum war. Ferner gestattete er dem Polytechnicum die Benutzung der schon bestehenden wissenschaftlichen Sammlungen, die nunmehr auch bereits in dem gemeinschaftlichen Bau aufgestellt sind. Endlich wirken eine Anzahl von Lehrern in Physik, Chemie, den beschreibenden Naturwissenschaften, Literatur, Aesthetik etc. an beiden Anstalten zugleich durch Vorlesungen, welche von den Studirenden beider Anstalten besucht werden. Von diesem Umstande hatte zunächst die Züricher Hochschule als solche großen Vortheil, denn sie erhielt einen Zuwachs von Lehrkräften ersten Ranges, die sie mit ihren eigenen beschränkten Mitteln kaum hätte erwerben können. Es genüge an Namen wie Clausius und Vischer zu erinnern.

Wenn dereinst die Verschmelzung der Hochschule und des Polytechnicums zu einer einheitlichen Pflanzschule der gesammten Wissenschaft als vollendete Thatsache dastehen wird, dann wird die Schweiz, ja Europa wird danken können den Männern, welche einst in der Bundesversammlung in eingestandenem Eifer gegen die idealen Interessen die eidgenössische Hochschule verwarfen. Dann zeigen auch sie sich als solche, die es menschlich dachten böse zu machen, aber durch die es die Fügung aus der Höhe schließlich gut gemacht hat.

Noch ist diese völlige Verschmelzung eine Perspektive. Sie ist sogar in diesem Augenblick ein wenig weiter in die Ferne gerückt, als es anfangs schien. Seit nämlich Kern die Leitung des Polytechnicums aufgeben mußte, um den Gesandtschaftsposten in Paris anzutreten, stehen Männer an der Spitze der Anstalt, die, wie es scheint, von jener Idee der Vereinigung nicht erfaßt sind, die sich vielmehr mit allen Kräften dagegen sträuben. Aber hoffen wir, daß auch hier wieder die Dinge mächtiger sein werden, als die Menschen.

So ist denn die Züricher Hochschule zwar in mannigfacher Beziehung zum Polytechnicum, doch eine selbstständige Anstalt unter eigenen Behörden und mit getrenntem Lehrkörper. Kehren wir zu ihr zurück. In ihre Geschichte hat vor etwa einem Jahre wiederum ein Ereigniß mächtig fördernd eingegriffen, die Aufhebung des letzten Klosters auf Züricher Boden, der reichen Abtei Rheinau. Wie verfügten durch ihre Vertreter die schlichten Bauern des Staates Zürich über diese ihnen zufallende große Erbschaft? Sie wird nicht verschleudert für destructive Zwecke, für Kanonen und andere Mordwerkzeuge. Sie wird auch nicht verwandt zur Förderung der materiellen Interessen, was man von einem anscheinend ausschließlich industriellen Volke am ersten hätte erwarten sollen. Nein, die Güter von Rheinau sollen der Geistesbildung zu Gute kommen. Sie werden lediglich für Kirchen- und Schulzwecke verwandt. Ein namhafter Bruchtheil davon im Betrage von einigen Millionen Franken ist zu den Fonds der Hochschule geschlagen. Er wird namentlich auch dazu dienen, die wissenschaftlichen Sammlungen und Institute reicher auszustatten, und dann steht die Züricher Hochschule auch hinsichtlich ihrer materiellen Mittel kaum hinter einer ihrer Schwesteranstalten in Deutschland zurück. Uebrigens waren schon bisher einige der Institute für die medicinische Facultät wahrhaft glänzend, insbesondere die Anatomie und die klinischen Anstalten. Auf der ersteren sind jeden Winter durchschnittlich 130 menschliche Körper in einem prachtvollen Secirsale zur Verfügung der Studirenden. Das ist eine Gelegenheit, Anatomie, die Grundlage alles medicinischen Wissens, zu lernen, wie sie in solcher Ausdehnung nicht oft geboten wird. In den Kliniken des neuen Cantonsspitals unterrichten ein Griesinger und Billroth mit Benutzung eines Materials, wie es nur die größten Städte Deutschlands bieten können. Außerdem besitzt Zürich auch eine psychiatrische Klinik, ein Institut, das bei fast allen deutschen Universitäten gänzlich fehlt. Sie wird gleichfalls von Griesinger geleitet, der bekanntlich auch in der Irrenheilkunde zu den ersten Autoritäten zählt.

Den gegenwärtigen Bestand des Lehrkörpers der Züricher Hochschule im Einzelnen zu durchmustern wäre überflüssig; sind doch fast alle Lehrstühle mit Männern besetzt, die schon als Forscher und Schriftsteller in den weitesten Kreisen bekannt sind. Es möge nur noch vergönnt sein, einen Blick auf das Leben der Studenten der Züricher Hochschule zu werfen. Der deutsche Jüngling, der gelockt durch den Zauber des Schweizerlandes und den wissenschaftlichen Ruf des Limmat-Athens aus der Ferne dahinkommt, findet dort alle Schattirungen seines heimischen Studentenlebens, vom buntfarbigen Corps bis zur deutschen Burschenschaft mit schwarz-roth-goldnem Bande. Auch die Studenten, welche sich keiner Verbindung anschließen wollen, sondern lieber ungebunden durch äußere Formen in Studium und Vergnügen ihre eigenen Weg gehen, werden sich wohl fühlen; denn die Dimensionen des Züricher Lebens sind doch schon so große, daß die Veranlassungen zu Conflicten, die in den kleineren deutschen Universitätsstädten an der Tagesordnung sind, kaum jemals vorkommen. Der Ton unter den Studenten ist durchweg als ein guter zu bezeichnen, nur selten sind Ausschreitungen zu beklagen, obgleich, oder vielleicht gerade weil keine pedantische Disciplinargewalt in die Freiheit der Entwickelung hemmend einzugreifen sucht.

Hat der Züricher Studiosus an einem heißen Sommertage in den Hörsälen geschwitzt, so kann er sich Abends in den krystallnen Fluthen des lieblichen Sees abkühlen oder zum Ruder greifend auf seinen Wellen sich schaukeln und schwelgen im Anblick der von den Strahlen der sinkenden Sonne erglühenden Alpen. An freien Tagen führt ihn ein Bahnzug in wenigen Stunden tief in die Alpenwelt selbst. Ihre erfrischende Luft kräftigt ihn zu neuer geistiger Anspannung. Aber auch die langen Winterabende kann der Student sich auf’s Mannigfaltigste verkürzen. Zieht er nicht die muntere Gesellschaft der Cameraden bei Wein und Bier vor, so findet er reichlich Gelegenheit zu gemüthlicher Erholung in den bescheidenen Salons seiner Lehrer, was besonders den Norddeutschen willkommen ist. Auch hierin ist die Züricher Hochschule mancher andern überlegen. Das Verhältniß zwischen Docenten und Studenten ist kein kaltes auf den Hörsaal beschränktes. Es findet vielmehr ein vielseitiger persönlicher Verkehr zwischen Lehrern und Lernenden statt, der natürlich nicht verfehlen kann auf beide Theile anregend zu wirken, um so mehr, als er durch keinerlei geschmacklose Hofrathsalluren getrübt wird.

So sieht es aus in dieser freien Burg deutscher Wissenschaft. Möge sie noch lange Jahre fest stehen, und mögen noch recht viele deutsche Jünglinge in ihren stolzen Hallen zu freien deutschen Männern heranreifen!
Ein Schweizer Docent. 




Eines deutschen Technikers Lehr- und Meisterjahre.
Von Max Maria von Weber.
Bauer und Officier. – Der Sohn des Dresdener Canzelisten. – Der Frankenberger übercomplete Unterkanonier. – Aggregirter Lieutenant ohne Gehalt. – In seiner wahren Sphäre. – Der Wasserbaudirector. – Als Trainführer. – Nach dem 29. Bülletin. – Von Kosaken gefangen. – Schwerer Abschied von der Gefangenschaft. – Fortschritte auf seiner Bahn.

Es giebt noch keinen Ruhm für den deutschen Techniker! Noch sind die Herolde beim großen deutschen Geistesturnier nicht geneigt den neuen Kämpfer als ebenbürtig anerkannt mit den alten Disciplinen des Wissens in die Schranken treten zu lassen.

Die Gründe dafür liegen nahe und sind tief im Charakter des Volkes begründet. Jede Civilisation ist partiell, jede hat ihre schwachen Seiten und Lücken, und die ideale Richtung des deutschen Genius ist die Wurzel der Mängel deutscher Cultur, wie ihrer höchsten Blüthen. Mehr als andere Völker haben wir lange Zeit über das Wissen das Können vergessen. Die Technik ist aber das verkörperte Können, und da sie nun plötzlich an der Hand des Geistes der Zeit unwiderstehlich in unsere Mitte tritt, da rümpfen die alten Wissens-Branchen von tausend Ahnen, die Theologie und die Medicin, die Juristerei und die Kunst, die der Kräfte des jungen Riesen nicht mehr entbehren, sich seiner nicht mehr erwehren können, wenigstens die Nase über seine Abkunft und fragen: „Was will der Schmied, der Maurergesell, der rußige Gießer in unserer Mitte? Das Geld, das er erwirbt, soll ihm gegönnt sein, Ruhm, Ehre, Unsterblichkeit gehören uns allein!“ Sie vergessen dabei, daß alle geistigen Thätigkeiten, mögen [520] sie sich nun in Kunstwerken, guten Büchern, guten Predigten, guten Heilungen oder im Bau solider Straßen, kühner Brücken, sinnreicher Maschinen, wunderbarer Apparate kundgeben, zu gleich tüchtigen Leistungen gleiche Maße von geistigen Kräften erfordern und nur ein Endziel, die Befreiung des Menschengeistes, haben! Die Thatsache ist indeß frappant.

Fragt in Deutschland jeden mittelmäßig Gebildeten nach unsern Dichtern, unsern Malern, unsern Philosophen vierten und fünften Rangs, er wird euch Bescheid thun, ihre Namen, ihre Werke kennen; schlagt eine unserer wenigst vollständigen Encyclopädieen, eine kurzgefaßte Culturgeschichte auf, und eine Fülle von Stoff aus allen Disciplinen quillt Euch entgegen. Der Ruhm hat die Namen der Erbauer jedes Kirchleins, der Maler jedes mittelmäßigen Bildes verzeichnet, und der unsterblichen Namen ist kein Ende. – Und dann fragt den allergebildetsten Deutschen, die besten Encyclopädieen, die ausführlichste Culturgeschichte nach dem Namen des Erbauers der kühnsten Eisenbahn, der stolzesten Brücke, der segensreichsten Eindämmung oder Entwässerung, fragt nach dem Erfinder der Locomotive, die Euch zieht, des Webstuhls, der die Kleider auf Euerem Leibe webt, des Gaslichtes, das Euere Städte durchstrahlt, – – – und sie werden Euch die Antwort schuldig bleiben oder Euch dürftig berichten! –

Noch denkt sich selbst der gebildete Deutsche den praktischen Techniker als eine Art höheren Schlossers, Schmieds oder Maurers, ja er mißtraut daher dessen Tüchtigkeit, wenn derselbe die Lebensformen der gebildeten Welt, saubere Wäsche und unverarbeitete Hände zeigt. Daß gar ein Genie, welches jedem Andern ebenbürtig ist, ihm beiwohnen, er vielleicht sogar zu den Trägern des Ruhms des Vaterlandes gehören könne, erscheint noch fast belächelnswerth. Unsere Nachbarvölker gen Westen sind uns in der Erkenntniß der Würde der Technik als Verlebendigung des großen civilisatorischen Agens der Zeit, der Stellung, welche die Techniker im Volksleben einzunehmen haben, weit voraus. Sie haben längst Technik und Techniker als erwachsene Kinder der Zeit mündig erklärt!

Das ist eine der Haupt-Lücken in der deutschen Cultur.

Wenn wir daher heute von einem Manne erzählen wollen, der der deutschen Technik den größten Dienst geleistet, mit großem Talente das deutsche Eisenbahnwesen von fremden Einflüssen frei gehalten, die bis heute gültigen Grundprincipien des deutschen Eisenbahnbaues zuerst verkörpert, dessen Organisation zum Theil geschaffen, die erste große mit Dampf befahrene Eisenbahn selbst gebaut, und in den Männern, die ihn als Jünger umstanden, die Ausbildner eines großen Theils des deutschen Eisenbahnsystems hinterlassen hat: so erwarten wir nicht, daß das deutsche Volk seinen Namen kennen werde. Aber wir halten es für Pflicht, von ihm zu erzählen, was er, dessen Fachgenossen in Frankreich und England, die nicht mehr werth waren denn er, als Millionäre starben, als guter Deutscher leistete, wie er rang und litt. Unser wenn auch schwaches Wort, soll mahnen, daß das deutsche Volk die Männer, welche in den neuen Thätigkeitskreisen der Technik für seine Wohlfahrt denken und wirken, kennen und schätzen lernen und ihnen die Ehren gewähren möge, mit denen es so bereitwillig, wenn auch meist zu spät, seine „Dichter und Denker“ krönt.




Es war im Sommer 1811. Napoleon zog die Wolken zu dem großen Gewitter von 1812 zusammen, und sein Zauberwort hatte auch die bis dahin lässig betriebenen Arbeiten am Bau von Torgau’s Festungswerken in fieberhafte Hast gejagt. Des Gouverneurs, Oberst von Boblick, scharfes Commando, des Obersten von Langenau gefürchtete Inspektion und des wilden Major Coudray polterndes und schreiendes Scheltwort jagten Officiere und Mannschaften trotz glühenden Sonnenbrandes im Geschwindschritt zur Arbeit und schweißtriefend von derselben. Erschöpft und nach einer Labung lechzend füllten die Junker, Lieutenants und Capitäns vom Dienst rasselnd zur Frühstückszeit das Delicatessenzimmer des Italieners Petacca am Markt.

In der bequemsten Ecke sitzt da bereits ein alter Mann in Bauerntracht der Leipziger Gegend, den breiten dreieckigen Hut neben dem Glase auf dem Tische, die Füße mit den derben Schnallenschuhen weit von sich gestreckt, den Quersack neben dem Stuhle; eine prächtige, kräftige, aufrechte Greisengestalt mit klaren, offenen Augen. Der letzte der eintretenden Officiere, ein kleiner, blatternarbiger Lieutenant mit breiten Schultern und gedrungenem Körper, dessen sonst unschönes Gesicht zwei wunderbar kluge, kleine Augen mit Humor und Güte zugleich überblitzen, eilt auf den Alten zu, umarmt und küßt ihn und sitzt bei ihm und schenkt ihm ein und läßt ihn nicht, bis die Trommel wieder zur Arbeit ruft. – Im Anfang wollen die Cameraden Spottblicke auf das Paar werfen, der junge Officier sieht ihnen aber so muthig in die Augen und steht trotz seiner Jugend in so hohem Ansehen unter ihnen, der alte Mann spricht so gemüthvoll, klug und unterhaltend mit den Herren, daß sie ihn bald umringen, wenn sie kommen, und ihm die Hand schütteln, wenn sie gehen. Der Alte ist der Leinweber, Häusler und Acciseinnehmer Andreas Kunz zu Dürrweitzschen bei Leisnig, ein eifriger Musikus und jovialer Mann, der mit anderen Gleichgesinnten auf den Dörfern die Jugend nach seiner Musik springen läßt und mit Quersack und Geige zu Fuß nach Torgau gewandert ist, um seinen Enkel, den kleinen Carl Theodor, einmal mit den dicken Lieutenants-Epaulettes und dem Portepée zu sehen.

Der aber ist ein munterer, zwanzigjähriger Unterlieutenant, der noch keinen Bart, aber Muth und Entschlossenheit für drei bärtige Männer, Thatkraft und Umsicht für eine Brigade hat, den seine Cameraden lieben und schätzen, seine Untergebenen, die er kurz hält und fuchtelt, auf Händen tragen, für dessen Großvater die Officiere endlich Tänze abschreiben, um den prächtigen Alten lachen zu sehen – weil es dem jungen Cameraden Freude macht!

Nach diesen Tänzen sollte keine Dorfjugend sich mehr drehen, der Alte starb, den Quersack auf dem Rücken auf einem Feldrain sitzend, in der Nähe der Heimath einen seligen Tod am Schlage; aber er hatte den geliebten Enkel noch einmal gesehen, der ihn für allen Kummer, den seines Sohnes Geschick ihm bereitete, so fröhlich schadlos hielt und kein Anderer war, als der Erbauer der ersten großen deutschen Eisenbahn. – Hinter dem jungen Officiere, der so leichtlebig und schon damals in Torgau unglaublich thatkräftig auf seinen derben Schultern den halben Dienst seines hypochondrischen Hauptmann Essenius, des bequemen Premier-Lieutenant Hermann und des lüderlichen Collegen Vitzthum mit übertrug, lag eine Jugend voll trüber Leiden, in deren Gluth aber der gute Stahl seines Charakters zu einer geschmeidig schneidigen Klinge für den Kampf des Lebens gehärtet worden war.

Sein Vater, Gottlob Friedrich Kunz, hatte zu der Armuth einer Canzelistenstelle im damaligen sächsischen Geheimen Finanz-Collegium die Armuth einer jungen Verwandten, Wilhelmine Michaelis, geheirathet. Mußte aber auch selbst die Aussteuer und erste dürftige Einrichtung durch spärliche Hülfe kaum wohlhabenderer Angehöriger beschafft werden, so brachte ihm Wilhelmine doch einen solchen Schatz an Edelsinn, Dulderkraft und Tüchtigkeit zu, daß er, auf den ältesten Sprossen dieser Ehe, Carl Theodor, vererbt, hinreichte, diesem das volle Anrecht auf die Würde eines bedeutenden Menschen zu erwerben.

Die rasch aufeinanderfolgende Geburt mehrerer Kinder, Krankheiten aller Art (von den Blattern wurde das Gesicht Carl Theodor’s in seinen Formen sehr zum Nachtheil gänzlich verändert), endlich Kriegsverläufe drückten das Jammerleben der Familie des Canzellisten bis auf die unterste Grenze tragbaren Elends herab. Dem Manne brach die Unablässigkeit der Schicksalsschläge die Kraft; er fügte durch das Sinken seines Charakters neue Last auf die gebeugten Schultern seines armen Weibes. Die gläubige Dulderin aber verließ das Gottvertrauen nicht. Als sie kein Kleid mehr hatte, in dem sie sich ohne Scham geschmückten Kirchengehern zugesellen konnte, schlich sie in der Morgendämmerung zum Frühgottesdienst, um Kraft zu finden, ungebrochenen Herzens das Schwarzbrod zum Frühstück, die Kartoffeln mit Salz zum Mittag unter die mattäugigen Kinder auszutheilen und aus ihren Lumpen, mit Geschmack sogar, immer wieder etwas halbweg Tragbares zusammen zu stoppeln, aus verschluckten bitteren Thränen immer wieder Stärkung zu einem Lächeln für ihre Kleinen zu saugen. Sie war ein Held im Ringen mit den Prüfungen Gottes! Carl Theodor schrieb später in seiner kräftig tiefen Weise: „Meine Mutter war ein Engel. Die himmlische Gerechtigkeit muß ihr jenseits durch den höchsten Grad der Seligkeit vergolten haben, was sie hier für Mann und Kinder that!“

Ein verkommener, aber nicht unwissender Candidat der Theologie, der, wo möglich noch ärmer als die Kunz’sche Familie, sein jämmerliches Lager in einer von dieser ermietheten Kammer aufgeschlagen hatte, auf dem er sich mit seinem abgeschabten Röckchen [521] zudeckte, wurde, mit den Kartoffeln des Mittagstisches und dann und wann einem Dreierdütchen des von ihm leidenschaftlich geliebten Schnupftabaks honorirt, Carl Theodor’s erster Lehrer, bis es durch Hülfe eines Oheims möglich wurde, ihn die Neustadt-Dresdener Bürgerschule besuchen zu lassen. Dem armen, in Elend verkümmerten Candidaten verdankte Carl Theodor seinen Respect vor classischem Wissen und die Keime seiner Kenntniß hierin.

Schon in der Schule galt er nicht allein für einen guten Kopf, sondern die Kraft seines sich rasch und im starken Anspannen gegen den Druck seiner Lage entwickelnden Charakters und sein frühreifes Talent, die Verhältnisse zu überschauen und zu beherrschen, machten ihn in allen Classen zum selbstverständlich gewählten Mittelpunkte der jugendlichen Bestrebungen, mochten sie nun auf eine organisirte Prügelei oder ein systematisches „Nachreiten“ vor den Examinibus gerichtet sein. Seine rührige Gefälligkeit eroberte ihm die Alten, und der Gewinn der Neigung des bejahrten Bibliothekar Daßdorf stellte die Schätze der königlichen Bibliothek zur Verfügung des geistvollen Knaben, dem eine trigonometrische Formel den Schlaf rauben konnte, der um ein physikalisches Experiment die schönsten Spiele im Stiche ließ und, auf einem Baume in seines Onkels Michaelis Garten sitzend, in Ludwig’s „Reichshistorie“ vertieft, oft umsonst zum Mittagsessen erwartet wurde. Noten copiren und Accisebücher verificiren mußte nebenher in den Nächten die Mittel zur Erwerbung des Confirmations-Rockes liefern.

Wen Mathematik, Physik, Geschichte und Geographie erfüllten, für den gab es damals nur einen Beruf, in dem er Talente und Lust zur Geltung bringen konnte. Es war der militärische. Carl Theodor, den geistige Richtung und körperliche Kraft gemeinschaftlich dafür eigneten, wurde seiner Prädestination inne, als die Neutralitätsdurchmärsche vor der Schlacht bei Jena und des Prinzen Louis Ferdinand glänzendes Feldherrnbild, das leider in den letzten Stunden von dessen Anwesenheit in Dresden durch den Eindruck seiner bis auf die Straße herab gespielten Bacchanale befleckt wurde, des Jünglings ehrbedürftige Seele mit lockenden Erscheinungen füllte.

Der Rath des alten trefflichen Generals Aster, dessen Familie den strebenden Knaben lieb gewonnen hatte, führte ihn vor dem Eintritte in das Corps der Ingenieur-Scholaren, den Carl Theodor’s Jugend und Armuth verhinderte, in die unentgeltlich unterrichtende Bauakademie. Nur sein immer regeres Interesse am technischen Wissen und die freundliche Forthülfe älterer Mitschüler ließen seinem organisatorischen Genius den systematischen Unterricht an dieser Anstalt, die ein Director Hölzer im Sinne seines Namens verwaltete, nicht unerträglich werden.

Als er seine Studien im Gefühle, nicht mehr weiter zu kommen, hier schloß, waren seine Verhältnisse dieselben geblieben, und die ihm so golden schimmernde Traube des „Corps der Ingenieurscholaren“ hing immer noch zu hoch.

Armuth zog überall die Schlagbäume vor die Pfade, auf denen der nun Siebzehnjährige ausschaute, Armuth hing als schweres Gewicht an seiner fleißigen, so gern gerührten Hand, Armuth deutete mit eisernem Finger auf die allerunterste Thür zur Staffelleiter seiner Wünsche. Es fand sich kein Protector für ihn. Carl Theodor hat immer Kopf und Arm, selten Gönner, fast niemals Glück gehabt.

Also Soldat! Aber nicht Ingenieur, sondern aus Gefälligkeit gegen Aster aufgenommener „übercompleter Unterkanonier“ in der Compagnie des Artillerie-Capitäns Tüllmann zu Frankenberg!

„Einzutreffen am 3. Oktober mit den Laufordonnanzen von Dresden!“ Ein Paar Hemden in einem alten Schulbücherranzen, die Stiefeln neu besohlt, einen Thaler Geld im Lederbeutelchen, wandert der erste deutsche Eisenbahn-Ingenieur mit Thränen in den Augen und schmerzenden Füßen hinaus in die große Weltschule, die an ihm einen ihrer ausgezeichnetsten Schüler ziehen sollte. Ein alter Oberkanonier, Schulze, nimmt sich des schüchternen Rekruten an, bei einem jungen Sergeant-Major Richter, einem verdrossenen Mann, den eine Liebesheirath um die Carriere gebracht, findet er billige Kost und ein hartes, im Winter durch die lockern Ziegel mit Schnee bestreutes Bett unterm Dach. Die Officiere der Compagnie, der finstre Tüllmann, der behagliche von Hanmann, der wackere von Schirnding und Knauth stoßen ihm zwar das dreieckige Hütchen, dessen richtiger Sitz niemals ergründet worden ist, Jeder nach seinem Gesichtspunkte correct auf den Kopf, werden aber bald des aufgeweckten „Stiftes“ froh, der spielend den Dienst lernt und dem auch das „verdammte Zeichnen und Studiren“, ja selbst die erste Liebe zum hübschen Kinde des Materialisten der Hauptwache, das ihm Rosinen und Aepfel und wohl auch Brod unter ihren Küssen zusteckt, nicht die „Attention“ beim Exerciren mit Commißgewehr und der alten achtpfündigen Uebungshaubitze verdirbt.

Und dennoch war es eine schwere Zeit bei den Hungernachrichten von daheim und der Vereinsamung des Geistes, die Zeit des Gehorchenlernens! – jene bedeutungsvolle Periode in Carl Theodor’s Leben, die ihn so meisterlich befehlen lehrte. Kaum aus dem Rohstoffe des Menschen in der Glühhitze der Rekrutenzeit zum Soldaten geschmiedet, führt ihn der Donau-Marsch des Rheinbundcontingents und Napoleon’s kategorisches Breve: „Ersatzbataillone in aller Eile, gleichviel, aus welchen Leuten, zu bilden“, nach Dresden. Hessen, Braunschweiger, Oesterreicher rückten in Sachsen ein, der König floh nach Frankfurt und die Reservebataillone, -Schwadronen und -Batterien wurden à tout prix und unter Verwendung des Abhubs und Rostes alles Materials an Menschen und Waffen aus der Erde gestampft.

Die ältesten Officiere, Invaliden und unreife Knaben commandirten. Die Artillerie hatte fast keine Geschütze, die Infanterie miserable Gewehre, die Cavallerie nur zum Theil roh vom Acker geholte Pferde. Die traurige, vielgeplünderte Rückzugscolonne sammelte sich, von dem steinalten, täglich auf dem Pferde festgeschnallten General Niesemeuschel und dem schielenden Low geführt, bei Weißenfels.

Die Gelegenheit zum Avancement war gut; Carl Theodor aber hatte kein Glück! Die rath- und kopflosen Maßnahmen der alten Kriegsberather mit wackelnden Köpfen erregten oft höchst undisciplinarische Gelächter, zu denen Carl Theodor, dessen genialem Dispositionssinn bei aller seiner Unerfahrenheit die Komik der Situation nicht entging, oft genug das Signal gab. Das Talent kam bei der Anhäufung von „Kehricht“, dem der große Besen so nahe stand, zur Geltung. Der Oberkanonier Kunz hatte bei dem Oberstlieutenant v. Mosel die Funktionen von Stabssecretair, Adjutant und Instructor zugleich, Kenntniß von schriftlichem Dienst aus dem Vollen schöpfend.

Der Schluß der traurigen Affaire führte ihn 1810 als Corporal nach Dresden zurück, und die erregte Aufmerksamkeit bahnte ihm den Weg zur Artillerieschule. General Rouvroy theilt ihm mit, daß er Officier werden könne, wenn er im Stande sei, die Studien vor Mitte nächsten Jahres zu beenden. Er beschließt, das Unmögliche möglich zu machen! Um keinen Augenblick des Studiums zu missen, quartiert er sich nun in der Kaserne ein, und wir sehen ihn, zehn Monate lang, fast ununterbrochen über Reißbret und Buch gebeugt. Die Wache muß den auf seinen Papieren Entschlafenen wecken, die Arzte schütteln den Kopf und mahnen ihn, das Seelenfieber zu mäßigen; aber er eilt von der schlechten, am Arbeitstische eingenommenen Kost, die Unterrichtsstunden zu geben, die ihm den kargen Lebensunterhalt liefern, um rastlos zur Arbeit zurückzukehren, bis die physische Unmöglichkeit allem Weitern ein Ende macht. Erst dann gönnt er sich einige Stunden Ruhe.

Vom Studium augenkrank, mit Scropheln behaftet, zum starken Tabakschnupfer geworden, an Leib und Seele elend, besteht er das Officiersexamen glänzend, erhält die erste Censur – hält das Officierspatent und die ersehnten sechszehn Thaler Gage in Händen – da wird ein Graf Vitzthum, bis dahin Schüler des Gymnasiums zum Kreuz, ohne alle militärische Vorbereitung, in die Reihe der Ernannten eingeschoben, und Carl Theodor mit seiner auch der Zeit nach ersten Censur wird dadurch – aggregirter Lieutenant – ohne Gehalt!!

Also Officier und tiefer im Elend, als je zuvor!

Er verzagte nicht. Auf Wucherzinsen schießt ihm ein Hoflakai die nicht unbeträchtliche Summe zur Equipirung vor (die Epaulettes kosteten allein 45 Thaler), und Unterricht, zum bescheidensten Preise von zwei Groschen die Stunde gegeben, muß wieder nähren. Zur Armirung der mit unerhörter Eile verstärkten Festung Torgau war ein Pulvertransport hinabzubringen. Der jüngste Artillerie-Lieutenant muß doch für alt an Muth und Umsicht gegolten haben. Er erhielt das Commando der gefährlichen Sendung und landete seine Pulvertonnen nach drei Tagen unbehaglicher Fahrt vor der alten Festung. Hier wurde im Sturm gebaut und im Sturm gelebt. Es mangelte an Officieren für die [522] Leitung der Arbeitermassen, die bis zur Erschöpfung angespannt wurden, denn „der Kaiser“ hatte befohlen! Die Artillerieofficiere wurden zur Assistenz der Ingenieure commandirt, und hier in Torgau war es, wo Kunz zum ersten Male in die Sphäre trat, in der seine großen Fähigkeiten bei aller Leistung doch niemals vollkommen zur Ausnutzung gekommen sind.

Mit Anleitung der Arbeiten an der Elbe beauftragt, entwickelte er bald sein Dispositionstalent, seine Gabe, die Leute zu befeuern, Ideen zu benutzen und Individualitäten zu durchschauen. Der rapide Fortschritt seiner Ausführungen, seine Disciplin entgingen seinen Vorgesetzten nicht, und bald sah er sich als Rathgeber seiner ältern Collegen allenthalben in Anspruch genommen und weit über seine Stellung in der Meinung erhoben.

Am häufigsten aber trat, wenn der junge Officier Bettungen legte, Schießscharten einschnitt, Wallgeschütze aufbrachte, Grabenböschungen, Escarpen und Contrescarpen mit Faschinen revetirte und Alles den Leuten nach seinem Commandoworte von den Händen zu fliegen schien, nie eine Anordnung sich widerrief, keine die andere hinderte, ein großer, starker Mann im Civilrocke mit einem Orden darauf, aufmerksam an die wimmelnden und doch so wohlgeordneten Ameisenhaufen bei der Arbeit heran, oft lächelnd und billigend mit dem Kopfe nickend. Bald wurde er mit dem selbst Hand anlegenden kleinen Lieutenant, der im Regen und Schneegestöber der Erste und Letzte bei der Arbeit war, bekannt, und der Umgang des älteren Mannes, welches der sächs. Wasserbaudirector Wagner war, fesselte den Müden oft an einem Ecktischchen bei Petacca im lehrreichen Gespräch, während die Cameraden an der Tafel lustig die Würfel springen ließen. Kunz trat im Jahre 1811 zu Torgau zum ersten Male in’s Leben der Gesellschaft, das dem Unterofficiere verschlossen geblieben war. Der Krieg stand in Aussicht, die körperliche Zucht fiel an Werth! In hohem Maße charakteristisch für die fast schroffe Keuschheit von Kunz’s Individualität war, daß er zwar dem Spiel erlag und sein kleines Hab und Gut und viel darüber verlor, immer jedoch sich mit Ekel von Orgien wandte, bei denen das Weib, das er mit einer, seinem Wesen seltsam anstehenden Schwärmerei feierte, in den Schlamm der Gemeinheit sank. Später, mit einer religiös gepflegten Neigung im Herzen, reihte er all sein kräftiges Denken und Fühlen wie Edelsteine um das geliebte Bild, das ihn gleich einem Amulette auch später bei den Versuchungen in Frankreich vor jeder Wüstheit schützte. Torgau wurde in jeder Beziehung bedeutungsvoll für sein späteres Leben.

Als Trainführer bei der Batterie des Hauptmann Essenius finden wir ihn, immer noch jüngster Lieutenant, auf dem Marsche nach der pommerschen Ostseeküste, wo eine Abtheilung der sächs. Armee mit ein paar Tausend französischer Mariniers, Douaniers etc. die zweite Abtheilung des Armeecorps Augereau’s, Herzog von Castiglione, bilden sollte, an der Tafel dieses geistvollen Feldherrn in Berlin. Heiter, aber zum Entsetzen und schämigen Erröthen der adligen deutschen Officiere, erzählte dieser, wie er als armer Sohn eines Maurergesellen und einer Hökerin, vor der franz. Revolution im sächsischen Regimente Prinz Max, als gemeiner Grenadier mit dem nachmaligen Bischofe Mauermann als Nebenmann, gestanden habe. General Morand, ein roher aber kluger Haudegen, commandirte in Stralsund und Rügen. Ein gewaltiger Sturm wirft eine Flotille von vierzehn feindlichen Kauffahrern an den Strand bei Jasmund. Kunz zeichnet sich beim Bergen der reichen Beute und der Mannschaft aus, von Morand bemerkt, der ihm sein „tüchtig Theil“ an ersterer selbst verspricht. Der gewaltige Erlös der russischen Waaren ward vierzehn Tage später unter die Franzosen allein vertheilt, und Kunz’s Theil besteht in nichts, als – einem englischen Reitzeuge!

Das berühmte 29. Bulletin von der großen Armee ändert Scenerie und Gemüther. Die hochfahrenden, brüsken Franzosen werden geschmeidig, das unwiderstehliche „Vorwärts“ wandelt sich in eiliges „Zurück“. Cassen, Kostbarkeiten und Zugthiere werden zusammengerafft, und vier Wochen lang ununterbrochen wälzt sich das Armeecorps durch die grundlosen Moorwege des Thauwetters und die schneidenden Eiskrusten der Frühlingsfröste, seinen Weg mit Fieberkranken und Erfrierenden bezeichnend, rastlos der Elbe zu. Immer noch commandirt Kunz den Train der Brigade Essenius. Er findet unermüdet allenthalben Pferde für seine Geschütze, seine Karren. Gleichmüthig spannt er, trotz des Zeterschreis der Lakaien, die Paradepferde aus dem Marstalle des Mecklenburger Großherzogs im Gallageschirr neben den todtmüden Ackergaul der Bauern, ohne Unterschied bettet er seine triefenden Leute, die Pistole in der Faust, in die Salons der stolzen Krautjunker wie in den Stall des Leibeigenen. Bald belegen und behängen sich seine Wagen, ja die Geschütze selbst, mit todtmatten Kranken, die um Gotteswillen um ein Plätzchen auf einem Tritte, einer Deichsel bitten.

Kosakenangriffe, unaufhörlicher Regen und Kälte haben das Elend hoch gesteigert, als das Corps die Elbe bei Zollenspieker nahe Hamburg erreicht, sie überschreiten soll und die Fahrzeuge im eistreibenden Strome versenkt findet. Hier ist es Kunz, der die Fahrzeuge im Wasser entdeckt, Mittel zu ihrer Hebung angiebt, einen, die Batterie Essenius anprallenden Kosakenangriff durch einen eigenmächtig abgefeuerten, glücklichen Kanonenschuß und indem er seine Kranken unter Gewehr treten läßt, zurückschlägt. Er ist es, der beim endlichen, unsäglich mühsamen Ueberschiffen der Artillerie so hervorstehende Dienste thut, daß der General Morand, der, einer der Letzten an die letzten Pontons reit und dessen bäumendes Pferd Kunz bändigt, sein Kreuz von der Brust reißt und es ihm reichen will. Da trifft ein Karabinerschuß eines Kosaken das Pferd, das sich überschlägt. Der General ist betäubt, im Tumult geht das Kreuz verloren, das Kunz, zu stolz an Dienste zu erinnern, nie erhalten hat.

Am 1. April 1813 fiel Lüneburg, von Sachsen und Franzosen gehalten, von den Preußen und Russen gestürmt. Hier war es unser junger Lieutenant, der die letzten sächsischen Geschütze am Bremer Thore gegen die in den Straßen quellende Sturmcolonne, trotz des von allen Seiten von fliehenden Cohorten ausgestoßenen Geschreies „Ne tirez plus!“, mit blutendem Herzen, aber entschlossener Hand auf die Kinder seines Vaterlandes losbrannte. Im Augenblicke, wo er sie mit einem zerbrochenen Ladestocke vernagelt hatte, wurde er von Kosaken gefangen, mit den Pferdesträngen an sein Geschütz gebunden. Sie rissen ihm die Epaulettes vom Leibe, Geld und Uhr aus der Tasche. Zwischen Dragonern wurden die sächs. Gefangenen, oft hungernd und Alles entbehrend, durch die wild aufgeregten feindlichen Provinzen getrieben. Die Truppen, die sie auch „Verräther“ schimpften und mißhandelten, hatten oft Mühe, sie vor dem Fanatismus des Pöbels zu schützen, der in Berlin, durch das sie im traurigen Triumphzuge marschiren mußten, seinen Höhepunkt erreichte. Doch still und Schleier über diese Schrecken des Bruderkrieges! Kunz ruft aus: „Unsere Brüder unter den Waffen sind glücklich. Sie haben das schöne Loos, für den König zu bluten, wir können hier nichts thun, als für ihn beten, leiden und – hungern!“

Wahrlich, Kunzen’s Vaterlandsliebe zeigte sich auf dem Prüfstein dieser Leiden echt und fern von jenem „patriotisme d’antichambre“, der wie ein Hund zwischen Treppe und Boudoir im Fürstenpalaste oder im Vorzimmer der Minister liegt. Alle Aufforderungen, preußische Dienste zu nehmen, wies Carl Theodor entschieden zurück. Diese Gefangenen waren nach Rußland zu transportiren!

Zweitausend Werste Steppenreise, Elend, Sibirien – sie wußten es nicht, ob sie dem nicht entgegengingen, als sie jenseits Königsberg über die russische Grenze getrieben, auf livländischen Dörfern einquartiert wurden. Die Russen waren ohne Bitterkeit gegen den unbekannten kleinen Feind, und als die Stunde der Auswechselung im September 1814 schlug, da hatte der junge Officier eine große Rundreise auf heitern, prächtigen Landsitzen in Mitaus Umgegend zu machen, von denen er mit Schmerzen schied.

Die Heimath hatte deren kaum weniger für ihn, als die Gefangenschaft. Der Drang die Welt zu sehen ließ ihn die Theilnahme am Feldzuge in Frankreich suchen. Wer den ernsten, scharfkrystallisirten Erbauer der ersten großen deutschen Eisenbahn gekannt, liest nicht ohne tiefe Rührung die Niederschriften aus den Jahren 1816–1818, in denen eine treue, hohe Neigung zu einem edeln Mädchen die Schwärmereien in den alten Schlössern am Rhein, die Tugendkämpfe in dem lockern Frankreich, die Klagen um ein verfehltes Dasein, unbefriedigten Wissenstrieb und über das Sclavenjoch der Folgen des Leichtsinns verklärt, ja ihm sogar die hohe Kraft verleiht, der Gefahr des Erblindens, die ihm in Folge einer Pulververbrennung droht, ohne Verzweiflung in’s Auge zu sehen. Wer von uns sächsischen Eisenbahntechnikern vermag sich den strengen „Vater Kunz“, mit der Guitarre am blauen Bande, durch die Vogesenthäler streifend, hier Orgel spielend, dort Verse in ein Fenster ritzend, zu denken?! Citate aus allen guten Schriftstellern zeigen seine Belesenheit, die Wahl seiner Lieblinge seinen Geschmack!

(Schluß folgt.)
[523]
Die Poesie des Rauchens.
Eine Petition an die Frauen.
Mit Illustrationen von L. Loeffler.

Es beginnt zu dämmern. Dieses ist die Stunde, wo ich mir eine Cigarre anzuzünden pflege. Ich setze mich dann in meinen Lehnstuhl, schaue in den Abendhimmel hinaus und folge den großen Wolken, die daran ziehen, oder blicke träumend in die kleinen Wolken, die kleinen, blauen Dampfwolken, die aus meiner Cigarre kräuselnd aufsteigen und sich langsam im Zimmer verlieren.

Welch’ eine Magie liegt doch in dem Anblick des Dampfes! Ich will nicht von dem Dampf der Locomotive sprechen, denn der bezeichnet Unruhe, Rastlosigkeit, er bezeichnet das Jahrhundert. Auch nicht von der schwarzen Rußwolke, welche über den Fabrikstädten schwebt, oder mit Flammenzungen gemischt aus den düstern Schlöten emporschlägt. Dieser Dampf bezeichnet die Arbeit, die Mühe, die Armuth der Einen, den Reichthum der Andern. Wozu sollen wir unser Dämmerstündchen mit solchen Gedanken stören? Laßt uns den Dampf betrachten, der aus den Hütten der Dörfer wirbelt, den Rauch des Heerdes, diesen Boten des Friedens, diese wahre Wolkensäule der Menschheit, die ihr Canaan sucht. Giebt es ein freundlicheres, anmuthigeres Bild als solch ein Dorf, wenn sein gastlicher Rauch, vergoldet vom Schein der Abendsonne, Euch nach tagelanger Wanderung zu winken scheint? Wenn er Euch seine stille Erzählung von einem einfachen Glück, von Zufriedenheit, von Dankbarkeit, von Fleiß und vom Lohne des Fleißes zu erzählen und Euch in den Worten des Dichters zuzurufen scheint: „wenn’s noch auf Erden einen Frieden giebt, so ist es hier!“ – Wie trostlos dagegen kommt uns ein Haus vor, dessen Schornstein kalt ist! Hängt nicht über solch’ einem Hause selber ein Schatten von Kälte, ein Anflug von Frostigkeit, der uns unwillig macht, seiner Thüre zu nahen und seine Schwelle zu überschreiten? Die Unzufriedenheit, die Schuld oder die Verzweiflung müssen unter einem solchen Dache wohnen. Denn wer das Leben liebt, der liebt das belebende Feuer und den einladenden Rauch, der noch über das Dach hinaus den glücklichen Wohnsitz glücklicher und guter Menschen kennzeichnet. Wenn wir uns ein Bild des Familienlebens machen, so darf der Heerd, das Feuer und der Rauch nicht fehlen. Ja, es giebt einige Völker, welche nur ein Wort haben für die beiden Begriffe von Rauch und Haus; z. B. die schottischen Hochländer. Dem Wanderer, der sich auf ihren weiten Mooren verirrt hat, erwidern sie auf die Frage, ob sich kein Haus in der Nähe befinde: „Geht noch eine Viertelstunde, bis zu jener Schlucht, dann haltet Euch rechts und Ihr werdet einen Rauch finden!“

Ist es nicht ein erhebender Gedanke für mich in meinem Lehnstuhl und stillen Abendstübchen, zu denken, daß der Rauch, welcher in bläulichen Ringen vor mir aufwirbelt, mich mit einer ganzen Kette von ungesehenen Rauchern in Nord und Süd, in Ost und West verbindet? Denn kein geselliges Bindemittel ist dem Rauchen zu vergleichen, und keine geselligere Brüderschaft giebt es als die Raucher. Was hindert uns, irgend einen Menschen auf der Straße anzusprechen, wenn er nur eine Cigarre im Munde hat? Es ist wahr, wir kennen ihn nicht, wir wissen nicht, wer er ist, und haben ihn nie gesehen; indessen seine Cigarre brennt, und er wird unter Hunderten nicht Ein Mal verweigern, daß wir die unserige an derselben anzünden. Wo sucht der Raucher auf Reisen seine Bekanntschaften, wenn nicht unter den Rauchern und im Rauchcoupé? Und haben wir nicht in unserm eigenen Museum von Berlin die kleinen, schwarzgebrannten Pfeifchen unseres alten ersten Friedrich Wilhelm, um uns die geselligen Tugenden des Rauchs und Rauchens predigen zu lassen?

Aber ach! die Pfeife selber ist im Verschwinden begriffen. Bald wird es keine Pfeifen mehr geben. Und doch – wie viel Erinnerungen knüpfen sich an die alte Pfeife mit der Kernspitze, die ich dort in einem Winkel meiner Stube stehen habe! Einst, mit einer bunten Quaste verziert, war sie der Stolz meines bescheidenen Studirzimmerchens. Wie viele vergnügte Abende, wie viele glückliche Stunden, wie viele liebe Gesichter erscheinen mir plötzlich, wenn ich die alte Pfeife ansehe! Zuweilen kann ich auch der Versuchung nicht widerstehen, sie hervorzuholen, zu stopfen und anzuzünden. Indessen darf ich mich diesem Luxus nur sehr selten hingeben, etwa nur, wenn meine liebe Frau bei ihrer Freundin gegenüber zu Besuch ist. Denn – offen gestanden! sie liebt den Geruch nicht und behauptet, er schade den Gardinen. Ich will das auch wohl glauben, und wie gesagt, ich beschränke mich meistens darauf, die Pfeife anzusehen. Aber eine schöne Zeit war es doch, als die Pfeife noch florirte und als man nicht zu erröthen brauchte, wenn man in einen Tabaksladen trat, um ein „Paket Knaster“ zu fordern!

Wie viel schöne Lieder sind nicht auf die Pfeife gedichtet worden! Voran das schöne Lied des preußischen Grenadiers:

„Gott grüß Euch, Alter, schmeckt das Pfeifchen?“

Und dann das andere, welches von einem wahren Anakreon des Tabaks in seiner besten Stunde verfaßt sein muß:

„Wenn mein Pfeifchen dampft und glüht,
Und der Rauch von Blättern
Sanft mir um die Nase zieht,
Tausch’ ich nicht mit Göttern.“

Oder das Studentenlied, wo es heißt:

„Knaster den gelben
Hat uns Apoll präparirt,
und uns denselben
Recommandirt.“

Hat einer von den Lesern jemals schon ein Lied zum Lobe der Cigarre gesehen? Ich habe noch keines gesehen, und glaube auch nicht, daß man so bald eines darauf machen wird. Denn doch nur um die Pfeife schwebt jene Art von Poesie, welche die Sänger begeistern kann. Eine Cigarre wirft man fort, wenn sie ihre Dienste gethan; zuweilen auch, bevor sie ihren Dienst gethan. Denn sollen wir ein Geheimniß daraus machen, daß die Waare sich von Jahr zu Jahr verschlechtert und daß eine gute Cigarre bald zu den Seltenheiten gehören wird? Das war doch anders in den glorreichen Zeiten der Pfeife. Ein gutes Paket Tabak ist leichter zu finden, als eine gute Kiste Cigarren. Und dann gab’s auch damals den Aerger nicht über Cigarren, welche nicht „ziehen“. Eine Pfeife, wenn man sie nur reinlich hielt und vernünftig stopfte, zog immer. Ferner ward eine Pfeife nicht weggeworfen wie eine Cigarre, wenn sie zu Ende gebrannt ist. Im Gegentheil, man hob die Pfeife sorgfältig auf und ein gut angerauchter Kopf war Geldes werth. Es entspann sich ein Verhältniß zwischen dem Raucher und seiner Pfeife, welches der gegenwärtigen Generation abhanden gekommen, eine Anhänglichkeit, eine gewisse Zärtlichkeit, wie zwischen Jugendfreunden. Es gab damals Pfeifensammlungen, wie es jetzt Waffensammlungen, Münzsammlungen oder Briefmarkensammlungen giebt. Eine der größten und merkwürdigsten Sammlungen dieser Art besaß der Marschall Oudinot. Er hatte Pfeifen von allen Völkerschaften, von allen Formen und Gattungen, von allen Unterschieden des Werthes und des Alters. Am meisten hielt er auf eine gewisse Pfeife, welche einst das Eigenthum von Johann Sobiesky gewesen und welche dem Marschall von der Bürgerschaft Wiens [524] zum Geschenke gemacht worden, als er während der französischen Occupation Gouverneur der Stadt war.

In Deutschland.

In Irland.

In Wien hat sich das Pfeifenrauchen noch etwas mehr erhalten. Es giebt auch nirgends schöner geschnittene und kostbarer verzierte Pfeifenköpfe, als hier. Der Wiener „Meerschaum“ ist ein Wort, das in die Sprachen aller rauchenden Völker übergegangen ist. Die kostbarsten Pfeifen aber sind diejenigen des Ostens, welche unter dem Namen von „Narghilé“ und „Tschibuk“ gehen. Kostbare Steine, Gold und Silber werden als Einlage derselben verschwendet. Ein eigener Diener ist nothwendig, um sie in Brand zu halten, und Stunden sind erforderlich, bis solch ein Ding ausgeraucht ist. – Er bedarf der Ruhe, der äußern sowohl wie der innern, um eine Pfeife zu rauchen, und darum wird mit dem Fortschritte der Zeit, der Eisenbahn und der Dampfmaschine die Cigarre immer mehr Terrain erobern. Ueberall, wo rasch gelebt und viel gearbeitet wird, in den großen Städten, den Metropolen des Handels und Verkehrs, hat die Cigarre ihren Triumph gefeiert, und nur noch auf dem Lande, bei den Leuten von „Ehedem“ und den Völkern, die hinter der Zeit zurückgeblieben, vermag die Pfeife in Geltung zu bleiben, d. h. die lange Pfeife. Mit der kurzen Pfeife ist es etwas Anderes. Diese, nicht größer, als daß man sie bequem in die Westentasche stecken könnte, hat sich in England erhalten.

Im Orient.

Im Süden.

Dort raucht der Arbeiter, der Handwerker, der Soldat, der Citymann, der Künstler und Gelehrte seine kleine schwarze „clay pipe“ und stopft sie mit dem stärksten schwarzen Tennessee-Tabak, entweder „Shag“ oder „bird’s eye“ Daß es nur ja Keinem von uns einfalle, dieses Kraut zu versuchen, welches mich an den miserabelsten Tag meines Lebens erinnert. Das war im schottischen Hochland, an der wilden Meeresküste von Ben Cruachan, in einem elenden Fischerdorfe, wo es Westwinde, Seegeruch, Tang und Möven genug gab, aber keine Cigarren. Mein Vorrath davon war erschöpft. Ich war „abgebrannt“, wie man zu sagen pflegt. Zu welchem Entschlusse treibt uns die Noth nicht! Einen schlimmeren aber habe ich nie gefaßt, als in jener Stunde, wo ich mir ein Thonpfeifchen kaufte, dasselbe mit „Shag“ füllte und mich damit auf ein umgestürztes Boot setzte. Heran donnerte die Brandung des Meeres, das um Jona und die Fingalshöhle rollt; vor mir standen in ossianischem Nebel die Berge von Mull und Kerera, und rings versammelten sich die Kinder, die Schweine, die Schafe, die Gänse und Enten des kleinen Dorfes, – eine barmherzige Gesellschaft, mit kummervollen Mienen und aufrichtigem Jammer in den Blicken. Denn ach! – was ich empfand, was ich litt bei dieser unvergeßlichen Pfeife: „das, o Muse, verbeut dem Dichter zu singen.“

Eine weitere Eigenthümlichkeit dieses Tabaks, welcher – nach unsern Begriffen – weder aussieht wie Tabak, noch schmeckt wie Tabak, besteht darin, daß er, um selbst den Engländern genießbar zu sein, angefeuchtet werden muß, während die Tugend unseres [525] Tabaks und unserer Cigarren ist, daß sie trocken oder „abgelagert“ seien. Diese Eigenschaft hat der englisch-amerikanische Tabak mit dem sogen. türkischen gemein, welcher in irdenen oder Steinkrügen und mit den verschiedensten Mitteln von getränkten Schwämmen, Wurzel- oder Aepfelscheibchen kühl und feucht gehalten werden muß, um sein ganzes Aroma zu entwickeln. Doch besteht die große Verschiedenheit darin, daß dieser türkische Tabak ebenso leicht, als jener, der englische, schwer ist. Es scheint, als ob dieselbe Scala, wie bei der übrigen Diät, auch hier bewußt oder unbewußt eingehalten werde. Wie die Völker in den südlichen Klimaten sich von so leichten Speisen wie Reis und Früchten nähren und wenig dazu trinken, außer Wasser und verdünntem Wein, während die Völker des Nordens schwere Weine, starkes Bier und hitzige Getränke aller Art bevorzugen und schwerere Speisen genießen, je mehr man sich dem Pol nähert: so scheint auch die Länge der Pfeifen und die Stärke des Tabaks je nach den Breitegraden ab- oder zuzunehmen. Von dieser Regel machen auch die Virginia-Cigarren, welche in Italien geraucht werden, keine Ausnahme. Es sind lange, dünne und dürre Stengel mit der Spitze eines Strohhalmes und von einer solchen Hartnäckigkeit, daß sie erst minutenlang in oder über das Feuer gehalten werden müssen, ehe sie glimmen, und die, wenn sie glimmen, für den Ungeübten den Geruch und Geschmack von angesengtem Löschpapier haben.

An den beiden Endpunkten der europäischen Cultur, im Osten und im Westen, betheiligt sich auch das schöne Geschlecht an diesem Vergnügen. Für die Frauen der niedrigsten Classe in Irland ist ein Pfeifchen ganz so gewöhnlich, als für die der besten Gesellschaft in Polen, Rußland, der Walachei und Moldau die Cigarette. Die rauchenden Schönheiten des Ostens und Südens wissen diese kleinen, zierlichen Röllchen mit einer großen Eleganz und Geschwindigkeit, gleichsam im Handumdrehen, zu verfertigen, und sie dieselben rauchen zu sehen, in die Ecke eines Divans gelehnt, hat, wenn wir auch unsere Frauenideale uns anders denken, doch jedenfalls für das Auge mehr Anziehendes, als der Anblick eines jener armen irischen Weiber, welche in Lumpen gehüllt unter der Thür ihrer halbzerfallenen Hütte mit der schwarzen Pfeife sitzen, deren Dampf nicht selten das Einzige ist, was ihren Hunger auf Augenblicke zum Schweigen bringt. In England ist das Rauchen der Damen nicht Sitte, trotz der „Tabakspfeife der Königin“ in London, welche die größte Tabakspfeife auf der ganzen Welt ist und Jahr ein, Jahr aus, Tag und Nacht nicht kalt wird. Diese Tabakspfeife der Königin befindet sich in den Docks von London und ist, um die Wahrheit zu sagen, ein ungeheuerer Schornstein und Ofen, in welche aller geschmuggelte, schadhafte, verdorbene oder sonst zum Feuertod verurtheilte Tabak verbrannt wird.

Holland, einst so sehr das Land des Tabaks, daß man einem Mynheer weder auf Bildern noch in Romanen jemals ohne die lange Thonpfeife begegnet wäre, hat in dieser Beziehung gleichen Schritt mit der Zeit gehalten. Die Kohlenbecken auf den Tischen und die jedem Besucher offen stehenden Tabaksschalen finden sich nur noch in den Reisehandbüchern. In der Wirklichkeit hatte ich Mühe, nur so viel wie eine thönerne Pfeife im ganzen Haag aufzutreiben, und als ich mich in der Gesellschaft meiner Freunde eines Abends mit derselben vor die Wirthshausthüre setzte, da blieben die Leute stehen, um mich anzusehen.

Aber fürchte nicht, mein theurer Leser, daß die Gewohnheit selber aussterben werde! Nicht nur der letzte Dichter, auch der letzte Raucher wird erst mit dem letzten Menschen „aus dem alten Erdenhaus“ gehen. Welch’ ein zähes Leben muß doch in diesem Kraute sein, daß es die Anathemen päpstlicher Bullen, die zahlreichen Angriffe von Doctoren und Philosophen, die schweren Auflagen von Zöllen und Abgaben aller Art überdauern konnte! Es muß doch wohl Etwas von den Eigenschaften des Behaglichen, der Zufriedenheit und Geselligkeit, als deren Symbol wir den Rauch ansehen, dem Tabak selber innewohnen, in welcher Form wir ihn auch rauchen mögen. Und doch – sollte man’s glauben? – hat dieses unschuldige, harmlose Product, welches so viel zum Wohle der Menschheit und Genusse des Lebens beiträgt, noch immer seine Feinde. Ja, es giebt in England eine eigene Gesellschaft und ein eigenes Journal gegen das Rauchen, das „Anti-Tobacco-Journal“, von welchem mir kürzlich eine Nummer zu Händen gekommen ist. In diesem Journal ist Alles, was der Phantasie und Beredsamkeit zu Gebote steht, Vers und Prosa, die Novelle und die ernste Ermahnung, der Holzschnitt und der Steindruck, angewendet, um das Publicum vom Tabak abzubringen.

Ich übergehe den zur Warnung mitgetheilten Brief eines armen Mannes in Neu-Süd-Wales, obgleich sein Fall die meiste Aehnlichkeit mit dem meinigen in Schottland hat. Dieser Mann nämlich besitzt Nichts, um seinen Appetit zu stillen, als einen Pfeifenkopf, an welchen er zuweilen riecht, und er schließt die vorliegende Epistel an seinen Bruder in England mit der bescheidenen Bitte, daß man ihm ein Paar alte Stiefeln, die er zu Hause gelassen, nachschicken und mit Bristol-Tabak füllen möge. Das Hauptstück der Nummer ist eine Erzählung unter dem Titel: „Ein Leuchtthurm für junge Raucher und junge Mädchen.“ Der große Effect dieses „Leuchtthurms“ besteht darin, daß das junge Mädchen, welches von dem tabaksfeindlichen Verfasser mit Recht beklagt wird, einen Mann heirathet, der erst nach der Hochzeit anfängt zu rauchen. „Als sie heirathete, umgaben fröhliche Aussichten ihr Auge.“ Ihr Mann war ein Advocat. „Die erste Zeit war er erfolgreich in seinem Geschäft.“ Alles ging glücklich, bis er auf einmal, „gleich so vielen andern Unglücklichen, ein Opfer des Rauchens wurde.“ Gleich den andern „Opfern“ rauchte er, um das Elend, welches das Rauchen verursacht, zu lindern, und in demselben Maß, als sein Rauchen zunahm, nahmen natürlich auch seine Leiden zu. Zuletzt wurde er unfähig, seine Geschäfte zu besorgen, eine tiefe Melancholie bemächtigte sich seiner und „ihn verfolgte die Idee, daß er von einem tollen Hunde gebissen worden sei.“ Bis jetzt ist von einer solchen Folge des Rauchens noch nichts gehört worden, einerlei, ob der Raucher ein Advocat und verheiratheter Mann war, oder nicht. Indessen war es in diesem Falle die Folge; aber leider nicht die einzige. Der von der fixen Idee des tollen Hundes verfolgte Advocat verarmte und wanderte aus. Allein auch das versöhnte das Schicksal nicht, und erst „in einem australischen Grabe“ büßt der arme Mann die Schuld, geraucht zu haben! Was aus seiner armen Wittwe geworden, sagt die Novelle des Anti-Tabak-Journals nicht, obgleich das Loos der Unglücklichen doch unstreitig das bedauernswertheste gewesen. Denn da ihr Gemahl vor der Hochzeit nicht rauchte, wie konnte sie ahnen, daß er sich nach derselben dem Laster ergeben würde? Poetische Gerechtigkeit sollte doch in allen Novellen herrschen, diejenigen des Anti-Tabak-Journals nicht ausgenommen. Was aber bleibt die Moral, mögen wir nun das Thema wenden, wie wir wollen? Ach, schöne Leserin, nicht die tröstlichste! Denn wenn das Rauchen wirklich solche gräßliche Uebel im Gefolge hat, wie Kummer, fixe Ideen, Auswanderung, und wenn man für den besten Mann selbst im besten Falle nicht garantiren kann: dann, in der That, bleibt den jungen Mädchen nichts übrig, als – überhaupt nicht zu heirathen. Nach den traurigen Enthüllungen, welche das Organ der englischen Tabaksfeinde gemacht, haben sie fortan die Wahl, und sie werden nur sich selber verantwortlich machen können, wenn sie die Frauen von Rauchern und die unschuldigen Opfer des Rauchens geworden sind.

Aber siehe da! – über meinem Philosophiren ist es dunkel geworden und meine Cigarre ist zu Ende. Mir bleibt nichts mehr, als die Asche wegzuwerfen und dies Zwielichtgeplauder zu schließen.

Julius Rodenberg. 




Deutscher Menschenhandel der Neuzeit.
Aus der Mappe eines Wiesbadener Curgastes.
1.

Wegen eines Gichtleidens, mit welchem ich geplagt bin, besuche ich seit einer langen Reihe von Jahren in jedem Sommer die Thermen von Wiesbaden. Zum ersten Male war ich dort im Sommer 1850. In demselben Hôtel mit mir wohnte eine dänische Familie. Wir saßen bei der Table d’hôte lange Zeit neben einander und wurden dadurch bekannt. Freilich über die schleswig-holsteinsche Frage konnten wir uns nicht verständigen.

Abgesehen aber von ihren nationalen Vorurtheilen, waren diese [526] Dänen im Uebrigen gebildete und liebenswürdige Menschen. Namentlich sprach die mir gegenüber sitzende Dame sehr gut deutsch und kannte unsere Literatur besser, als mancher Deutsche. Sie war voll Achtung für deutsche Wissenschaft und Kunst. Wir standen im Ganzen, wenn auch nicht auf vertraulichem, so doch auf gutem Fuße mit einander, bis eines Tages eine Störung intrat.

Ich hatte – ich weiß nicht mehr, aus welchem Anlaß – erzählt, daß die Eingeborenen der Insel Borneo des festen Glaubens sind, die großen Affen, welche dort gedeihen und den Namen Schimpanse oder Schin-Panse führen, seien Menschen so gut, wie wir Andern auch, und könnten auch sprechen, und auf die Frage, warum sie denn uns gegenüber von der Gabe der Sprache keinen Gebrauch machten, pflegten die Eingeborenen zu antworten: Der Schimpanse sei ein Schlauberger, er stelle sich, als wenn er nicht sprechen könne, damit es ihm nicht gehe, wie den weniger vorsichtigen Malayen, die von den Holländern zur Arbeit angehalten würden.“

Mein Nachbar rechts, ein alter Herr der selbst lange in Indien war, glaubte nicht zurückbleiben zu dürfen. Er erzählte Folgendes:

„Wie Sie wissen, giebt es in Java noch zwei Sultane, einen in Surakarta und einen in Dschukdschukkarta. Sie sind beide durch die Holländer, wie man es hier zu Lande nennt, mediatisirt. Dabei beziehen sie jedoch eine bedeutende Civilliste und unterhalten damit den ganzen Luxus eines asiatischen Hofstaates. Hierzu gehört nach dortigen Begriffen – ebenso nothwendig, wie nach hiesigen z. B. ein Marstall, oder die Hofjagden und das Hoftheater – eine große Menagerie. Sie ist ein Hauptstolz des Fürsten. Zur Zeit, als ich in Indien war, fungirte einer meiner Freunde als Resident oder Botschafter des Königs der Niederlande bei Seiner rhabarberbraunen Hoheit von Surakarta. Ich besuchte denselben auf der Rückkehr von einer anstrengenden Jagdcampagne in den Urwäldern, die sich am Fuße schneebedeckter Vulcane hinziehen. Gleichzeitig traf ein Amsterdamer Professor der Zoologie dort ein, den die holländische Regierung mit einer wissenschaftlichen Mission in ihre indischen Colonien geschickt hatte. Der sultanische Menagerie-Oberintendant zeigte dem holländischen Professor die Thiere. Der Resident und ich begleiteten sie. Plötzlich nahm ein ungemein großer und ebenso häßlicher Affe die Aufmerksamkeit des Professors ganz in Anspruch. Er hatte ein solches Thier noch nie gesehen und wußte nicht, in welches Schubfach seiner Wissenschaft er es unterbringen sollte. Er fragte den Residenten. Der wußte auch nichts. Er fragte den Menagerie-Intendanten. Allein dieser war Malaye und verstand kein Holländisch. Glücklicher Weise verstand der Resident malayisch und wiederholte dem Intendanten die Frage in dieser seiner Muttersprache. Der Malaye erwiderte mit jener würdevollen Höflichkeit, die dieser Race eigenthümlich ist, er glaube die Frage besser beantworten zu können, wenn ihm vorher eine Gegenfrage gestattet werde. Als der Resident dies bereitwillig erlaubt hatte, fragte der Malaye, auf den Zoologen deutend, wie sich denn dieser nenne. Der Resident antwortete auf Malayisch: ‚Professor-hollanda‘ (holländischer Professor). Der Malaye stellte darauf uns seinen großen und häßlichen Affen vor mit den Worten: ‚Professor-Borneo.‘ Er glaubte, beide, der Affe und der Naturforscher, gehörten derselben Species an, wozu das Aussehen des Holländers einige Ursache gab.“

Wir lachten Alle herzlich über diese nette Geschichte, die noch nicht im Meidinger stand.

Die dänische Dame, von der ich gesprochen, schien auch etwas erzählen zu wollen. Ich fragte sie, warum sie damit zurückhalte.

„Weil Sie sonst böse werden,“ erwiderte sie, „oder wenigstens sich ärgern.“

„Das Erstere wird nicht geschehen, und der Aerger, mäßig genossen, bekommt dem Menschen so gut, wie den Pferden kleine Dosen von Arsenik. Erzählen Sie!“

„Also darf ich?“

„Ganz gewiß!“

Sie erzählte nun eine Geschichte aus Kopenhagen, die nicht recht verständlich ist, wenn man nicht vorher weiß, daß die Dänen eine landläufige Redensart gebrauchen, welche lautet: „Was thut der Deutsche nicht für’s Geld!“ Das Ganze lief darauf hinaus, daß ein Thierbändiger einen großen Affen auf den Plätzen der dänischen Hauptstadt sehen ließ und daß der gut dressirte und schön costümirte Affe so sehr sich menschenähnlich gebehrdete und so künstliche Verrichtungen vornahm, daß die Straßenjugend glaubte, es sei wirklich ein Mensch, und verwundert in die ihnen geläufigen Worte ausbrach: „Was thut der Deutsche nicht für’s Geld!“

Ich fühlte, wie ich bei dieser Erzählung vor Aerger blaß und roth wurde. Mein Gegenüber sah mir das ohne Zweifel an und sagte: „Bitte, erinnern Sie sich Ihres Versprechens; fast wünschte ich, ich hätte die dumme Geschichte nicht erzählt.“

Ich erwiderte hastig: „Und da eine jede Geschichte auch ihre Moral haben muß, so erlauben Sie mir, dieselbe der Ihrigen hinzuzufügen.“

„Nun?“

„Die Moral ist: Die Affen sind eben so wenig Deutsche, wie die Deutschen Affen. Der süße Pöbel von Kopenhagen hat aber wieder einmal den Beweis geliefert, daß Shakespeare Recht hat, wenn er sagt: ,Ihr könnt den Dänen von Vernunft nicht reden.’“

Damit war ein Mißton in die bis dahin so heitere Unterhaltung gekommen. Die Dame blickte verlegen auf ihren Teller. Die Andern schwiegen. Mir selbst war es sehr unbehaglich zu Muthe. Ich hatte mein Versprechen gebrochen, war gegenüber einer Dame, die ich achtete, unhöflich und dabei leider auch mehr plump als witzig gewesen, welches Letztere ich wohl hatte sein wollen. Aber doch hatte ich den Ausfall nicht so ruhig hinnehmen können. Mein deutscher Nationalstolz, den ich besitze und den jeder Deutsche – trotz alledem und alledem! – besitzen muß, litt das nicht. Auch war ich es nicht, der den Waffenstillstand zuerst gebrochen hatte.

Ich stand mit einer höflichen Verbeugung auf und verließ den Saal, obgleich das Essen kaum begonnen hatte. Einige Tage lang blieb ich von der Mittagstafel weg, bis endlich der alte Herr, der die Geschichte von dem „Professor Borneo“ erzählt hatte, mich aufsuchte und mir eine Strafpredigt hielt, zu welcher er sich, wie er mir sagte, deshalb berechtigt glaubte, weil sein Vater ein deutscher Schweizer, seine Mutter eine italienische Schweizerin war, er in Indien in holländischen Diensten gewesen, im Winter in Paris wohnhaft, im Sommer bald da und bald dort und deshalb in Nationalitätsfragen ganz unparteiisch sei, indem er, wie Carl Vogt in Kirchensachen, „überhaupt gar keinen Standpunkt habe.“

„Hätten Sie nicht die dumme Affengeschichte erzählt,“ sagte er, „und ich nicht eine noch dümmere, so wäre ohne Zweifel einer so klugen und liebenswürdigen Frau eine solche Taktlosigkeit nicht passirt, und Sie würden nicht versucht haben, dieselbe mit einer Grobheit auszugleichen; folglich sind wir allesammt Sünder und müssen alle Buße thun in Sack und Asche und uns in Zukunft hüten, unsere schöne internationale Tafelrunde wieder solchen Störungen auszusetzen. Meine ganz unparteiische Ansicht ist die: Je mehr das nationale Princip erstarkt, – und es befindet sich in Europa auf dem besten Wege dazu – destomehr werden die Völker Respect vor einander bekommen und jene albernen Krähwinkler Spöttereien und Hänseleien verschwinden, mit welchen sich zu Hogarth’s und Swift’s Zeiten Franzosen und Engländer gegenseitig heimsuchten und womit sich gegenwärtig Deutsche und Dänen, Oesterreicher und Ungarn und im Innern Deutschlands Sachsen und Schwaben, Baiern und Franken, ja sogar die Berliner und Potsdamer, die Frankfurter ,Aeppelwein-Trinker’ und die Mainzer ,Sauerkrautesser’ unter einander aufziehen.“ - -

Nun war der Alte auf seinem Steckenpferd, nämlich dem kosmopolitischen Kampfe gegen internationale Vorurtheile; ich ließ ihn sich austoben und es gelang ihm, mich zu bekehren. Der Waffenstillstand mit den „Reichsfeinden“ wurde wieder hergestellt, ich erhielt vollständige Genugthuung wegen der in mir der deutschen Nation widerfahrenen Kränkung und erfuhr bei dieser Gelegenheit Mancherlei, das mich zu weiteren Nachforschungen veranlaßte und auf einen Gegenstand führte, den ich öffentlich zur Sprache zu bringen mich im Interesse der deutschen Nationalehre verpflichtet fühle.

Unsere Tischgenossen aus Dänemark erzählten uns nämlich, daß, abgesehen von den politischen und nationalen Renegaten, welche sich der dänischen Regierung gegen ihre eigenen Landsleute zur Verwendung im Civil- und im Militärdienste stellen und die leider meistens dem deutschen Adel angehören, ein anderer Umstand viel dazu beitrage, den mittleren und unteren Volksclassen Dänemarks, welche natürlich von deutscher Literatur und Kunst nichts wissen, einen übeln Begriff von den Deutschen beizubringen. Die [527] nordischen Städte Europa’s würden alljährlich, namentlich im Sommer, überschwemmt von einer großen Anzahl Deutscher, welche sich dort zu den niedrigsten Verrichtungen herabließen, im Vergleich zu welchen die Beschäftigung der savoyardischen Schuhputzer und Murmelthierbuben, die sich in London und Paris herumtreiben, eine anständige und die der Zigeunerbanden eine romantische genannt zu werden verdiene. Die meisten dieser das Ausland unsicher machenden Deutschen lebten im Grunde genommen von der Prostitution und vom Bettel; denn das Singen, das Musiciren und das Hausiren mit allerlei unbrauchbaren oder werthlosen Dingen, womit sie sich angeblich und äußerlich beschäftigen, sei nur der Vorwand und diene dem einen oder dem andern jener beiden elenden Erwerbszweige zum Vorwand. Nun beurtheile man die Nation nach diesem ihrem Auswurf, und da man von den andern europäischen Völkern nur feine, gebildete und wohlhabende Leute sehe, von dem deutschen Volke aber meist nur diese verkommenen und verwahrlosten Menschen, so sei es natürlich, daß man annehme, Deutschland stehe auf der untersten Stufe der Cultur, noch etwas unter Savoyen, das wenigstens Stiefeln zu wichsen und Murmelthiere abzurichten verstehe.

Trotz der vollsten persönlichen Glaubwürdigkeit der Erzählenden hielt ich das Gehörte für unrichtig oder wenigstens für übertrieben. Ich nahm mir darum vor, selbst Nachforschungen darüber anzustellen. Leider bestätigten diese das Mitgetheilte in vollem Maße und ergaben weiter, daß es besonders das Herzogthum Nassau ist, welches von seiner halben Million Einwohnern alljährlich Hunderte, vielleicht Tausende aussendet, um den deutschen Namen im Auslande zu beschimpfen in einer Weise, die noch schlimmer wirkt, als es die Schmach des mecklenburgischen Prügelgesetzes, des menschenunwürdigen Productes jener „kleinen, aber mächtigen Partei“, im Augenblicke zu thun scheint.

Ja, noch schlimmer; denn, frage ich, ist es eine geringere Schande für Deutschland, daß ein Ländchen von 85 Q.-Meilen und 450,000 Einwohnern, über das die gütige Natur ihr reichstes Füllhorn ausgeschüttet, das sie gesegnet hat mit dem edelsten Wein, den herrlichsten Wäldern, den größten Mineralschätzen, mit Brunnen und Bädern, mit Wasserkraft und Wasserstraßen, mit einer rührigen und geistig hochbegabten Bevölkerung; daß ein Land, welches an der großen Heerstraße der europäischen Völkerwanderung liegt, das jeder Engländer, der den Continent bereist, jeder Franzose, der einmal seinen Fuß über seine Landesgrenze gesetzt, jeder Amerikaner, der einmal dem „Old Europe“ einen Besuch gemacht hat, kennt, das er kennt als schön, reich, blühend, als ein kleines Paradies, als ein „Stückchen Himmel, das auf die Erde gefallen ist“, – daß dieses Land jährlich Hunderte von Männern und Weibern, und was noch schlimmer ist, Hunderte von verwahrlosten Kindern zum Bettel und zur Prostitution nach den ausländischen Hauptstädten schickt, damit sie dort den deutschen Namen schänden?


Im Juni 1862 besuchte ich die Ausstellung in London. Mein Weg führte mich dort öfters von Charing Croß, in dessen Nähe ich wohnte, nach den botanischen und zoologischen Gärten des Regents-Parks, wo ich meine bescheidenen Studien machte. Wenn man die geräuschvollen Strecken der eleganten Regents-Street hinter sich hat, kommt man in die stilleren Quartiere von Portland-Place etc. Hier traf ich stets, sei es auf dem Hin- oder Rückweg, ein Rudel Jungen, die auf mißförmigen Hörnern aus verbogenem Kupferblech eine grauenhafte Musik machten, nach deren Beginn sich alsbald die Fenster der Umgebung öffneten und Penny- oder Halb-Pennystücke auf die Straße herunterfielen. Einer der Jungen sammelte sie, und sobald dies Geschäft beendigt war, hörte die Musik auf, und die Bande zog ein paar Häuser weiter, um denselben Act der Grausamkeit von Neuem zu beginnen. Es handelte sich hier offenbar nicht um einen Ohrenschmaus. Denn die Musik – vorausgesetzt, daß man das von den Jungen hervorgebrachte Geräusch so nennen durfte – war nicht zum Anhören. Sie wurde gemacht, nicht um den Zuhörern ein Vergnügen zu bereiten, im Gegentheil, um sie zu mißhandeln, damit sie sich möglichst schnell entschlossen, sich von dieser Qual zu befreien dadurch, daß sie einen Penny oder einen halben Penny zum Fenster hinaus warfen. Die Hörner dienten zur Ausübung eines qualificirten Bettels. Sie waren weniger musikalische Instrumente, als vielmehr reine Folterwerkzeuge.

Ich ließ mich mit den Buben, da sie unsere Muttersprache redeten, in ein Gespräch ein. Sie erzählten mir, sie seien aus Nassau, und zwar aus dem Amte Wallmerode, das durch seine ultramontane Abstimmung bekannt ist. Auf meine Fragen, ob sie etwa Brüder seien oder wie sie sich sonst zusammengefunden hätten, ob sie Musikanten von Metier seien (was ich in Anbetracht ihrer geringen Leistungen bezweifelte) und was sie nach London geführt habe, erwiderten sie mir, sie gehörten verschiedenen Familien und auch verschiedenen Dörfern an, ein Theil von ihnen sei noch im schulpflichtigen Alter, der Aelteste sei sechszehn Jahre alt; ihre Eltern hätten sie an einen Mann aus dem Odenwald vermiethet, dieser habe ihnen die Hörner gegeben, sie auch, so viel sie es könnten, blasen gelehrt und nach London geführt, wo sie den Tag über auf den Straßen der nördlichen und westlichen Stadttheile ihrem Beruf oblägen, so wie ich es gesehen habe. Abends kehrten sie zu ihrer Kneipe zurück, die östlich vom Tower in einer engen und schmutzigen Straße liege und deren Eigenthümer ebenfalls ein Deutscher sei, dort wohne auch der Mann, der sie gemiethet habe und glänzende Geschäfte mit ihnen mache, denn sie müßten ihm jeden Abend das Geld, das sie den Tag über eingesammelt, abliefern; das sei in der Regel viel, und wenn es ihrem „Unternehmer“ nicht genug sei, bekämen sie Schläge. Ueberhaupt beklagten sie sich bitterlich über schlechte Kost und üble Behandlung, ihre Eltern seien arme Leute, aber sie hätten es doch zu Hause besser gehabt, als hier in dieser fremden, mächtigen Stadt, an deren Ende man gar nicht kommen könne. Der „Unternehmer“ habe ihren Eltern und ihnen, den Jungen selbst, goldene Berge versprochen; wenn sie jedoch gewußt hätten, wie es ihnen ginge, dann hätten sie sich lieber bei der Ueberfahrt in das Meer gestürzt; auch ihre Eltern hätten das gewiß nicht so haben wollen, sonst würden ihnen die „Blutkreuzer“, wofür sie ihre Kinder verschachert hätten, gewiß keinen Segen bringen.

Ich erbot mich ihnen zu helfen. Ich wollte mich an die preußische Gesandtschaft oder an den preußischen Generalconsul wenden, um durch deren Hülfe zu versuchen, was sich zur Befreiung der Jungen thun ließe, die ja, wenn auch nicht zu Preußen, denn doch dem Zollverein angehörten, und Preußen hat ja seine Agenten im Auslande angewiesen, sich der Zollvereinsangehörigen nach Kräften anzunehmen. Ich sagte das den Jungen, allein sie lehnten mein Anerbieten ab. Sie meinten, andere ihrer Leidensgefährten hätten das schon probirt, aber ohne Erfolg, sie hätten dadurch ihre Lage nur noch verschlimmert; das helfe nichts. Bei den Behörden in London sei für den armen Ausländer kein Recht zu finden, und dem „Unternehmer“, der hier alle Pfiffe und Schliche kenne, werde mehr geglaubt; sie müßten sich nun einmal in das Unabänderliche fügen und warten, bis es zu Ende gehe. Da ich ihnen also nicht helfen konnte, so gab ich ihnen ein Stück Geld und den Rath, sich dafür ein ordentliches Luncheon (Gabelfrühstück) anzuschaffen. „Denn,“ sagte ich ihnen, „da Ihr gesetzlich freie Leute und nur mißbräuchlich Sclaven seid und da Ihr nach Euerem Vertrag nur das an Eueren Unternehmer abzuliefern habt, was Ihr mittelst Euerer sogenannten Kunst erwerbt, nicht aber auch das, was man Euch schenkt, so glaube ich, daß Ihr berechtigt seid, das Geld, das ich Euch nicht wegen, sondern trotz der gräulichen Disharmonie, womit Ihr das menschliche Ohr peinigt, gebe, nicht an Eueren Unternehmer abzuliefern, sondern zu eigenem Nutzen zu verwenden.“ Ich hoffe, daß die Jungen meinen Rath befolgt haben.

Auf meinem ferneren Marsch nach dem Regents-Park stieß ich auf eine Truppe Neger, die ebenfalls für Geld musicirten. Ihre Musik war weit besser, und die stumpfnasigen, wollhaarigen Söhne Aethiopiens waren fröhlich und wohlauf. Sie waren wohlgekleidet und schienen gut genährt. Kurz, diese Neger machten den Eindruck von Gentlemen im Vergleich zu den armen weißen Sclaven aus Deutschland, die von ihren Eltern um ein Paar Silberlinge verschachert worden waren!

[528]
Blätter und Blüthen.

Die Sclaverei der Kinder in England. Wer in London an den Schaufenstern gasstrahlender Läden die Zierlichkeit der Posamentier-Arbeiten, der feingestichelten Lederzeuge, der Strick- und Näh-Stücke erblickt und wer sie kauft, der ahnt wohl nicht, wo und von wem diese schönfarbigen Waaren gearbeitet, gestickt und gepreßt worden. Dein Kind, dem die Mutter die neuen purpurrothen Strümpfchen über die kleine pralle Wade zieht, lacht laut auf vor Vergnügen. Und der kleine Camerad, der die Arbeit gemacht, hat sich schon im fünften Jahre zu Tode gearbeitet! Glänzend schmiegt sich die mit Seide gestickte schottische Schärpe um die schlanke Taille einer schönen Sechzehnjährigen, und ein kleines über dem Nähen halberblindetes Mädchen von sechs Jahren hat darüber ganze Nächte durchhungert! Kein Roman, sondern wirklichste Wirklichkeit. Es ist ein officielles Schriftstück, genannt der „Rapport der Parlaments-Commission über die Beschäftigung der Kinder in England“, dem ich nacherzähle, ein Buch, dessen schöner Druck auf großem feinem Parlamentspapier so ansprechend sich ausnimmt und in welchem doch jeder Buchstabe dem englischen Leser zuruft: „Du bist mitschuldig!“

Es giebt darnach in den Binnenland Grafschaften Englands, namentlich in Nottingham-, Derby- und Leicester-Shire, viele Tausende von Eltern, die um weniger Pence willen, durch Noth und Hunger zum Aeußersten getrieben, ihre Kinder schon im vierten Lebensjahre an die Arbeit setzen. Und diese „Arbeit“ heißt dort etwas Besonderes. Sie kennt keine Schlafstunden und währt so lange, wie die Fingergelenke gehorchen, und noch viel länger, als die Gesundheit währt. Das Wachsthum hört auf, aber die Arbeit währt fort; die Lebenskraft verkümmert und die des Geistes wird stumpf und zum Blödsinn abgeschwächt, aber die Arbeit währt fort. Die Eltern selbst sind in jenem Commissionsberichte beschrieben als „hager durch Mangel und erschöpft von harter Arbeit und Sorge“, die Kinder aber als „unbehülflich, verstumpft und verkümmert und ohne Leben“ und zugleich als „völlig unwissend“. Ihr Augenlicht wird schwach, besonders geschieht dies bei den mit dem Säumen beschäftigten Kleinen, und Mädchen von kaum eilf Jahren und weniger tragen – Brillen! In einem großen Dorfe, vier Meilen von der Stadt Nottingham, fand man ein zu Hause arbeitendes kleines Mädchen mit dem Säumen von Handschuhen beschäftigt. Sie war fünf und ein halbes Jahr alt und war schon über zwei Jahre bei dieser Arbeit – das heißt, sie hatte mit drei und einem halben Jahre beginnen müssen! Der Bericht sagt: „Sie pflegte wegen ihrer Kleinheit auf einem Stuhle zu stehen, um besseres Licht von dem auf den Tisch gestellten Talgstumpf zu erhalten.“ Und diese Mühsal ist nicht auf Stunden beschränkt – denn eine Feierstunde würde mit einer Hungerstunde bezahlt. Die kleinen Geschöpfe haben „so viele Finger“ an den zugeschnittenen Handschuhen zu nähen, ehe sie in’s Bett dürfen, und wenn es darüber Mitternacht wird. In’s Bett? Drei, vier zusammengeknotet auf einem zerlumpten Strohsack. Und sie müssen diese „Finger“ machen, und die Mütter, die in der Tretmühle der Noth hart geworden, haben einen Plan erdacht, sie scharf bei der Arbeit zu halten. Die Kleinsten werden an der Mutter Knie mit den Falten ihres Röckchens eng mit Stecknadeln angeheftet, und, wie der Bericht sagt, „wenn sie schläfrig werden, giebt ihnen die Mutter einen Schlag auf den Kopf, um sie wach zu erhalten.“

Der Leser mag das Zweckmäßige dieses Planes bezweifeln – so thaten auch die wohlmeinenden Commissarien. Es wurde ihnen so erklärt: „Wenn die Kinder an dem Knie der arbeitenden Mutter befestigt werden, so können sie ja nicht fallen, wenn sie geschlagen werden oder über dem Sticheln in Schlaf sinken wollen. Ein Sturz auf die Diele würde die Arbeit unterbrechen und wird in solcher Weise verhindert!“ Werden sie älter, so vergrößert sich die Arbeit, „bis man eilf- und zwölfjährige Kinder findet, die bis ein und zwei Uhr Morgens aufsitzen müssen, und mit dreizehn und vierzehn Jahren müssen sie’s die ganze lange Nacht. Letzteres geschieht vornehmlich in den Nächten jedes Donnerstags und Freitags, denn am Sonnabend ist ja – Lohntag.“ Und welcher Lohn, Herr im Himmel! Damit sie mit Thee und Brod Seele und Leib zusammenhalten können. Einige Kinder „gehen aus“ auf Arbeit, indem in diesem oder jenem Hause eine ganze Schaar zusammen arbeitet. Eltern, die ihre Kinder aussenden, gestatten ihnen freilich „nicht länger, als bis neun oder zehn Uhr Abends“ in der Werkstätte zu arbeiten, vor den Leuten sagend, „damit hätten sie genug für das Geld gethan.“ Aber in Wirklichkeit fängt auch dann noch nicht das Erbarmen an. Sie lassen sie nur deshalb „so früh“ (!!) nach Hause kommen, weil sie zu Hause neue Arbeit finden, die entweder mit ihren Eltern gemeinsam zu vollenden ist, oder für dieselben gemacht werden muß, wenn diese nach dem Public-House trollen, nach dem Gin-Palast.

Sind die Kinderjahre überwunden, wird Arbeit die Nacht hindurch häufig Regel; sogenannte „Ueberstunden“ müssen dazu dienen, den armseligen Verdienst um einige Pence hinaufzutreiben. Als „glänzendste Ausnahmen“ gelten die Arbeitsstunden in den Waarenhäusern selbst, weil Kinder eines gewissen Alters gesetzlich davon ausgeschlossen und die Arbeitszeit auch eine fixirte und mehr in ein System gebrachte ist. Es ist eine Eigenthümlichkeit der Posamentierarbeit, daß sie von der Dampfmaschine nicht durchweg geleistet werden kann, also vieler „Hände“ Mühe nöthig macht, und deshalb so vielfach ausgegeben wird, um „daheim“ gethan zu werden. Daher das Uebermaß des Elends und die Unmöglichkeit wohlwollender Controle.

Soweit die leibliche Noth dieser Kinder des freien Englands. Was die geistige angeht, so ist die Unwissenheit unbeschreiblich. Schulzwang existirt nicht, und in der Woche würde der Unterricht der Kinder die Familie „umbringen“. Die Commissarien erwähnen als einen eigenthümlichen Fall, daß sie sogar einen 25jährigen Burschen gefunden, der nicht zu unterscheiden wußte, ob Frankreich der Name einer Person oder einen Landes sei, noch weniger, daß der Name seiner Königin „Victoria“ war. Ein 14 jähriges Bübchen, das unter den Seinigen als Gelehrter galt, weil es eine Sonntags-Nachmittagsschule besuchte, erklärte, es würde dort nur von Knaben unterrichtet, die nicht größer als es selbst seien, mit den charakteristischen Worten schließend: „Sie fragen uns einmal und dann schlagen sie uns. Sie sind nicht älter und nicht größer als wir Andern, aber viel, viel stärker.“ – „Elend,“ so heißt es weiter, „zu Hause, und ihr Leben eine Scene zermahlender Zuchtarbeit, und so mit der Mehrzahl der armen Mädchen. Sobald als ein Kind seiner Mutter Nadel fädeln kann, hat es seine Vorprüfung zur Arbeit abgelegt und ist zum Elend gebucht. Ein fünfjähriges Mädchen mußte die Nächte über sticheln und fädeln, und von einem „Saum-Arbeiter“ wurde erwähnt, daß sein zweijähriges Söhnchen das heiße Bügeleisen so lange zu handhaben hatte, bis seine Finger aus den Gelenken gingen in Folge des fortwährenden „Greifens des Instrumentes.“

Die erwähnten Zustände entspringen einer Verbrüderung der Noth mit der Gewissenlosigkeit und sind das Resultat der complicirtesten Uebel. Jeder Mahnung an die Eltern setzen diese die furchtbare Antwort entgegen: „Sir! wir müssen leben!“ –

Eine andere Classe von „Kindern der Industrie“ hat schon verschiedene Male das öffentliche Mitleid und auch die Beachtung der Gesetzgeber auf sich gezogen – die Schornsteinfegerbuben. Bei unseren weiten Rauchfängen in Deutschland ist deren Beschäftigung kaum mit einem Zehntheil der Gefahren verbunden, die sie in England zu bestehen haben. Dort hat jedes Zimmer seinen Kamin und seinen besonderen Rauchfang, der neben acht, zwölf, ja zwanzig anderen aus einem und demselben Dache ausmündet, oben entweder mit wunderlichen skeletartigen eisernen Röhren versehen, oder mit einem roththönernen Aufsatz. Diese das Mauerwerk im Innern nach allen Seiten hin durchbohrenden Kaminröhren sind sehr eng und würden der Lunge einen nur fünfzehnjährigen Buben den Raum zum Athmen, ja seinen Schultern sogar den Einschub verwehren. Da half man sich mit kleinen Knaben. Sie wurden oft zu zweien und dreien in das schwarze Labyrinth geschickt, um die Säuberung vorzunehmen, wo sie, abgesehen von der Kindern natürlichen Furcht, die ihre Nerven in Fieber versetzte, häufig halbe Stunden lang im tiefsten Dunkel mit der Gefahr des Erstickens (durch heftigen Zug, Ruß, Staub, böse Gase und Rauch) zu ringen hatten. Unzählige Male sogar stürzten sie betäubt in den Kamin hinunter; oft kamen sie nicht wieder, und man brach die Wände auf und fand nur die kleinen Leichen in irgend einem der ineinanderlaufenden Schlote „gekauert“, wo sie die Kraft oder Besinnung verlassen; auch ereignete es sich, daß sie, die Richtung verlierend, in einen gerade benutzten Schlot geriethen und von Qualm halb erstickt in die unten lodernde Flamme fielen! Endlich, nachdem die Meister vom Handwerk Alles vergeblich versucht, diese Schäden der öffentlichen Rüge so lange als möglich zu entziehen, wurden die Urtheile der über den kleinen Leichen berathenden Todtenjuries doch zu herb; die Presse alarmirte das schläfrige Gewissen des Publicums, und das Parlament erließ ein Veto gegen solche Verwendung von Kindern unter einem „gewissen“ Alter. Man erfand nun Maschinen, um deren Arbeit zu ersetzen. Nun sollte man glauben, dem Uebel wäre abgeholfen? Man hatte den Meistern, wie man meinte, das Handwerk gelegt – aber man hatte das liebe Publicum vergessen! Das Unwesen währt noch fort, obwohl es mit einer Geldbuße von 30 Thalern bedroht ist. „Denn,“ sagte ein Meister von der schwarzen Sippe, wegen einer solchen Uebertretung jüngst vor dem Richter vernommen, „die meisten feinen Ladies des Hauses verwehren uns, Gebrauch von der Säuberungsmaschine zu machen, um nicht ihre schönen Brüsseler Teppiche zu beschmutzen,! – Da müssen denn die Jungen dran. Das Geschäft kann ja so reicher Kunden nicht entbehren.“ Der Richter fuhr ihn mir Heftigkeit an wegen „herzloser Nachgiebigkeit“ gegenüber den „grausamen Launen“ solch’ „feiner Ladies“. „Herr Richter!“ erwiderte der Mann, „Sie wissen ja, daß vorige Woche in Ihrem eigenen Hause meine Jungen in die Schornsteine mußten!“

Gegen gewohnheitsmäßige Gewissenlosigkeit kämpft das Gesetz selbst vergebens. Und doch findet man an englischen Schaufenstern ein Bild ausgestellt, auf dem die „Britannia“ an arme Wilde Bibeln austheilt, und darunter steht in schön verzierter Schrift: „Das Geheimniß der Größe Englands.“ Und das Bild hängt die Lady des Hauses in ihrem Staatszimmer auf und ist sehr „gottselig“ auf ihren unbeschmutzten Teppichen! – – –




Ein Studentenauszug. Nachdem der im Haupttheile der heutigen Nummer enthaltene Artikel „Eine freie Burg der Wissenschaft“ – der uns übrigens bereits vor zwei Monaten eingesandt war – schon im Drucke vollendet ist, geht uns aus Zürich leider die Nachricht zu, daß zwischen Lehrern und Schülern des Polytechnicums ernste Conflicte ausgebrochen sind. Das Directoriumn der Anstalt hatte durch die Fassung mehrerer Erlasse die Ehre der Polytechniker empfindlich verletzt und sechs Schüler, die ihre Meinung über das Verfahren des Vorstandes frei geäußert, ohne Weiteres weggewiesen. In Folge dessen erklärten sich 324 andere Polytechniker, nachdem in einem Schreiben die Direktion vergeblich um Rücknahme der erfolgten Wegweisungen ersucht worden war, für mitrelegirt und begaben sich am 2. August in einem feierlichen Zuge, von der gesammten Studentenschaft geleitet, die schwarz rotgoldene, die eidgenössische und andere Fahnen vorauf, nach dem Dampfboote, um zunächst auf den Boden des Cantons St. Gallen überzutreten und dann entweder auf einer andern polytechnischen Anstalt ihre Studien zu vollenden, oder nach der Heimath zurückzukehren.

Wenn nicht rasch das System geändert wird, welches das Institut leitet, so ist zu fürchten, daß die Blüthe der Anstalt geknickt ist und daß die im angeführten Aufsatze ausgesprochenen Hoffnungen sich nicht realisiren, denn eine Universität kann unmöglich den engeren Anschluß an eine Anstalt suchen, wo ein mit ihren Grundprincipien unverträgliches System herrscht.