Zum Inhalt springen

Die Gartenlaube (1864)/Heft 39

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1864
Erscheinungsdatum: 1864
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[609]
Nobles Blut.
Schloßgeschichte aus den Erinnerungen meines Vaters.
(Schluß.)



Der weitläufige Park, der zum Schlosse Frankenfelde gehörte, schloß sich unmittelbar an die Hofgebäude an. Man hatte auch einen besonderen Eingang zu ihm dicht an dem dicken runden Thurme; der Weg dazu führte vom Schloßhofe aus um den Thurm herum. Auf diesem Wege waren vor fünfzig Jahren glücklich, Arm in Arm, die beiden Kinder, der Graf Adolph und die Comtesse Caroline gekommen, um von dem Grafen Moritz mißhandelt und auseinander gerissen zu werden und sich dann niemals wiederzusehen.

An diesem Tage, da der alte greise Mönch das Schloß seiner Väter nach fünfzig Jahren zum ersten Male wiedersah, war den Weg eine schöne junge Frau gegangen, die hohe Gestalt von der schweren, rauschenden, dunklen Seide umhüllt, das feingeformte Gesicht unter dem Capuchon von schwarzer Seide verborgen. Sie war in dem Dunkel des Abends aus einem Seitenpförtchen des weiten Schlosses hervorgekommen, war, ehe sie in den Hof hineintrat, lauschend und spähend nach allen Seiten stehen geblieben, hatte mit ihrem leichten Schritt rasch die Strecke des Hofes um den runden Thurm herum durchmessen, und war durch das Pförtchen in den Park eingetreten. An dem Thurme hatte sie doch einmal unwillkürlich anhalten müssen, nur eine Secunde lang. Es schien ihr plötzlich unheimlich zu werden, so dicht an dem alten Gebäude, das in der Finsterniß des Abends so dunkel und still neben ihr lag. Erzählten ihr die alten Mauern mit ihrem seit fünfzig Jahren nicht betretenen Innern, mit der fest verschlossenen Thür, mit den dichtverhangenen Fenstern, die keiner der im Schlosse lebenden Menschen mit Ausnahme des alten Grafen und des alten Conrad, jemals frei und offen gesehen hatte – und der alte Graf und der alte Diener waren Beide stumm wie das Grab – erzählten ihr die alten stummen Mauern alte Geschichten, die vor fünfzig Jahren in ihnen passirt und noch heute grausig waren? Oder sprachen sie ihr von der Gegenwart prophetische Worte, gar von der nächsten Stunde? Süß mußten auch diese in ihrem Ohre nicht klingen und in ihrem Innern nicht nachklingen. Die schöne junge Gräfin, das untreue Weib des schwachsinnigen Mannes, schüttelte sich, wie vor plötzlichem Frost, fuhr rasch mit der Hand über die Augen, als wenn sie ein recht häßliches Bild verscheuchen wolle, und beschleunigte hastig ihren Schritt.

In dem Park wandte sie sich rechts zu einer kleinen, dunklen Kastanienallee, durcheilte diese und stand an ihrem Ende vor einem Pavillon. Das kleine chinesische Häuschen war mit Thür und Fenstern versehen. Die Fenster waren dunkel, die Thür schien verschlossen zu sein. Die junge Dame wollte leise in die Hände klatschen, um ihre Ankunft anzukündigen. Sie war schon gesehen worden; die Thür wurde von innen geöffnet. Ein Mann flog auf die Gräfin zu. Die knappe, eng anliegende Uniform des Obersten der Kürassiere hob auch in dem Dunkel des Abends die schöne und stolze Gestalt des Mannes hervor. Sie lagen einander in den Armen. Arm in Arm gingen sie zu der Thür des Pavillons, verschwanden durch sie in seinem verschwiegenen Innern. Rund umher herrschten nur Finsterniß und Stille der Nacht. Das dauerte lange so, doch endlich wurden Finsterniß und Stille der Nacht unterbrochen.

„Höre ich nicht Stimmen?“ fuhr der Oberst auf.

„Und leise Schritte!“ sagte die Gräfin bebend.

„Zittere nicht, Adele. Was es auch sei, Du stehst unter meinem Schutze!“

„Auch gegen den Ruf der Welt?“

„Horchen wir!“

„Es ist die Stimme meines Gatten. Mit wem kann er sprechen?“

„Pah, es ist sein Großvater, der wahnsinnige Graf. Ein Spaß! Zwei Verrückte beisammen.“

„Du kannst scherzen, Alphons! Ich vergehe vor Angst. Was kann sie hergeführt haben?“

„Horchen wir, ob ein Dritter bei ihnen ist.“

„Sie sprechen nur miteinander.“

„Welche Gefahr könnte uns dann drohen?“

„Aber es ist doch noch Jemand bei ihnen. Ich höre so eigenthümliche Töne.“

„Ich werde mit den Augen zu erkennen suchen, was es ist. Meine Augen sind scharf.“

Der Oberst erhob sich leise, ging langsam an das Fenster, brachte seine Augen vorsichtig dem Glase näher. Er hatte scharfe Augen.

„Es sind die beiden Herren. Sie stehen zehn Schritte weit von hier, an einer Kastanie der Allee. Es ist Niemand bei ihnen. Ah doch! Der Hund des Alten ist mit ihnen. Er steht unmittelbar vor ihnen; darum sah ich ihn nicht gleich. Das Thier scheint fort zu wollen – wohl hierher – der alte Graf hält es zurück, an dem Ringe, den es um den Hals trägt.“

Die Dame unterbrach den Officier. „Den Hannibal? So sind sie nicht durch Zufall hier. Sie sind auf unserer Spur. Wir sind verloren!“

[610] „Ich habe Waffen bei mir, Adele – meinen Säbel, zwei geladene Pistolen.“

„Der Hund wird Lärm machen –“

„Still, sie kommen näher –“

„Großer Gott!“

„Ich beschwöre Dich, bleibe ruhig, Adele. Sie können nicht zu uns herein, die Thür ist verschlossen.“

„Aber der Hund wird das ganze Schloß zusammenrufen.“

„Ich werde ihn erschießen.“

„Damit der Schuß noch mehr Menschen herbeiführt?“

„Sie machen Halt. Sie sprechen wieder mit einander. Hören wir, was sie reden. Wir werden jetzt ihre Worte verstehen können.“

Sie konnten die Worte der Beiden verstehen, von denen der Eine wahnsinnig, aber in seinem Wahnsinn zuweilen vernünftig, der Andere nur schwachen Sinns, aber in seinem Schwachsinn wohl auf dem Wege zum Wahnsinn war.

„Hannibal, mein treues Thier,“ sagte der alte Graf, „warum bist du denn so ungeduldig? Ist es ein Wolf oder ein Dachs, was du witterst? Oder wäre es gar ein Fuchs? – Moritz!“

Er erhielt von dem Blödsinnigen, an den er sich gewandt hatte, keine Antwort. Der Alte lachte.

„Hm, haben sie dem blödsinnigen Burschen die Ehre angethan, ihm meinen Namen zu geben – die Ehre sollte für den Großvater sein, meinten sie – Heuchelei in der Welt, nichts als Lug und Trug, unter den nächsten Verwandten am meisten. Ist es nicht so, Moritz?“

„Wenn Du es befiehlst, gnädiger Großvater,“ antwortete der junge Graf.

„Ja, ich befehle es. Aber was meinst Du, was der Hund, der Hannibal, wittert? Einen Wolf oder einen Fuchs? Oder meinst Du, daß es ein Hase sei?“

„Ich sehe gar nichts, Großvater.“

„Du sollst auch nichts sehen. Der Hund sieht nicht einmal und er weiß es. Und wenn ich noch in Deinen Jahren wäre, so wüßte ich es durch das Ansehen des Hundes. Aber die Jugend taugt jetzt nichts mehr, verkommt von Jahr zu Jahr, und ich – he, wie alt bin ich denn schon? He, mein Sohn, mein theurer Enkel, kannst Du rechnen?“

„Ich habe die vier Species gelernt, gnädiger Großvater.“

„So rechne mir einmal aus, wie alt ich bin.“

„Das weiß ich nicht.“

„Dann will ich es Dir sagen. Ich bin dreiundneunzig Jahre alt und drei Monate und so und so viele Tage. Und sieh, ich kann noch auf die Jagd gehen – Du warst nie ein Jäger, Moritz!“

„Nein, gnädiger Großvater.“

„So sollst Du es heute werden. Du bist es schon geworden. Wir stehen hier auf dem Anstande.“

„Aber wir haben ja keine Gewehre, gnädiger Großvater!“

„Recht edles Wild hetzt man zu Tode, mein Sohn.“

„Du meinst, durch den Hannibal, gnädiger Großvater?“

„So meine ich. Und weißt Du, was man mit dem gemeinen Vieh im Walde macht?“

„Ich weiß es nicht, gnädiger Großpapa.“

„Das läßt man von den Hunden zerreißen.“

„Ah!“ sagte der junge Graf verwundert.

„Ah!“ sagte im Pavillon die Dame mit einer von der Angst erstickten Stimme.

Wie bleich mochte das schöne Gesicht sein, das vor einer Viertelstunde noch von dem Glücke der unheiligen Liebe geglüht hatte! Ihr Geliebter – man sah in der Dunkelheit auch sein Gesicht nicht – aber er stand starr; seine einzige Bewegung war, daß er dann und wann mit der flachen Hand über die Stirn wischte – dem tapferen Oberst der großen Armee, der in so mancher heißen und blutigen Feldschlacht nicht gebebt und nicht gewankt hatte, mochte der kalte Schweiß auf die Stirn treten.

Die da draußen unter dem Fenster des Pavillons fuhren fort:

„Und wir haben hier ein edles Wild und eine gemeine Bestie, mein Sohn.“

„Ah, wo, gnädiger Großvater?“

„Wo ist Deine Frau, Moritz?“

„Ich denke, in ihrem Zimmer.“

„Hm, sie ist eine Edelfrau!“

„Aus einem sehr alten Hause, gnädiger Großvater.“

„Und in ein eben so altes, hm, in ein noch älteres hineingekommen. Sie ist Hochgeboren, sie ist gar Erlaucht und darf von den Hunden nicht zerrissen werden, nicht wahr, Moritz?“

„Ich denke nicht, gnädiger Großvater.“

„Ja, sie muß zu Tode gehetzt werden.“

„Befiehlst Du es, gnädiger Großvater?“

„Ich sagte es.“

„Und wer soll von den Hunden zerrissen werden?“

„Warte einen Augenblick, mein Sohn.“ – „Gott, du Gerechter!“ rief die Dame im Pavillon. Sie hatte in ihrer entsetzlichen Angst nicht gewußt, was sie sprach, indem sie den Gott der Gerechtigkeit anrief. „Gott der Barmherzigkeit, Gott der Gnade, schenke mir deine Gnade, deine Barmherzigkeit!“ Sie sank in die Kniee und rang die Hände.

Draußen wurde an die Thür des Pavillons gepocht.

„Mein Herr Oberst, öffnen Sie!“ rief laut eine befehlende Stimme. Es war die Stimme des alten Grafen. Der alte, reichsfreie Edelmann sprach in dem reinsten Französisch. Er stand unmittelbar an der Thür des Pavillons.

Der Oberst hatte seinen Säbel umgegürtet, seinen Helm aufgesetzt. Er zog seine beiden Pistolen hervor. Sie waren geladen, hatte er gesagt. Er spannte den Hahn an jeder; dann sah er nach der Frau, die knieend, die Hände ringend, betend am Boden lag.

Er stand unschlüssig.

„Mein Herr Oberst,“ wiederholte der alte Graf, „ich fordere Sie auf, zu öffnen.“

Der Oberst hielt eine der beiden geladenen Pistolen in der Hand, die andere unter dem Arme. Er hatte seinen Entschluß gefaßt.

„Tritt zurück, Adele,“ sagte er zu der Frau.

„Was willst Du thun?“

„Uns befreien.“

„Sie werden Dich tödten.“

„Die beiden Wahnsinnigen?“

„Der Hund wird Dich zerreißen. Der Alte sagte es. Du kennst den Hund nicht.“

„Pah, meine Kugel wird ihn sicherer treffen, als mich seine Zähne. Tritt zurück.“

„Ich beschwöre Dich, Alphons. Schone Deinen und meinen Ruf. Oeffne nicht. Was wollen sie, wenn Du es nicht thust? Mit Gewalt eindringen? Sie können es nicht. Sie können die Thür nicht öffnen, die stark und fest verschlossen ist, die Fenster nicht, wenn wir die Läden vorschieben; sieh, hier sind sie; sie sind fest, verschließbar. Sie haben uns ja auch noch nicht gesehen und nicht gehört. Es ist ihnen noch ungewiß, ob wir hier sind. Halten wir uns ferner still, noch eine Weile. Der Sinn verwirrt sich ihnen vielleicht dann ganz; sie kehren zurück.“

Die Dame hatte die Gegenwart des Geistes zurückbekommen. Der Oberst gab ihr nach; vielleicht ihren Gründen, vielleicht ihrer Liebe; vielleicht etwas Anderem; vielleicht schien es nur so, und er sann über Anderes nach. Draußen war der alte Graf ein paar Schritt von der Thür zurückgetreten.

„Moritz, mein Sohn,“ sagte er, „kennst Du die Geschichte Deiner Vorfahren?“

„O ja, gnädiger Großvater, sie waren ein mächtiges und edles Geschlecht.“

„Und Raubritter dazu, mein Sohn. Und weißt Du, wie sie es machten, wenn sie einen Feind in einem festen Thurm belagerten, aus dem sie ihn nicht heraustreiben und herauslocken konnten?“

„Ich weiß das nicht, gnädiger Großvater.“

„Sie legten Feuer rund um den Thurm, und wenn das recht hoch und lustig brannte, dann wurde dem Gefangenen drinnen recht heiß und immer heißer, und zuletzt verdammt schlimm zu Muthe, und er mußte heraus, er mochte wollen, oder nicht. Hm, Moritz, legen wir Feuer an das Ding hier. Es soll ein recht großes, lustiges Feuer werden.“

Der alte Wahnsinnige lachte boshaft. Der junge Blödsinnige mochte sich still freuen.

„Du reibst die Hände, Moritz?“ sagte sein Großvater. „Ah, Du wirst Dich noch mehr freuen, wenn ich Dir sage, wen wir da herauslocken werden.“

[611] „Du sprachst von einem edlen Wild und einem gemeinen Vieh, gnädiger Großvater, und dann riefst Du wieder: mein Herr Oberst.“

„Ja, mein Sohn, und der Herr Oberst, der französische Oberst von den Kürassieren, er ist das gemeine Vieh, ein räudiger Hund, der sich in diesem Pavillon versteckt hat –“

„Und der soll darin verbrennen, Großvater?“

„Wenn er nicht herauskommen will!“

„Und wer ist das edle Wild, gnädiger Großvater?“

„Deine Frau, Moritz! Deine erlauchte Gemahlin.“

„Meine Frau hier?“ fragte verwundert der Blödsinnige. „Und nicht in ihrem Zimmer? Es muß ja beinahe Mitternacht sein!“

„Ja, mein Sohn, es ist gleich Mitternacht, und bis in die Mitternacht war Deine edle Frau hier allein mit dem französischen Obersten –“

„Großvater!“ schrie der Blödsinnige auf. „Großvater! Großvater –“

„Komm, mein Sohn, laß uns das Feuer anmachen.“

„Ja, ja! Ja, ja!“

„Ich habe für Alles gesorgt, Moritz. Hier rechts liegt Stroh, hier links ein Reiserhaufen. Feuerzeug habe ich in der Tasche. Tragen wir das Holz und das Stroh zusammen. Legen wir einen Theil an die Thür, den anderen unter dieses Fenster. So kommen sie in ein Kreuzfeuer. Und du, Hannibal, stehst unterdeß auf Wache, und wenn du das Geringste hörst oder siehst, so bist du da, mit deiner Stimme, mit deinen Zähnen, mit deinen Tatzen.“

Er sprach zu dem Hunde, wie er zu dem Blödsinnigen gesprochen hatte. In dem Pavillon hörten sie, wie die beiden Herren geschäftig das Stroh und das Holz zusammentrugen und an die Thür und unter das Fenster legten.

„Großvater,“ sagte der junge Graf dabei, „sie sollen nicht heraus, sie sollen darin verbrennen.“

„Wenn sie so wollen!“ sagte der alte Graf. „Ich hatte es eigentlich anders vor.“

„Nein, nein, Großvater! Ich will das Weib nicht wiedersehen, nie, nie.“

„Einmal noch, mein Sohn, hätte ich mir gedacht.“

„Nie, nie, Großvater!“

Der Blödsinnige war in Wuth. Der Alte lachte heiser in sich hinein. Sie mußten fertig sein.

„Machen wir Feuer,“ sagte der Alte.

Im Pavillon hörten sie draußen Stahl und Stein an einander schlagen. Der Muth des untreuen Weibes hatte nur wenige Minuten anhalten können; es war kein sittlicher Muth; es war der feige Muth des Verbrechens. Ihm folgte die Angst des Verbrechens, dann die Angst der Verzweiflung.

„Wir sind doch verloren!“ jammerte sie. „Es ist Alles vorbei, mein Ruf, mein Leben! Wie werden wir uns retten können? Lebendig hier verbrennen? Zu entkommen suchen? Wie wäre es möglich? Der Alte ist die Bosheit selbst; er war es immer. Des Blödsinnigen hat sich die Wuth bemächtigt; da ist er fürchterlicher, blutgieriger, als jener. Der große Hund –! Was wollte der Wahnsinnige mit mir? Ich habe nicht verbrennen sollen; er habe es anders mit mir vorgehabt! Noch schlimmer, als verbrennen? Und noch einmal habe der Andere mich wiedersehen sollen! Was hatte er vor? Was hat er noch vor, wenn ich hier nicht in den Flammen umkomme? Und es brennt schon! Es brennt! Alphons, was machen wir? Rette mich, rette Dich!“

Es brannte draußen. Man hatte Stahl und Stein aneinander schlagen hören. Eine halbe Minute nachher drang ein heller Lichtstreif durch das Fenster des Pavillons; eine halbe Minute später war es ein heller Feuerschein. Das Stroh mußte lichterloh brennen; das Reiserwerk hörte man knistern. Der Blödsinnige jubelte laut.

„Hei, gnädigster Großvater, wie das lustig brennt!“

„Ja, mein Sohn,“ erwiderte der Wahnsinnige, „es ist ein hübsches, munteres Feuerchen.“

„Und jetzt müssen sie heraus, Großvater, nicht wahr?“

„Ja, mein Sohn, und sie müssen recht bald heraus, wenn sie nicht verbrennen wollen. Der Pavillon ist alt; das Holz daran ist morsch und trocken und fängt Feuer und brennt wie Zunder, die Thür, die Thürpfosten, die Fenstergesimse, das Dach. Ha, an das Dach leckt die Flamme schon heran. Es ist mit Schindeln gedeckt!“

„Alphons, rette uns!“ Die Dame rief es, selbst beinahe wahnsinnig in ihrer Angst, in dem Bewußtsein ihrer ehebrecherischen Schuld, in ihrer Verzweiflung. Sie warf sich in die Arme des Obersten.

„Komm!“ raffte der Oberst sich auf.

Er hatte nachdenkend, dann stillbrütend gestanden. Der frische, offene, tapfere Muth schien ganz von ihm gewichen zu sein. Die Flamme, deren heller Schein durch das Fenster drang, zeigte ein blasses, verstörtes Gesicht, eine Gestalt die sich mühsam mußte aufrecht zu erhalten suchen. Es war ein so kühn und muthvoll geformtes Gesicht, und die Gestalt war so kräftig und edel gebaut. Und an seiner Schulter lag das entstellte, schneeweiße Gesicht, in seinen Armen die zusammengesunkene Gestalt der Frau. Und auch dieses Gesicht trug die schönen und edlen Züge, und die hingesunkene Gestalt zeigte die wunderbar schönen, feinen und runden Formen, mit denen der Schöpfer dieses Weib, gewiß zu einer besseren Bestimmung, ausgestattet hatte.

„Komm!“ raffte der Oberst sich auf. „Hier müssen wir verbrennen. Es ist kein Zweifel. Nur die Kühnheit kann uns retten. Stelle Dich zu mir. Halte Dich an mir fest, mit beiden Armen. Laß mich nicht los. Klammere Dich an mich, wie fest Du kannst. So folge mir. Trenne Dich keine Secunde von mir. Du wärst verloren. Ich würde Dich nicht wieder mit mir vereinigen, an mich zurückziehen können. Ich werde meine Arme zu etwas Anderem gebrauchen müssen. Komm!“

Sie konnte sich an ihm festhalten. Er ergriff wieder seine beiden Pistolen und ging an die Thür des Pavillons. Die Frau schleppte sich mit ihm hin. Er öffnete das Schloß der Thür und riß die Thür auf. Unmittelbar vor der Thür brannte der Reiserhaufen. Rauch und Feuer drangen in den Pavillon.

„Halten Sie sich fest, Madame!“ rief der Oberst.

Nur durch den brennenden Haufen war ein Ausgang. Er mußte hindurch springen.

„Halten Sie sich krampfhaft fest, Madame!“

Er drang in das Feuer und kam hindurch. Aber er war allein hineingedrungen, er stand allein, als er hindurch gekommen war. Die Frau war von allen ihren Kräften verlassen worden, von denen der Seele, von denen des Körpers. Ihre Arme hatten den Mann, der sie befreien wollte, nicht mehr umfassen können. Sie war zurückgesunken und lag halb auf der Schwelle der Thür, halb im Pavillon.

Der Oberst wollte zurück zu ihr. Aber er konnte nicht zurück, er konnte nicht voran. Der große, wilde, kräftige Hund des Grafen hatte ihn gefaßt, war von hinten, ehe er das Thier nur sah, an ihm emporgesprungen, hatte seine Tatzen in seine Schultern geschlagen, zerfleischte ihm mit den Zähnen den Nacken, hing sich mit seiner ganzen Schwere und Kraft an ihn, riß ihn nieder.

„Rühre ihn nicht an, Moritz!“ rief der alte Graf. „ Besudle Deine Hände nicht an ihm. Hannibal, mein Thier, faß ihn – faß ihn.“

Und das Thier zerriß ihn.

„Aber zu ihr, Moritz, mein Sohn! Sie ist ein edles Wild.“

Der Wahnsinnige riß die brennenden Reiser vor der Thür auseinander, um in den Pavillon gelangen zu können. Der andere Irre half ihm. Sie waren fertig. Eine Hetzjagd begann. Die Gräfin hatte sich erhoben. Die furchtbarste Angst des Todes hatte sie ergriffen. Sie war in den Pavillon zurückgeflogen und wollte die Thür hinter sich zuwerfen, aber sie konnte es nicht. Sie wollte wieder niederknieen, der bebende Körper versagte ihr den Dienst. Sie wollte wieder beten. „Großer, allmächtiger Gott –“ Die Zunge erlahmte ihr. Die Gedanken verwirrten sich ihr.

Die beiden Wahnsinnigen waren in das Zimmer gedrungen. Auch den Schwachsinnigen hatte die Wuth des Wahnsinns ergriffen.

„Da ist das ehrlose Weib!“

Er sprang auf sie zu. Sie rannte vor ihm fort, sie rannte in dem engen Raume umher und wollte zu der Thür; darin stand der alte Graf; sie sprang an das Fenster und riß es auf; sie wollte hindurch springen; Rauch und Flammen schlugen ihr entgegen. Sie wollte die Fenster wieder zuwerfen, sie wußte nicht mehr, was sie that. Sie fiel bewußtlos zu Boden.

„Hei, Großvater, ich habe sie!“

„Hebe sie auf, mein Sohn, und folge mir mit ihr.“

„Und der Andere?“

„Hannibal ist mit ihm fertig. Mag er bleiben, wo er liegt. Folge mir.“

„Wohin?“

„Du wirst es sehen.“

[612] Der alte Diener Conrad war dem Freiherrn nachgeeilt, den die Franzosen aus den Armen der sterbenden Gattin gerissen hatten, den sie fortschleppten. Die Ohnmacht konnte nicht mehr retten. Die französischen Gensdarmen entfernten sich rasch mit ihrem Gefangenen, wie in eiliger Flucht. Sie waren, von einem Verräther geführt, auf den verborgenen, abgelegenen Wegen in das Schloß eingedrungen; sie verließen es auf dem kürzesten und geradesten Wege. Sie hätten der Eile nicht bedurft. Niemand im Schlosse trat ihnen entgegen, Niemand wagte nur, sich ihnen zu zeigen. Die Tyrannei und die Gewaltthätigkeit der Franzosen erfüllte den Deutschen damals noch mit Schrecken und Furcht.

Der alte, treue Diener Conrad war der einzige, der es wagte, den französischen Räubern nachzueilen, sie einholen zu wollen. Er erreichte sie nicht. Sie eilten die große, breite Treppe des Schlosses hinunter und flogen durch den Schloßhof, an dem runden Thurme zu Ende des Schlosses vorbei, durch das Pförtchen, das sich dort in der Mauer befand, an dem der Arzt vorhin den verrätherischen Kammerdiener der Gräfin im Gespräche mit den Franzosen getroffen hatte. Sie flohen weiter in’s Freie, dem Walde zu. Der alte Conrad kam zu der Erkenntniß, daß seine Verfolgung keinen Zweck habe. Er wollte umkehren.

Da sah er seitwärts im Park eine plötzliche Helle aufblitzen, aufflammen. Ein Feuer im Park? fast um die Mitternachtstunde? Was konnte das sein? Er ging dem Scheine nach und kam in die Nähe des Pavillons. Sehen konnte er nichts, als die Helle des Feuers durch die Gebüsche. Aber was er hörte, hemmte ihm den Schritt. Er vernahm das wilde, wüthende Schnauben eines Thieres – unter dem Schnauben den unterdrückten Angst- und Schmerzensschrei eines Menschen; es war der Schrei der letzten Todesangst, der nicht mehr hervorkonnte. Er vernahm noch mehr: den entsetzlichsten Angstschrei einer weiblichen Stimme. Eine furchtbare Ahnung ergriff ihn. Da hörte er andere Stimmen.

„Hei, Großvater!“

„Auf, mein Sohn!“

Er erkannte die Stimmen. Seine Ahnung wurde zur Gewißheit und die Gewißheit erfüllte ihn mit Todesangst. Er eilte zum Schlosse und holte den Arzt und den Hauptmann herbei. Er eilte mit ihnen zurück und theilte ihnen auf dem Wege mit, was er gesehen und gehört hatte. Draußen begegnete ihnen die Kammerfrau der Freifrau; er ließ durch sie auch den Pater herbeibitten. Ein Gedanke war in ihm aufgezuckt: bei dem, was geschah und kam, mußte der letzte Vernünftige des alten, dem Untergange geweihten Geschlechts sein. Er kam mit seinen beiden Gefährten in die Nähe des Thurmes. Es war dunkel dort. Ein Geräusch kam ihnen entgegen, von der Parkseite her.

„Der alte und der junge Graf!“ flüsterte der Diener.

„Sie kommen hierher.“

„Sie werden zum Thurme wollen.“

„Unzweifelhaft! Sie sind es gewesen, die wir vorhin in dem verborgenen Gange hörten. Sie konnten nur in dem Thurme sein.“

„Was mögen sie vorhaben?“

„Verbergen wir uns.“

Sie verbargen sich an der anderen Seite des Thurmes. Zwei Personen kamen vom Parke her näher.

„Sie sind es, der alte und der junge Graf,“ sagte der Hauptmann.

„Sie tragen etwas!“

„Einen Menschen!“

„Allmächtiger Gott, es ist die Gräfin. Ich höre das Rauschen ihres seidenen Kleides.“

Der alte Graf und der junge Graf waren an der Thür angelangt, die in den Thurm führte. Sie standen still.

„Lassen wir sie zur Erde,“ sagte der alte Graf. „Ich muß die Thür aufschließen.“

Sie ließen den menschlichen Körper, den sie trugen, zur Erde nieder. Man hörte das dumpfe Stöhnen einer Frau.

„Sie lebt!“ flüsterten sich die entsetzten Stimmen der Dreie zu, die an der Seite des Thurmes verborgen standen.

„Was wollen sie mit ihr in dem Thurme?“

„Ich ahne es,“ sagte der alte Conrad. „Wir müssen retten.“

„Nur nicht ihnen jetzt entgegentreten,“ sagte der alte Conrad.

„Der alte Graf wird Waffen bei sich tragen; der Hund, der Hannibal – er ist nicht bei ihnen; aber er wird in der Nähe sein, dort – mich schaudert, wenn ich an das Schnauben zurückdenke! Ein Ruf des Grafen führt ihn her.“

„Warten wir das Weitere ab,“ sagte der Arzt.

Der alte Graf hatte die Thür des Thurmes aufgeschlossen.

„Nehmen wir sie wieder auf, Moritz.“

Sie nahmen die Frau wieder auf. Man hörte wieder ihr entsetzliches, unterdrücktes Stöhnen. Konnte sie nicht laut rufen, um Hülfe? Sie verschwanden mit der Frau in dem Innern des Thurmes. Die Thür wurde nicht wieder zugeschlossen.

Die drei Verborgenen traten hinter dem Thurme hervor und nahten sich der Thür. Gleich an der Thür führte eine Wendeltreppe in den oberen Theil des Thurmes. Sie blieben an der untersten Stufe der Treppe stehen. Die Treppe hinauf trugen die beiden wahnsinnigen Grafen die Frau. Es war ein langsames und mühsames Schleppen.

„Wohin werde ich gebracht?“ stöhnte die Frau.

„Gieb ihr keine Antwort, Moritz,“ befahl der alte Graf seinem Enkel.

Sie trugen schweigend die Frau weiter. Auch die Gräfin schwieg. Sie erreichten das obere Ende der Treppe. Eine Thür wurde aufgestoßen; sie war nur angelehnt gewesen.

„Die Thür zu dem frühern Wohnzimmer des Grafen,“ sagte der alte Kammerdiener des Grafen zu seinen beiden Gefährten.

„Hier, mein Sohn,“ sagte der alte Graf, „sind wir an unserem Ziele; lassen wir sie los.“

„Gehen wir hinauf!“ flüsterte der Hauptmann. „Jetzt gilt es. Aber sie dürfen uns nicht hören, wenn wir nicht zu spät kommen wollen, wenn nicht geschehen sein soll, was wir verhindern müssen.“

Sie erstiegen mit leisen Schritten die Treppe und standen vor der offenen Thür des ehemaligen Wohnzimmers des alten Grafen, das er aber seit fünfzig Jahren heut zum ersten Male wieder betreten hatte. Es herrschte tiefes Dunkel in dem Zimmer. Man konnte nichts von dem unterscheiden, was darin war. Aber das Ohr vernahm durch die Dunkelheit desto schärfer. Und – vor fünfzig Jahren hatte der alte Diener dort ein Stöhnen und ein Wimmern gehört, dessen Erinnerung ihn noch immer mit lähmendem Schreck durchfuhr – was jetzt sein Ohr vernahm, und was mit ihm seine beiden Gefährten vernahmen, und was sie dann sahen, das sollte mit seinen furchtbaren Schrecken sie zu Bildsäulen erstarren machen, mit den Schrecknissen der Gegenwart, des Augenblicks, mit jenen noch immer ungelösten entsetzlichen Räthseln der Vergangenheit eines halben Jahrhunderts.

Der alte Graf sprach zu der Verbrecherin. Seine Stimme war nicht mehr heiser; sie erklang klar und volltönend. Die Worte, die er sprach, legten Zeugniß ab, daß in diesem Momente sein Geist von den Fesseln des Wahnsinns befreit war.

„Und nun, meine Gnädige, Sie wollten wissen, wohin man Sie bringe? Vernehmen Sie es von mir. Ich bringe Sie in Gesellschaft. Es ist eine edle Gesellschaft und Sie sind ihrer nicht würdig. Sie sollen dennoch in ihr sterben. Die Nähe der Edlen wird vielleicht die Buße desto reuiger in Ihnen erwecken, und der Himmel wird Ihnen dann vielleicht verzeihen, was wir, die Menschen, Ihnen nicht verzeihen konnten. Hören Sie mir zu. Vor fünfzig Jahren lebten hier eine tugendhafte und gottesfürchtige Frau und ein edler und frommer Mann, aber auch zugleich ein Mensch, der durch böse Leidenschaften sich das Herz schlecht und verhärtet gemacht hatte. Der verhärtete Mensch war ich; die tugendhafte Frau war meine Gemahlin; der edle Mann war mein Bruder. Meine Härte ließ mich Beide hassen. Meine eigene Schlechtigkeit ließ mich gegen Beide einen unwürdigen Verdacht fassen. Meine Leidenschaftlichkeit steigerte den Verdacht zum Wahnsinn. Die Unglücklichen fielen als Opfer meiner Eifersucht. Sie war kein untreues Weib, er war kein verrätherischer Bruder. Als es zu spät war, erkannte ich es. Ich verfiel in Wahnsinn. Er war meine Strafe. Ich hatte das Bewußtsein meines Wahnsinns; es war die entsetzlichste Strafe, die die Gerechtigkeit Gottes über den Menschen verhängen kann. Mein Herz verhärtete sich noch mehr, immer mehr – ach, das war doch wohl meine schwerste Strafe. – Mein Wahnsinn war keine völlige Nacht des Geistes. Er ließ mich Vieles erkennen. Er ließ mich auch Sie erkennen, meine gnädige Frau, Sie, der ich die Ehre erwiesen hatte, einem edlen und erlauchten Geschlechte angehören zu dürfen. Ich erkannte Sie schon seit einiger Zeit als ein ungetreues, verrätherisches Weib, das die eigene Ehre und die Ehre eines erlauchten Hauses frech und schamlos mit Füßen trat. Heute – heute trieben Sie

[613]

Auf und unter der Erde in London.
Originalzeichnung unsers Londoner Specialartisten.

[614] Ihre Frechheit und Schamlosigkeit mit einer fast herausfordernden Offenheit, gaben Sie mir selbst das Schwert der Züchtigung in die Hand – heute haben Sie zum letzten Male ein menschliches Angesicht, das Licht des Himmels erblickt. Folge mir mit ihr, Moritz, mein Sohn! Es ist Alles bereit.“

Man hörte ihn drei Schritte vorantreten, eine Thür aufreißen. Es war die Thür seines ehemaligen Schlafgemachs. Ein mächtiger Lichtstrahl drang plötzlich durch die Thür. Wachskerzen ohne Zahl verbreiteten die Helle des Tages in dem Gemach. In dieser Helle gewahrte man gerade der geöffneten Thür gegenüber ein hohes Himmelbett. Die weißen Vorhänge waren dicht zugezogen. Vor dem Bett lagen an der Erde zwei menschliche Gestalten. Sie lagen nebeneinander, lang ausgestreckt. Es waren ein Mann und eine Frau. Sie lagen in ihrer vollen Bekleidung da: die Frau in einem Kleide von schwarzer Seide; die Kleider des Mannes waren von Blut bedeckt. Aber die volle Bekleidung umhüllte keine menschlichen Körper mehr. Zwei Skelete waren von ihr umschlossen, seit fünfzig Jahren so.

Das Räthsel des halben Jahrhunderts war gelöst. Ein Grausen durchfuhr, lähmte die drei Männer an der Thür. Ein furchtbarer Schrei drang aus der Brust der Frau.

„Auf, auf, mein Sohn!“ rief der alte Graf.

Mit dem blöden Lachen des Blödsinns hob der junge Graf seine Gemahlin auf. Er trug sie zu der Thür des hellen Schlafgemachs. Sie ließ sich willenlos tragen. Der alte Graf stand an der Thür, in der Hand den Schlüssel zum Verschließen, sobald die Unglückliche in das Gemach gestoßen war.

„Wirf sie hinein!“ sagte der alte Graf.

Der Blödsinnige wollte sie hineinwerfen.

„Zurück – haltet ein!“ rief eine Stimme.

Es war eine mächtige, befehlende Stimme. Sie kam wie die Stimme Gottes, und ein Diener Gottes hatte die Worte gerufen. Der alte Mönch war auf den Ruf der Kammerfrau zu dem Thurme gegangen, hatte die Treppe erstiegen, sich still hinter die Drei gestellt, die oben an der Thür standen. Er war vorgetreten, mitten in das Zimmer. Seine Gestalt war hoch aufgerichtet.

„Haltet ein!“ rief er. „Ich befehle es Euch im Namen des Herrn. Und ich habe noch ein anderes Recht und eine andere Pflicht, es Euch zu befehlen. Ich, Eures Stammes der Letzte, dem der Himmel das Licht des Geistes bewahrt hat, ich, der Graf Adolph von Frankenberg, bin das Haupt der Familie, das außer mir nur noch zwei Mitglieder zählt, und diesen ist der Verstand verwirrt. Ich bin der Herr hier! Ich bin Euer Herr! Und ich befehle Euch, lasset ab von dieser Frau, vermesset Euch nicht in Eurer Thorheit, Gerechtigkeit üben zu wollen im Namen des ewigen Gottes! Du aber, sündiges Weib, entweiche aus diesem Hause, das Du entweiht hast; kehre nimmer – nie hierher zurück!“

Der alte Graf war zusammengezuckt, als er die Stimme des Mönchs vernahm. Er hatte einen Blick des Entsetzens auf den hohen Priester Gottes geworfen. Nur eine Secunde lang. Er hatte den Verwandten, den von ihm mißhandelten Verwandten erkannt. Der Geist verwirrte sich ihm wieder. Er lachte laut auf. Das Lachen wurde heiser, krampfhaft. Er sank um und fiel zu den Skeleten am Boden. Der Schlag hatte den mehr als neunzigjährigen Greis getroffen. Der Todte war zu den Todten gefallen.

Der Mönch kniete nieder zu den drei Entseelten und betete lange still, wie er bei der Leiche der Freifrau gebetet hatte. Er erhob sich. Die Gräfin hatte sich entfernt. Der blödsinnige junge Graf war ihr singend gefolgt. Der Sinn war ihm ganz verwirrt.

Der Mönch wandte sich zu dem Arzte, dem Hauptmann und dem alten Diener.

„Ich bin Mitglied des Ordens der Franziskaner und habe das Gelübde der Armuth abgelegt. Ich kann nicht Herr dieses Schlosses und dieser Güter werden. Sie fallen zurück an den Fürsten, von dem meine Familie sie zu Lehn trägt. An seiner Statt regiert jetzt ein despotischer Feind im Lande. Er wird die Güter in Besitz nehmen. Aber die Zeit, in der wir leben, geht vorüber; auch die Tage dieses Feindes sind gemessen. Deutschland wird wieder frei werden. Dann werden auch diese Güter wieder ihrem rechtmäßigen Herrn zufallen. Tragt Sorge für die Bestattung der Leichen.“

Er wandte sich und kehrte zurück zu dem Zimmer der todten Freifrau. Er betete die ganze Nacht bei ihrer Leiche und betete gewiß auch für Andere. Am Morgen las er die Messe in der Schloßkapelle. Dann kehrte er in sein Kloster zurück. Wie das Gelübde der Armuth, so hatte er auch das des Gehorsams zu erfüllen.

Der Freiherr wurde bekanntlich nicht erschossen. Er wurde längere Zeit in Frankreich gefangen gehalten und später hat er seinem Vaterlande noch lange und viele Dienste geleistet.

Die Gebeine des Mönches ruhen in dem Kirchhofe des aufgehobenen Klosters Heiligenkreuz.

Das edle Geschlecht der Grafen von Frankenberg ist ausgestorben. Schloß und Herrschaft Frankenfelde sind landesherrliche Domaine.

J. D. H. Temme. 




Bilder aus dem Londoner Verkehrsleben.
3.
Das „leere“ London. – Die große nördliche Verkehrsader des New Roads. – Euston Road. – Die Westströmung der englischen Gesellschaft und ihre Analogien in andern Großstädten. – Das wandelnde Butterbrod. – Eine Rifle-Compagnie. – Die Etagen der Londoner Unterwelt: Gas-, Wasser- und Cloakencanäle. – Das Wunder der Wunder: die unterirdische Eisenbahn. – Kaffee wie in Frankreich. – Eine Burg des Humbugs.

August, und noch in London? Pfui, wie unfashionabel! denkt der Leser, der bewandert ist im eisenstrengen Gesetzbuch englischer Sitte und Etikette. Wie gemein! In London zu bleiben, wenn die Saison vorüber, wenn kein Mensch mehr in der Stadt ist, als die Rotüre, die „Niemande“, die unglücklichen paar Millionen, welche schaffen und arbeiten, handeln und markten müssen zu ihres Leibes Nahrung und Nothdurft und zu Anderer Lust und Genuß; wenn das Parlament vertagt ist und die Minister ihre classischen Weißfische in Greenwich längst verdaut haben; wenn alle Welt, Palmerston und Russell voran, auf den schottischen Hochlandsmooren Birkhühner schießt oder im Lande umherreist und volksbeglückende Reden vom Stapel läßt; wenn selbst der Citykrämer und der Cityschreiber sich Ferien machen und sammt Mistreß und Misses Töchtern und Gentlemen Söhnen als falsche Lords und unechte Ladies unsere Kellner und Hoteliers am Rhein und in der Schweiz in Ehrfurcht und Bewunderung schrecken, – mit einem Worte, wenn keine Seele, die auf Anstand hält, in London bleibt oder sich mindestens nicht mehr auf der Straße blicken läßt, sondern in die hintersten Hintergemächer ihrer verschlossenen Wohnung verkriecht, damit ja die Welt nicht merkt, daß sehr triftige Gründe ein Zurückziehen auf Güter und Jagdgründe nicht verstatten. Entsetzlich, wahrhaft entsetzlich die Idee!

Die Stadt ist leer, meinen Sie; ganz leer, leer zum Grauen und Fürchten. Sie haben Recht, sehr Recht – nach Londoner Begriffen. Ich meinerseits wette aber, der Fremde, der heute anlangt in London, findet das eben nicht, wenn er jetzt mit uns durch das elegante Halbrund von Park-Crescent in den New Road einbiegt, jene marktbreite lange Straßenperspective, die, wie wir schon wissen, im Norden den Saum der eigentlichen Stadt bildet. Man kann sie als eine Art von Boulevard gelten lassen, wenn man bei dem Worte nicht gerade an die Pariser Boulevards mit ihrem wandelnden und sitzenden, plaudernden und flanirenden, ganz- und halbweltlichen amusanten Schlaraffenleben denkt, ein Boulevard, der in einem mehr als anderthalb deutsche Meilen großen Bogen als nördlichste Communicationslinie Westend und City verbindet und direct vom prachtvollen Stationshofe der großen Westbahn in’s Centrum des Weltcentrums, nach Bank und Börse führt. Wer vom Norden oder Nordwesten aus nach London kommt – also bei weitem die Mehrzahl der Landeskinder selbst und die Zuzügler aus [615] der andern Erdhälfte, selten aber der Deutsche, den meist die Themse oder die Südbahn über Dover heranträgt, – immer ist es dieser stundenlange New Road, wo der Fremde den ersten Fuß auf den Boden der Hauptstadt setzt. Die bewegliche Omnibusbarrikade, zwischen der wir uns eben über die Straße hinüberschlagen müssen, würde das Neulingsauge kaum als ein Zeichen der „todten Zeit“ erkennen, in der kein Mensch in der Stadt ist, wie der gute Ton mit zäher Beharrlichkeit behauptet.

Dieses New Road, das Local, der Ausgangspunkt unsers heutigen Londoner Streifzugs, das Mundloch der Unterwelt, die wir heute besichtigen wollen – erschrecken Sie nicht, eine höchst civilisirte und wohlorganisirte Unterwelt – die Decke des neuen unterirdischen Schienenwegs, folglich etwas näher kennen zu lernen – ist ein mehrnamiges Geschöpf. Der Kopf, das heißt die Strecke vom Westbahnhof bis zum Regentsparke heißt Mary-le-bone Road, nach einem der fünf sogenannten Flecken, boroughs, getauft, welche nebst der City und der Stadt Westminster das endlose Häuserconglomerat ausmachen, das man heute unter dem allgemeinen Namen London begreift. Der Schwanz, der verlängernde Anhang, der Theil, der vom berühmten Omnibusstrahlenpunkte, dem Engelwirthshause, das uns aus mancher Dickens’schen Novelle ein lieber alter Bekannter ist, durch das mittelbürgerliche Islington erst in südöstlicher, dann in rein südlicher Richtung über Finsbury und Moorgatestreet nach dem Allerheiligsten Londons, nach der Bank von England, läuft, wird der City Road genannt; das Mittelstück, das wir eben erreicht haben, ist der Euston Road, weil es sich etwa in der Hälfte seiner Ausdehnung zu dem stattlichen Euston Square erweitert; weiter östlich wird’s zum Pentonville Road. Und wie je nach den Umgebungen der Name, so wechselt auch der Charakter der Straße. Im Allgemeinen zeigen sich uns zwar überall rechts und links kleine schmale Vorgärten, manchmal wohlgepflegte Plätzchen mit netten Blumenbeeten und frischen Sträuchern, öfters rußüberstreute Flecke dürftigen abgetretenen Rasens mit einem elenden verkümmerten Baume im Winkel, hinter deren Eisengittern gleichförmig und monoton wie eine Reihe Soldaten die ungetünchten verräucherten Backsteinhäuser je drei Fenster breit nebeneinander aufmarschiren; dennoch tragen die einzelnen Theile der großen Verkehrsarterie ihr ganz bestimmtes Sondergepräge.

Wir fassen Posto, wo wir eben angelangt sind, in Euston Road. Das ist der exclusive Theil der großen Nordcommunication, aber darum noch lange keine fashionable Nachbarschaft im englischen Sinne, immer nur ein respectabler Mittelclassenbezirk. Hier an den Squares und Plätzen der Umgegend, auch in den Palastcombinationen um den Regentspark wohnt der Kaufmann, der einen sichern Grund zur Börsengröße gelegt hat, doch bei Weitem noch nicht zu den Cityfürsten zählt, welche draußen um die ehemalige Richtstätte von Tyburn herum ihre Privatresidenzen besitzen; hier haust der Arzt, welcher die alleroberste Staffel seines Gewerbes noch zu erklimmen hat, der Advocat, der nicht durch Geburt „von Familie“ und damit hochlebig ist, der Künstler, der Schriftsteller, der angesehene Lehrer, – kurz hauptsächlich die Gesellschaftsschichten, die man als „professional men“, das heißt, Leute vom gelehrten Handwerk bezeichnet. Vordem, noch im ersten Viertel dieses Jahrhunderts waren hier Rang und Mode heimisch, bis Ausgangs der zwanziger Jahre die große Emigration von Adel, Geldaristokratie und Gentry gen Westen begann und diese Tendenz nach Abend allmählich die gesammte wohlhabendere Bevölkerung ergriff. Alles drängt westwärts, eine Classe immer der andern nach; denn je westlicher, je vornehmer, und wer möchte in dem trotz aller politischen Freiheit gesellschaftlich durch und durch aristokratischen England nicht gern vornehm, mindestens „respectabel“ sein? Merkwürdig, daß ganz ähnliche westliche Strömungen auch in anderen europäischen Großstädten wahrzunehmen sind! In Paris sind die Quartiere um das Bois de Boulogne, um die Champs Elysés, vor der Barrière de l’Etoile die vorzugsweise eleganten; nach Morgen im Faubourg St. Antoine sitzt der Ouvrier. In Berlin bilden die Straßen um den Thiergarten, um den Anhalter Bahnhof, vor dem Brandenburger und Potsdamer Thore das Rentiers- und Geheimrathsviertel, während im Osten in der Königsstadt, auf dem Köpniker Felde, vor dem Rosenthaler Thore u. a. m. sich Geschäft und Arbeit placken, um sich so schnell wie möglich in den Westregionen zur Ruhe setzen zu können. Auch in Frankfurt a. M. liegen die Millionärpaläste zumeist am Westsaume der Stadt, und selbst in Leipzig tritt eine „Weststraße“ mit gewissen hochmüthigen Prätentionen auf. Sind dies zufällige Erscheinungen, oder hängt dieser Zug nach Westen mit der Bewegung der menschlichen Cultur überhaupt zusammen, die ja auch in der nämlichen Richtung vorschreitet? – –

Hier rechts auf den breiten Stufen der neugothischen Kirche stellen wir uns auf, das Straßenbild festzuhalten, das sich vor unseren Augen entfaltet, der Künstler mit uns, der es mit raschen Strichen für die Gartenlaube skizzirt. Die weite Perspective, welche die breite regelmäßige Straße gewährt, eine der wenigen Londons, deren aus einem Gusse systematisch geschehene Anlage die Ausschmückung mit Baumalleen gestattet hat, ist an einem Tage, wie der heutige, wo die Luft klar ist und der Himmel die graue Landesfarbe abgelegt hat, wirklich überraschend schön. Und sehen Sie sich um, meine Theuerste, wollen Sie sich noch einreden, daß London jetzt todt und langweilig ist? Dem eingeweihten Auge mag das Gemälde allenfalls um einen Ton gedämpfter, um einen Schalten minder brillant erscheinen, als im Mai und Juni, wo die Saison in Hochfluth geht; allein wie wenig thut das dem Gesammteffect Eintrag! Haben wir denn nicht ringsum eine unablässig wechselnde Fülle von Leben und Bewegen? Sind da nicht gleich zwei wandelnde Butterbrode auf einmal? Sie haben recht gehört, in London wandeln die Butterbrode in den Gassen umher. Sandwich, zu deutsch Butterstolle, ist der technische Ausdruck für jene Burschen, deren Lebensberuf darin besteht, mit Bretern auf dem Rücken oder über der Brust in den Londoner Straßen umherzuspazieren, um dem Publicum irgend eine Ankündigung, meist von Abendergötzlichkeiten und ähnlichen Vergnügungen, aber auch – von Predigern und Gottesdiensten, recht augenfällig zur Schau zu tragen. Und unsere Freunde, die kleinen Schuhwichser, sie fehlen auch nicht, und der hier dicht zu unseren Füßen, der sieht gar nicht so griesgrämisch drein, wie sein feiernder College, den wir in Piccadilly sahen, denn das Macadam ist jederzeit schmutzig, bei schlechtem Wetter vom Regen und bei gutem von den Ergießungen der Staubsprengwagen, und so halten hier auf dem New Road die hurtigen Schelme fast immer ihre Ernte. Auch eine Metropolitan-Rifle-Compagnie, ein Zug jener freiwilligen Scharfschützencorps, die seit einigen Jahren zu den stehenden Typen des Londoner Straßenlebens gehören, die exerciren und manövriren mit Feuer und ohne Feuer, als sei das Vaterland in allerhöchster Gefahr, schon ein zweiter Wilhelm der Eroberer über den Canal gelandet und ein anderes Hastings zu fürchten, kommt mit dem commandirenden Officier zu Pferde uns entgegen, um zum Uebungsplatze zu marschiren. Dazwischen laufen Cabs und Hansom’s Cabs, jene zweirädrigen und zweisitzigen flinken Sicherheitsdroschken, welche der Kutscher von erhabenem Hintersitze über das Verdeck hinweg leitet, nach allen Richtungen, und schwerbeladene Omnibus von und nach Kings Croß und nach und von Paddington rollen aneinander vorüber, und die Conducteure auf den Außentritten recken unablässig die rechten Zeigefinger empor, um noch mehr lebendige Fracht zu kapern. Das geht so still, so rasch, kein ewiges ohrenzerreißendes Klingeln wie bei uns, kaum ein Halt; ein schneller Zug an der mit dem Kutscher correspondirenden Schnur und der neue Passagier des „Bus“ ist ein- oder aufgestiegen. Wie lärmt, wie schreit, wie rasselt, wie blökt’s durcheinander, denn zum Ueberfluß drängt sich noch eine Schafheerde, die von dem berühmten neuen Viehmarkt auf dem Caledonian Road in Islington heimgetrieben wird, durch das Gewirr von Menschen, Rädern und Pferden.

Ist das nicht Lebens genug? Verlangen Sie noch mehr Gewühl, noch ärgeres Getöse? Geduld! Sie sollen noch mehr davon haben; ganz nach Herzenslust. Hören Sie jetzt das dumpfe Gedröhn, das aus der Tiefe zu unsern Ohren dringt? Ist’s nicht, als wanke der Boden zu unsern Füßen, als schicke er sich eben zu einem kleinen Erdbeben an, als stünden wir buchstäblich auf einem Vulcane, welcher sich plötzlich aufthun wolle, um uns und das ganze profane Treiben des großen Babels zu verschlingen? Doch keine Angst, die Erde bebt nicht, der gute ehrliche Londoner Lehmboden ist nicht über Nacht zum feuerspeienden Berge geworden, das sind blos Lebenszeichen aus jener Unterwelt, die meine Wünschelruthe Ihnen jetzt erschließen soll.

Der Durchschnitt ist geschehen. Ah! Sie staunen, und wahrhaftig, es ist staunenswerth, was wir erblicken, so überraschend und frappant, daß auch Freund Maler herantritt, das untere Bild zugleich mit dem obern in seine Mappe einzufangen, schnell, so lange die Kraft meiner Hexerei vorhält.

[616] Wir sehen ein vierfaches Canalsystem über einander. Zuerst die enge Röhre mit den kleinen Oeffnungen – unser Künstler will sie mit G bezeichnen –, das sind die Gasleitungen, die London nicht nur des Abends und der Nacht, nein, wenn die dicken braunen Novembernebel kommen oft genug während des ganzen Tages mit der nöthigen Helle und Aufklärung versorgen müssen. Wo die Kleinigkeit von ziemlich drei Millionen Menschen beleuchtet und zwar nicht mit continentaler Sparsamkeit beleuchtet, sondern mit wahren Lichtfluthen umströmt sein will, da kann man sich denken, wie riesig der jährliche, selbst nur der tägliche Gasverbrauch sein muß, dem denn auch nicht weniger als zehn große Gesellschaften mit einer Menge von Gasanstalten in Stadt und Vorstädten zu Hülfe kommen. –

Das zweite Stock, von oben gerechnet, jene Röhre von dem gewaltigen Kaliber – ein W soll auf dem Bilde ihr Erkennungszeichen werden – schafft dem Londoner eine andere Lebensunentbehrlichkeit herbei, das Wasser. Unter den sämmtlichen zwölf deutschen Quadratmeilen, welche die Riesenstadt nach und nach mit ihren Häusern bedeckt hat, läuft dies tausendfach verzweigte Netz der Wasserleitung hin, das von neun verschiedenen Compagnien geflochten ist. Im Auslande pflegt die Meinung verbreitet zu sein, daß ganz London kein anderes Trinkwasser habe, als das mit hunderterlei Arten und Unterarten von Schlamm und Unrath gemischte und gewürzte Wasser des Themsestroms, und daß darum das beste nur im Grog und Whiskeypunsche anzutreffen sei; diese Ansicht ist aber, wenigstens in ihrem ersten Satze, ungegründet. Ein großer Theil des nördlichen und nordwestlichen Londons, und namentlich auch die City empfangen ihr Trinkwasser nicht aus der Themse, sondern aus dem tiefer im Lande zwischen Wiesen und Büschen ganz idyllisch und romantisch rinnenden Flüßchen Lea und den Chadwellquellen, die in Hertfordshire entspringen und in ihrem untern Laufe zu dem sogenannten New River (Neufluß) werden. Blos der Süden und Südwesten Londons ist noch auf das Themsewasser angewiesen, doch darf seit einem Parlamentsbeschlusse von 1855 keine Compagnie mehr dem eigentlichen Stadtgebiete des Stromes ihr Wasser entpumpen, sondern nur meilenweit oberhalb, wo jener noch ein klarer, lieblicher Landfluß ist. London verbraucht Tags im Durchschnitt 46 Millionen Gallonen (die Gallone = etwa 4 Berliner Quart) Wasser, davon wird aus der Themse blos die kleine Hälfte, noch nicht 20 Millionen, geschöpft. Allerdings muß der Londoner dafür den betreffenden Gesellschaften, die selbstverständlich nicht umsonst arbeiten mögen, eine „Wassertaxe“ entrichten; allein die Steuer ist verhältnißmäßig gering, und die Wasserleitungen treiben das unersetzliche Element allenfalls bis auf die obersten Dachfirsten hinauf, wenn man etwa Lust verspürt, sich im Schatten der windbewegten Schornsteinungethüme eine kleine Lustfontaine zu etabliren. Zu dieser unschätzbaren Annehmlichkeit gesellt sich die weitere, daß ventilartige Aufgänge von den Röhren bis zum Niveau des Straßenpflasters im Falle von Feuersgefahr sofort und ohne die mindesten Umstände jede beliebige Quantität Wasser den Spritzen in allen Bezirken der Stadt zuführen. Eigens von der Compagnie besoldeten Leuten ist die Oeffnung und Handhabung dieser zahlreich vertheilten Ventile anvertraut, die man an einer in das Pflaster eingelassenen Eisenröhre erkennt, derselben Eisenröhre, welche zur Wasserspeisung der Häuser dient. –

Eine Etage tiefer fällt uns ein dritter Röhrengang auf, der in ausgemauertem Schachte vom Straßenboden durch Gas- und Wassercanäle hindurch zur Tiefe hinabsteigt – ein C soll ihn unterscheiden. Das ist ein etwas minder appetitliches Institut, als seine obern Cameraden, ein Institut, das nichts zu-, wohl aber sehr Vieles abführen soll, die Excremente von drei Millionen Menschen und Hunderttausenden von allerhand großem und kleinem Hausvieh dazu. Man nennt es „Sewage“ oder „Hauptdrainage“ und hat es seit dem Jahre 1859 anzulegen begonnen, nachdem das frühere Cloakensystem sich als höchst mangelhaft, luft- und wasserverpestend erwiesen und während des Sommers namentlich ein stereotypes Angriffsziel der englischen Presse hatte abgeben müssen. An den verschiedensten Stellen und Plätzen der Stadt und Umgebung nimmt nunmehr eine Reihe langer Canäle den Koth und Unrath auf und entleert ihn, nicht wie sonst, noch im Stadtbezirke selbst, sondern weit unterhalb, auf rechtem und linkem Ufer, in die Themse.

Rümpfen Sie nicht das Näschen, Verehrteste. Der Gegenstand ist freilich nicht salonfähig, nicht einmal ästhetisch, dafür aber desto wichtiger, wichtig in baulicher, volkswirthschaftlicher und hygienischer Beziehung. Stellen Sie sich vor, daß die Einrichtung, wenn sie einmal vollendet sein wird, was noch nicht der Fall, anschlagsmäßig ein Capital von mehr als zwanzig Millionen Thaler erfordert, daß ihre Canäle allein in der City, einem räumlich verschwindend kleinen Bruchtheile der Metropole, kreuz und quer nicht weniger als zehn deutsche Meilen durchlaufen werden und daß die Ausflüsse, die London tagtäglich der Themse zuführt, Millionen Kubikfuß betragen, ein Quantum, das ungefähr einer sechs Fuß tiefen Erdschicht von 36 preußischen Morgen Flächenraum gleichkommt! Sind das nicht auch interessante Zahlen?

Doch pst! Da schnaubt das Wunder der Wunder heran, aus der geräumigsten untersten Canalschicht, dem weiten Tunnelgewölbe heraus: der Wagenzug der unterirdischen Eisenbahn mit seinen beiden purpurglühenden Augen, das Ganze ein completes Rembrandt’sches Nachtstück mit prächtigen Licht- und Schatteneffecten. Im oberirdischen London war der Verkehr zu bedrohlichen Dimensionen angewachsen und wuchs und wuchs Tag für Tag in’s Riesigere hinaus, und Niemand sah ein Ende des Anschwellens ab. Immer häufiger wurden die Stauungen der Verkehrsfluth auf den Straßen, immer lebensgefährlicher die Bewegung für Mensch und Thier, und die völlige Stagnation der Circulation stand, zumal in einzelnen Gegenden der City, bevor. Dem mußte Abhülfe gebracht, es mußte auf Ableitung dieses Stroms gesonnen, Raum geschafft werden für Rühren und Regen.

Das Kind dieses dringenden Bedürfnisses wurde bekanntlich unsere unterirdische Eisenbahn, der Metropolitan oder Underground Railway, wie sie officiell getauft worden ist. Der Gedanke war kühn, die Ausführung rasch und energisch, mit jener dem stiernackigen Engländer im Guten wie im Schlimmen eigenen Ausdauer in’s Werk gerichtet, die vor keinem Hindernisse zurückschreckt. Noch sind es kaum zwei Jahre, daß der erste Spatenstich des Baues geschah, und jetzt donnern von Viertelstunde zu Viertelstunde, täglich 164 Mal, darunter mehrmals ausschließlich für den zu und von seiner Tagesaufgabe eilenden Arbeiter, die Locomotiven fast unter jedem Zoll des Bodens, welchen wir heute zusammen überschritten haben.

Ihren Ausgang nimmt die Bahn ganz in der Nachbarschaft des uns bekannten Weststationshofes, läuft lang unter dem Mary-le-bone-road hin, schneidet wenige Schritte von unserm augenblicklichen Observationspunkte den Euston Square und berührt das wichtige Verkehrscentrum von Kings Croß. Von hier hört sie auf, unterirdisch im eigentlichen Sinne des Wortes zu sein. Mit Ausnahme eines nur kurzen Tunnels, auf dessen Decke das große Straf- und Besserungshaus der Coldbathfields sich erhebt, läuft sie nun in offenem Durchstich durch mehrere obscure Straßen und Plätze südostwärts der City zu. Dort findet sie in Farringdonstreet, jener langen und breiten nordsüdlich bis zur Blackfriarsbrücke streichenden Communicationsader, die Alles passiren muß, was vom Westen in’s Herz der Allstadt will, ihr vorläufiges Ziel, um später bis zur Stelle des ehemaligen Fleetkerkers Pickwick’schen Angedenkens fortgesetzt zu werden und hier in die Chatham- und Doverbahn zu münden.

Nennen wir ihn immerhin ein Wunder, diesen unterweltlichen Schienenweg. Ein Riesenunternehmen ist er gewiß, wie er mit seinem doppelgleisigen Strange in einem siebzehn, hie und da neunzehn Fuß hohen und 281/2 Fuß weiten, aus sechs Rollschichten ausgemauerten elliptischen Gewölbe, von Gas erhellt, das aus eigenen den Zügen beigegebenen Gasometern mittels Kautschukröhren in die Lampenreihen überströmt, bereits in der Ausdehnung von etwa 4/5 einer deutschen Meile London untertunnelt. Was gab es da für Schwierigkeiten zu überwinden, materielle und technische! Wie oft hat nicht die Katastrophe einer Minute die Arbeit von Monaten zerstört! Unter das tiefste Geäder des Wasser- und Schleußensystems muß hinabgestiegen, die untersten Cloaken müssen umgangen oder gar verlegt werden. Eine der Hauptschleußen bricht während des Baues durch die Wände und ergießt ihre Kothfluth über die Arbeiter. Kaum ist sie gehemmt, so sprudelt plötzlich ein Quell auf und setzt Alles unter Wasser. Während man noch unten mit diesen Hindernissen kämpft, weichen oben die unterminirten Häuser; viele davon müssen eilig gestützt, andere abgebrochen und später wieder aufgebaut werden. Und schließlich doch Alles überkommen, Alles bezwungen, Alles besiegt! Betrachten Sie diese kühnen Constructionen, diese Bogen und Wölbungen, die Vorrichtung zu Erneuerung und Reinigung der Luft, den sinnreich erdachten [617] Signalisirungsorganismus; vergegenwärtigen Sie sich die Masse von Expropriationsprocessen, welche der Baugesellschaft erwuchsen; hören Sie, wie enorm die Frequenz ist, der sich diese „Ratteneisenbahn“ – so nennt sie der Volkswitz wegen der Nachbarschaft der von Rattenschaaren bevölkerten Cloakenröhren – schon nach den ersten Monaten seit ihrer Eröffnung zu erfreuen hat; sehen Sie, wie leicht ihre Benutzung gemacht ist, wie gefahrlos die unterirdischen ihrer sechs Stationen durch bequeme Wendeltreppen zu erreichen sind, – und, nicht wahr? all das böse Blut, das uns neuerdings John Bull’s bornirte Danomanie und Deutschfresserei bereitet, darf uns nicht von dem Bekenntniß abhalten, daß hier eine große Aufgabe mit wunderbarem Geschick und wunderbarem Erfolge gelöst ist. Lassen wir uns nicht beirren von den hin und wieder laut werdenden Stimmen, die uns einreden möchten, das Ganze sei eigentlich nicht viel mehr als Kinderspiel gewesen, von einer unerhörten Leistung der Technik nicht im Entferntesten dabei die Rede, Alles, was man in dieser Hinsicht erzählt, ebenso in das Reich der Fabel zu verweisen, wie die Rauch und Dampf selbstverzehrenden Locomotiven, von denen man bei der Untergrundeisenbahn geflunkert, und die gar meinen, Liechtenstein und Reuß-Greiz hätten gerade so gut ihren subsolarischen Schienenweg haben können, wenn sie nur gewollt hätten.

Wer’s gesehen hat leibhaftig vor sich, wie wir, wer gar neulich ein Stück durch die Unterwelt gefahren ist, der läßt sich von solcher prosaisch neidischen Anschauung nicht anstecken, der bleibt dabei, daß er vor diesem neuen Triumphe des Menschen über die todte Natur mit Anstand staunen darf. Und das Alles ist, wie neulich berichtet, nur ein Anfang, nur die Verwirklichung eines von dem Dutzend anderer noch viel weitergreifender genialer Projecte. Wie lang wird es dauern, so ist ganz London, wie überbrückt von Bahnviaducten, so unterhöhlt von einem Netze unterirdischer Schienenstraßen, wie eine Wiese von Maulwurfsgängen, nicht blos der feste Grund und Boden, auch die Themse, unter deren Bett bereits zwei Gesellschaften Eisenwege zu bauen im Schilde führen, und wer mag diesem hochfliegenden britischen Unternehmungsgeiste seine Schranken vorzeichnen? Hat doch vor zehn Jahren auch Niemand von dieser Unterweltbahn geträumt.

Uns schwindelt im Gedanken an die Consequenzen, die sich daran knüpfen und in’s Grenzenlose hinüberspinnen. Verhüllen wir lieber wieder mit Nacht und mit Grauen diese zwar wohlgeregelte, immer aber unheimliche Unterwelt! Ach, wie ist’s doch schön zu athmen hier oben im rosigen Licht, heute wirklich im rosigen Lichte, in dem uns Alles ringsum gebadet scheint, die einförmigen gleich breiten und gleich hohen Ziegelhäuser, die Miniaturgärten davor, die unvermeidlichen Eisenstakete darum, die staubgepuderten Bäumen rechts und links, selbst die Messingplatten über den Thüren, die uns zu wissen thun, daß Mr. B. eine „Dancing Academy“ hält – minder hochstylig, der Tanzmeisterei obliegt –, Mr. C. „Professor of Music“ und Mr. X. „Teacher of foreign languages“ (Lehrer fremder Sprachen) ist – Alles kommt uns so freundlich, so hell, so anheimelnd vor nach unserer Zauberschau der Unterwelt. Alles so lockend, auch dort die große Inschrift „Coffee as in France“ – Kaffee wie in Frankreich –, daß wir beinahe Gefahr laufen, vorwitzig diesen englisch-französischen Kaffee zu riskiren, lähmte nicht die nüchterne Pedantin Erfahrung alsbald wieder den Schwung unserer unbedachten Gelüste, uns daran erinnernd, daß man die Götter nicht versuchen soll, daß in England kein Mann und keine Frau versteht, was Kaffee heißt, außer dem Koch in Verey’s elegantem französischen Restaurant an Regent- und Hanoverstreet-Ecke und etwa einem und dem andern türkischen Divan in Haymarket, wo man nach Theaterschluß, das heißt, beim Morgengrauen, einfällt, wohin Sie, Verehrteste, aber bei Leibe nicht folgen dürfen. Selbst drüben das Eckhaus, das sich von allen übrigen Gebäuden der Straße durch seine anspruchsvollere Architectur, durch einen gewissen vornehmen Aplomb unterscheidet, selbst dies, trotz dem grimmen britischen Leuen, der auf seinem Dache wacht, und dem andern, welcher unten den Eingang behütet, ist von einem Schimmer reizender Heiterkeit umflossen. „college of Health“ – Gesundheitscollegium – „founded (gegründet) 1828 prangt in mächtigen Goldlettern an seiner Vorderfronte. Sie meinen, daß hier vielleicht die hochgelahrte Doctorzunft von Großbritannien und Irland ihre gewichtigen Versammlungen und Consultationen abhält, daß von hier das Licht der Arzneikunst ausstrahlt über das vereinigte Königreich, nicht wahr? Nichts von alledem, der stattliche Bau ist nichts anders als eine große Burg der Reclame, ein Palast des Schwindels, eine Frucht des Humbug. Hier werden die vielgenannten Morrison’schen Pillen, die „vegetabilische Universalmedicin“, einzig und allein fabricirt und noch immer über die halbe Erde verschickt. Der glückliche Erfinder der Panacee und Besitzer des Gesundheitscollegiums verausgabt zwar Jahr aus Jahr ein fast ein fürstliches Vermögen für Annoncen und Reclamen, hat aber schon lange sein Schäfchen in’s Trockene einer kolossalen Rente geborgen; denn trotz Wissenschaft und Wahrheit und trotz des – Bock’s in der Gartenlaube bleibt der alte Spruch „Mundus vult decipi“ ewig neu und ewig probat. –

Aber da grollt’s schon wieder schauerlich herauf aus der Tiefe. Flüchten wir darum aus diesen untermaulwürfelten Regionen; glücklicher Weise giebt’s ja vorläufig Gebiete, wo London noch auf solider Grundlage ruht. Im „Bus“ da ist noch Platz und in dem drüben im Edgeware Road vielleicht auch. Ein Gang durch Hydepark und die Kensington-Gärten muß vergnüglich sein heut’ nach unserer Entdeckungswanderung, doppelt vergnüglich gerade weil die Stadt leer ist und der Park frei von dem Firlefanz von Saison und Fashion. Eilen wir, schon zieht der Conducteur die Schnur zum Kutscher.




Erinnerungen aus Italien.[1]
Die deutschen Künstler in Rom.

Unter den angehenden Malern und Bildhauern in Deutschland gilt es noch heute als ein unbestrittener Satz, daß die Meisterschaft in ihrer Kunst nur durch einen Aufenthalt in Italien gewonnen werden könne. So weit sie damit eine Reise nach Italien verstehen, mag solche Ansicht im Rechte sein; aber ein dauernder Aufenthalt deutscher Künstler in Rom kann nach meinen Beobachtungen für ihre Leistungen nur lähmend und nachtheilig werden.

Ich suchte gleich nach meiner Ankunft in Rom das Café greco auf, von alten Zeiten her bekannt als der Sammelplatz der deutschen Künstler, wo auch Goethe oft zu sitzen pflegte. Aber schon hier hat sich Vieles geändert; die Künstler leben jetzt weit zersplitterter, als sonst, und nur ein Theil von ihnen ist hier noch regelmäßig zu treffen. Es war rein zufällig, daß ich einen alten Bekannten und deutschen Maler, als er vorüberging, erkannte. Nach den ersten Begrüßungen führte er mich von dort in den deutschen Künstlerverein.

Dieser Verein hat sein Local, wie die Künstler mit Stolz zu sagen pflegen, in dem Palast mit der berühmten Fontana di Trevi. Es ist ein origineller Gedanke, die Vorderseite eines Palastes, statt sie mit Thüren und Fenstern zu versehen, aus einem bis an das Dach ansteigenden Geröll mächtiger Felsblöcke zu bilden, zwischen denen an allen Orten starke Quellen hervorsprudeln und springen, deren Wasser, von Schalen aufgefangen, zuletzt in ein breites Becken sich ergießen, welches die Hälfte des Platzes vor dem Palaste einnimmt. Die labende Kühlung, welche es verbreitet, läßt Arbeiter, Frauen und Kinder zu allen Tageszeiten hier sich sammeln, auf den Rampen und Treppen des Wasserbeckens ausruhen und dem Geräusch zuhören, womit der Wasserfall den Platz bis in die angrenzenden Straßen erfüllt. Es gefiel mir an diesem Springbrunnen vor Allem, daß die Marmorbilder, mit denen er geziert ist, nicht in der hergebrachten Weise benutzt sind, um das Wasser aus ihren Mäulern, Nasen oder Trompeten hervorspringen zu lassen. Diese Bildsäulen zeigen überall rein menschliche Stellungen und Tätigkeiten, mit dem Ausdruck des Behagens, welches in [618] heißen Ländern jeder Wasserüberfluß erregt; sie erniedrigen sich nirgends zu bloßen Umhüllungen der Wasserröhren und zu Spritzen des Wassers.

Das Innere des Palastes entspricht gegenwärtig dieser großen Außenseite nicht; er ist, wie viele andere in Italien, jetzt an allerhand Leute vermiethet, und im ersten Stock hat, wie erwähnt, der deutsche Künstlerverein seinen Sitz. In einer Reihe Zimmer kann man dort, wie in Deutschland, rauchen, essen, lesen und sich unterhalten. Man findet eine kleine Bibliothek deutscher, meist älterer Werke über Italien, auch deutsche Zeitungen, und um die Täuschung, als sei man im Vaterlande, voll zu machen, sprechen nicht blos die Gäste, sondern auch die Diener nur deutsch, denn beide werden nur unter dieser Bedingung aufgenommen.

Im Winter soll der Verein sehr besucht sein, und nach seinen gastfrei abgefaßten Statuten kann jeder Deutsche von Bildung durch ein Mitglied als Gast eingeführt werden, ohne daß es einer weiteren Förmlichkeit bedarf, als daß man seinen Namen in das Fremdenbuch einträgt. Nur bei einem längeren Aufenthalt ist ein geringer Beitrag zu entrichten. Ein Berliner, welcher sich im verflossenen Winter in Rom aufhielt, konnte es auch dort ohne die Berliner „Volkszeitung“ nicht aushalten; er ließ sie nachkommen und vermachte sie bei seinem Abgange dem Verein, welcher das Abonnement dann fortgesetzt hat. Zu meiner Zeit, im Juni d. J., war die Gesellschaft sehr zusammengeschmolzen; die meisten Künstler hatten Rom bereits verlassen und die noch anwesenden waren auf dem Sprunge, dasselbe zu thun, um, wie gebräuchlich, vier bis fünf Monate im Lateiner- oder Sabiner-Gebirge zu verleben.

Nach dem Allen sollte man meinen, daß es für den Deutschen in Rom, namentlich für den, der des Italienischen nicht mächtig ist, keinen willkommeneren Ort zur Erholung und zum geselligen Verkehr geben könne; allein die üblen Einflüsse, welche der dauernde Aufenthalt in Rom auf den deutschen Künstler äußert, machen auch hier dem Fremden sich bald bemerklich.

Der wichtigste und einflußreichste Umstand ist der gänzliche Ausschluß der Künstler aus dem römischen Familienleben. Die Römer aller Stände halten sich, dem Fremden gegenüber, mehr abgeschlossen, als es in irgend einem anderen Lande geschieht. Es mag sich aus ihrer politischen Geschichte und Lage erklären; nur dadurch vermögen sie vielleicht sich ihre nationale Eigenthümlichkeit noch zu bewahren. Der Adel und die reichen Familien geben im Winter wohl große Gesellschaften, aber diese bleiben für den Künstler ein leeres Treiben und Drängen, wo er im besten Falle einige Süßigkeiten in Worten oder auf Tellern erhascht und nach einer Stunde froh ist, sie wieder verlassen zu können; dem häuslichen Leben kommt er damit keinen Schritt näher. In den Mittelständen fehlt auch dieser Schein einer Annäherung.

So bleiben die Künstler auf sich selbst angewiesen; von dem römischen Leben haben sie nur das der Straßen und der Cafés; und selbst da bekümmert sich der Römer weniger um seinen Nachbar, als in anderen Ländern.

Die meisten Künstler sind überdies nur mit beschränkten Mitteln versehen, und die Folge ist, daß sie ausschließlich untereinander verkehren und daß eine Art Studentenleben und Studententon unter ihnen sich entwickelt, dem aber die lebendigen und anziehenden Seiten des deutschen Studententhums abgehen, da die Mehrzahl der Künstler die tollen Jahre der ersten Jugend hinter sich hat. Der Gegensatz zu dem Bürgerphilister in Rom mangelt. So bleibt nur die Ungebundenheit und Nachlässigkeit in Kleidung, Wohnung, in geselligen Manieren und Ausdrucksweisen, welche an das deutsche Studentenleben erinnert.

Diese für den Künstler weit mehr als für den Studenten bedenkliche Isolirung erhält aber ihre gefährlichste Seite erst dadurch, daß der deutsche Künstler dort nicht blos von dem römischen Familienleben, sondern auch von dem deutschen Vaterlande völlig abgeschnitten ist. Der briefliche Verkehr ist langsam, schwerfällig und kostspielig; die Post ist nur halb so viele Stunden täglich, wie in anderen Ländern geöffnet; ein Brief nach Deutschland kostet neun Groschen, und sowie er ein halbes Loth übersteigt, das Doppelte; er ist über acht Tage und länger unterwegs, und frankirte Briefe gehen leicht verloren. Es ist natürlich, daß unter solchen Umständen die Mehrzahl der Künstler sich auf die nothwendigsten Familienbriefe beschränkt.

Von deutschen Zeitungen ist in den Cafés von Rom nichts zu finden; nur die Augsburger „Allg. Ztg.“ wird in zweien gehalten. In dem Künstler-Verein findet sich neben dieser, wie erwähnt, nur die Berliner „Volkszeitung“, aber kein einziges größeres Blatt aus Norddeutschland oder Oesterreich. Eine große Zahl deutscher Künstler ist überdem nicht Mitglied des Vereins; sie sind also in Bezug auf die großen Tagesinteressen des Vaterlandes lediglich auf das angewiesen, was die in Rom unter päpstlicher Censur erscheinenden Zeitungen mittheilen. Dies wird genügen, um zu verstehen, wie die in Rom lebenden Künstler nur noch eine beschränkte Kenntniß der vaterländischen Verhältnisse besitzen, und wie auch das Interesse für die großen politischen und socialen Fragen, welche Deutschland bewegen, bei ihnen mit jedem Jahre ihres Aufenthaltes in Rom mehr erlischt. Anstatt, wie ich vermuthete, in dem Künstlerverein mit Fragen über die preußischen Verhältnisse, über das jetzige Ministerium, über die bekannteren Mitglieder des Landtages bestürmt zu werden, fiel es Niemandem ein, diese Gelegenheit zu benutzen; nur einzelne dürftige Fragen wurden dann und wann laut. Selbst der Krieg mit Dänemark hatte für sie nur das Interesse der Neugierde. Wie wird er endigen? Das war Alles, was man wissen mochte. Seine tiefgreifende Bedeutung für die innere Entwickelung Deutschlands wurde nicht bemerkt oder obenhin mit ein paar Worten abgefertigt.

Sehr auffallend war mir dabei die vorherrschend reactionäre Gesinnung unter den Künstlern, welche ich in Rom kennen zu lernen Gelegenheit hatte. Schon an meinem Freunde, dem Maler, der 1848 mit Leib und Seele zur Demokratie gehörte, bemerkte ich mit Schrecken eine Gleichgültigkeit, aus welcher man seine jetzige Gesinnung nicht mehr entnehmen konnte. Er selbst erzählte mir von dieser vorherrschend reactionären Richtung; indeß reichte die Vorsicht, welche man als Fremder in solcher Umgebung sich von selbst auferlegt, kaum aus, um aufregende Scenen zu vermeiden.

Als ich, rein aus Artigkeit, der Unterhaltung eine Wendung zu geben suchte, wo ich für die in Rom lebenden Künstler ein regeres Interesse vermuthen konnte, und das Gespräch auf Franz II. von Neapel brachte, erkundigte ich mich beiläufig, ob man in Rom Näheres über die Gerüchte wisse, welche sich im vorigen Jahre in Deutschland über eine Dame im Kloster verbreitet hatten. Ich kam indessen mit meinem guten Willen übel an. Man äußerte sich laut und unwillig darüber, daß man in Deutschland eine so vortreffliche Dame und eine so glückliche Ehe verleumden könne. Im Laufe des Gespräches ging einer der Anwesenden so weit, zu behaupten, daß nur die zu große Milde und Menschlichkeit Franz’ II. ihn um seinen Thron gebracht habe, und von den Uebrigen erhob sich Niemand, der dem widersprochen hätte.

Steht der deutsche Künstler in Rom schon den politischen Interessen seines Vaterlandes fern, so gilt dies in noch höherem Maße von allen Zweigen der Literatur. Es giebt zwar eine deutsche Buchhandlung in Rom, der vieles Gute nachgesagt wird; aber sie darf keinen Bücherballen anders öffnen, als in Gegenwart der mit der Censur beauftragten Herren Geistlichen, und die Preise der deutschen Bücher müssen der Auslagen und der geringen Nachfragen wegen so hoch gestellt werden, daß sie für die meisten Künstler unerschwinglich bleiben.

So abgeschlossen von dem Leben in der Familie, vom Vaterlande, von dem geistigen Strome deutscher Literatur, nur auf die Straße, das Café und den Verkehr einiger Freunde in ähnlicher Lage beschränkt: ist es da zu verwundern, wenn die Wirkungen dieser einseitigen Lebensweise auch in die Werkstätten der Künstler eindringen und in ihren Werken erkennbar werden?

Trotz der großen Zahl deutscher Maler in Rom, stehen doch ihre Leistungen wirklich bedeutender Werke erheblich dem nach, was von den im Vaterland lebenden Künstlern geschaffen wird. Die künstlerische Thätigkeit in Rom beschränkt sich wesentlich auf das Copiren der alten Meisterwerke, auf Genrebilder des italienischen Volkslebens, auf Landschaften und Portraits.

Es wäre verkehrt, von dem Künstler Meisterwerke religiösen Inhalts zu fordern, wie sie von Raphael, Murillo, Rubens in deren Zeiten geschaffen worden sind; dazu fehlt jetzt der volle Glaube und die Begeisterung für solchen Inhalt; aber kein Zeitalter entbehrt des Stoffes für das große Kunstwerk. Es kommt nur darauf an, daß der Künstler es zu finden versteht. Die vaterländische Geschichte, die großen Fragen des Staats und der Gesellschaft, welche die Gegenwart erschüttern, bieten der Kunst einen reichen Ersatz; und welche großen Erfolge die künstlerische Gestaltung solcher Stoffe erreichen kann, haben einzelne Bilder auf den [619] letzten Ausstellungen in Berlin gezeigt. Aber abgeschnitten von Familie und Vaterland, in einen flachen Kosmopolitismus versunken, vermag der deutsche Künstler in Rom nicht jene classische Schönheit, die ihm in den Werken vergangener Jahrhunderte entgegentritt, in genialer Weise auf andere Gebiete des Lebens zu übertragen; er bleibt in der passiven Benutzung jener alten Werke und in der Wiederholung ihres Inhaltes, sei es durch reine Copien oder durch zwar neue Arbeiten, denen aber die Copie auf der Stirn geschrieben steht.

Es erklärt sich, wie unter solchen Umständen neben der Copie das Genre-Bild und die Landschaft zum Hauptgegenstand der Produktion werden mußten. Bei einem halbwegs geübten künstlerischen Blick bietet die unmittelbare Wirklichkeit in Italien den vollständigen Inhalt für solche Gemälde, und es bedarf daher auch bei diesen nur des geschickten Copirens. Für die Engländer und Amerikaner, die jetzt die Hauptkäufer für die Künstler in Rom sind, genügt schon, daß der Inhalt italienische Natur, italienisches Volksleben darstelle; die stereotype Bewunderung solchen Inhalts läßt sie alle sonstigen Mängel übersehen und sichert ihnen den Ruhm eines Kunstkenners, wenn sie damit beladen in ihr prosaisches Vaterland zurückkehren.

Hiermit hängt die allgemeine Gewohnheit der Künstler zusammen, Rom im Sommer auf vier bis fünf Monate zu verlassen und sich in die abgelegenen Dörfer des Gebirges zu vergraben. Ihre Isolirung, schon in Rom groß genug, steigt da auf einen Grad, bei dem man nur staunen muß, daß ein gebildeter Mensch ihn auf so lange zu ertragen vermag. Während der Künstler, um Großes zu schaffen, mitten in dem häuslichen und öffentlichen Leben stehen, von dessen Freuden und Schmerzen sich durchdringen lassen muß, wenn er auch nicht davon sich überwältigen lassen darf, gleicht solcher Landaufenthalt der Lebensweise eines alten Anachoreten und muß zur Vertrocknung der geistigen Productivität führen.

Die Künstler ziehen sich alljährlich immer tiefer in die Schluchten entlegener Landschaften zurück, um irgendwo noch eine neue landschaftliche Scenerie, eine neue Situation, eine neue Tracht zu entdecken, denn in den zugänglichen Ortschaften ist bereits Alles ausgebeutet und erschöpft, und die eigne Phantasie ist nicht im Stande, den Stoff zu Höherem zu liefern. Das Resultat solcher Vereinsamung kann nur die Idylle der Landschaft und des Bauernhauses sein.

Trotzdem machen die lebenden Modelle in Rom bei der Unzahl der Dilettanten, neben den Künstlern, sehr gute Geschäfte. Sie halten sich nur während des Winters für ihren Verdienst in Rom auf und kehren im Sommer in ihre heimathlichen Dörfer zurück, wo sie dann die Signorini spielen. Die Schönheit steht bei diesen Modellen erst in zweiter Linie; stark markirte Züge, eine zerlumpte Kleidung, ein alter schäbiger Hut sind Haupterfordernisse für das Genrebild.

Der mit diesen Verhältnissen Vertraute findet auf hundert Bildern dieselben Gesichter wieder, und ein Maler aus Rom, der eine Reise nach England oder Nordamerika macht, würde sich in den Privatgalerien dieser Länder unter lauter Bekannten wiederfinden. Die weiblichen Modelle kommen nur in Begleitung der Mutter und sind mit ihren Reizen sehr haushälterisch. Jeder Zoll weiter hat seine Taxe, welche pränumerando erlegt werden muß. Sie machen nicht selten ihr Glück durch eine Heirath, und noch kürzlich war ein solches in Rom allbekanntes Modell von einem reichen Pariser heimgeführt worden.

Die bedeutenderen Künstler in Rom vermeiden die Benutzung dieser Modelle; um die Originalität ihrer Figuren sich zu erhalten, ziehen sie mit ihrem Diener auf die Wochenmärkte in Rom aus; finden sie dort ein brauchbares Gesicht, eine passende Gestalt, so wird die betreffende Person ganz im Geheimen zur Sitzung in das Atelier geführt und ebenso vorsichtig unter dem Siegel der Verschwiegenheit wieder entlassen. Der Bursche kehrt vergnügt mit seinem Esel in sein Dorf zurück; sein dummes Gesicht hat ihm mehr eingebracht, als die mühsam gepflegten Kohlköpfe seines Gartens.

Einen auffallenden Zug bei den deutschen Künstlern in Rom bildet ihre krankhafte Reizbarkeit in Bezug auf Alles, was Rom und Italien an Natur- und Kunstschönheiten besitzt. Wer nicht unbedingt hierbei in Bewunderung versinkt, gilt für einen Barbaren. Ich selbst erfuhr dies, als ich meinte, daß in Italien die Gestaltung der Gebirge, die Bauart der Häuser, die Weise der Bodencultur und manches Andere sich so gleichmäßig wiederhole, daß man die Aufsuchung jedes in den Reisebüchern empfohlenen Punktes sich billig ersparen könne. Die dem Deutschen so unangenehme Nachlässigkeit und Unsauberkeit italienischer Orte in Wohnung, Kleidung und Hausrath galt ihnen als die unentbehrliche Bedingung des Malerischen, und die Pein, welche man von dem Ungeziefer bei Tag und Nacht zu leiden hat, erklärten sie nur für Empfindelei, für Mangel an Kunstsinn, der bei gehöriger Entwickelung dergleichen gar nicht bemerke.

Das Forcirte und an das Affectirte Streifende eines solchen Kunstenthusiasmus schien mir eine neue Bestätigung der gedrückten und vereinsamten Stellung der dortigen deutschen Künstler. Losgelöst von dem, was auf andern Gebieten das Herz, den Geist, die Phantasie hoch erhebt, halten sie in dem Gebiete der Kunst, wo allein sie sich als die Herren fühlen, an dem von Alters her für classisch schön Erklärten krampfhaft fest und lassen keinen Widerspruch aufkommen.

Es kann auffallen, wie unter solchen der wahren Kunst ungünstigen Verhältnissen dennoch eine so große Zahl deutscher Künstler in Rom ihren bleibenden Aufenthalt nehmen mag. Es erklärt sich indeß zunächst daraus, daß Rom der Hauptmarkt der Welt für Gemälde und Bildwerke ist; nirgends findet der Künstler eine bessere Gelegenheit zum Verkauf seiner Arbeiten. Insbesondere sind es jetzt die Amerikaner, welche die bedeutendsten Ankäufe machen, und alle Künstler waren mit dem verflossenen Winter zufrieden.

Sodann lebt der deutsche Künstler in Rom billiger, als in den großen Städten seines Vaterlandes, er mag verheirathet sein oder nicht. Das Leben in Rom ist bei einfachen Ansprüchen an sich nicht theuer, und der Künstler kann in Wohnung und Kleidung sich so ungenirt einrichten, wie nirgends anders. Das Atelier eines der bekannteren Künstler fand ich drei Treppen hoch, unmittelbar unter dem Dache, so daß die Dachziegel und Sparren die Decke bildeten. Der Hausrath war der Art, daß ihn ein deutscher Student nicht zugelassen hätte, und ein alter verrosteter Windofen stand noch als Zeichen des vergangenen kalten Winters im Zimmer; seine krumme, mit Lehm verschmierte Röhre zog sich der Decke entlang unmittelbar zum Dache hinaus. In Berlin würde diese Einrichtung für einen viel besuchten Maler nicht möglich sein; in Rom wird sie von den Engländern und Amerikanern als Zeichen der Genialität betrachtet.

Ich redete meinem Freunde zu, zu heirathen; er konnte indeß über die Bedenklichkeiten eines solchen Schrittes nicht hinwegkommen. Eine Römerin zu heirathen, hat für den deutschen Künstler seine Schwierigkeiten, und die abschreckenden Beispiele derer, die es versucht haben, machen es noch bedenklicher. Er hätte wohl gern eine Deutsche geheirathet, aber deshalb nach Deutschland zu reisen, konnte er sich nicht entschließen. Er betheuerte mir viele Male das Leben in Rom habe seine eigenthümlichen Reize. Auf meine Forderung, dies mir näher zu erklären, versicherte er nach wiederholten vergeblichen Ansätzen endlich, daß solcher Reiz unsagbar und nicht zu beschreiben sei.

Vielleicht, daß ich den Schlüssel zu diesem unlösbaren Räthsel in dem Obigen gefunden habe.




Der Salm des Rheins.

Wenn die fränkischen Könige in ihrem Palast bei Andernach Hof hielten, so konnten sie, an der Tafel sitzend, dem Salmfang im Rhein zusehen, – so erzählt der Dichter Venantius Fortunatus, der oft zu Gast bei ihnen gewesen und um das Jahr 600 als Bischof von Poitiers gestorben ist. Aber schon zweihundert Jahre früher hatte der Salm seinen Sänger gefunden, und zwar einen römischen, den Ausonius, in dessen berühmter Dichtung „Mosella“ folgende Stelle vorkommt:

„Auch du bleibst mir, o Salm, mit dem röthlich schimmernden Fleische,
Nicht unerwähnt, deß schweifender Schlag mit gebreitetem Schwanze

[620]

Aus der Mitte der Fluth aufwogt zu dem Spiegel den Flusses,
Wenn der verborgene Schwung sich verräth auf der friedlichen Fläche;
An umpanzerter Brust mit Schuppen versehn, an der Stirne
Schlüpfrig, ein leckres Gericht im verwirrenden Speisegewühl du!
Langer Verwahrung Zeiten durchdauerst du, immer genießbar,
Ausgezeichnet durch Flecken des Kopfes, der stattliche Bauch wogt
Hin und her, und der Leib schwillt auf von gefeisteter Wampe.“

Offenbar enthält für einen Fisch diese Schilderung viel Schmeichelhaftes, und wir wundern uns nun nicht, daß auch heute noch Könige von ihren Schlössern am Rhein mit Wohlgefallen auf denselben Salmfang blicken, der ihren Vorgängern in anderen Jahrhunderten eine so hohe Passion gewesen. Noch heute kann man, von der Stätte jenes verschwundenen Frankenkönigsschlosses hinüber nach Leudesdorf blickend, desselben Anblicks theilhaftig werden, wie jene alten Herren vor dreizehnhundert Jahren, denn die Fangstellen sind gar wohl gemerkt worden, sie haben ihre festen Grenzen, ihren Werth und ihre Abgaben, sie sind ein geschätztes Besitzthum, wie es nur irgend ein trefflicher Acker oder Wald sein kann. Leider haben diese Fangstellen mit den Wäldern nur zu viel Schicksalsähnlichkeit, denn wie diese sind auch sie im Laufe der Zeit und durch die Hast der Industrie auf immer geringere Ausdehnung zusammengeschmolzen.

Ja, die schönen Salmzeiten sind vorüber, wo das Gesinde am Rhein bei seiner Verdingung sich die Zusicherung geben ließ, nicht öfter als drei Male in der Woche Salmen essen zu müssen. Damals waren auch noch Verträge möglich, wie der des St. Swibertsstifts zu Kaiserswerth mit dem Trierer Erzbischof, der für die ihm jährlich gebührenden acht Gänse und 416 Pfd. Salmen, die ihm auf die Burg Hammerstein geliefert werden mußten, die Abgabe von jährlich 45 Florin vorzog. Denn, das wollen wir hier nur beiläufig erwähnen, die Salmfänge gehörten ursprünglich, wie alle Fischerei in großen Flüssen, zum Regal der Könige, von denen sie, gleich den Rheinzöllen, an einzelne geistliche und weltliche Reichsstände überlassen wurden. Das mag in frühe Zeiten zurückgehen, denn wenn die Salmfänge urkundlich auch erst im 13. Jahrhundert vorkommen, so haben wir doch oben gesehen, daß man schon tausend Jahr früher den Salm des Rheins kannte, dem außerdem bereits Plinius den ersten Heimathschein sammt Signalement ausgestellt hat. – Während aber in der Mitte des 15. Jahrhundertn noch immer neue Fangstellen entdeckt wurden und die fürstlichen, geistlichen und sonstigen herrschaftlichen Besitzer wie die Pächter der Fänge sich guter Einnahmen freuten, gingen später allmählich viele Stellen ein, und daran trug nicht immer ungünstiger Wasserstand, sondern auch unredliches Verfahren der Fischer die Schuld. Welche Werthschwankungen im Pachtertrag möglich waren, zeigte sich am überraschendsten während der französischen Herrschaft am Rhein: damals wurden die sehr bedeutenden Fänge, der sogenannte Klatt, um 30 Franken verpachtet, während sie 1817 dem Pächter über 8000 Gulden eintrugen. Noch rascher nahm der Verfall von Fangstellen seit dem Aufblühen der Dampfschifffahrt zu. Der Fisch, der Ruhe vor dem Menschen in den tiefsten Stellen des Stroms sucht, fand jetzt bei dem wogenaufwühlenden Räderbrausen viele alte Lieblingsplätzchen nicht mehr tief genug und zog sich in tiefere zurück, zu denen wir uns nun ebenfalls begeben wollen.

Außer den großen Salmfängen in den Niederlanden beschränkt sich die Reihe der ergiebigsten Fangstellen auf die Rheinstrecke von Mainz bis Coblenz, und von dieser Strecke zeichnet sich wieder das Stückchen Rhein zwischen St. Goar und Oberwesel als das Salm-Paradies aus.

Für die ältesten Salmfänge am ganzen Mittelrhein gelten die bei St. Goar und am sagenreichen Lurleifels. Es interessirt gewiß unsere Leser, eine Anschauung von der Wichtigkeit, die man dem Besitz einer solchen Fangstelle im Alterthum beilegte, und einen geschichtlichen Rückblick auf eine derselben zu gewinnen. Wir wissen z. B., daß König Ludwig der Deutsche, der 876 starb, durch eine Urkunde vom 25. Februar 871 den Aebten von Prüm das Recht der Fischerei zwischen St. Goar und Bacharach gestattete. Der Salmfang ist zwar in dieser Urkunde nicht ausdrücklich genannt, daß er aber darunter mit verstanden war, geht daraus hervor, daß bei den späteren Erneuerungen dieser Gerechtsame in Betreff des Salmfangs stets auf dieselbe Bezug genommen wird. Nach einem Weisthume des Schöffengerichts zu St. Goar vom Jahre 1385 über die Rechte der Abtei Prüm besaßen die Aebte die Salmfänge noch zu jener Zeit, überließen sie aber 1449 dem Grafen Philipp von Katzenellenbogen auf Widerruf mit ihren übrigen Besitzungen für die Summe von 4500 Gulden. Von diesem Grafenhaus gelangten 1480 die Salmfänge der linken Rheinseite an die Landgrafen von Hessen-Cassel, von diesen 1794 an Frankreich und 1815 an Preußen, das sie noch besitzt.

Von dem Salmenwasser auf der rechten Rheinseite von St. Goarshausen bis Oberwesel hatte sich noch 1418 ein Theil als Reichslehen erhalten und wurde von Kaiser Sigismund dem Johann von Schönenberg zu Ehrenberg zu Lehen gegeben. Von einem Fange, Long bei St. Goarshausen, hatte das Stift zu St. Goar von jedem aus den Salmen gelösten Gulden 16 Heller zu beziehen. In der Mitte des 15. Jahrhunderts waren die Grafen von Katzenellenbogen auch Herren dieser sämmtlichen Fangstellen; von ihnen kamen sie später an Hessen-Cassel und Nassau.

Gegenwärtig sind zwischen St. Goar und Oberwesel auf der linken Rheinseite sieben Salmenfänge, welche die Namen Werbe, Klatt, Lützelstein, Entenpfuhl, Welleswage, Lückersörtchen und Kaumerswage führen, und zwischen St. Goarshausen und Oberwesel auf der rechten Rheinseite drei Fänge: Long, Saun und Lichern. Alle bieten dem Salm, was er vor Allem sucht: ein tiefes überschattetes Strombett. Daher kann auch auf dieser Rheinstrecke, der wildromantischsten des ganzen Stromes, und besonders am Lurleifelsen, dessen dämonische Bewohner, die Kobolde und Nixen sammt der verzaubernden Jungfrau, in jüngster Zeit durch den Tunnel der rechtsrheinischen Eisenbahn vertrieben worden sind, wo das Bett des Rheins eine Tiefe von 94 Fuß bei gewöhnlichem Wasserstande hat, der Fang des Salms das ganze Jahr hindurch betrieben werden, während dies anderswo nur bei hohem Wasser möglich ist.

Der Salmfang wird auf verschiedene, durch die Beschaffenheit des Flußbettes bedingte Art ausgeübt. Am Niederrheine, wo das Bett nicht felsig und das Ufer nirgends steil ist, gebraucht man ein 1000 bis 1500 Fuß langes Netz, an welchem sich in kleinen Entfernungen viele Sacknetze befinden. Mit diesem wird die ganze Breite des Stromes abgesteckt und auf 500 bis 800 Schritte weit stromabwärts abgetrieben. Am Haltepunkte bleibt der rechte Flügel stehen und der linke schwenkt sich mit Kähnen in einem Halbmonde nach der rechten Seite, wo am Ufer mehrere Pferde bereitstehen und das Netz rasch auf’s Land ziehen, damit den Salmen keine Zeit zum Zurückgehen oder Durchbrechen bleibt.

Am Mittelrheine, wo der Salm die engen Stromstellen passiren muß, wird er in kleinen Hebenetzen oder in Sackkörben gefangen. Im Rheingau gebraucht man Wurfgarne, weil die dortigen Fischer die Stellen kennen, wo der Salm, wenn er nicht steigt, ruhig steht und wo er bei dem klaren Wasser genau sichtbar ist. In den kleinen Nebenflüssen und Bächen wird der Salm Nachts bei Fackelschein, während er versucht, auf die 4–5 Fuß hohen Wehre zu springen, mit Stangen getödtet. In denselben Gewässern wird er auch am Tage von Jagdliebhabern geschossen.

Eine ganz eigenthümliche Fangart findet zwischen St. Goar und Oberwesel am Lurlei statt. In dieser Felsenregion ziehen die sonderbaren Anstalten, welche dazu getroffen werden, die Aufmerksamkeit der Reisenden ganz besondern auf sich, weshalb wir unsern Lesern eine bildliche Darstellung davon geben. Es sind dies die Schiffe und Kajüten, in welchen die Fischer den Salmen Tag und Nacht auflauern. Sie liegen quer im Rheine, und stromaufwärts von ihnen ist ein großes Wehr von Steinen errichtet, um die starke Strömung des Flusses zu brechen, weil der Salm es liebt, im stillen Wasser zu steigen.

Zwischen dem Schiffe und dem Wehre ist ein dreißig Fuß im Quadrat großes Netz ausgespannt und mittels Gewichten in seiner Mitte vierzehn Fuß tief so eingesenkt, daß es einen stumpfen Winkel bildet. An diesem Netze befinden sich mehrere Hebel, welche der Fischer, sobald er durch die Bewegung des Netzes wahrnimmt, daß ein Salm hineingegangen ist, mit einem Zuge aufschnellen lassen kann, wodurch dasselbe bis zur Oberfläche gehoben und der Fisch gefangen wird. Diese Vorrichtungen sind von einer solchen Stärke, daß 300 bis 400 Pfd. Stöhre auf einmal darin gefangen werden können.

Der Ertrag der Salmfänge, welcher sich durch die Dampfschifffahrt um mehr als ein Viertel vermindert hat, hängt, wie bereits bemerkt, viel von günstigem Wasserstande und noch mehr von der Thätigkeit und Redlichkeit der Fischer und der herrschaftlichen

[621]

Der Salmfang im Rhein.

Verwalter ab. In sehr günstigen Jahren haben einzelne geringere Fänge dem Pächter 1500 bis 2000 Thaler eingetragen. Der Rheinsalm wird in den kühleren Jahreszeiten fast nach allen Hauptstädten Europas versandt; die Nähe der Bäder Ems, Schwalbach, Wiesbaden, Homburg, Kreuznach etc. sowie die erleichterte Versendung durch die Dampfboote haben die Preise so sehr gesteigert, daß selbst bei sehr reichem Fange das Pfund mit 18 bis 20 Silbergroschen und während der Badesaison sogar mit 1 Thaler 15 Silbergroschen bezahlt wird.

Von den 29 Arten des Salmengeschlechts, welche Linné in vier Gattungen eintheilt, nämlich in buntfarbige Salmen oder Lachsforellen (Truttae), in Stinte (Osmeri), in Eschen (Coregoni) und in Salmbrachsen (Characini), werden im Rheine blos folgende fünf Arten angetroffen und gefangen: 1) der Lachs oder eigentliche Salm (Salmo Salar); 2) die Lachsforelle (Salmo Trutta); 3) die Steinforelle (Salmo Fario); 4) der Saibling (Salmo Salvelinus) und 5) der Rheinank (Salmo Lavaretus). Der Salm führt am Rhein diesen Namen blos von Neujahr bis Jacobitag, von da ab wird er schlechter und heißt Lachs. Der Salm des Rheins hat in Ansehung seines Geschmacks den Vorzug vor allen übrigen Seinesgleichen in Deutschland. Die wahre Heimath desselben ist die Nordsee an den scandinavischen Küsten. Er gehört zu den Zugfischen. Anfangs April zieht er haufenweis aus dem Meere in die Ströme, um dort zu laichen. Gewöhnlich ziehen 30 bis 40 Stück in einem Haufen, in zwei Reihen, welche vorn zusammenstoßen und so die Seiten eines Dreiecks bilden, wahrscheinlich um durch diese Stellung die starke Strömung in den Flüssen besser zu überwinden. An der Spitze befindet sich der stärkste Fisch, dem in Entfernung von je zwei Fuß zwei andere folgen; die jüngsten machen den Schluß. Sie wissen, wie die Schwalben, die alten Laichplätze jährlich wiederzufinden. In der Hälfte des Aprils ist der Salm bereits bis Coblenz und Anfangs Mai selbst bis Basel gestiegen. Im August besucht er die Nebenflüsse, wo ihn kein Hinderniß, kein Wehr und kein Wasserfall aufhält, so daß er schon in der Linth 3012 Fuß und in der Reuß 4400 Fuß über dem Meeresspiegel angetroffen worden ist. In jenen Bächen wird nun gelaicht. Die Zahl Eier von einem Salmenpaar soll sich auf 30,000 belaufen; in einem schwachen Salm von 20 Pfund wurden 27,850 Eier gefunden. Der Salm legt dieselben zwischen Steine und in kleine Vertiefungen; daß er kleine Gräben verfertige und dieselben überdies noch befestige, wie die alten Naturforscher, besonders aber Aldrovand, sagen, wird von neueren Forschern für eine Fabel erklärt. Nach sechs Wochen kommen die jungen Salmen zum Vorschein, und sobald sie zu Kräften gelangt sind, geht die Brut rheinabwärts in’s Meer hinaus. Die Schnellkraft des erwachsenen Salm ist so groß, daß er Wehre von sechs Fuß Höhe überspringt; es ist selbst vorgekommen, daß er sich auf die zehn Fuß hohe Rheinbrücke bei Mainz schnellte; versucht er es doch sogar, freilich ohne Erfolg, zur großen Ergötzlichkeit der Zuschauer, den achtzig Fuß hohen Rheinfall bei Schaffhausen hinauf zu springen.

Der hohe Werth der Salmen, welcher durch die zunehmende Consumtion und den verringerten Fang noch immer gesteigert wird, hat die Industrie veranlaßt, der Natur in ihr Geschäft zu greifen, um auf künstliche Weise Fische zu erzielen. Was man früher für ein Märchen hielt, ist jetzt Wirklichkeit. In einer Versammlung der British Association berichtete Herr Edmund Ashworth über höchst interessante Versuche schottischer Salmenzüchter, die zugleich [622] gleich über die Naturgeschichte des Salm manche Neuigkeit zu Tage förderten. Die schottische Gesellschaft begann ihre Arbeit am 23. December 1853. Man hatte an passenden Orten im Tay-Gebiet 300 Brutkästen aufgestellt und operirte mit 300,000 Eiern.

Da bei künstlicher Zucht die Eier den vielen Gefahren zwischen dem Sande und den Steinen eines unruhigen Flusses enthoben sind, so schlüpfen auch viel mehr Thierchen aus. Am 31. März 1854 kam die erste Brut zum Vorschein, und im Juni hatten die Thiere eine Größe von 11/2 Zoll erreicht. Man fütterte sie nun den ganzen Winter über, bis sie im Mai 1855 3–4 Zoll groß waren. Nur im Frühjahr ist der Salm auf den bläulichen Seiten braungefleckt, und er zieht gleichsam sein silbernes Kleid nur zur Reise an, wenn er sich in’s Meer begiebt. Eine solche Veränderung bemerke man an den schottischen Zöglingen noch nicht, während man in den benachbarten Gewässern bereits wilde einjährige Salmen (Smelts) auf der Wanderschaft antraf.

Erst am 19. Mai färbte sich ein Theil der Brut, und man öffnete die Schleußen ihrer Behälter. Wider Erwarten zeigten aber die Thiere keine Lust zum Fortziehen, bis endlich am 24. Mai ein Schwarm erwachsener nach der See aufbrach. Die Auswanderungen wiederholten sich, und zuletzt blieb nur die Hälfte der Brut zurück. Hierdurch wird auch der Streit gelöst, ob der Salm im zweiten oder im dritten Jahr sein Fell ändere; offenbar geschieht es nämlich bisweilen im ersten, bisweilen im zweiten Jahr. Die ausgewanderte Brut wurde unterwegs zum Theile wieder aufgefangen und etwa 1 Procent der Auswanderer dadurch gekennzeichnet, daß man ihnen die zweite Rückenflosse abschnitt. Im Ganzen geschah die Operation an 1200 bis 1300 Stück. Schon nach zwei Monaten wurden einige dieser Flüchtlinge als Salmen aus der See in ihren Heimathgewässern wieder gefangen, und bei zweiundzwanzig gelang es, genau ihr Gewicht zu bestimmen. Diejenigen, welche am frühesten zurückgekehrt waren, wogen 5 bis 51/2 Pfund; spätere bereits 7 bis 8 Pfund, und ein Stück, welches am letzten Beobachtungstage (31. Juli) gefangen wurde, 91/2 Pfund. In Zeit von zwei Monaten hat also das Seewasser dem Fische dieses Wachsthum verschaffen können. Die interessanteste Enthüllung dieses Versuches besteht aber darin, daß nur zwanzig Monate, von der Laichzeit an gerechnet, nöthig waren, um einen Salm von beträchtlichem Handelswerthe zu erziehen, während man bisher an der Ansicht festhielt, daß derselbe erst in 5 bis 6 Jahren diese Schwere erreiche.

Nach diesem ersten gelungenen Versuch sind in Großbritannien und Irland zahlreiche Etablissements für künstlische Fischzucht entstanden. In Schottland ist namentlich die in Stormontfield, von einem Herrn Peter Marthell begründet, von Bedeutung. Nach dem Muster desselben errichtete man die Brutstellen am Agin in Schottland; ebenso sind an den für sie äußerst günstigen Flüssen der Waliser Gebirge, namentlich dem Severn, derartige Unternehmungen ziemlich zahlreich begründet worden.

Auch in Irland giebt es sehr namhafte Fischzüchtungsinstitute. Schon seit längerer Zeit unterhalten die Gebrüder Ashworth in der Galwaybai ausgedehnte Lachsbrütereien, die bereits einen Jahresertrag von mehr als 300,000 Eiern erzielen, und haben von hier aus die Salmenproduction an mehrere kleine Zuflüsse des in derselben Grafschaft gelegenen Masksees verpflanzt. Nach den uns von den Besitzern selbst gewordenen Mittheilungen haben etwa 600,000 aus den Galway-Anstalten gesammelte Lachseier den Grund zu der Bevölkerung der neuen Lachsgewässer gelegt, die sich ungefähr auf eine Länge von sechs deutschen Meilen erstrecken. Im Augenblicke kann man den jährlichen Gewinn der jungen Colonie schon als einen höchst beträchtlichen und stetig wachsenden bezeichnen; denn der Salm, einmal in das ihm zusagende Wasser gesetzt und vor den ihm drohenden Gefahren vorsorglich geschützt, vermehrt sich gewissermaßen in’s Unendliche.

Das künstliche Laichen desselben wird übrigens auf die einfachste Weise von der Welt bewerkstelligt und ohne daß dem Fische selbst dabei die geringste Gewalt oder Qual geschieht. Man hält den weiblichen Lachs über einen mit reinem Flußwasser gefüllten Zuber und drückt den Eiersack sanft mit beiden Händen zusammen, bis die Eier sich in das Gefäß entleeren. Hierauf entpreßt man dem männlichen Fische die Milch in ähnlicher Weise, und sofort läßt sich an dem ausgedrückten Rogen eine merkwürdige Veränderung wahrnehmen. Die vorher hellen und fast durchsichtigen Eier werden mit einem Male trüb und dunkelroth. Die Fische selbst bringt man so rasch als möglich in das fließende Wasser zurück, wo sie sich alsbald mit dem Gefühle offenbarer Erleichterung lustig umhertummeln, was sehr begreiflich scheint, wenn man weiß, daß der Laich in der Regel nicht weniger als den vierten Theil des Gesammtgewichtes des Lachsen ausmacht und demnach für diesen eine schwere Last sein inuß.

Obschon es ein deutscher Naturforscher Namens Jacobi war, welcher um die Mitte des vorigen Jahrhunderts die erste Anregung zu einer Züchtung der Fische auf künstlichem Wege gab, und sein Verfahren allen den nachmals dabei in Ausführung gebrachten Methoden und Systemen zum Grunde liegt, so ist es mit diesem Ergebniß deutscher Forschung leider gegangen wie mit so vielen anderen unserer Entdeckungen und Erfindungen: die praktische Verwerthung und Ausbeutung ist zunächst von anderen Nationen in die Hand genommen worden. In Deutschland hat die künstliche Fischzucht verhältnißmäßig erst wenig Eingang gefunden, trotzdem daß uns nichts fehlt, was in erster Stelle dazu gehört: wir sind reich an klaren Berg-, Wald- und Wiesengewässern und diese an den mannigfaltigsten Arten wohlschmeckender Fische. Namentlich würde sich die Zucht der Forelle, dieses feinsten aller Süßwasserfische, an hundert Bächen und Orten mit dem sichersten Erfolge betreiben lassen. Mag sein, daß viele Grundeigenthümer, Müller, Fabrikinhaber, Fischer und wer sich sonst im Besitze von fließendem Wasser und Fischereigerechtsamen befindet, den Anlageaufwand scheuten. Im Verhältniß zu den zu erreichenden Vortheilen ist dieser aber gar nicht der Rede werth; wo es sich nicht um ausgedehnte Unternehmungen, wie die schottischen und Hüninger, handelt, genügt vollständig der von dem französischen Gelehrten Coste erfundene bekannte Apparat, der auf einer Art von unter dem Niveau des Baches oder Flusses angebrachten Tische eine Anzahl von Brutkästen in etagenförmiger Abstufung umschließt. Wir wollen darum hiermit nochmals und recht angelegentlich die Aufmerksamkeit des betreffenden Publicums auf einen Wirthschaftszweig gelenkt haben, der neben dem Interesse der Sache selbst so nachhaltigen soliden Genuß in Aussicht stellt.




Verkümmerte Existenzen
Aus den Aufzeichnungen eines alten Wanderers
mitgetheilt von Roderich Benedix.


2. Die Nähterin.

Es war in einer Stadt mittlerer Größe in Thüringen. Ich saß beim Frühstück in der Gaststube eines alten Wirthshauses. Ein tüchtiges Gewitter hatte am Abend des vorherigen Tages die ganze Natur erfrischt, und ein herrlicher Lenz lachte zum Fenster herein, als wollte er mich einladen zur Wanderung in die lieblichen Gegenden, welche die Saale durchströmt. Plötzlich war es mir, als hörte ich ungewöhnliches Geräusch auf der sonst stillen Straße der wenig belebten Stadt. Ich blickte durch’s Fenster und gewahrte, daß gleich mir aus allen Fenstern der Nachbarschaft neugierige Köpfe schauten und daß in den Hausthüren überall Menschen standen, die auf etwas zu warten schienen. Es war nichts Angenehmes, dieses Etwas, wenn es auch nichts Seltenes ist. Dem Wirthshaus gegenüber stand eine Bahre, auf welche eben ein Sarg gestellt worden, und Leichenträger waren beschäftigt, ihn mit dem schwarzen Tuche zu bedecken, das die letzte Hülle für alle Sterblichen ist. Die Männer ordneten sich, hoben die Bahre auf und schritten langsam mit ihr die Straße hinab. Ein schwarzgekleidetes Frauenzimmer folgte ihnen mit langsamem Schritt. Sie drückte ihr Taschentuch an die weinenden Augen, daß ich ihre Züge nicht erkennen konnte. Das Plaudern an den Fenstern und Thüren der Nachbarschaft hörte auf, als der ärmliche Leichenzug vorbeischritt – [623] dieses Schweigen war der einzige Zoll der Achtung, der dem Wanderer auf seinem letzten Wege mitgegeben wurde.

Der einfache Vorgang hatte auf mich einen eigenen wehmüthigen Eindruck gemacht – ich wandte mich in das Zimmer zurück und gewahrte die Wirthin, die mittlerweile eingetreten war. Ich fragte sie, ob sie wisse, wer da eben begraben würde, und ob sie die Leidtragende kenne, die den Sarg begleitet habe. Sie wußte ausführlich Bescheid und erzählte Folgendes. Die Leidtragende war Jungfer Leisker, eine arme Nähterin, die in der ganzen Stadt bekannt war und von allen Leuten wegen ihres stillen, fleißigen Wesens gelobt wurde. Die Todte dagegen war deren Schwester. Alle Welt betrachtete es als ein großes Glück für die Nähterin, daß diese Schwester endlich gestorben war. Etwas verwachsen und kränklich, hatte diese Schwester seit dreißig Jahren das Haus, seit fünfzehn Jahren das Bette nicht mehr verlassen können. „Die arme Jungfer Leisker,“ schloß die Wirthin ihren Bericht, „hat dreißig Jahre für die Kranke gesorgt und es ihr an nichts fehlen lassen. Und doch mußte sie jeden Bissen mühselig mit der Nadel verdienen. Sie wird Gott danken, daß sie diese Last los ist, jetzt kann sie doch einmal frei aufathmen.“

Ich fragte weiter, ob die Nähterin keine Verwandten habe. Sie hatte keine. Seit ihre Eltern todt waren, stand sie mit ihrer Schwester allein in der Welt.

Mich berührte das seltsam. Ein armes schwaches Mädchen hat Niemanden in der Welt, als eine kranke Schwester, die sie dreißig Jahre lang pflegen und mit ihrer Hände Arbeit ernähren muß. Die Wirthin hatte Recht, das war eine Last, eine schwere Last auf schwache Schultern gelegt. Wie mochte sie die Bürde getragen haben? War sie ihr nicht manchmal zu schwer geworden? Hatte nicht zuweilen Unmuth sie übermannt? Hatte sie nicht zuweilen mit bitterm Neide an die Glücklichen gedacht, die, mit Vermögen begabt, leichter durch das Leben gehen konnten? War sie nicht manchmal ermattet unter der schweren Bürde und hatte die Ungerechtigkeit des Schicksals angeklagt, das ihr so viel Schweres auflud und ihr Niemanden sandte, der ihr tragen geholfen hätte? Ich gestehe, daß mich der Unmuth überfiel, als ich mich in ihre Lage dachte, daß ich in ihrer Seele die Ungerechtigkeit des Schicksals anklagte.

Eine alte Ruine, die dicht bei dem Städtchen liegt, wurde von allen Reisenden angesehen, und ich hatte den Vormittag dazu bestimmt, sie auch zu besuchen. Der Weg führte mich an dem Kirchhof vorbei. Es war still auf demselben. Der reinste blaue Himmel strahlte auf die Landschaft hernieder, die Bäume, Büsche, Felder prangten im herrlichsten Grün des Frühlings; mit dieser lieblichen Umgebung stand der stille, ernste, einsame Kirchhof in seltsamem Widerspruch. Mir war nicht so frisch und froh zu Muthe, wie sonst, wenn ich an einem herrlichen Frühlingsmorgen meine Wanderung antrat, mir lag das Schicksal der armen Nähterin immer in Gedanken. Auch die Dahingeschiedene war elend und unglücklich gewesen. Dreißig Jahre an das Krankenlager gefesselt! Heißt das leben? Es zog mich zu dem Kirchhof hin. Ich wollte das frische Grab sehen, wollte ein paar Blumen brechen und sie darauf stecken. Ich meinte, mir würde dann leichter werden.

Der Kirchhof war nicht groß. Frische Spuren im Sande leiteten mich, bald hatte ich das Grab gefunden. Doch plötzlich stockte mein Schritt. Ich war nicht allein auf dem Kirchhof. Dort am Grabe kniete eine schwarze weibliche Gestalt. Sie war mit den Armen auf den frischen Hügel gesunken und barg ihr Gesicht in den Händen. Der letzte Zoll der schwesterlichen Liebe floß wohl in Thränen auf das Grab. Konnten diese Thränen so recht aus tiefster Seele fließen? War die Verstorbene nicht eine Last für die arme Nähterin gewesen? War sie nicht vielleicht das Hinderniß gewesen, daß das Schicksal der Schwester sich glücklicher gestaltete? Die Knieende regte sich nicht. Ich stand wartend wohl zehn Minuten still; keine Bewegung zu sehen. War sie ohnmächtig? Ich trat näher. Ich rief erst leise. Keine Antwort. Ich rief lauter, ich faßte die Knieende am Arme – da hob sie ihr Gesicht und schaute mich an wie Jemand, der aus einem tiefen Schlafe plötzlich zu sich kommt. Ich fragte, ob ihr etwas fehle; sie starrte mich verwundert an, strich mit der Hand über das Gesicht und schüttelte mit dem Kopfe. Sie war nicht ohnmächtig; aber sie war angegriffen und matt. Vom Schmerze? Es war ja ein Glück für sie, daß die Schwester gestorben, sagten die Leute. Ich hob sie auf, sie schwankte, sie zitterte. Ich bot ihr meinen Arm. Einen Augenblick zuckte sie, als wolle sie nicht von dem Grabe weg, dann ließ sie sich wie willenlos von mir führen.

Eine Zeit lang schritt sie, auf mich gestützt, dahin, ohne daß sie ein Wort sprach. Wir erreichten die Stadt. Am Thore stand sie still, verbeugte sich dankend und wollte allein weiter gehen. Allein ihr wankender Schritt überzeugte mich, daß sie einer Stütze bedurfte und daß sie nur aus Bescheidenheit meine fernere Begleitung abgelehnt hatte. Ich eilte ihr nach und indem ich ihren Arm wieder faßte, sagte ich: „Verschmähen Sie die Stütze nicht, die Ihnen noth thut.“ Sie sah mich dankbar an und ging ruhig mit mir weiter. Wir kamen an ihr Haus, sie trat ein, und unwillkürlich folgte ich ihr, als verstände sich das von selbst. Einen Augenblick war sie stehen geblieben, als erwarte sie, mich fortgehen zu sehen; als ich aber blieb, ging sie durch den Hausflur, öffnete ein Zimmer, das nach hinten hinaus lag, und ließ mich eintreten. Kaum war sie selbst im Zimmer, als sie laut zu weinen anfing und vor einem Bette in die Kniee sank, in dessen Kissen sie ihren Kopf barg.

Ich wußte nicht, sollte ich gehen oder bleiben. Vielleicht wäre es schicklich gewesen, zu gehen, und doch war mir wieder, als dürfe ich das arme, von Schmerz gebeugte Mädchen nicht allein lassen. So zweifelnd blieb ich stehen und sah mich im Zimmer um. Es war Alles, was ich sah, einfach, sehr einfach, aber doch so sauber, so ordentlich, daß es nicht ärmlich erschien. Die schmalen Vorhänge vor den beiden kleinen Fenstern waren weiß und sauber, das Hausgeräth stand so geordnet, daß man sogleich fühlte, es stehe Alles an seinem richtigen Platze. Auf dem Ruhkissen am Fenster lag eine Bibel aufgeschlagen.

Das Mädchen erhob sich nach kurzer Zeit von den Knieen, trocknete die Augen und sagte dann mit weicher, etwas zitternder Stimme: „Ich danke Ihnen herzlich, mein Herr, daß Sie mich heimgeleitet, ich bedurfte wirklich einer Stütze. Verzeihen Sie, daß ich meiner Thränen nicht gleich Herr werden konnte, es wird aber doch vorübergehen.“

„Sie sind so allein,“ erwiderte ich, „haben Sie denn Niemanden, der Sie tröstet, der Sie zu zerstreuen sucht, der Ihren Schmerz theilt?“

„Niemanden,“ sagte sie leise, „den einzigen Menschen, der mich liebte, habe ich eben zum Grabe begleitet.“

„Man sagte mir,“ fuhr ich fort, „Ihre nun verstorbene Schwester sei lange krank gewesen. Sie ist also von schwerem Leid erlöst und ihr ist wohl.“

„Ihr ist wohl,“ erwiderte sie eintönig.

„Und Sie sind doch auch einer großen Sorge, beinahe einer Last überhoben,“ sagte ich weiter.

Sie hob den Kopf, sah mich befremdet an und entgegnete: „Last? Sorge?“

Mir war es gegangen, wie es meist geht, wenn man trösten will – ich hatte etwas Dummes gesagt. Für den Schmerz um einen Dahingeschiedenen giebt es eben keinen Trost, als die Zeit, die den Kummer nach und nach lindert. Will man trösten, so weine man mit dem Weinenden, man gehe auf seinen Schmerz ein. Alle Versuche, Gründe gegen den Schmerz aufzustellen, sind thöricht und verfehlen immer ihres Zweckes. Der Schmerz will keinen Trost, er will weinen, das ist seine Berechtigung.

Ich fühlte, daß ich etwas Ungeschicktes gesagt hatte, und fuhr fort: „Verzeihen Sie, wenn ich Sie verletzt haben sollte, man sagte mir eben, daß die Verstorbene Jahre lang das Bett nicht habe verlassen können und daß Sie ebenfalls als ihre Pflegerin an sie gefesselt waren.“

„So ist es,“ erwiderte sie ruhig, „es mag Vielen als eine Last erschienen sein, vielleicht war es auch eine, aber ich liebte doch meine Schwester – und jetzt bin ich ganz allein. Hannchen war schon als Kind etwas verwachsen, kränklich und ziemlich hülflos. Da habe ich sie auf den Armen getragen und behütet und bewacht. Als meine Mutter vor dreißig Jahren starb, ich war kaum sechszehn alt, sagte sie mir: ,Verlaß Deine Schwester nicht, sie hat Niemanden als Dich.’ Sie hätte das nicht zu sagen brauchen, es verstand sich von selbst. Damit war mir die Aufgabe meines Lebens vorgezeichnet, und je länger ich sie erfüllte, desto lieber wurde sie mir. Und nun ist mir diese Aufgabe genommen.“ Sie schwieg, mir war es als hätte sie sagen wollen: „Was soll ich nun noch im Leben?“

„Aber man sagte mir,“ fuhr ich fort, „daß Sie neben der [624] anstrengenden Krankenpflege noch mühsam arbeiten mußten, daß Sie noch außerdem Noth und Sorgen getragen haben!“

Sie schüttelte leise den Kopf und erwiderte: „Noth habe ich wohl nicht gekannt, denn wir hatten alle Tage unsere warme Suppe. Sorgen habe ich wohl zuweilen gehabt, aber ich trug sie für meine Schwester und in dem Gedanken fühlte ich mich gestärkt und meine Kräfte angespornt.“

„Sie waren so einsam und verlassen,“ sagte ich wieder, „haben Sie nie Groll gefühlt gegen die hartherzigen Menschen, die Ihnen keine Hülfe gewährten?“

„Die Menschen sind nicht so hartherzig, wie Sie glauben,“ antwortete sie, „man gab mir überall gern Arbeit und war freundlich gegen mich. Was sollten die Leute mehr thun? Geschenke brauchte und begehrte ich nicht. Und doch bot man mir einmal an, meine sieche Schwester in’s Krankenhaus aufzunehmen. Der Vorsteher, der mir das sagte, sprach freundlich, redete mir zu und setzte mir auseinander, daß es mir zu schwer werden würde die Last allein zu tragen. Da warf ich einen Blick auf meine kranke Schwester, die gespannt den Worten des Mannes zuhörte. Ihre Lippen waren fest aufeinander gepreßt, ihre Züge wie verzerrt, in ihren Augen sprach sich eine ungeheuere Angst aus. Da fühlte ich, es wäre ihr Tod gewesen, wenn man sie von mir getrennt hätte, und ich lehnte das Anerbieten ab.“

„Dann war die Schwester wohl recht dankbar und sanft gegen Sie?“ fragte ich wieder.

„O ja,“ antwortete das Mädchen, „dankbar war sie, sanft eben nicht immer. Sie hatte viele Schmerzen und dann oft böse Stunden, wo sie ungeduldig wurde und ich ihr nichts recht machen konnte. Aber das ging vorüber, dann war sie wieder ruhig.“

Ich erstaunte immer mehr über die einfachen und schlichten Antworten, die ich erhielt. Ich konnte mir nur denken, daß eine recht tief eingewurzelte Frömmigkeit dies Mädchen befähigt habe ein Loos zu tragen, das jedem Dritten als ein hartes erscheinen mußte. Ich fragte sie auch darnach, fragte sie, ob sie nicht in der Kirche sich Trost und Kraft geholt habe. Sie schlug die Augen nieder und sagte leise: „In die Kirche bin ich seit vielen Jahren nicht gekommen. Meine Schwester hatte häufig Krampfanfälle. Nur ich wußte diese zu behandeln, wußte ihr die Lage zu geben, die sie erleichterte, und wußte ihr die Mittel zu reichen, die mildernd wirkten. Da konnte ich mich nicht Stunden lang von der armen Kranken entfernen und sie Gefahr laufen lassen in meiner Abwesenheit ihren Anfall zu bekommen, und so mußte ich die Kirche aufgeben. Der Herr Pfarrer hat das sehr hart aufgenommen und mich bitter getadelt, auch öffentlich über meine Versäumniß der Kirche ungünstig von mir gesprochen. Darum kam er auch nicht zum Begräbniß meiner armen Schwester – und das hat mir sehr weh gethan, denn auch die Nachbarn haben es gescheut den Sarg zu begleiten, weil sie die Vorwürfe des Herrn Pfarrers fürchteten, der ein strenger und eifriger Mann ist.“

Darum also war sie allein hinter dem Sarge hergewankt. Daß sie die christlichsten aller christlichen Tugenden im vollsten Maße übte, galt dem frommen Pfarrer nichts, daß sie aber seine Predigten versäumte, konnte er nicht verzeihen! Ich war ergriffen. Mich drängte es hinaus, um meine Bewegung zur Ruhe kommen lassen. „Die Zeit wird Ihren Schmerz lindern,“ sagte ich, „leben Sie wohl.“

„Glauben Sie das?“ fragte sie einfach, „ich denke nicht. Bin ich doch nun ganz allein. Wenn ich da saß und nähte, sprach ich hier und da ein paar Worte mit Hannchen, ich stand zuweilen auf, um ihr das Kissen zurecht zu legen oder ihr etwas zu reichen, ich begrüßte sie freundlich des Morgens, ich saß bei ihr, bis sie Abends entschlafen war; das Alles ist nun vorbei. Jetzt werde ich Niemanden am Morgen begrüßen, ich werde für Niemanden sorgen können, der Abend wird mir schaurig einsam sein. Davor fürchte ich mich. Es war nur ein armen, gebrechliches Wesen, mein gutes Hannchen, aber ich hatte sie lieb, – nun ich sie verloren habe, bin ich ganz allein, und die Welt kommt mir recht leer und öde vor.“ Sie trocknete ihre wieder hervorquellenden Thränen, ich drückte ihr die Hand und entfernte mich.

Es ist ein herrliches, liebliches Thal, das Saalthal, und lachte mir in voller Frühlingspracht entgegen, als ich es nach allen Seiten durchstrich. Aber oft bei den schönsten Stellen fiel mir die arme Nähterin ein, der ein kummervolles Loos gefallen war und die es nicht nur mit Seelenstärke, die es mit argloser Zufriedenheit trug. Sie meinte, es sei eben recht so wie es war. Ihr blieb Alles versagt, was die Menschen sonst Glück nennen – und sie vermißte es nicht einmal. Kein Neid, kein Groll wohnte in ihrem einfachen Gemüthe, sondern nur die Liebe, und zwar eine Liebe, wie sie nur in einem weiblichen Herzen vorkommt.

So schmerzlich mich die Begegnung berührte, so gehört doch das Bild der armen alten Nähterin zu meinen liebsten Erinnerungen, die nur lebte um ihre Pflicht zu erfüllen, die dieser harten Pflicht ihre schöne Seite abzugewinnen wußte und den bittersten Schmerz empfand, als diese Pflicht ihr abgenommen wurde und sie dabei auch ihre Liebe verlor. „Ich bin ja nun ganz allein und habe Niemanden mehr.“

Ich werde diese Worte niemals vergessen.


Kleiner Briefkasten.


K. in G. Das Comité der Schleswig-Holstein-Lotterie wird nächstens einen ausführlichen Prospekt ihres Spielplans vermittelst der Gartenlaube verbreiten lassen. Sie werden darin Beantwortung Ihrer Anfrage finden.


Zur Nachricht!

Mit dieser Nummer schließt das dritte Quartal unserer Zeitschrift. Wir ersuchen die geehrten Abonnenten, ihre Bestellungen auf das vierte Quartal schleunigst aufgeben zu wollen.


Die fortwährend steigende Auflage unsers Blattes ist uns eine Bürgschaft, daß dasselbe nach wie vor seine Aufgabe mit Glück gelöst hat und noch immer ein Liebling der deutschen Lesewelt geblieben ist. Auch im nächsten Quartal hoffen wir die Erwartungen des Publikums zu erfüllen und erlauben uns aus dem reichen Schatze von literarischen und artistischen Beiträgen aller Art, über die wir zu gebieten haben, nur einige wenige der zunächst zum Abdrucke kommenden zu nennen.

Außer den bekannten Beiträgen einen Bock, Roderich Benedix, H. Beta, Guido Hammer, Moritz Hartmann, Alfred Meißner, Max Ring, Julius Rodenberg, Fr. Spielhagen, Theodor Storm, Temme u. a. m. erwähnen wir die nachstehenden:

Der böse Nachbar. Erzählung von Levin Schücking. – Er kommt nicht! Novelle von C. A. Heigel. – Der baierische Hiesel. Bild aus dem Volksleben. Von Herman Schmid. – Der Urmensch. Von Karl Vogt. – Der Vogelfreund im Priesterkleidn. Von Brehm. Mit Illustration, nach einem Aquarell von Werner. – Glanz und Elend. Böhmisches Industriebild. – Die Wiesbadener Spielhölle. Zweite Enthüllung. Von Paul Frank. – Ein seltener Mönch. Von Gustav Steinacker. Mit Illustration. – Sonntagsidyll aus dem baierischen Hochlande. Von Ludwig Steub. Mit Illustration von Theodor Pixis. – Aus der Turnhalle. Von Georg Hirth. – Eine Fahnenweihe zu Athen, im Mai 1864. – Ein Wasserbahnbrecher. Von Fr. Hofmann. Mit dem Portrait von Karl Heine. – Ein Tag im Harem. Mit Illustrationen nach persischen Originalbildern. – Das Freitagsgebet des Sultans. – Geschichten und Skizzen aus Paris. Vom Verfasser der „lebenden Bilder aus dem modernen Paris“. – Der Segen des Mansfelder Bergbaus. Mit Illustration. – Ein französischer Oppositionsmann. Von Schmidt-Weißenfels. – Aus den Sclavenstaaten. Von einem reisenden Naturforscher. 1. Der Negerball. – In der Liedertafel. Mit vielen Illustrationen. – Die Amazonen. Von Otto Ule. – Palast Vendramin in Venedig. Ein Reliquiencabinet der Herzogin von Berry. Von Georg Hiltl. – Der Faustthurm in Schwaben. Mit Illustration von Theodor Pixis. – Schiller’s Räuber im Walde von Stuttgart. Von Karl Schöll. Mit Illustration nach Heideloff von Paul Thumann. – Eine Felsencolonie ungarischer Winzer. Mit Illustration. – Erinnerungen an Herloßsohn. Von Ferdinand Stolle. – Federzeichnungen aus Thüringen. Von Ludwig Walesrode. II. Der Naturmörder. – Burgherr und Sammler. Von Ludwig Storch. Mit Illustration. – Eine Tochter Nürnbergs. Deutsches Culturbild. – Eine leichte Person. Wiener Reminiscenz. Von Albert Traeger.

Daß wie immer
den Tagesereignissen und Zeiterscheinungen
eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden wird, bedarf keiner ausdrücklichen Betonung.
Alle Postämter und Buchhandlungen nehmen Bestellungen an.
Leipzig, im September 1864.
Die Verlagshandlung von
Ernst Keil. 

  1. Als Probe eines in der nächsten Zeit im Verlage von J. Springer in Berlin erscheinenden Werkes aus der Feder v. Kirchmann’s, des bekannten Abgeordneten zur preußischen Nationalversammlung.
    D. Red.