Die Gartenlaube (1865)/Heft 24
Der alte Jenkins blieb, als die beiden Fremden fortritten, kopfschüttelnd in der Thür stehn und sah ihnen nach, denn eine so bodenlose Frechheit war ihm doch in seinem ganzen Leben noch nicht vorgekommen. Zwei wildfremde Menschen treten da in sein eigenes Haus und verlangen von ihm, mitten im texanischen Walde, er solle auf einen Papierwisch hin ihnen, mir Nichts dir Nichts, sein wohlerworbenes Eigenthum ausliefern. – Er würde es auch nicht für möglich gehalten haben, wenn er es nicht selber erlebt hätte, und eine Zeitlang lief er, die Hände auf den Rücken gelegt, in seinem Hause auf und ab. Endlich rief er Nelly.
Das junge Mädchen kam und blieb in der Thür stehn.
„Master?“
„Kanntest Du Einen der beiden Halunken, die eben hier waren?“
„Nein, Master,“ sagte die Negerin, „nur den Einen habe ich vor acht oder vierzehn Tagen einmal gesehen.“
„Wo?“ frug der Alte rasch.
„Draußen am Feld – ich pflückte Bohnen und er ritt an der Fenz vorbei. Als er mich sah, hielt er an und frug, wer hier wohne.“
„Welcher war das?“
„Der mit der Büchse.“
„So? – hm – der im Frack nannte ihn Mr. Netley – also vor acht Tagen schon?“
„Es kann auch etwas länger her sein.“
„Und in Little Rock bist Du nie gewesen?“
„Nie, Master; habe den Ort in meinem Leben nicht gesehn.“
„Kennst auch einen Mr. Saunders nicht?“
„Nein, Master,“ sagte das Mädchen und sah treuherzig zu seinem Herrn auf.
„Es ist gut, Nelly,“ nickte dieser, nach kurzer Pause, und griff dabei seinen alten Filzhut auf und holte die Büchse von der Thür herunter. Seine Frau sah ihn erstaunt an.
„Willst Du schon wieder fort, John?“ frug sie fast erschreckt. „Du bist doch kaum erst nach Haus gekommen.“
„Ja, Schatz,“ sagte der alte Mann, „ich muß mit Reed sprechen – die Geschichte geht mir im Kopf herum. Neulich, als ich drüben in der Ansiedlung war, hörte ich schon von allerlei faulen Dingen, die jetzt im Wald vorgingen, achtete aber nicht darauf, denn ich hielt’s für übertrieben. Jetzt kommt mir die Sache selber bedenklich vor, und ich möchte doch einmal nähere Erkundigungen einziehen.“
„Und mich willst Du indessen hier allein lassen?“
„Wär’ wohl das erste Mal, Schatz,“ lächelte der Alte, „aber sei unbesorgt. Gerade jetzt reit’ ich fort, damit ich die nächsten Tage bei Dir bleiben kann, denn heute und morgen kommen die beiden Burschen, wenn wir sie überhaupt je wieder zu sehn kriegen, sicher nicht zurück. Uebrigens hast Du ja Dein eigenes Gewehr, und sollte wirklich in der Zeit Jemand eintreffen, der Dir nicht recht ist, dann bist Du und Sip Manns genug, um ihnen die Wege zu weisen. Ich bleib’ auch nicht lange, sei ohne Furcht, wir haben jetzt mondhelle Nächte, und wenn ich quer durch den Wald schneide und den Bluff hinuntersteige, ist’s bis zu Reeds hinüber kaum mehr als fünf Miles, in anderthalb Stunden bin ich drüben.“
Sip, der Neger, legte indessen den Sattel auf, und der alte Mann nickte der Frau noch einmal zu und ritt dann langsam in den Wald hinein. Statt aber gleich der angegebenen Richtung zu folgen, kam ihm ein anderer Gedanke, als er die Pferdespuren der beiden Fremden sah. Wohin hatten sich diese gewandt? das mußte er vorher wissen, und er folgte ihnen deshalb in einem etwas lebhafteren Trab; die Spuren waren ja deutlich genug dem weichen Boden eingedrückt, um rasch auf ihnen hinreiten zu können.
Die Reiter hatten in der That den Cours nach Südosten eingehalten und endlich den nächsten Bach gekreuzt; sollte er ihnen nach dort hinüber folgen?das hätte ihn weit ab von seiner eigenen Richtung geführt, und es trieb ihn nicht zu lange von zu Haus fortzubleiben. Auf der anderen Seite des schmalen Wassercourses ließen sich noch deutlich die Spuren erkennen, und darüber jetzt vollständig beruhigt, lenkte er selber sein Thier rechts ab und schnitt quer durch den Wald hindurch nach Reeds hinüber. Er kannte jeden Fuß breit Boden hier und konnte die kleine Farm so genau treffen, als ob eine breite Straße dort hinübergeführt hätte.
Es war noch früh am Nachmittag, als er Reed’s Farm erreichte, aber er fand Reed nicht zu Haus, und dessen Frau sagte ihm, „ihr Mann sei nach Brownsville am Sulphurcreek hinübergeritten und würde auch wohl vor morgen Abend nicht zurückkommen. Drüben in Brownsville hätten sie eine Versammlung, aber weshalb, wisse sie nicht.“
Brownsville, eine Stadt, die vorläufig erst aus drei Häusern bestand, lag noch etwa sechs Miles weiter, er konnte es noch [370] recht gut heute Abend vor Sonnenuntergang erreichen. Doch einmal auf dem Wege, besann er sich auch nicht lange, und ohne selbst abzusteigen, nickte er der Frau Reed’s einen herzlichen Gruß zu und verfolgte seinen Weg, bis er endlich gegen Abend auf seinem, jetzt ziemlich müden Pferd, in einen breiten, durch den Wald gehauenen Weg einlenkte, den eine an einen Baum genagelte und beschriebene Schindel als „Mainstreet“ oder Hauptstraße bezeichnete.
Es war die Hauptstraße der künftigen Stadt, von der eben solche Seitenstraßen nach links und rechts abzweigten, aber er konnte ihr nicht einmal folgen, obgleich er von hier aus kaum noch zweihundert Schritt auf den „Marktplatz“ hatte, denn die darin gefällten Bäume lagen noch genau so, wie sie die Axt umgeworfen, wirr und toll durcheinander. Jenkins mußte sich denn auch seine Bahn durch den Wald suchen, um diese „Hauptstraße“ zu passiren, und erreichte endlich den eigentlichen Verkehrstheil der Stadt, eine kleine Gruppe von drei Blockhütten, die hier innerhalb einer Lichtung von fünf oder sechs Ackern Maisfeld zusammen standen.
Das eine von diesen war das Courthouse (Rathhaus), aber auch nur aus unbehauenen Stämmen aufgeführt, wie die übrigen, das andere die „Grocery“, ein kleiner Laden, der die Bedürfnisse für die Nachbarschaft – und die Hauptsache – Whisky enthielt, und das dritte das eigentliche Farmhaus, das die anderen Beiden hervorgerufen: die Wohnung des ersten Ansiedlers hier, der jetzt zu gleicher Zeit, neben der Bestellung seiner Felder, die Aemter eines Postmeisters und Friedensrichters verwaltete.
Der Platz war auch, da er mitten im County lag, von den Ansiedlern zu einem sogenannten county seat ernannt worden, und zu gewissen Zeiten im Jahre versammelten sie sich hier, um ihre Rechtshändel auszugleichen. Diese Zeit war gegenwärtig nicht; Jenkins mußte deshalb erstaunt sein heute eine ungewöhnliche Zahl von Menschen hier zu treffen, denn auf dem offenen Platze zwischen den drei Häusern, von dem man die gefällten Bäume, bis auf ein paar Stumpfe und Stammreste, sorgfältig entfernt hatte, traf er etwa fünfzehn oder sechzehn Ansiedler aus der Nachbarschaft, d. h. einige von zwanzig und mehr Miles Entfernung, die sich lebhaft miteinander unterhielten.
Als sie zuerst den nahenden Reiter ansichtig wurden, verwunderten auch sie sich über den Besuch, aber im Nu hatten sie den alten Jenkins und sein braunes Jagdpony erkannt, und laute, herzliche Zurufe begrüßten ihn.
Aber was führte ihn gerade heute zufällig hierher?
„Jungen,“ sagte da der alte Mann, auf die rasch an ihn gerichteten Fragen, „vor allen Dingen muß mein armes Pony etwas zu fressen haben, denn das ist den ganzen Tag auf den Füßen gewesen, und ich möchte einen Schluck Whiskey, mir ist die Kehle wie ausgebrannt.“
Beiden Anforderungen wurde rasch entsprochen, das Pferd übergab man einem der Neger, und fünf, sechs Arme mit Whiskey-Bechern streckten sich dem lachenden alten Mann zu gleicher Zeit entgegen.
„Und was führt Euch gerade heute hierher, Jenkins?“ rief der Postmeister, „denn zu gelegenerer Zeit hättet Ihr gar nicht eintreffen können. Wir hatten sogar nach Euch geschickt, aber Billins fand Euer Haus nicht und behielt nur eben Zeit hier wieder einzutreffen.“
„Billins fand mein Haus nicht?“ lachte der Alte, „das ist nicht übel, da wundert’s mich nur, daß er sich hier wieder hergefunden hat.“
„Zum Henker auch,“ rief der junge Backwoodsman, „Ihr steckt so im Dickicht drin, wie ein Bär im Winter, und die zahllosen kleinen Bäche sehen einer aus wie der andere. Ich gerieth in den verdammten Schilfbruch, wo die Red-River-Sümpfe beginnen und hörte da drin einen Hund bellen. Nun glaubt’ ich, dort wär’s, kam aber nicht durch, band mein Pferd an, verirrte mich im Schilf und dankte Gott, als ich nur endlich die Stelle wieder fand, wo ich mein Thier gelassen. Nachher war’s zu spät noch weiter nachzusuchen.“
„Da habt ihr Euch viel zu nördlich gehalten,“ lachte der Alte. „Aber darf man erfahren, was Ihr heute vorhabt?“
„Gewiß,“ rief Border, der Postmeister, „denn Euch geht es ebensogut an, wie uns. Ihr wißt doch, daß wir schon seit einiger Zeit gespürt haben, wie irgend Jemand hinter unseren Pferden her sei.“
„Hol sie der Böse,“ rief Jenkins, „meinen Rappen haben sie sich auch geholt.“
„Aha,“ lachte ein Anderer, „und den sucht Ihr wohl gerade hier bei uns?“
„Das nicht, aber –“
„Nun hört nur weiter,“ sagte Border. „Es unterliegt keinem Zweifel mehr, daß wir einen Antheil von jenem aus Arkansas und Missouri verjagten Gesindel auch in unsere Nachbarschaft bekommen haben, und unsere nach allen Richtungen hin zerstreuten Wohnungen und Weideplätze machen ein Zusammenwirken nichtswürdig schwer. Man braucht ja wahrhaftig immer eine Tagereise dazu, um zwei oder drei Nachbarn aufzutreiben, und ehe ein Raub nur bekannt wird, sind die Halunken über alle Berge.“
„Und habt Ihr denn noch auf Niemanden Verdacht gefaßt?“
„Ja hört nur, das ist ja die Geschichte,“ fiel Border ein. „Am Cypressensumpfe, der Bearbayou und oben am Rand des Schilfbruchs haben sich seit einiger Zeit einige Strolche niedergelassen, die Niemand von uns kennt und die auch verwünscht wenig Staat mit ihrer früheren Lebensbeschreibung machen. Dem Einen fehlt sogar ein Ohr; er behauptet freilich, ein Bär habe es ihm einmal auf der Jagd abgerissen, aber ich denke mir beinah, er hat’s irgendwo in einer fatalen Geschichte sitzen lassen, denn die in Arkansas drüben machten sich manchmal den Spaß, einige Gauner, die sie bei Lumpereien erwischten, auf die Art zu zeichnen, um nicht mehr durch ihre Gesellschaft belästigt zu werden.“
„Aber Boyd, dem das Ohr fehlt,“ rief Jenkins, „beklagt sich am bittersten, daß ihm schon zwei seiner besten Pferde gestohlen wären.“
„Ja,“ sagte Border, „aber Pferde, die Keiner von uns je zu Gesicht bekommen, und ob’s wahr ist, wer weiß es? Das ist sicher, diese Gesellen, und ein Paar von ihnen, die am Stierkopf und am Alligatorteich wohnen, machen das meiste Geschrei und neulich – aber kennt Ihr Ashley?“
„Bob Ashley? werde ich Ashley nicht kennen!“ rief Jenkins, „wir waren ja alte Nachbarn in Oiltrove-Grund am Withe-River – ’s ist Einer der ältesten Jagdgefährten, die ich auf der Welt habe.“
„Und er ist ein braver ehrlicher Kerl?“
„Bei Gott, ich möchte den Mann sehen, der in meiner Gegenwart das Gegentheil behauptete!“ rief der Alte heftig.
„Nun gut,“ fuhr Border fort, „und wißt Ihr, was mit Ashley vor ein Paar Tagen geschehen ist? – Die Regulatoren haben ihn gelyncht.“
„Die Regulatoren?“ schrie Jenkins, „was für Regulatoren?“
„Eine Bande von Kerlen, deren Namen wir noch nicht kennen,“ sagte Border, „die Sache war so: Neulich Morgens – aber Billins, erzählt Ihr lieber die Geschichte, Ihr wißt mehr davon.“
„Und haben sie Ashley umgebracht?“ rief Jenkins, und die Hand des Alten faßte krampfhaft seine Büchse.
„Das nicht,“ sagte Billins, „Ihr wißt, ich wohne etwa vier Miles von Ashley entfernt, ich bin der nächste Nachbar, den er hat. Vorgestern Nacht, es war schon elf Uhr vorbei, und wir lagen Alle im Bett, schlagen die Hunde an. Ich springe auf, fasse meine Büchse und laufe hinaus, da ruft eine Kinderstimme: ‚O um Gottes willen, Mr. Billins, halten Sie die Hunde, daß sie mir nichts thun!‘ Ich zwischen die Hunde hinein und jage sie hinter’s Haus, und das kostete Mühe genug, aber brachte sie doch endlich still, dann geh ich an die Fenz, und wer ist’s? Ashley’s kleines Mädchen, Jenny, ein Kind von kaum zwölf Jahren, das in der Nacht den ganzen weiten Weg durch den Wald allein zu Fuß gekommen.
‚Aber um Gottes Willen, Kind!‘ rief ich aus, ‚was bringt Dich mitten in der Nacht hierher. Hast Du Dich verirrt?‘
‚Nein,‘ sagt die Kleine und faßt meine Hand, ‚helfen Sie, Mr. Billins, helfen Sie meinem Vater, schnell, sie haben ihn oben in einen Baum gebunden.‘
‚In einen Baum gebunden, wer?‘ rief ich.
‚Die Regulatoren,‘ sagt die Kleine, ‚o schnell, schnell, sonst muß er da oben sterben, und die Mutter ist vielleicht jetzt schon todt.‘
Mit Mühe kriegt’ ich jetzt aus dem armen Ding heraus, was geschehen war. Eine Bande Schufte war angeritten gekommen, hatten Ashley beschuldigt, ihnen zwei Pferde gestohlen zu haben, sagten, daß sie die Regulatoren wären, die dem Unfug hier ein [371] Ende machen wollten, und als er heftig wurde und sie Lügner und Schufte nannte, nahmen sie einen Strick und wollten ihn aufhängen. Jetzt stürzte die Frau heraus und fiel vor ihnen auf die Kniee, und sie erklärten ihr endlich, mit dem Leben solle er diesmal davon kommen, aber eine Strafe müsse er haben, banden ihn und zogen ihn auf den Ast einer Eiche hinauf, wo sie ihn festmachten und oben liegen ließen. Dann trieben sie die Pferde zusammen und ritten fort. Was sie mitgenommen, wußte das Kind nicht, aber die Mutter wurde ohnmächtig. Niemand war weiter im Haus, der ihrem Vater helfen konnte, sie allein aber nicht im Stand auf den Baum zu klettern, und da lief das Kind dicht vor Sonnenuntergang mitten in den Wald hinein, um bei mir Hülfe für die Ihrigen zu suchen. Natürlich that ich, was sich nur in der Schnelle thun ließ. Das Kind nahm ich in’s Haus, und die Frau gab ihm Brod und Milch nach dem schweren Marsch, und ich weckte indessen Jim Bailey, der gerade bei mir war und mir geholfen hatte meine neue Küche aufzurichten. Die Pferde waren glücklicher Weise bei der Hand und wir selber in kaum einer Viertelstunde marschfertig. Das Kind wollt’ ich nun bei meiner Frau lassen, daß es die Nacht schlafen und sich erholen könne, aber Gott bewahre, es ließ nicht nach, ich mußte es hinten auf’s Pferd nehmen, und was die Thiere laufen konnten, jagten wir hinüber. Aber bei Gott, da lag Ashley noch immer auf dem Eichenast, die Frau war wieder zu sich gekommen und jammerte, als sie die Tochter auch nicht fand, und glaubte, die Schurken hätten sie mit fortgenommen, halb wahnsinnig um Mann und Kind, und die Freude als wir ankamen! Aber ein verdammt schweres Stück Arbeit war’s, den Alten oben von seiner Hühnerstange herunter zu bringen, denn losschneiden durften wir ihn nicht auf einmal, er wäre uns sonst durch die Finger gerutscht und hätte den Hals gebrochen. Endlich ging’s, und wir brachten den armen Teufel wieder auf Gottes Erdboden hinunter. Aber er war ganz wie rasend, und tobte und wüthete und fiel zuletzt in einen tiefen Schlaf, so daß wir ihn bewußtlos auf’s Bett legen mußten. Am nächsten Morgen hatte er denn auch richtig ein hitziges Fieber, phantasirte von Regulatoren und Todtschießen und Gott weiß was Allem, und ein vernünftiges Wort war nicht mehr aus ihm herauszubringen. Da hielten wir uns denn auch nicht lange bei ihm auf. Wir ritten schnell zurück zu meinem Haus, und ich schickte meine Alte hinüber, daß die der Mrs. Ashley beistehen konnte, dann machten wir uns, Jim Bailey und ich, auf, um die Nachbarn zusammenzutrommeln und zu berathen, was geschehen könnte, und da sind wir jetzt und deshalb war ich auch heute Morgen nach Euch unterwegs, Jenkins, denn das dürfen die Schufte nicht ungestraft gethan haben.“
„Und hat Euch Ashley keinen mit Namen genannt?“ frug Jenkins, der der Erzählung mit fast fieberhafter Spannung ohne seine Büchse nur aus der Hand zu stellen, gefolgt war.
„Wir konnten Nichts aus ihm herausbekommen,“ erwiderte Billins, mit dem Kopf schüttelnd. „Von dem stundenlangen Hängen am Baume, mit zusammengeschnürten Armen und in der schmerzhaften Lage war er natürlich so außer sich, daß er lauter tolles Zeug faselte.“
Jenkins war nachdenkend geworden. Sollte der Besuch der beiden Fremden, die heute Morgen bei ihm gewesen, mit diesem neuen Regulatorenbund etwa in Zusammenhang stehen? Er erzählte mit kurzen Worten den Nachbarn sein heutiges Abenteuer. Kaum aber nannte er den Namen Netley dabei, als Border rief:
„Hol den Schuft der Teufel, das ist derselbe Lump, den sie in St. Francisville in Arkansas schon einmal wegen Schweinestehlen – er änderte ihre Zeichen ab – vor Gericht hatten, und damals schwur er’s ab. Wie sie aber später feste Beweise gegen ihn bekamen und ihn noch einmal wegen Meineid beim Ohr nehmen wollten, kniff er aus, ließ seine Frau sitzen und ging nach Texas. Der braucht’s auch noch sich hier wichtig zu machen; hätten wir ihn damals erwischt, war’ er ohne Verlust seiner beiden Ohren nicht davon gekommen!“
„Wenn wir nur einen einzigen der Schufte kennten,“ rief Jenkins, „die den armen Ashley mißhandelt haben! Beim Himmel, wir wollten ihn beregulatoren und mit Dogwood und Hickory bekannt machen, bis er seine übrige Sippschaft verriethe; aber was können wir so in’s Blaue hinein thun?“
„Ich habe meinen Tom zu Ashley’s hinübergeschickt,“ sagte Border, „der soll drüben bleiben, bis er wieder zur Besinnung kommt, und uns dann gleich Nachricht sagen.“
„Und kannte denn seine Frau Niemanden aus der Schaar?“
„Ja,“ sagte Billins, „zwei oder drei der Männer behauptet sie schon gesehen zu haben, aber sie wußte die Namen nicht, und in der Aufregung und Angst hatte sie auch wohl auf Einzelheiten nicht so genau geachtet. Die Beschreibung wenigstens, die sie uns gab, würde auf Jeden von uns eben so gut passen.“
„Das ist eine böse Geschichte, Gentlemen,“ sagte Jenkins, der indessen recht nachdenkend geworden war und still vor sich niedergestarrt hatte, „und ich weiß wahrlich nicht, welchen Vorschlag man da machen soll. Thun wir aber Nichts, so gewinnen die Schufte entweder Zeit mit ihrem Raub die ‚Range‘ zu verlassen, oder tauchen plötzlich da oder dort wieder auf und verüben ein neues Bubenstück. Ist denn Niemand ihren Fährten nachgegangen?“
„Wer sollte das?“ sagte Billins, „erstlich nahmen wir uns dazu wahrlich nicht die Zeit, und dann wußte die arme Frau nicht einmal genau anzugeben, nach welcher Richtung hin sie sich gewandt hatten; um Ashley’s Platz herum war aber der ganze Boden so von Pferdehufen zerstampft, daß sich kein Indianer mehr hindurchgefunden hätte.“
„Wär’ ich nur dort gewesen!“ nickte Jenkins, „aber soviel ist sicher, daß wir in unserer Heimath jetzt durch eine Bande gewissenloser Schufte gefährdet werden, die wir nicht länger dürfen ihr Wesen treiben lassen, denn keine einzelne Familie ist vor ihnen sicher.“
„Aber was können wir thun,“ rief Border, „ehe wir nicht einmal einen von den Burschen namhaft machen?“
„Wir sind hier fast aus allen Theilen der County versammelt,“ sagte Jenkins, indem er sich im Kreis der Männer umsah, „da sind drei – vier vom Trinidad, dort Tomlins von der Sabine, ein Paar vom Red-River und vom Bear- und Saltcreek.“
„Vom Rio Rajo hatt’ ich auch Meiers bestellen lassen,“ sagte Billins, „aber er muß die Botschaft nicht bekommen haben, und selber hinüber konnt’ ich nicht.“
„Den müssen wir’s noch wissen lassen,“ sagte Jenkins, „und dann schlag’ ich vor, daß wir jetzt, bis das geordnet ist, jede Arbeit, jedes Geschäft an den Nagel hängen und Tag und Nacht draußen liegen, um nur erst einmal die Spur zu bekommen. Ihr habt drei Neger, nicht wahr, Border?“
„Vier,“ sagte dieser, „und handfeste Bursche.“
„Gut, wenn Ihr mir folgt, so machen wir Brownsville zum Stationspunkt; heute Abend vertheilen wir uns und übermorgen Abend kommen wir Alle wieder hier zusammen, um das Weitere zu berathen. Bis dahin müßte es ja auch mit dem Bösen zugehen, wenn nicht Einer oder der Andere eine warme Fährte gefunden hätte, und Gnade Gott dann den Schuften!“
„Wer kommt denn dort?“ rief Border und schützte seine Augen mit der Hand gegen die Strahlen der eben untergehenden Sonne.
„Hol’s der Teufel!“ rief Billins, „der hat ja gar keine Hosen an.“
„Das ist Meiers, beim Himmel!“ lachte ein Anderer, „und im Hemd auf dem Pferd. Hahahaha, das ist kostbar!“
„Und mitten zwischen den Häusern reitet er durch,“ rief Border, „die Frauen haben ihn auch schon weg. Aber Meiers, was zum Henker fällt Euch denn ein? Wo habt Ihr denn Euere Hosen, Mann?“
„Guten Abend, Gentlemen,“ sagte indessen der Neuankommende, der in einem kurzen Trab, aber in dem wunderlichsten Aufzug von der Welt, herankam und nichtsdestoweniger, als er des Postmeisters Haus passirte, die dort halbversteckten kichernden Frauen und Mädchen auf das Artigste grüßte. „Border, thut mir den Gefallen und borgt mir ein Paar von Eueren Hosen, denn die Nacht wird’s frisch, und ich kann doch nicht so hier im Settlement herumlaufen und mich zum Abendbrod mit den Ladies an den Tisch setzen.“
Meiers sah wirklich komisch aus. Es war eine lange trockene Gestalt, mit breiten Schultern und entschieden vorstehenden Backenknochen. Auf dem Kopf trug er einen alten Filz, der nicht einmal mehr erkennen ließ, ob er überhaupt je eine Form gehabt; am Körper aber nur sein nicht übermäßig langes weißes baumwollenes Hemd, darüber, nach Art der Backwoodsmen, einen von [372] selbstgewebtem blauwollenem Jeaneszeug verfertigten Frack, gar keine Hosen und Moccasins an den bloßen Füßen. Umhängen hatte er seine Kugeltasche und auf her Schulter lag die lange einläufige Büchse, ohne die ein Backwoodsman sein Haus überhaupt nie verläßt. Dabei hingen ihm die langen glatten Haare ordnungslos unter dem Hut vor, und mit den blauen, gutmüthigen Augen sah er sich überall im Kreise lächelnd um und nickte nach allen Seiten.
„Aber Meiers, um Gottes willen, was habt Ihr denn nur mit Eueren ‚Besten‘ angefangen?“ lachte Border noch einmal, während der Angeredete einen vorsichtigen Blick nach den Häusern zurückdrehte, sein Pferd halb umwandte, um beim Absteigen keine Blöße zu geben, und dann rasch aus dem Sattel sprang, während sich die Schaar jetzt mit lautem Gelächter um ihn sammelte.
„Die Geschichte ist sehr einfach,“ sagte aber Meiers, ohne sich im geringsten außer Fassung bringen zu lassen, mit voller Ruhe, „verloren hab’ ich sie unterwegs.“
„Verloren, vom Leibe?“
„Nein,“ meinte Meiers, „das gerade nicht. Es war so verdammt warm und da zog ich sie unterwegs aus und legte sie auf den Sattel. Nun weiß der Teufel, wie es kommt, aber sie müssen mir, gerade wie ich etwa drei Meilen von hier den Sulphurcreek kreuzte, unter dem Leibe vorgerutscht und in’s Wasser gefallen sein, denn gleich nachher vermißt’ ich sie und bin noch etwa zwei Meilen, bis zu einer Stelle, wo ich genau wußte, daß ich sie noch gehabt, zurückgeritten, aber Gott bewahre. Jedenfalls hat sie der verwünschte Fluß mitgenommen; umkehren wollt’ ich aber auch nicht, und da kam ich denn so. Border, holt mir einmal ein Paar heraus, denn in dem Aufzug möcht’ ich den Ladies nicht gern meine Aufwartung machen.“
Die Damen hatten indessen schon den Verlust ihres alten Freundes bemerkt, und ein kleiner Negerjunge kam mit ein Paar neugewaschenen Beinkleidern angesprungen. Diese hatten allerdings den Nachtheil, daß sie Meiers etwa um zwei Handbreit zu kurz waren, aber das genirte ihn nicht. Seinen Hut gegen das Haus lüftend, denn er wußte recht gut, daß das muthwillige Volk dort ihn durch die offenen Spalten desselben beobachtete, nahm er das überbrachte Kleidungsstück und ohne es der Mühe werth zu halten damit auf die Seite zu gehen, zog er es gleich auf der Stelle an, auf der er stand. Noch damit beschäftigt lenkte er die Fröhlichkeit der ihn umgebenden Männer aber bald wieder zu dem ernsten Zweck zurück, der sie hier versammelt hatte.
„Und wißt Ihr, daß der Teufel auch im Süden los ist?“ sagte er, „Ashley’s Geschichte hab’ ich gehört, und grad wie ich fortritt, kam Tom Burton von der Southfork herauf und erzählte, daß eine Bande von Kerlen seines Bruders Haus, während er draußen im Walde war, niedergebrannt und drei von seinen Pferden fortgetrieben habe. Er ist jetzt nach, um ihren Spuren zu folgen, und ich will ihnen nur wünschen, daß er sie einholt.“
„Und er hat auch keinen gekannt?“ rief Jenkins rasch.
„Er war ja gar nicht daheim,“ sagte Meiers, „und hatte blos seinen Pflock außen vorgesteckt. Die Schurken steckten das Haus in Brand, das sie möglicher Weise vorher ausgeplündert, wer weiß es. Viel werden sie aber wohl nicht darin gefunden haben.“
„Nun, Gentlemen,“ sagte Border nach einer Pause tiefen Stillschweigens, in der die Männer ernst umherstanden und Meiers seine Toilette beendigte, „wie die Sachen jetzt stehen, ist kein Mensch in seinem eigenen Haus mehr sicher, und je eher wir dem Zustand ein Ende machen, desto besser.“
„Wo wohnt denn dieser Netley?“ sagte Jenkins, dem die Begegnung von heute Morgen nicht aus dem Kopf wollte. „Wenn der in den Staaten schon Lumpereien gemacht hat, wird er hier nicht anfangen ein ehrlicher Kerl zu werden, und dem möcht’ ich vor allen Dingen auf die Finger sehen. Haben wir nur erst einmal an Einem einen Halt, so finden wir auch mit leichter Mühe den Rest.“
„Netley,“ sagte Border, „hat sich eine Hütte in ziemlich nordöstlicher Richtung von hier, unmittelbar an dem Schilfbruch gebaut, und war, als ich das letzte Mal dort oben nach meinen Pferden suchte, gerade dabei sich eine Weide in das Schilf hinein zu bauen, wo die Thiere allerdings für eine gute Weile Futter haben.“
„Wo denn etwa?“
„Wißt Ihr die Slew, Jenkins, über die zwei Cypressenbäume so gefallen sind, daß sie gerade eine Brücke hinüber bilden?“
„Gewiß weiß ich sie. Ich bin den Platz schon passirt.“
„Gut, wenn Ihr an der aufwärts geht, kommt Ihr zu der Hütte; sie liegt aber nicht unmittelbar am Wasser, sondern etwas versteckt in den Büschen drin, und ich hätte sie damals gar nicht bemerkt, wenn mich nicht das Krähen eines Haushahns aufmerksam gemacht hätte.“
„Gut,“ nickte Jenkins, „den Platz find ich und nun, denk ich, hat mein Pony auch genug gefressen, daß ich den Heimweg wieder antreten kann, denn unter den Umständen möchte ich nicht länger, als irgend nöthig ist, von zu Hause fortbleiben.“
Damit aber war Border nicht einverstanden. Er hatte, wie er erklärte, besonders zu dem Zweck einen Feisthirsch geschossen und ein junges Schwein geschlachtet, Lebensmittel seien also genug im Hause, Whisky zu einem tüchtigen Arkansas-Stew[1] ebenfalls, und er „wolle verdammt sein“, wenn irgend einer die „Range“ verlassen solle, ohne sich sattgegessen und getrunken zu haben, am wenigsten Jenkins.
Dabei blieb es; der Alte durfte sich nicht ausschließen, noch dazu da die paar Ruhestunden ja auch seinem heute überdies fast zu sehr angestrengten Pferd zu Gute kamen. So sammelte sich die wilde Schaar denn bald um Border’s gastlichen Heerd, wo die Frauen indessen emsig beschäftigt gewesen waren riesige Blechkannen mit Kaffee zu kochen und die verschiedenen saftigen Fleischstücken zu braten. Die Becher, mit dem scharfen, aber wohlschmeckenden Getränk, einer Art von Grog gefüllt, wurden fleißig geleert, und es war lange zehn Uhr vorbei, ehe Jenkins endlich Ernst machte zum Aufbruch. Border wollte ihn noch zurückhalten, aber es ließ ihm keine Ruhe mehr. Er stand auf, sattelte und zäumte sein indeß vollständig ausgeruhtes Pferd und trat den Heimweg an. Vorher aber hatten sich Alle das Wort gegeben, übermorgen Abend wieder zu gemeinsamer Berathung hier zusammenzutreffen.
Am Sonntag Invocavit (den 21. Februar) des Jahres 1790 standen auf dem geräumigen Platz vor der Hauptkirche zu St. Michaelis in der Universität-Stadt Jena zerstreute Gruppen, herkömmlichem Brauche nach auf das Heraustreten der andächtigen Kirchgänger aus der Kirche harrend. Die größere Anzahl waren Studenten, die namentlich am Kreuz und Burgkeller in bunten Haufen standen; sämmtlich heute im prallen Sonntagsstaat, in gewaltigen Dreimastern mit hohem, bunten Federbusch, goldgestickten, reichbetroddelten Uniformsfräcken mit goldnen Epauletten und Fangschnüren, auch wohl in kurzen Jacken mit bunten Aufschlägen, Lederhosen und mächtigen Kanonenstiefeln mit klirrenden Pfundsporen, zu dem Allen noch den blanken Hieber oder rasselnden Schleppsäbel an der Seite. Andererseits fehlte aber auch, getrennt davon auf der andern Seite beim sogenannten Krämergäßlein, nicht der ehrsame Bürger im langen Rocke, Kniestrumpf und Schnallenschuhen, sowie dem dicken Zopfe, der unter dem breitkrämpigen Dreimaster hervorquoll. Als die letzten Orgeltöne dann verrauschten, öffneten sich die beiden Thorflügel der majestätischen Kirche und die steinernen Stufen herab bewegte sich die andächtige Menge. Klirrend fielen die Ketten, welche die nach dem Kirchplatz führenden [373] Straßen absperrten, zu Boden und der Strom der Kirchgänger ergoß sich in die Straßen. Vom Thurm hernieder aber bliesen die Stadtpfeifer die Melodie eines geistlichen Liedes. Da entstand unter den harrenden Studiosen eine lebhafte Bewegung, welche ihre den heimkehrenden Schönen zugewandte Aufmerksamkeit von diesen ablenkte. Einige Theologen hatten die Neuigkeit aus der Kirche gebracht: Professor Schiller sei heute ein für alle Mal aufgeboten worden. Rasch von Mund zu Munde lief das Wort.
Die vernommene Neuigkeit war keine Lüge. In der That hatte nach Beendigung des ersten Kirchenliedes der Archidiaconus von der sogenannten kleinen Kanzel vor dem Altare in die andächtige Versammlung hinab verkündet:
„Aufgeboten werden, und zwar nach eingeholtem Consistorialdispens ein für alle Mal, Herr Johann Friedrich Schiller, Fürstlich Sachsen-Meiningischer Hofrath, Fürstlich Sachsen-Weimarischer
Rath und außerordentlicher Lehrer der Weltweisheit allhier, Herrn Johann Friedrich Schiller’s, Hauptmanns in Herzoglich Württembergischen Diensten, eheleiblich einziger Sohn, und Fräulein Louise Charlotte Antoinette von Lengefeld aus Rudolstadt, weiland Herrn Joel Christoph von Lengefeld, Fürstlich Schwarzburg-Rudolstädtischen Jägermeisters und Kammerraths zu Rudolstadt, eheleibliche zweite Tochter,“ worauf denn für beide Verlobte zu ihrem „wichtigen Vorhaben“ der Segen des höchsten Stifters der Ehen erbeten wurde.
Die Ueberraschung, welche dieser Bekanntmachung folgte, war außerordentlich. Sie machte sich durch den ganzen Hörerraum bis hinab ins Schiff der Kirche, namentlich in den Frauenstühlen, durch Flüstern, Rücken an Band und Haube, Hin- und Herbewegen bemerklich. Für Eine nur schien diese Ueberraschung nicht vorhanden zu sein. Begleiten wir sie, die kleine muntere Person, auf ihrem Heimweg aus der Kirche. Ihr Weg führt sie links die Saalgasse hinab.
Alle Vorübergehende begrüßen sie freundlich, um von ihr einen noch freundlichern Gegengruß zu erhalten. Ein selbstbefriedigendes Lächeln zieht über ihr gutmüthiges Gesicht. Sie feiert heute einen ihrer größten Triumphe. Sie kann ja allen denen, die ihr das eigne Erstaunen über die große Neuigkeit mittheilen wollen, entgegnen, daß die Angelegenheit für sie keine neue, kein Geheimniß, daß sie Mitwisserin und, wie sie sich einredet, auch Mithelferin gewesen sei. Gönnen wir bei ihrer anerkennenswerthen Neigung, Menschen zu beglücken, der guten Frau diese kleine Uebertreibung. Indeß ist sie in die Schloßgasse eingebogen und ist rechts in ihrem in einer versteckten Seitengasse gelegenen Hause eingetreten, dessen Frontseite nach dem Stadtgraben zu ging. Jedes Kind konnte sagen, daß in dem Hause der Geheime Kirchenrath und Prälat Griesbach wohnte.
Jena aber war vollständig in Unruhe. In den nachmittägigen Kaffee- und abendlichen Theeclubs wurde die Neuigkeit des Vormittags hin und her zerrissen. Hier galt es vorzüglich der zu erwartenden jungen Frau. Große Unruhe erregte namentlich die Lösung der Frage, welche Stellung man dem „adeligen“ Fräulein gegenüber einnehmen wolle, und daneben, wie diese sich wohl selbst zu den einzelnen edlen Zunftverbänden stellen würde. In letzterer Hinsicht gewährten indeß die Mittheilungen der Frau Geheimen Kirchenräthin einerseits, gleich wie diejenigen der gestrengen Frau Bürgermeisterin, welche, beide mit der Familie der Braut näher bekannt, die neu Ankommende als von sanftem liebenswürdigem Charakter schilderten, einige Beruhigung. Das philosophisch große und erhabene Jena besaß die engherzigste Kleinstädterei!
Ganz anders aber klang der Ton, den man anschlug in den Commershäusern der Studenten. Hier galt es dem Manne, dem geliebten Lehrer, dem gefeierten Dichter, dem der Enthusiasmus deutscher Jünglingsherzen eine Liebesthat erweisen wollte. Aber alle Vor- und Anschläge wurden vereitelt. Alle Boten, die man aussandte, kamen stets mit der Nachricht zurück, daß die sechs Fenster in der ersten Etage des Eckhauses am Markt, darin Schiller wohnte, still und dunkel seien. Man gab zuletzt der Vermuthung Raum, daß die Brautleute mit Absicht alle geräuschvollen Ovationen vermeiden wollten, und fand dies völlig im Einklang [374] mit Schiller’s Charakter. Allmählich beruhigte sich das aufgeregte Jena.
Um die Stunde der Mitternacht aber fuhr eine bepackte Postchaise vom Erfurter Thore her durch’s Johannisthor in die Stadt. Ueber den Markt, um den großen Brunnen herumbiegend, hielt sie an dem hochgiebeligen Eckhaus, das damals einem Herrn von Jagemann gehörte, aber von zwei unverheiratheten Frauenzimmern bewirthschaftet wurde.
Aus dem innern niedrigen Wagenfond schwang sich rasch ein schlanker, hagerer Mann in langem grauem Rocke. Mit seiner Hülfe entstiegen dann dem dunkeln Schoos des breternen Kastens zwei in Pelz gehüllte Frauengestalten, beide augenfällig noch jung und ohne wesentlichen Unterschied des Alters. Während dieselben noch mit dem gelbfrackigen Postillon den Inhalt des Wagens leerten, hatte der hagere Mann schon den Hausknecht des schrägüber liegenden Gasthofs zum „Weimarischen Hof“ geweckt. Auch die runde niedrige Hausthür des hohen Eckhauses hatte sich geöffnet und eine dralle „bewegliche“ Magd war flink und behend die steinernen Treppen heruntergesprungen, um nach mehreren Knixen den beiden Frauen behülflich zu sein. Fast der ganze Inhalt des Wagens wanderte um Kopf und Schulter der Magd in das Eckhaus, die lebenden Insassen des Wagens aber wandten sich nach dem Wirthshaus zum „Weimarischen Hof“. In dem Hausflur verabschiedete sich der schlanke Mann wieder von ihnen. Mit stürmischer Leidenschaft preßte er die eine der Damen an’s Herz, diese aber wehrte ihm nicht, sondern schmiegte und drängte sich hinein in seine Gluth. Mit kaum verminderter Leidenschaft näherte er sich der andern, die sich indeß mit einem raschen Scherz seiner Umarmung zu entziehen weiß. Dann fliegt er über die Straße nach dem genannten Eckhaus. Während er die steinerne Wendeltreppe hinaufjagen will, vertritt ihm in Nachtjacke und Schlafhaube seine jungfräuliche Hauswirthin Numero Zwei den Weg. Mit einer trägflackernden Lampe in knochendürrer Hand, in gelösten Haarscheiteln beglückwünscht sie wie eine Macbeth’sche Schicksalsschwester den Heimkehrenden als „glücklichen Bräutigam“, und mit gesegneter Zunge beginnt sie den Vortrag eines Extracts aus dem Buch Sirach und der Weisheit Salomon’s. Mitten in ihrer Rede aber hat ihr rasch dankend der Heimkehrende die noch freie Hand gedrückt und ist an ihr vorüber glücklich in die Höhe gekommen.
Vorsorglich hat die muntere Magd sein Zimmer gewärmt. Hier und in den beiden Zimmern, die er aufgeregt durcheilt, weht ihn der seither ungewohnte Geist frauenhafter Ordnung an. Ja, es ist ein neuer glückverheißender Geist, der in diesen Räumen seinen Einzug gehalten hat. Gedankenvoll wirft er sich in seinen Sessel vor dem Schreibtisch. Vier Bilderabdrücke hängen ihm gegenüber. Er braucht nicht erst Licht anzuzünden, er trägt die vier Gestalten lebhaft in seiner Phantasie. Vier Menschen bedeuten sie, die ihm, als er noch irrend auf den Wogen des Lebens umbertrieb, voll hoher Uneigennützigkeit, aus reiner Seelenverwandtschaft, sich genaht, darunter der eine sein treuester redlichster Freund geworden, dem er jede Regung seines Geistes mittheilt, dessen Urtheil er zu jeder Handlung seines Lebens erst abforderte. Und er war bei der bedeutungsvollsten Handlung seines Lebens, deren Abschluß nur noch durch eine einzige Nacht begrenzt wurde, theilnahmlos, ja, er war zum Zweifler an ihrer Wohlthat geworden. War diese Handlung doch etwa bedenklich? Beunruhigt über diese Frage seines eignen Innern sprang er auf, lehnte sich an das Fenster und schaute hinab auf den schweigenden Marktplatz. Nur das eintönige Plätschern des laufenden Brunnens und der aus den fernen Straßen verhallende schnurrende Wächterruf durchbrachen die Stille.
Dem gedankenvoll Lehnenden ziehen die Bilder seines Lebens und seiner Liebe am inneren Gesicht vorbei. Zuerst die wilden Phantasien des weiland Regimentsmedicus in der Hauptstadt am Neckar, die, vergebens nach einem Gegenstand tastend, sich zuletzt an die blonde Hauptmannswittwe ketteten. Dann aber kam das holde wirkliche Bild von dem gastfreundlichen Landsitz einer großmüthigen Frau: Charlotte, die Rose von Bauernbach, die ihm, dem unstäten Wanderer, zu pflücken nicht vergönnt war. Im vollen Scheine glänzte dann das Sternbild Margaretha am Himmel von Mannheim. Ach! der Himmel war so reich an Hoffnungen und hochbegeisterten Jugendträumen, aber er wölbte sich über ein noch völlig ungewisses Schicksal und zerstob drum in Rauch und Nebel, als sich seine Arme nach ihm streckten. Bezaubernd, voll Sinnestaumel tauchte es sodann vor ihm auf aus dem bunten Gewühle eines Maskenballs, in unvergleichlicher Leibesschöne – die Helena von Dresden. „Genarrt und betrogen!“ gellte es ihm zu. Unmuthig wandte er das Haupt und das schöne Bild versank zu einer nebelhaften Fratze. An seiner Statt stieg auf eine volle hohe Gestalt, mit großen, tiefblauen Märchenaugen, Funken schlagender Geistesblitze fielen um sie her, betäubend, sinnbethörend. Es ist die zweite Charlotte. Dämonischfurchtbar war der von ihr ausgehende Zauber. Er hatte ihn, den leidenschaftlichen Jüngling, einst beinahe um seinen Gott gebracht. Ganz nahe stand sie, die Zauberin, noch seiner Erinnerung. Wetterleuchtend zuckte das zerstiebende Gewitter noch um ihn, in heißer Schwüle – fliehend eilt er vom Fenster weg in das Nebenzimmer nach der Gasse heraus. Da sieht er drüben im „Weimarischen Hofe“ eine hohe Gestalt im weißen Nachtgewande mit sanften liebewarmen Zügen. Sie beugt sich über die Lampe, sie zu löschen – und Ruh und Frieden lehrten in sein erregtes Herz. Es war ja die echte, die rechte Charlotte. Rings in den neueingerichteten Zimmern heimelte ihn die von ihrer Hand geschaffene Ordnung an. Vor ihr entflohen die regellosen Träume und Schäume seines vergangenen Lebens.
Die alte wunderlich geformte Schlaguhr am Rathhause hob viermal aus und schlug dann eine langtönende Eins, als er sich zur Ruhe legte, er der Professor der Weltweisheit – Johann Friedrich Schiller.
Am andern Morgen war der Herr Professor schon früh auf den Beinen, während drüben im „Weimarischen Hofe“ die Gardinen noch herniederhingen. Es galt noch manchen Formen Rechnung zu tragen, wie sie erwartungsvolle Brautleute oft genug verwünschen. Um so mehr drückten sie Schiller, der geradezu etwas Angst vor dem ganzen Acte verspürte. Wie viel Schreiberei hatte es nicht schon verursacht, ehe das Consistorium das nur einmalige Aufgebot genehmigt hatte! Schiller wollte, um allen Eclat zu meiden, sich nicht in Jena, sondern auswärts trauen lassen. Auch dazu hatte der Superintendent in Jena M. Oemler Erlaubniß zu ertheilen. Mit dem dort erlangten Dispens in der Tasche eilte Schiller hierauf in die Wohnung seines Freundes und Collegen, des Magisters der Philosophie und Adjunet der philosophischen Facultät Karl Christian Erbard Schmid. Dieser damals neunundzwanzigjährige Philosoph war in die Tiefen der Kantischen Philosophie hinabgestiegen und auf diesem Wege Schiller begegnet. Da er ursprünglich Theologie studirt hatte, war er seinem Vater, dem Pfarrer Gottlieb Ludwig Schmid, in dem nahegelegenen Wenigenjena vor drei Jahren als Adjunct beigegeben, ohne daß dies einer Wirksamkeit als Docent Eintrag that. Er schien auch den Priesterrock wenig zu tragen, denn als er sich erbot, den Freund und Collegen in der Kirche seines Vaters zu trauen, war dies die erste Trauung, welche er verrichtete.[2] Zuvörderst frug er Schiller, nach welchem Formulare er getraut sein wolle. Es seien deren zwei. Ein altes strengeres, aus der alten Agende Dr. Martin Luther’s, und ein neueres. „Nehmen wir,“ meinte Schiller, nach einem Einblick in beide, „das alte, mit dem Kraut und den Disteln auf dem Felde. Meine Schwiegermutter wird bei der Trauung sein und der ist offenbar das alte das liebste.“
Endlich gegen zehn Uhr Morgens fuhr die alte gelbe Postkalesche mit ihren drei Insassen von gestern wieder am Marktbrunnen vorüber nach der Löbdergasse. Es war schon recht lebhaft im Städtchen. Schaaren von Musensöhnen bewegten sich auf dem geräumigen Marktplatz auf und nieder. Manch kecker Blick und freies Wort richteten sich nach dem Wagen, und die Drei drinnen hatten Mühe ihr Incognito zu wahren. Doch gelang es ihnen ungehindert durch das Löbderthor auf die Straße nach Rudolstadt zu kommen, der von dort erwarteten Schwiegermutter entgegen.
Gerade über von der Stadt am andern Saalufer liegen, wie zur Ausfüllung des runden Thalkessels, zwei Dörfer, beide mit der Stadt durch eine große steinerne Brücke verbunden, beide wieder so nah aneinandergerückt, daß sie scheinbar eins sind, gemeinsam auch in Kirche, Flur und Schule. In dem vorn an der Brücke anstehenden Gasthaus „zur grünen Tanne“, das zum ersten Dorfe, [375] Camsdorf, gehört, hat Goethe während seines jenaischen Aufenthaltes meist gewohnt. Die alten Weiden und hohen Erlen, welche an dem Saalufer sich hinziehen, und ein auf der damals dort vorüberführenden Straße nach Wenigenjena und Kunitz nach letzterem Orte heimreitender Bauersmann, der auf seinem Klepper ein krankes Kind eingehüllt im Arme trug, das er in der Klinik hatte behandeln lassen, sollen ihm die Idee zum Erlkönig gegeben haben. Der gedachte Weg führt an einem Damme vorüber in wenigen Minuten nach Wenigenjena. Von dem Orte ließe sich sonst wenig sagen, wenn nicht vielleicht die in dem schönen Garten des Freiguts herkömmlich genossene „sauere Milch“ für manchen weilenden Musensohn zu einer Erinnerung geworden ist, die dann wohl eine lebhafte ist, wenn sie sich zugleich mit auf die frischen blonden Töchter des Hauses erstreckt. Nur an das kleine Kirchlein im Orte knüpft sich noch eine Erinnerung, die so unsterblich sein wird, als ihr Veranlasser. In dieser Kirche wurde Schiller getraut.
Durch eine schmale Mauerpforte treten wir zunächst auf den Friedhof. Alte verwitterte Säulen und Kreuze erzählen uns von der Vergangenheit des Ortes und wecken in uns die Andacht der Wehmuth. Mitten drinnen im Friedhofe steht die Kirche. Staunend und bewundernd sehen wir, namentlich am Hauptportale, die edlen Gebilde gothischen Baustils. Nischen und Fenster im Spitzbogen, hochanstrebende Säulen, aber mitten in der Entwickelung gehemmt und gebrochen – ein versunkenes Bild alter Herrlichkeit. Ueber dem Zauber altgothischer Romantik liegt ein nüchternes, aller Schönheit leeres Bretergerüst und verwitterte Ziegeldächer. Es ist eine große Versündigung geschehen an diesem Kirchlein, was einst in seiner Blüthenzeit gewidmet und geweiht war Unsern lieben Frauen. Thurm, Kuppel und Fries hat man ihm genommen, um die erhabene Schwester, die stolze Stadtkircke zu St. Michaelis in Jena, damit zu schmücken.
Nach diesem Kirchlein zu Unsern lieben Frauen kam nun Montag, den 22. Februar, des Jahres 1790[3] gegen Abend, halb in der Dämmerung an den alten grauen Weiden vorbei, die uns schon bekannte gelbe Postchaise, die Zahl ihrer Insassen hatte sich um eine vermehrt. Es war eine ältere Matrone von durchaus vornehmer Haltung. Chère mère wurde sie von den Uebrigen genannt. An der Schwelle des Kirchhofs empfing sie der würdige Pfarrer des Orts und geleitete sie in die Kirche. Alle Vier traten ein, und die Kirchthür schloß der Pfarrer zur Abwehr größerer Neugier hinter ihnen zu. Da standen sie, Schiller und Lotte, hinter ihnen Mutter und Schwester, in der lautlos stillen Kirche vor dem Altare, mit dem Bilde des abendmahlsspendenden Christus. Der junge Philosoph im Predigergewande tritt aus der Sacristei. Er beginnt den Act der Trauung mit der alten düsteren Formel über die Einsetzung des Ehestands, welche also lautete nach 1. Buch Mos. Cap. 3, B. 16-18):
„Zum fünften wollen wir auch hören das Kreuz, das Gott auf den ehelichen Stand gelegt hat. Also sprach Gott zum Weibe: Du sollt mit Schmerzen Kinder gebären und dein Wille soll deinem Manne unterworfen sein und er soll dein Herr sein. Und zu Adam sprach er: Dieweil du hast gehorchet der Stimme deines Weibes – verflucht sei der Acker um deinetwillen, mit Kummer sollt du dich darauf nähren dein lebelang. Dornen und Disteln soll er dir tragen und sollst das Kraut auf dem Felde essen.“
Der Jünger Kant’s, neben die Bibel seines Meisters Kritik der praktischen Vernunft legend, führte dann aus, wie die Eheschließung der kategorische Imperativ der Pflicht für die Leidenschaft und Liebe des Mannes sei. Dann erscholl vernehmlich durch die heilige Stille das gemeinsame „Ja“ der beiden auf der Stufe vor dem Altar knieenden Verlobten.
Volle Dämmerung war hernieder gesunken, als sie wieder heraustraten aus dem Kirchlein, Schiller und Lotte, jetzt Mann und Frau. Die Mutter hatte wacker geweint, die Schwester war voll tiefen Sinnens. Nicht in Worten, nur in heißen Umarmungen sprachen alle Vier. Auf der Heimfahrt rauschten die Erlen, „schienen die alten Weiden so grau“ und der Mond, der alte Liebeszeuge, warf einen glitzernden Lichtstreif über den ewig rauschenden Strom.
Als sie in das Eckhaus am Markte eintraten, hatten die geschäftigen Hausjungfern Thür und Thor bekränzt und den Sonntagsstaat angelegt. Einige, im Ganzen nur wenige, Hochzeitsgeschenke waren angekommen. Besonders erfreute Alle das von dem allgeliebten Coadjutor Karl von Dalberg in Erfurt selbst gemalte Bild, darstellend einen Hymen, der die Namen der Verlobten in eine Baumrinde schneidet – mit den allegorischen Figuren des Dramas und der Geschichte – ganz im Zeitgeschmack.
Schiller wurde lebhaft und fast ausgelassen. Er scherzte über den „kurzweiligen Auftritt“ der Trauung, der ihn vorher so geängstigt hatte, und zog auch die ernste Schwägerin und die sentimental gewordene Schwiegermutter mit in den Kreis des Scherzes. Mit kindlicher Freude begrüßte er die neue Einrichtung. Hatte er doch früher nichts zu eigen besessen, als seinen Schreibtisch, der ihm, wie er schlagend meinte, zwei Karolins gekostet hatte. Mit gaukelnden Phantasiebildern malte er seine Zukunft aus. „Ich arbeite in meinem Zimmer, Du, Karoline,“ wandte er sich zu der Schwägerin, welche vorerst in Jena verbleiben sollte, „spielst am Clavier, Lottchen arbeitet dort am Fenster. In dem Spiegel hier, mir gegenüber, sehe ich Euch Beide im Bilde. Ich lege von Zeit zu Zeit die Feder weg und setze mich abwechselnd zu Euch, mit Dir, Karoline, zu philosophiren, und bei Dir am schlagenden Herzen zu ruhen, meine Lotte.“
Der um die Zukunft besorgten chère mère rechnete er vor, wieviel er, wenn die hochherzigen Anerbietungen Dalberg’s nicht in Erfüllung gehen würden, jährlich durch Schriftstellerei verdienen werde.
Das stille Glück der Vier wurde durch nichts unterbrochen. Nur die redseligen Hausjungfern eilten geschäftig hin und her. Jena hatte mit seiner Theilnahme an der Hochzeit völlig resignirt.
Als dann die Nacht eingebrochen und Alles ruhig und still war im Hause, selbst die geschwätzigen Hausjungfern schliefen – war doch, aller Welt verborgen, Eine noch wach. In ihrem Schlafgemach saß gebeugten Hauptes – Karoline von Beulwitz. Das allzutiefe Leid in ihrer Brust hielt sie noch wach. Das gramvolle Bewußtsein ihres verfehlten Lebensglücks trat in dieser Stunde in voller Stärke vor ihre Seele. Fünf Jahre lang hatte sie an der Seite eines ihr nicht gleichgearteten, von ihr nicht geliebten Mannes gelebt. Sie hatte in dem begeisternden Rausche der Freundschaft des erhabenen Freundes Schiller das eigne Leid in der letzten Zeit nicht gefühlt. Dieser aber, der einzige, der sie vollständig erkannte und mit ihr gleich hoch empfand und dachte, er war jetzt zum Theil durch ihre eigene großherzige That der Gewinn ihrer glücklichen Schwester. Ihr ahnendes Herz sagte ihr, daß er von heute an ihr nicht mehr gehöre – wohin sollte sie sich nun wenden in dieser entsetzlichen Vereinsamung? Ein finstres Bild der Zukunft lag vor ihrem Geiste. Es drängte ihr eingepreßtes Herz nach Mittheilung. Sie zündete ein Licht an und schrieb die ersten Zeilen ihres Romans „Agnes von Sicilien“. – Je mehr sie schrieb, desto ruhiger wurde ihr Herz. Als sie sich erhob, rannen heiße Thränen über ihr seines Gesicht – stumme Zeugen der heiligsten Resignation eines edlen Frauenherzens. –
So war Schiller’s Hochzeitsfeier ein Abbild seines eigenen Lebens, seiner selbst. Er, der vor dem Weltgeräusch und des Lebens Drang gern in „des Herzens heilig stille Räume“ floh – er mußte auch naturgemäß den abergläubischen, phantastischen Spuk und die laute Lust einer deutschen Hochzeitsfeier fliehn.
Das Kirchlein zu Wenigenjena aber ist durch ihn wieder, was es ehedem war, zu einem Wallfahrtsorte „Unserer lieben Frauen“ geworden. Manche empfindsame Liebende hat es dahin gezogen, um auf denselben Altarstufen, wo Schiller und Lotte gekniet, die priesterliche Weihe ihres Bundes zu empfangen. Wo Schiller’s Odem geweht, wohin sein Fuß getreten, die Liebe seines Volkes hat die Stelle geweiht für alle Zeiten.
[376]
Von jeher mit Vorliebe der Lectüre von Büchern zugekehrt, welche den Glaubens- und Gedankenkreis vergangener Jahrhunderte abspiegeln, las ich unlängst mit großem Interesse eine voluminöse Chronik: Vita Papae Benedicti XIII., „das ruhm- und wunderwürdige Leben Papst Benedict’s des Dreizehnten aus dem Hause Orsini“.[4] Das lebendigste Bild Roms, wie es zu Anfang des vorigen Säculums gewesen, stand da vor mir. Im Grunde sind die Verhältnisse von den heute bestehenden nicht gar sehr verschieden. Da giebt es hundertfache Noth und Bedrängniß des päpstlichen Stuhls, zügelloses Treiben in den Kreisen des Adels und der Prälaten, eine geleerte Staatskasse, Raub, Mord und Todtschlag in den Gassen der heiligen Stadt; mitten darin aber, wie unbekümmert um alle Zeichen drohenden Zusammensturzes, steht ein Greis, unermüdlich beschäftigt durch Allocutionen und Heiligsprechungen, d. h. durch Vermehrung der himmlischen Schutzpatrone das Wohl der katholischen Menschheit zu fördern. Die Aehnlichkeit des Charakters Benedict des Dreizehnten mit dem Sr. jetzt regierenden Heiligkeit ist unverkennbar, und sieht man nun das in Kupfer gestochene Portrait Benedict’s in seinem Häublein an, so ist man neu überrascht, auch in den Zügen die größte Aehnlichkeit Beider wieder zu finden.
Vor vielem Andern interessirte mich in dieser Chronik die Beschreibung der Canonisation Johann’s von Nepomuk. Man müßte nicht in Böhmen geboren sein, um nicht eine besondere Devotion für diesen Heiligen im Blute zu haben. Er ist der Schutzpatron des Landes, er blickt von der uralten Steinbrücke Prags wie ein Schirmgott über Strom und Inseln, zu seinen Ehren entzünden sich allabendlich, sobald es dunkelt, die fünf Laternen über seinem Standbild, welche an die fünf Sterne mahnen, welche über seinem Leichnam schwammen. Sein Namensfest bringt Leben und Bewegung in die sonst so melancholisch und verdrießlich hinbrütende gefallene Königsstadt. Es fällt in die schönste Maienzeit. Mehrere Tage zuvor wogen alle Landstraßen von Wallfahrern, die sich langsam, Litaneien abbetend und fromme Lieder singend, in geschlossener Heeressäule gegen Prag bewegen. Bald wimmelt die Stadt von ländlichen Ankömmlingen in den verschiedensten Trachten: denn auch die Schwesterländer Mähren und Schlesien haben Repräsentanten geschickt. Die Brücke und die Domkirche besonders sind das Ziel aller Wanderungen. Am Vorabend des Festes gleichen die Gassen der Altstadt einem wimmelnden Ameisenhaufen. Alle Wirthshäuser sind überfüllt. Hunderte von Menschen, Männer und Frauen, welche kein Unterkommen finden oder den Schlafkreuzer sparen wollen, betten sich endlich, in landsmannschaftlichen Gruppen zusammengedrängt, einer uralten Sitte gemäß auf dem Trottoir der Steinbrücke, am liebsten in unmittelbarer Nähe des Heiligen. Tags darauf hallen alle Glocken, das Volk wandert von Kirche zu Kirche. Abends, sobald es dunkelt, füllen sich die Brücken und Quais mit Tausenden und Abertausenden. Wenn dann die Raketen in den dunkelblauen Himmel hinansteigen, auf der Spitze der Schützeninsel das „Heiliger Johannes, bitte für uns!“ in Flammenschrift erscheint und dieser sich Aller Augen zuwenden – da leugne noch Einer, daß dieser Heilige nicht lebendig im Volksbewußtsein stehe!
Die Canonisationsbulle bezeichnet Johann von Nepomuk als einen Mann, der nach göttlicher Veranstaltung zur Welt kommen mußte, „als in den von Christo gepflanzten und mit seinem Blute begossenen Weingarten ein brennender Wind ketzerischer Lehren eingebrochen.“ Da sollte er „gleichsam wie eine Schlange aufgerichtet werden.“
Er war Prager Canonicus und Beichtvater der Königin Johanna, Gemahlin Wenzel des Vierten, welche an der Seite ihres ausschweifenden Gatten ein kummervolles Leben führte. Die Acte erzählt die aller Welt bekannte Geschichte: Der König beargwohnt die Tugend seiner Gemahlin: er läßt den Beichtvater rufen und verlangt zu wissen, was ihm die Königin gebeichtet. Der Priester giebt zuerst eine ausweichende Antwort, er habe die Sünden der Königin nicht mehr im Gedächtniß; der entrüstete König, des Widerspruchs ungewohnt, läßt ihn in den Kerker werfen und foltern, und als er auch dann seinen frommen Widerstand nicht zu besiegen vermag, ihn in einen Sack binden und in die Moldau werfen. Da erglänzen sogleich fünf Sterne über den Wellen und verrathen den Ort, wo die Leiche liegt. Der König, erschreckt von diesen Zeichen, eilt in die Feste Zebrak. Alles dieses geschieht nach den Canonisationsacten im Jahre 1383.
Wo es sich um eine Heiligsprechung handelt, wird vor Allem die Frage nach den Wundern in’s Auge gefaßt, und die Rota Canonizationis, der römische Kirchenrath, wo die Heiligsprechungen verhandelt werden, hat vor Allem zu prüfen, welche Wunder dieser oder jener zu Canonisirende gewirkt hat. Die außerordentliche Gabe, als sterblicher Mensch auf Erden Wunder zu wirken, ist nämlich das sicherste Kriterium der das ganze Subject durchdringenden „heiligmachenden Gnade“. Neu stattfindende Canonisationen erwecken wohl bei Manchem einen Zweifel und er denkt so in seinem unvernünftigen Sinne: ist es nicht eine Vermessenheit des päpstlichen Stuhles, Jene zu bezeichnen, welche die Heiligen Gottes sind, und somit seinen allerhöchsten Hofstaat ausmachen? Sollte Gott auch wirklich alle als Heilige acceptiren, welche ihm die Kirche vorgeschlagen hat? Aber der Theolog hat die Antwort hierauf fertig, und zwar eine schlagende Antwort. Er sagt: Eben durch die Wunder, die aus der göttlichen Gnade fließen, und welche zu wirken dem oder jenem beschieden ist, hat Gott ja bereits angezeigt, daß ihm dieser als Heiliger convenirt, und daß er ihn in den Chor der Heiligen berufen hat. Dies ist unwiderleglich, und es wird sonach von der Rota Canonizationis nur zu erwägen sein, ob wirklich übernatürliche Thaten vorliegen. Man fordert deren vier, um desto sicherer zu gehen; jedoch kann der Heilige auch vom vierten Wunder dispensirt werden. Je mehr der Wunderwerke vorliegen, umsomehr wird die Heiligkeit eines Heiligen geschätzt, denn desto voller scheint er der Gnaden zu sein. Dessenungeachtet kann die Heiligkeit, wie auch die Theologen eingestehen, nicht allein in den Wunderwerken bestehen, sonst müßten die Mutter Gottes, sowie auch Johannes der Täufer gar nicht zu den Heiligen zu zählen sein. Von Maria ist weder in den Evangelien, noch anderswo zu lesen, daß sie ein Mirakel gewirkt, von dem heiligen Vorläufer Johannes aber steht (Ev. Joh. 10) klar geschrieben, daß er weder Zeichen noch Wunder gethan. Doch diese Beiden sind Ausnahmen von der Regel, im Allgemeinen gilt der alte Spruch: Keine Heiligkeit ohne Wunder!
Was nun das Leben des heiligen Johannes von Nepomuk betrifft, so steht es allerdings im Punkte der Wunder gegen das des heiligen Dominicus, des heiligen Franz von Assisi, des heiligen Anton von Padua weit zurück. Das Leben dieses letzteren, welcher „das Licht der Welt“ genannt wurde, ist von Wundern überfüllt. Die Anrufung seines Namens genügte Stürme zu beschwichtigen und die Menschen aus den drohendsten Lebensgefahren zu befreien; ja es schien, als ob dieser außerordentliche Heilige zürne und gewaltig unzufrieden werde, wenn man über seine eilfertige Hülfe nur den leisesten Zweifel hege! Bekannt und von allen Theologen beglaubigt ist seine Antwort an den Jesuiten Pater Coluago, die ich hier so beiläufig anführe. Ein Roß war aus dem Stall eines armen Bauersmann gestohlen worden. Die betrübte Bäuerin wußte keinen bessern Rath als zum Pater Coluago zu laufen. Dieser, als er ihre Klage vernommen, schlug die Augen gen Himmel und rief mit gewohnter Zuversicht zu seinem heiligen Vorsprecher: „Hilf, heiliger Antonius!“ Nun befahl er dem Weibe, nach Hause zu gehen, das verlorene Roß werde sich schon einfinden. Sie jedoch, die aus Furcht vor ihrem zornigen Gatten sich nicht nach Hause begeben wollte und auch der Meinung war, das Roß sei noch nicht gefunden, nahm noch einmal ihre Zuflucht zu Pater Coluago mit den Worten: „Der heilige Antonius habe noch nicht geholfen!“ Nun ergriff Coluago den ersten besten Stein, legte ihn in des Weibes Hand und sprach: „Gehe flugs in die Franziscanerkirche zum Altar des heiligen Antonius und richte ihm die Worte aus: ‚Pater Coluago lasse ihm sagen, er habe ein härteres Herz, als dieser Stein!‘“ Das Weib legte den Stein auf den Altar und ging davon, beim Rückweg [377] aber, und zwar noch in der Kirche erschien ihr der heilige Antonius mit eben diesem Stein, gab ihr diesen in die Hand und sprach: „Richte Du dem Pater Coluago wieder aus, daß sein Herz härter als Stein, indem er so oft die schnelle Fürbitte Sanct Antonii erfahren und dennoch nicht trauen will, das Roß habe sich schon eingefunden.“ Und so war es denn auch wirklich der Fall, und die Theologen, voran Sigismund Scholz von der Gesellschaft Jesu, führen diese Geschichte zum Beleg der besonderen Schnelligkeit der Hülfe an, welche der heilige Antonius bringt, und des Eifers, mit dem er jeden Zweifel in seine Hülfsbereitschaft widerlegt.
Solch auffallende Thaten hat nun allerdings Johann von Nepomuk nicht vollbracht, weder bei seinen Lebzeiten, noch später, nach seinem Tode, wo für manchen Heiligen erst die schönste Thatenlaufbahn beginnt. Seine Wunder bestehen in einigen Heilungen, in der Wiedererweckung eines Mädchens, welches in die Wattawa gefallen war, in dem Schutz seiner Vaterstadt Nepomuk vor der Pest etc. Als Heiligen bezeichnet ihn vornehmlich nach der Canonisationsbulle, daß nach seinem Morde die Moldau wie mit Flammen geleuchtet, insbesondere aber das Verhalten seiner Zunge, als der ertränkte Leichnam nach langen Jahren wieder ausgegraben wurde. Alles an ihm war Asche, die Hirnschale mit Erde angefüllt; nur die Zunge, „des sacramentalen Beichtsigills unüberwindliche Beschützerin“, war unversehrt wie die eines Lebenden, beweglich, gleichsam lebendig.[5]
Alle diese Wunder und Zeichen, wie sie theils in der Tradition lebendig vorlagen, theils noch sichtbar waren, findet man in dem Buche „Acta utriusque processus in causa canonisationis Beati Ioannis Nepomuceni. Romae 1729“ beleuchtet und einer genauen Durchforschung durch ein Zeugenverhör unterzogen. Der Proceß geht durch drei Instanzen und dauert an zehn Jahre. Wohl an fünfzig Zeugen werden vernommen und bestätigen die einzelnen Wunderthaten. Der Advocatus Diaboli mußte demnach den Kürzern ziehen und Benedict der Dreizehnte konnte die Canonisation vornehmen. Sie fand am 19. März des Jahres 1729 statt und ward noch durch ein besonderes Wunder verherrlicht, als ob der Himmel dieser Feierlichkeit noch eine ganz besondere Sanction geben wollte. Während der Papst im festlich gezierten Lateran mit seiner gebrechlichen Greisenstimme das te deum laudamus anstimmte, die Glocken läuteten und die Kanonen der Engelsburg darein donnerten, wurden die Massen des Volks, das sich draußen stieß und drängte, durch einen seltsamen Eindruck erschüttert. Ein Weib, das lange vom Teufel besessen gewesen und Italienerin von Geburt, welche ihr Lebtag kein Wort Deutsch gekannt, fing auf einmal in dieser Sprache zu reden an, wobei der böse Feind von ihr wich und sie, ohne daß ein Exorcismus bei ihr in Anwendung gebracht worden wäre, allerlei Glas, Nadeln, Haare durch den Mund von sich gab.
Dies Alles giebt einen festen Unterbau von Wundern und Zeichen, und doch – man muß wirklich sagen, daß es ist, als hätten alle Zweige der Forschung sich das Wort gegeben, nichts von alledem gelten zu lassen, was die Kirche statuirt! Vom Augenblicke an, wo die Geschichte Böhmens einer wissenschaftlichen Behandlung anheimfiel, mußten die Gelehrten es auffallend finden, daß die Geschichte wohl einen Johann von Pomuk kennt, dieser aber ein ganz Verschiedener von dem ist, den die Canonisationsacte bezeichnet! Eine kritische Opposition war zwar schon 1747 rege geworden, jedoch fast unbeachtet geblieben, später erst, da die böhmische Geschichte immer mehr Bearbeiter fand, konnten arge und weit um sich greifende Bedenken nicht mehr unterdrückt werden. Des Prager Canonicus, der 1383 ertränkt worden sein sollte, erwähnte kein gleichzeitiger Chronist, ja die Archive wiesen nach, daß es keinen Canonicus dieses Namens gegeben, hingegen war allerdings zehn Jahre später ein Priester Johann von Pomuk ertränkt worden, jedoch aus ganz anderen Ursachen. Er war in seiner Stellung als Generalvicar mit König Wenzel wegen der Abtei Kladrub in Streit gerathen, weil er den neuerwählten Abt Albert Olonus dem königlichen Willen entgegen bestätigt.
Es gab, als diese Thatsache aufgestellt wurde, einen argen Lärm. Broschüren folgten auf Broschüren. Der Ritter von Reinsberg, der zuerst den Muth zu „kritischen Bemerkungen“ gehabt, eilte nach München und fand im dortigen Staatsarchiv, daß die Königin Johanna bereits im Jahre 1386 gestorben, somit schon sieben Jahre todt gewesen sei, als der wahre Johann von Pomuk in die Moldau gestürzt wurde. Somit gab es keinen Märtyrer des Beichtsigills mehr, und der freche Reinsberg wagte 1783 den Ausruf, der in einer in Böhmen erschienenen Schrift kühn war, (freilich war damals die Presse freier als heutzutage): „so hat man einen Heiligen canonisirt, der nie gelebt hat!“
Jetzt versuchten Andere die beiden Gestalten in eine zusammenzuschweißen, dies aber wollte durchaus nicht gehen, da einerseits die Canonisationsacten, andererseits die Geschichte so klar sprechen. Und da nun die Existenz des canonisirten Johann von Nepomuk nicht geleugnet werden durfte, die des historischen nicht geleugnet werden konnte, suchte ein seltsamer Kauz, Pater Jos. Zimmermann in seinem Büchlein: „Vorbothe der Lebensgeschichte des heiligen Johann von Nepomuk. Prag 1829“ einen neuen Ausweg: er nahm zwei Johanne an, und nach seiner Auffassung gestaltet sich die Sache so:
In dem kleinen Städtchen Pomuk, welches dazumal höchstens dreißig Familien zählte, werden unter der Regierung Karl’s des Vierten zwei Kinder männlichen Geschlechts geboren, welche beide den priesterlichen Stand erwählen, beide im Lauf der Jahre zu hohen Würden gelangen, beide Johann von Nepomuk heißen und beide unter König Wenzel den Tod in der Moldau finden. Ihr Lebenslauf theilt sich folgendermaßen:
Johann, geboren zu Nepomuk, Prediger an der Theinkirche, Domherr an der Prager Hauptkirche, ist Beichtvater der Königin Johanna. Die Canonisationsacte weiß von ihm viele Wunder zu erzählen. Er erregt den Zorn des Königs, weil er die Beichte der Königin Johanna nicht verrathen will. Er erleidet den Tod in der Moldau 1383. Er findet sich im Kalender, |
Johann, geboren zu Pomuk, öffentlicher Notar. Domherr auf dem Wischehrad, Doctor des kanonischen Rechts, ist Generalvicar. Die Geschichte weiß von ihm keine Wunder zu erzählen. |
Die Annahme zweier Johanne hatte den Stempel unwillkürlicher Komik an sich. So gut gemeint das Büchlein war, erregte es großen Anstoß und wurde unterdrückt. Nur wenig Exemplare haben sich erhalten.
Seitdem schläft die Frage nach dem problematischen Heiligen; selbst Palacky weicht in seiner Geschichte Böhmens jeder Erörterung vorsichtig aus, der Cultus der heiligen Persönlichkeit aber wächst und steigert sich mit den Jahren, deren jedes mehr Wallfahrer herbeiführt. Der Forscher, allein unter solchen Menschenwogen, sieht alle Anstalten zur Andacht, die Lichter und Lampen und geschmückten Altäre; in sich kann er es nicht verhindern, daß solche Feste ihn zu interessanten Schlüssen führen. Er sieht ja, wie die Entstehung legendrischer und mythischer Persönlichkeiten noch bis in die letzten Jahrhunderte reicht und somit vielleicht noch immer stattfinden kann. Thatsächlich verhält es sich mit dem wahren Johann von Nepomuk und seinem legendrischen Namensbruder wie mit gewissen Helden auf dem Gebiete der Poetik. Der Dichter kann zuweilen den Helden nicht so brauchen, wie die Geschichte ihn bietet, er versetzt Jahreszahlen, ändert Motive, legt ihm Ideen unter, welche ihm wirksamer scheinen, und so kommt es, daß wir manchmal, wenn das Werk geräth, zwei Persönlichkeiten, neben der historischen eine poetische erhalten, und daß die poetische Persönlichkeit endlich die historische ganz in den Schatten drängt. So existirt neben dem poetischen Egmont ein historischer, neben dem poetischen Don Carlos und Wallenstein ein anderer geschichtlicher Don Carlos und Wallenstein, der jenem gar nicht einmal recht ähnlich sieht. Das heilige Offiz, das den in die Moldau geworfenen Mann canonisirte, war auch ein solcher Dichter, der den Helden nicht so brauchen konnte, wie er vorlag. Einen Geistlichen zu canonisiren, weil er für die Superiorität der geistlichen Macht über die weltliche eintrat, das lag nicht im Ideenkreise des verflossenen Jahrhunderts, daher mußte das Motiv ein [378] anderes werden, und so wurde die Fabel vom Beichtgeheimniß hereingezogen. Und was ist nun die Folge? Der Johann von Pomuk, der geschichtlich gelebt, keine Wunder verrichtet und noch mit zwei Andern den Tod gefunden, ist nun ganz zurückgetreten, sein Andenken erloschen, sein Name lediglich in Büchern vorhanden. Der Andere dagegen, der legendrische, ist wahrhaftig und viel im Bewußtsein der Menge lebend. Er lebt in Inschriften, Gebeten, Hymnen, Gemälden, Statuen, Anniversarien. Und wenn er auch in der Geschichte nie vorhanden war, im Kalender findet er sich unbestreitbar, und somit wohl auch im Himmel!
Hoch unsere Fahne, empor unsere herrliche Fahne:
Erkämpfen wir dem Volke, was wir können!
Waldeck als Volksvertreter.
In jeder Apotheke finden wir eine Büchse, meistens Porzellankruke, mit Adeps suillus oder Axungia porci, welche gar mannigfach in den Gebrauch gezogen wird, und deren daher auch gewöhnlich zwei, oft noch mehrere vorhanden sind. Sie enthalten, wie die lateinischen Namen besagen, Schweinefett oder Schmalz, von welchem die preußische gesetzliche Arzneimittellehre vorschreibt, daß „nur gewaschenes“ angewandt und in den Apotheken vorräthig gehalten werden soll. Sehen wir nun einstweilen von seinem Gebrauch als wirkliches Arzneimittel noch ab und wenden uns zuerst zu dem als Volksheilmittel.
Ein junger Mensch mit tiefliegenden Augen, auffallend gerötheten Backen und abgezehrten Gliedern tritt in die Apotheke und kauft Hundefett, um es als Linderungs- und hoffnungsreiches Heilmittel gegen seine Lungenkrankheit zu gebrauchen; er bekommt das Gewünschte aus der Büchse mit Adeps – und verschlingt es voll Zuversicht und Vertrauen. Neben ihm fordert ein Dienstmädchen Hasenfett, welches ihren zusammengetragenen (geschwürigen) Finger aufziehen soll; sie erhält aus der Kruke mit Axungia – und giebt gläubig ihre kärglichen Sparpfennige für Das hin, was sie in der Küche täglich vor sich hat und was sie dort selbst in Wirklichkeit sich sammeln könnte, wenn sie nicht das „präparirte“ Hasenfett der Apotheke für viel wirksamer hielte. Jenes alte Mütterchen wünscht Bärenfett zum Einreiben und Bärinnenfett zum Einnehmen; ihr muß Adeps und Axungia dienen – und mit welcher ängstlichen Sorgfalt ist sie bemüht, die beiden wichtigen Stoffe um Gottes willen nicht zu verwechseln! Selbst eine Fleischersfrau nimmt die Büchse mit Adeps in Anspruch; sie läßt Dachsfett holen – und nimmt es, mit Walrath in Bier gekocht, zum Schwitzen ein. Ein ländlicher Wunderdoctor (deren es im Geheimen noch fast allenthalben giebt und die, aus gewissen Gründen, von vielen Apothekern keineswegs ungünstig betrachtet oder gar verfolgt werden) fordert Adebar-, Hamotter-, Boar-, Katzen-, Mücken-, Murmelthier-, Tap-, Winzer-, Vipern-, Ottern- und Storchfett, um seine Tränklein, Salben etc. daraus zu bereiten. Adebar- und Storchfett, welche meistens keineswegs als ein und dasselbe gelten, muß fast regelmäßig die ländliche Wöchnerin sich einquälen, Hamotter-, Boar- und Murmelthierfett dienen als Einreibungen, bei Ausschlägen, Geschwülsten und dergleichen; Vipern- und Otternfett wird bei den heftigsten und hartnäckigsten Fiebern eingenommen, denn „Schlimm muß Schlimm vertreiben“ – freilich schlimm, bei schon furchtbar geschwächtem und angegriffenem Magen noch das widerliche, rohe Fett! Dem Manne wird dies Alles nun, je für einen Groschen sorgfältig in ein besonderes Papier geschlagen – aus dem großen Axungia-Topfe des Kellers heraufgeholt. Für alle übrigen Fälle, in denen mehrere verschiedene Fettarten verlangt werden, hilft man sich mit den beiden Schmalzbüchsen und zugleich dadurch, daß man abwechselnd bald die eine, bald die andere immer wieder in ihre Reihe setzt. Hier sehen die Büchsen ja sämmtlich ganz gleich aus und die lateinischen Namen schützen ja gar trefflich gegen jede profane, zudringliche Neugierde. Wer besäße da wohl Scharfsinn genug, um eine der Büchsen, mit der unverständlichen Bezeichnung, fest im Auge behalten und dann bestimmt behaupten zu können, daß der Apotheker aus derselben mehrere Heilmittel verabreicht habe? Wahrlich, dazu ist von Hunderten der die Apotheke besuchenden Menschen kaum einer fähig. Außerdem erinnern wir die Leser an jene hübsche – so bezeichnend lebenswahre – Anekdote: „Ein pfiffiges Bäuerlein hatte es sich doch gemerkt, daß man ihm Fuchs-, Dachs-, Katzen- und Gräfingsfett aus ein und derselben Büchse verabreicht, und machte nun entrüstetes Halloh. Allein der Apotheker wußte sich gar wohl zu helfen; in der Geschwindigkeit hatte er einen tiefen Kreuzstich mit dem Spatel in das Schmalz gemacht, und zeigte jetzt ganz gelassen dem leicht verblüfften Bauern die vier Abtheilungen – als sorgfältig gesondertes Dachs-, Fuchs-, Katzen- und Gräfingsfett.“
So finden wir das Schmalz unter mindestens zwanzig verschiedenen Namen, oder vielmehr als zwanzig durchaus verschiedenartig geglaubte Arzneimittel in den Apotheken, so wird es all- und tagtäglich, ohne Bedenken, für zwanzigfaches Geld dort verkauft. In der That, es müßte fast zu lächerlich erscheinen, wenn es nicht so entsetzlich traurig wäre, daß unsere Zeit noch solchen – gesetzlich privilegirten – Unfug dulden muß.
Dazu dienen auch noch einige ganz besondere Kunstgriffe, die wir keineswegs unbeachtet lassen dürfen. Als Krebsblut wird das Schweineschmalz mit Alcannawurzel roth gefärbt verabreicht, als Hasenfett mit Curcumäpulver gelb gefärbt, oder mit ein wenig Burgunderharz versetzt; zum Unterschiede des Gräfings- von dem Dachsfette (abgesehen von dem Schmalze auch sonst thatsächlich beides dasselbe, dem Volksglauben gegenüber aber zwei verschiedene wichtige Arzneimittel) wird das erstere mit ein wenig Oel verdünnt und dann in einem Glase verabreicht; auch giebt man, zur Abwechselung, als das eine oder andere dieser Fette zuweilen Baumöl, Leberthran und dergleichen; und endlich wird das Schweineschmalz, einfach mit wohlriechenden Oelen vermischt, als die feinste Haarpomade, je nach Belieben roth gefärbt (als „Rosenpomade“) oder weiß, verkauft.
Recht bezeichnend für allen diesen Schwindel sind einige Worte des Medicinalassessors, Sanitätsraths und Apothekers Dr. Mohr[6] in Coblenz: „Das Schweinefett macht jedes andere weiche Fett (für den Arzneigebrauch) ganz entbehrlich, und nur um dem Aberglauben des Volkes nachzugeben (ihm zu huldigen und ihn auszubeuten nämlich!), bereitet man noch hier und da Fett von Gänsen, Hasen, Pferden, Bären etc., denen lächerlicher Weise besondere Heilkräfte zugeschrieben werden (das Buch ist natürlich nur für Apotheker, Aerzte und Medicinalbeamte geschrieben). Freilich erhalten an den meisten Orten (jetzt bereits überall, ohne Ausnahme) auch jetzt schon die Landleute für diese Dinge Schweinefett aus verschiedenen Töpfen (wie offenherzig!); insbesondere dienen die ranzigen und gelblichen Fettsorten zu diesen Zwecken,“ – – – dem Brustkranken zur Heilung seiner Lunge, zur Linderung auf eine brennende Wunde, zum Schweißhervorbringen, zur Stillung der Nachwehen einer Wöchnerin etc. Probatum est!
Dieser schweren Selbstanklage des Äpothekerthums haben wir eigentlich nichts weiter hinzuzufügen; indessen müssen wir denn doch darauf ganz besonderen Nachdruck legen, daß dieser offenbare Betrug ein ganz allgemeiner und alltäglicher ist, daß er nicht etwa blos an diesem einen Gegenstande in der Apotheke, sondern an wahrhaft unzähligen verübt wird, und daß er nicht etwa allein die Gesundheit und den Geldbeutel der armen, unwissenden und unaufgeklärten, sondern auch die der sich gebildet nennenden Leute in wahrhaft erschreckender Weise gefährdet. Bemerkt sei nebenbei noch, daß man von allen diesen Fetten höchstens ein Loth für einen Silbergroschen erhält – nach welchem Verhältniß der Preis derselben, bezüglich der Gewinn dieses Schmalzverkaufs leicht zu berechnen ist. –
Ja, ja, so steht sie da, fest und unerschütterlich, die edle, uralte Kunst der Pillendrechslerei. Alle Versuche, an ihrem lang baumelnden Zopfe auch nur zu zerren, geschweige denn ihn zu stutzen, sind erfolglos, alle Angriffe prallen wirkungs- und machtlos ab an ihrem [379] stählernen Panzer Privilegium. Was sind Zeitbestrebungen, was ist Aufklärung ihr gegenüber? Auch wir beabsichtigen hiermit keineswegs an ihre „geheiligten Rechte“ uns zu wagen – denn wo es um des deutschen Michels Zipfelmütze sich handelt, da ist ja meistens jeder reformirende Versuch von vornherein ein verfehlter – allein im Interesse der großen unabsehbaren Menge leidender und von Krankheiten aller Art geplagter Menschen wollen wir es doch unternehmen, den Schleier einmal vollständig zu heben, der auf ihren unheimlichsten Mysterien ruht. Wie Herr Dr. Bock dem weiten Leserkreise der Gartenlaube gegenüber mit tapferem Arm auf dem Felde der populären Medicin Bahn gebrochen und den wahren Augiasstall von Vorurtheilen und Mißständen mit derben Strafpredigten, frei von der Leber weg, gereinigt und durch beherzigenswerthe Anordnungen beseitigt hat – so wollen auch wir es wagen, mit diesen Darlegungen die argen Finsternisse der Arzneikunde für Jedermann aufzuhellen. Wir glauben dies ohne Scheu ausführen zu dürfen, selbst auf die Gefahr hin, daß wir damit der alt-ehrwürdigen Apothekerei einen sehr empfindlichen, ja tödtlich verwundenden Stoß versetzen – – denn wenn wir den Einzelnen allerdings auch schaden, so müssen wir doch hoffen, dadurch der Allgemeinheit in einer wahrlich nicht geringen Weise zu nützen.
Zunächst müssen wir jetzt den Apothekern einige Gerechtigkeit widerfahren lassen. Selbst wenn hier und da einer von ihnen es gern versuchen wollte, den guten Bauer- und Bürgersleuten zu erklären, daß es in keiner Apotheke der Welt wirkliches Storchfett, Krebsblut etc. mehr giebt, sondern daß sie für dies Alles immer nur Schweineschmalz bekommen und theuer bezahlen müssen – so würde er hierfür vielfach gar nicht einmal Glauben bei den meisten Menschen finden. Wäre es in einer großen Stadt, so würden sie, ohne ein Wort zu verlieren, in die nächste Apotheke laufen, während sie in der kleinen bei einem solchen Versuch achselzuckend und entrüstet den erbärmlichen Apotheker verlassen würden, „der so Etwas nicht einmal hat“. Ja, derselbe wäre für seine Wahrheitsliebe und Rechtlichkeit, nächst den materiellen Verlusten, oft noch wohl obendrein groben Beleidigungen ausgesetzt, denn nach der Meinung vieler leider nur noch zu sehr beschränkter Menschen muß er eben Alles haben, was sie sich nur wünschen und sich von alten Weibern und den ärgsten, oft selbst entsetzlich dummen Betrügern einreden lassen. Auch dem wohlwollendsten und menschenfreundlichsten Apotheker dürfen wir eine solche Selbstverleugnung nimmer zutrauen – unter den jetzigen Verhältnissen bleibt ihm wirklich nichts Anderes übrig, schon „um das Vertrauen der Leute nicht zu verlieren“, als dem Geschäft mit den widerlichsten, unnatürlichen und vielfach gar nicht existirenden Dingen ruhig seinen Gang zu lassen. Und, zur Ehre des Standes, wollen wir es auch nicht verschweigen, daß in vielen Apotheken jetzt bereits das Schweineschmalz auf die unappetitlichsten und ungeheuerlichsten Benennungen, als: Hunde-, Katzen-, Mücken-, Kamm(Pferde-) Fett etc. nicht mehr verabfolgt, also diese gleichsam unanständigen Fette als nicht mehr vorhanden betrachtet werden … ’s bleiben ja doch noch immerhin fünfzehn bis sechszehn zurück, also fort mit Schaden!
An allen Gebildeten ist es nun aber, auch in den untersten Schichten der Gesellschaft mindestens so viel Licht und Aufklärung zu verbreiten, daß fernerhin Niemand mehr sein sauer erworbenes Geld fortwerfe, indem er für einen zehnfachen Betrag zehnerlei Arzneimittel einzukaufen wähnt und doch nur ein und denselben Gegenstand erhält. Aber auch alle Aufgeklärteren mögen sich hüten, daß ihnen von Hebammen, Kinderfrauen etc. nicht mancherlei derartiger, noch wahrhaft mittelalterlicher Mummenschanz in’s Haus gebracht werde, oder daß sie am Ende noch hier und da selbst Etwas kaufen, was sie in Küche und Keller ungleich wohlfeiler haben können.
Wenden wir uns jetzt dem Schweineschmalz in seiner Eigenschaft als wirkliches Arzneimittel zu. Seine hauptsächlichste Verwendung findet es zur Bereitung mannigfacher Salben. Unter diesen eine der sonderbarsten ist die Jodkaliumsalbe; sie muß nämlich mit durchaus säurefreiem (nicht ranzigem) Fette bereitet werden, sonst wird sie sogleich gelb. Und trotz vielfacher Vorbeugungsmittel, Magnesia, Natron etc., ist sie doch nur höchst schwierig rein weiß zu erhalten. Daraus erhellt aber, wie schwierig reines Schmalz vor dem Sauer- oder Ranzigwerden zu bewahren ist. Die Jodkaliumsalbe wird häufig von den Aerzten bei scrophulösen Anschwellungen und dergleichen verordnet; man muß sie dann vor Nässe, Wärme und Licht bewahren, da sie durch dies Alles leicht zersetzt wird.
Nächstdem wird das beste Schmalz zu der Darstellung der medicinischen Seife gebraucht. Diese wird aus einem Gemisch von frischem Schweineschmalz, Provencer Olivenöl mit Aetznatronlauge gekocht und dient zur Bereitung von innerlichen Arzneien, Pillen etc. Ebenfalls sehr gutes frisches Schmalz muß zu den übrigen weißen Salben genommen werden, zu Zink-, Bleiweiß-, Brechweinstein- (der sogenannten Pockensalbe), weißer Quecksilber- oder Präcipitat- und Rosensalbe, deren letztere dann wieder zur Herstellung anderer Salben dient. Schlechteres, dunkel gewordenes Schmalz wird für farbige Salbe verwandt; hierher gehören die Elemi-, rothe und graue Quecksilbersalbe, ferner das Meliloten- und einige andere Pflaster, vor allen aber die ordinäre graue Quecksilber- oder Läusesalbe, zu welcher letzteren besonders das allerschlechteste, sonst unbrauchbare, oft sogar von crepirten Thieren und dergleichen herstammende Fett verbraucht wird. Des höheren Preises wegen wird zu Salben und Pflaster auch vielfach statt des Schmalzes ein zusammengeschmolzenes Gemisch aus Oel und Talg angewandt.
Das Schmalz der im Winter oder Sommer geschlachteten Thiere ist bekanntlich von verschiedenartiger Consistenz. „Für den Gebrauch hat dieser Unterschied die Folge, daß das Sommerfett zu flüssig ist, daß die daraus bereiteten Salben in heißer Witterung fast schmelzen, daß man zur Bereitung von Pomade weißes Wachs, was ungefähr 3 bis 3½fachen Preis hat, oder Stearinsäure (gewöhnliches Stearin), die ungefähr den doppelten Werth hat, einschmelzen muß. Es ist deshalb von großem Interesse, das ganze Jahr hindurch ein gleiches festes Fett zu haben und also auch zur rechten Zeit seine Einkäufe zu machen. Das Schweinefett selbst ist nun wieder verschiedener Art, je nach dem Theile des Körpers, von dem es abstammt. Die äußere Fetthülle des Schweins, welche den ganzen Körper, besonders aber Rücken und Seiten umgiebt, ist viel leichter schmelzbar, als das im Innern des Körpers, längs den Rippen abgesetzte Fett. Letzteres oder das Lendenfett ist vorzugsweise zum pharmaceutischen Gebrauche geeignet, und man verschaffe sich deshalb vom Metzger diese langen zusammenhängenden Stücke Fett, um sie selbst auszuschmelzen. Man trennt zunächst mit einem Messer alle noch darauf haftenden rothen und fleischigen Theile, so wie auch Häute, die es bedecken, schneidet es in kleine würfelförmige Stücke, wäscht diese mit Wasser, bis es farb- und geruchlos abläuft, und setzt sie in einem verzinnten kupfernen Gefäße auf ein gelindes und etwas entferntes Kohlenfeuer. Man rührt nun das Fett um, bis es aus dem weißen und milchartigen Zustande vollkommen klar und durchsichtig geworden ist, was die Entfernung des zwischengelagerten Wassers anzeigt. Nun lasse man es durch ausgespannte dichte Leinewand laufen, und rühre es so lange um, bis es weiß und undurchsichtig geworden ist. Dies kann entweder in den steinernen Töpfen selbst geschehen, in denen es aufbewahrt werden soll, oder in einer großen Schüssel, aus der man es, noch eben flüssig genug, in die steinernen Gefäße eingießt und hierin ganz erstarren läßt. Ohne dies entstehen durch die Zusammenziehung des Fettes beim Erstarren (Dickwerden) Spalten, welche der Luft reichlichen Zutritt in’s Innere gestatten, und dadurch das Ranzigwerden begünstigen. Wollte man bis zum völligen Erstarren rühren, so würde man eine noch größere Menge Luft einrühren, die nun nicht mehr entweichen könnte, und das Uebel dadurch noch vergrößern. Man muß deshalb zur rechten Zeit mit dem Rühren aufhören, damit das Fett noch Beweglichkeit der Theile genug besitze, um sich dicht, ohne Zwischenlagerung von Luft, ausgießen zu lassen. Ohne diese Vorsicht scheidet sich auf der Oberfläche eine Menge ölartiges Fett aus, welches dem Ranzigwerden sehr unterworfen ist, und durch dessen Ausscheidung die Consistenz des Fettes ungleich wird.“
Diese vortreffliche Zubereitungs- und Conservirungsmethode des Schweineschmalzes, aus dem Commentar zur preußischen Pharmakopoe von Dr. Friedrich Mohr, glaubten wir den Lesern nicht vorenthalten zu dürfen; einmal für Diejenigen, welche etwa in der Lage sind, große Schmalzvorräthe an Apotheker und Droguisten verwerthen zu können, dann für alle Die, welche diese oder jene Salben der Apotheke sich selbst herzustellen vermögen, und schließlich für die Hausfrauen, denen vielleicht daran gelegen ist, eine Menge reinen Schmalzes, ohne Salz, Zwiebeln etc. aufzubewahren. Für den Handel wird das Schmalz meistens in sorgfältig [380] gereinigte und vorher völlig ausgetrocknete große Blasen gefüllt, in denen es sich festgebunden vortrefflich hält und weithin verschickt werden kann.
Schließlich sei noch daran erinnert, daß jegliche Salbe, besonders bei längerem Gebrauch, durch sorgsames Aufbewahren vor dem Ranzigwerden zu behüten ist, wenn sie nicht ihre Wirksamkeit verlieren oder gar schädlich werden soll. Auch in Betreff der Haarpomade ist dies wohl zu beachten; ihr gegenüber ist Reinlichkeit und Sauberkeit, stets sorgfältiges Verschließen und gegen Nässe und Hitze Bewahren um so mehr zu empfehlen, da in ihrer Verderbniß das sonst unerklärliche Haarausgehen ganz gesunder und kräftiger Frauen wohl nur zu oft begründet sein mag.
Tiefer Schnee war gefallen. So weit das Auge reichte, schimmerte die weiße unabsehbare Ebene im hellen Sonnenschein, als wäre sie mit Sternen und blitzendem Edelgestein besät; an den spärlichen kahlen Sträuchern hatten statt der Blätter sich zierliche Büschel und Träubchen von Reifflocken angesetzt, und ein schneidend kalter Ostwind, der von Zeit zu Zeit über die Fläche strich, hob den leichten Schnee, wirbelte ihn lustig mit und ließ ihn, des Spieles müde, am Fuß einer kleinen Erhöhung oder im Graben der Landstraße liegen, die sich, kaum mehr erkennbar, durch die Ebene zog. Nichts Lebendiges regte sich rings, und weit und breit war auch keine Spur menschlicher Nähe oder Thätigkeit zu erspähen. Nach einer Seite stand ein Büschel schwarzer Tannen bei einander und senkte die schneebelasteten Zweige wie müde Arme zu Boden; dort begann die Straße bergan in den Wald zu steigen, eine schwierige und unbequeme Strecke, welche dem schweren Frachtfuhrwerk in guter Jahreszeit viele Mühe machte; jetzt war sie beinahe unbefahren, denn im Winter rastete auch der Verkehr. Im Sommer hielten die Fuhrleute gerne davor, um ihr Gespann zum Hinansteigen Kraft sammeln zu lassen oder ihm Erholung zu gönnen, wenn es über dieselbe herabgekommen war, um etwaige Schäden an Wagen und Geschirr zu entdecken oder, wenn sie sich gezeigt hatten, auszubessern. Deshalb stand am Eingange des Waldes ein gemauertes Haus, dessen rußige Wände ebensowohl, als die halboffene Halle vor demselben seine Bestimmung unschwer errathen ließen. Es war eine Art Nothschmiede, dem Schmiede eines benachbarten Dorfes gehörig, der sie den Sommer über bezog, um den Fuhrleuten bei etwaigen Ausbesserungen zur Hand zu sein, auch wohl den Pferden Futter und Wasser, den vor Hitze trockenen Kehlen der Fuhrleute selbst aber einen Krug frischen Bieres bieten zu können. Deshalb lagen in dem Kohlenkeller unter der Schmiede immer ein paar Fäßchen im Vorrath, und das Gewölbe war kühl, denn es war tief in den ansteigenden Sandsteingrund des Waldhügels eingegraben. Mit dem Schneefall hörten die Frachtfuhren auf; dann sperrte der Schmied das Haus und zog sich ins wohnlichere Dorf zurück.
Diesmal aber schien das Gebäude doch nicht völlig verlassen zu sein, denn aus dem niedrigen Schlot stieg eine dünne Rauchsäule und verflatterte über den Tannenwipfeln wie ein zerreißender Schleier. Unter den Bäumen erschien jetzt ein Mann, die Pelzmütze tief ins Gesicht herein gezogen, die Beine mit hohen weichen Lederstiefeln versehen, den Leib in ein tuchenes Wamms gehüllt, das mit krausem Pelz verbrämt, mit schmalen länglichen Knöpfen besetzt und mit Schnüren zusammengehalten war. Der Ledergurt um den Leib und das seitwärts in der Hose steckende Messerbesteck ließen den wandernden Metzger nicht verkennen, der, um den Bauern die Mühe zu ersparen, „ins Gäu“ geht, Vieh einzukaufen.
„Verflucht!“ murrte der Mann vor sich hin, indem er nach allen Seiten herumspähte, „nirgends ist was von Soldaten zu sehen – ich hab’ ihnen doch die Schmiede vorm Wald deutlich genug bezeichnet, sie können nicht fehlen … aber wenn sie nicht bald kommen, fliegt der Vogel wieder aus … Will aber noch zuvor nach dem andern Vogel umschauen, ob er sich noch nicht an den Käfig gewöhnt hat ….“ Mit kräftiger Faust riß er dann einen der nächsten niedrigen Tannenzweige herab und schritt längs des Waldes der Schmiede zu, bei jedem Schritte anhaltend und hinter sich die Spur seiner Fußtritte mit dem Tannenzweige sorgsam wieder ausgleichend. An der Rückseite des Hauses angelangt, hielt er erst inne und horchte, ob nichts im Hause sich rege, dann, als Alles stille geblieben, zog er ein stiletartiges Messer aus dem Besteck und schob die Spitze in das Thürschloß, das seinem kräftigen Druck nicht viel Widerstand leistete. Die Thüre führte unmittelbar in die Stube, ein kleines, ärmliches Gemach, in welchem nichts zurückgeblieben, als was niet- und nagelfest war, die in die Wand eingelassene Bank und der am Fußboden angeschraubte Tisch, ein kleiner Mauerschrank und ein schlechter Ofen, durch dessen Ritzen der letzte Schimmer erlöschender Holzscheite zu sehen war. Eine Thüre nebenan führte in die Schmiede, eine Fallthüre im Boden in den Kohlenkeller.
Der Mann schob den Riegel derselben zurück, hob die schweren Breter auf und hängte sie an einem Ringe fest, dann stieg er in den dunklen Raum hinab, dessen Wände, Stufen und Boden von Kohlenruß überzogen waren. Das Auge des Eintretenden mußte sich erst an das Dunkel gewöhnen, eh’ es etwas zu unterscheiden vermochte. In der Ecke auf einem Strohlager, in eine starke Decke gehüllt, kauerte eine weibliche Gestalt, in deren Zügen und Formen die einst so schöne Wirthstochter vom Waldhaus kaum wieder zu erkennen war. Unbeweglich und wie geistesabwesend saß sie auf dem Lager und schien den Kommenden ebenso wenig zu bemerken, als das durch die Fallthüre plötzlich hereindämmernde Tageslicht.
„Da bin ich wieder,“ sagte der Rothe, „bin ich nicht bald zurück ?“
Sie wandte sich noch mehr ab, gegen die Wand hin und gab keine Antwort; die schielenden Augen des Rothen glühten wie die einer Katze im Dunkeln.
„Da bin ich wieder!“ schrie er noch einmal, „hast noch alleweil kein Wort für mich? Wart’, ich will Dich lehren, mir Antwort zu geben!“ Damit sprang er auf sie zu, wollte sie an den Schultern fassen und aufrütteln, aber eh’ er dazu kam, hatte sie sich erhoben und ihm einen so derben Stoß vor die Brust gegeben, daß er einen Schritt rückwärts taumelte.
„Ich hab’ nichts zu reden mit Dir,“ rief sie, „laß mich zuerst aus – nachher will ich Dir Red’ und Antwort geben, wie sich’s gehört!“
„Auslassen?“ erwiederte er höhnisch. „Ich bin kein solcher Narr! Auslassen soll ich Dich? damit Du Deinem Hiesel nachlaufen könntest, dem rechtschaffenen Manne, wegen dem Du ein anderes Leben hast anfangen wollen? Nein, dafür ist gesorgt für alle Zeit – den Hiesel kriegst Du nimmer zu Gesicht und aus meiner Hand kommst auch nimmer los!“
„Aber wo ist der Hiesel? Wie ist es mit ihm? Was hast im Sinn mit mir?“
„Wo der Hiesel ist, geht Dich nichts an … aber was ich mit Dir im Sinn hab’, das kannst erfahren. Heut noch, längstens morgen ist mein Geschäft aus in dem Land, dann bin ich ein reicher Mann … dann geh’ ich in ein anderes Land, in die Schweiz, wo mich Niemand kennt, und fang’ einen Viehhandel an … und Du gehst mit mir und bleibst bei mir!“
„Lebendig nit!“
„O, das wollen wir schon sehen! Du bist nit die Erste, die sich schon in was viel Schlimmres hat finden müssen! Warum willst nit? Ist ein Viehhandel nicht auch ein Brod, bei dem Einer ein rechtschaffener Mensch sein kann, und einen solchen willst Du ja! Ich mein’ doch, es wär’ besser als ein Räuberhauptmann, dem die Steckbrief’ nachfliegen durchs ganze Land, auf den nichts wart’ als Galgen und Rad! Wirst Dich schon besinnen, Kundl!“
[381]
[382] „Niemals … lieber als Dich, lieber nehm’ ich selber … Galgen und Rad …“
„Aha,“ rief er mit wüstem Lachen, „giebst sie jetzt einmal auf, die Rederei mit dem Rechtschaffenwerden? Gestehst es ein, daß es was Anderes ist, warum Du von mir nichts wissen willst? Und ich sollt’ Dich auslassen? Ich sollt’ dem übermüthigen Menschen noch helfen, der mich überall verdruckt und verdrängt hat, der mich fortgejagt hat wie einen Aussätzigen? Nein, Schatz … er ist mir gewiß und Du bist es auch … wirst sehen, daß der Rothe doch über den bairischen Hiesel in die Höh’ kommt …“
„Du wirst nit, Rother,“ sagte sie feierlich, „Du wirst nit – denk’ an mich! Du hast mich betrogen und verrathen – das bleibt Dir nit geschenkt! Ich Narr,“ fuhr sie, sich vor die Stirn schlagend, fort, „wie hab’ ich nur so dumm und blind sein können, Dir zu glauben! Ich hab’s nit gewußt, daß er Dich fortgejagt hat, aber ich hätt’s denken können, daß er einen solchen Menschen unter seinen Leuten nit leiden wird!“
„Einen solchen Menschen?“ knirschte der Rotbe. „Und was bin ich denn für ein Mensch? Bin ich etwa schlechter als gewisse Leut? … Er hat mich nit leiden wollen unter seinen Leuten .. dafür hab’ ich ihm Dich gestohlen und Du sollst mich leiden müssen, Dir und ihm zum Trotz! Richt’ Dich nur zusammen, Kundl … gegen Abend komm’ ich nochmal und morgen in aller Früh geht’s fort, in die Schweiz, mit dem vollen Geldsack und mit Dir! … Ich laß Dir Licht da, eine Flasche Wein, Brod und ein wenig Fleisch … laß Dir die Zeit nit zu lang werden! Wenn ich wieder komm’, bleib’ ich schon länger bei Dir, wie sich’s für den Buben schickt, der zu sein’m Schatz geht … wirst schon noch aus einem andern Ton pfeifen, wenn Du siehst, daß Dir doch nichts Anderes übrig bleibt!“
Er ging; unsäglicher Abscheu malte sich in Kundel’s verblichenen Zügen; die Fallthür schloß sich. Die alte Dunkelheit kehrte in den Keller zurück, aber in der Seele der Gefangenen war es licht. Das Gewissen war wach geworden und hatte zu ihr gesprochen in der Einsamkeit, immer lauter, immer dringender, ernst, unerbittlich und unentrinnbar; es hatte den Entschluß aus dem Waldhause wieder aus Schlaf und Betäubung geweckt, – er stand wieder fest vor ihrer Seele, diesmal aber gereinigt und ohne die Beimischung eigennütziger Absicht, deren Erreichung früher gewissermaßen als Preis und Lohn der Besserung bedungen worden. Der Weg zur Läuterung hatte sie noch tiefer in den Sumpf gerathen lassen, aber in der höchsten Noth hatte sie unter den versinkenden Füßen festen Boden erspürt, der ihr ein sicherer Pfad zu werden verhieß … sie hatte keine Thränen der Reue in den glühenden Augen, aber ein Gebet aus schuldloser Kinderzeit tauchte wie ein Stern in ihrer Seele empor, von ihm sank es herab auf ihre dürstenden Lippen wie ein Thautropfen auf die verschmachtende Pflanze, und in schwerer Abspannung entschlummernd flüsterte sie:
„Schutzengel, den mir Gott vermeint,
Bewahr’ mich vor dem bösen Feind …“
… Indessen war Hiesel nur eine kleine Strecke entfernt, jenseits des Waldes, am Fuße des Berges, in einem Wirthshause, dessen Eigenthümer zu den Vertrauten gehörte, welche auch im Unglück dem Verfolgten mindestens einen Theil der alten Anhänglichkeit bewahrt hatten. In der Stube, am Ofen saß Hiesel mit dem Rest seiner Genossen, einer von Mangel, Verfolgung und Abfall schon sehr gelichteten Schaar; nur der Tiroler und der Lissabonerbäck waren noch bei ihm, während der Sternputzer mit dem Blauen und dem Sattler vor dem Hause von Zeit zu Zeit Spähe hielt oder der Küche und den Vorbereitungen des kommenden Mittagmahls einen Besuch abstattete. Sonst war die Stube leer; zu den Fenstern, handhoch aufgeweht, sah der Schnee herein und manchmal rüttelte der Wind an den Läden des Fensters, das sich unweit des Ofens, im Rücken der Anwesenden befand.
Lange hatte Hiesel die Ausführung des Entschlusses mit sich herumgetragen, den er damals gefaßt, als er an der Leiche des Soldaten den Morgen herangewacht hatte, als in den nächtlichen Stunden alle die verhängnißvollen Erlebnisse jenes Tages an seiner Seele vorübergezogen, der Abfall des Volks, der Verlust von Allem, was ihm mit besonderer Treue angehört und woran sein eigenes Herz mit noch steterer Treue gehangen hatte. Es war ihm klar geworden, die Rolle des Wildschützen-Hauptmanns, der ein mißhandeltes Volk gegen den Rechtsmißbrauch einer übermüthigen Macht zu vertheidigen gewähnt, war zu Ende gespielt – er war sich bewußt, sie wohl durchgeführt zu haben, und es galt nur, den Schauplatz mit Ehre, wie er ihn behauptet, auch zu verlassen. Studele’s Entfernung und der Tod des Musketiers hatten den Gedanken in ihm hervorgerufen, auch den Soldatenrock anzuziehn; verlautete es doch immer allgemeiner und bestimmter, daß der preußische Fritz mit Rußland im Bunde sei und einen großen Zug nach Polen vorbereite. Dort wollte er vergessen werden von einem Volke, das ihn mit Undank gelohnt, dort wollte er selber vergessen lernen, daß er sein Leben und dessen Glück an einen Irrthum vergeudet hatte. Die Ausführung des Vorhabens hatte er noch immer verschoben; er hielt es gegen seine Pflicht als Hauptmann, die Gefährten, die sich ihm angeschlossen und deren Unterhalt ihm oblag, vorzeitig und nur um seiner selbst willen zu verlassen; auch lag ihm daran, über Kundel’s unbegreifliches Verschwinden bestimmte Nachricht zu erhalten. Die Vermuthung, daß sie, des Räuberlebens überdrüssig, wieder zu ihrem Vetter in’s Waldhaus zurückgekehrt sein möge, lag nahe; er wollte Gewißheit darüber haben und hatte deshalb den Tiroler abgeschickt, Erkundigung einzuziehn. Dieser war zurückgekehrt und hatte eben seinen Bericht beendet. Der treue Bursche war allen Spuren gefolgt, aber außer Stande gewesen, etwas Bestimmtes zu erfahren; in’s Waldhaus war sie nicht wieder zurückgekommen. In einem Dorfe war ihm gesagt worden, die Kramer-Kundl war eines Tags krank angekommen und einige Wochen schwer nieder gelegen; darüber mochte sie die Spur der Bande verloren haben, der sie doch der Sicherheit wegen keine Nachricht zukommen lassen konnte; dann war ein Mann gekommen, bei dessen Anblick sie sehr erfreut gewesen und den sie als einen alten Bekannten begrüßt habe – mit dem habe sie das Dorf vor einiger Zeit verlassen und seither sei jede Spur von ihr verschwunden; es sei zweifellos, daß sie entweder verunglückt oder aus dem Lande fortgezogen sei, oder daß sie sich wohl gar absichtlich irgendwo verborgen habe und nicht gefunden werden wolle.
Hiesel vernahm die Nachricht mit Trauer und doch ohne Schmerz: hatte sie freiwillig sich von ihm getrennt, so war er von jeder drückenden Rücksicht entledigt, und war sie gestorben, so mußte es als eine Wohlthat für Beide erscheinen, wenn ein Leben hinter ihr lag, dessen Zukunft noch dunkler zu werden drohte, als seine Vergangenheit es gewesen. Die letzte äußere Fessel, die ihn noch mit seinen bisherigen Kreisen zusammengehalten, war gebrochen; er zögerte nicht länger, den ihm noch gebliebenen Genossen seinen Plan mitzutheilen.
„Ich gehe mit Dir,“ sagte der Lissabonerbäck, „Polen hab’ ich noch nicht durchwandert – ich will es unter der Muskete thun, das wird nicht schlimmer sein, als das Felleisen auf dem Rücken zu tragen – hoffentlich werd’ ich den Werbern noch gut genug sein für Kanonenfutter!“
„Auch ich gehe mit!“ rief der Tiroler nach einigem Nachsinnen. „Schon auf dem ganzen Weg hierher hab’ ich mir’s bedacht, daß es so nicht mehr fortgehn kann und daß wir etwas thun müssen, wenn wir uns nicht einkreisen lassen wollen wie das Wild bei einem Treibjagen. Ich hab’s gesehen, wie man von allen Seiten nach uns auf der Pass’ ist! Wir müssen fort und der Weg nach Ulm ist der rechte Weg, Hiesel … so sag’ ich und so werden auch, von wo ich herkomm’, Alle sagen …“
„Von wo Du herkommst?“ fragte Hiesel staunend. „Wo ist das?“
„Das kannst Dir wohl denken,“ war die Antwort, „wie Du mich in’s Waldhaus geschickt hast, hab’ ich Dir’s im Gesicht angesehn, daß Du mich gern noch anderswohin schicken möchtest … ich hab’ gewußt, daß dort in der Gegend herum Deine Heimath ist, da hab’ ich sie halt aufgesucht und bin hin’gangen …“
„Du bist in Kissing gewesen?“ rief Hiesel in steigender Bewegung. „In mein’ elterlichen Haus? Hast meinen Vater gesehen?“
„Ja.“
„Und wie … geht’s ihm?“ fragte Hiesel und drückte die Hände vor die Augen.
„Das kannst Dir auch wohl vorstellen … es ist ein gar altes Mann’l, schon völlig blind … die Schwester zankt über ihn und sagt, er weint den ganzen Tag…“
„Der Schwester freilich wird kein Aug’ naß wegen meiner!“
[383] „Hast Recht, das ist ein trutziges Leut! Sie hat mir den Steckbrief gezeigt, der gegen uns aus’gangen ist: wenn ich ein Camerad wär’ von dem Räuberhauptmann, sagte sie, so richt’ es ihm fein aus, daß er uns Alle in Schand und Spott gebracht hat, daß er den Vater und mich und alle Drei auf dem Gewissen hat!“
„Alle Drei? Wie ist das gemeint?“
„Sie hat so gesagt, weil noch ein Drittes in der Stuben war – ein andres Madel …“
Hiesel faßte den Erzähler am Arm und sah ihm in starrer Erwartung, den Athem anhaltend, in die Augen. „Wer?“ preßte er dann heraus. „Kannst mir nit sagen, wie das Madel heißt?“
„Das wohl, sie hat mir’s ja selber gesagt. Sie war ganz schwarz angezogen und ist vor mich hingestanden und hat mich gar eigen angeschaut mit ihren großmächtigen blauen Augen. ‚Wenn Du den Hiesel siehst,‘ hat sie gesagt, ‚so sag’ ihm’s auch, daß er an mich denken soll – die Monika hat ihn nit vergessen …‘“
„Monika?“ rief Hiesel aufspringend mit solcher Gewalt des Ausdrucks, daß auch die Gefährten sich erhoben. Keiner von ihnen wurde darüber den Kopf des Rothen gewahr, der lauschend am Fenster sichtbar geworden, bei der ersten Bewegung der Sprechenden aber verschwunden war.
Hiesel hatte sich an die Brust des Tirolers geworfen. „Freund … Camerad, Bruder,“ rief er wie außer sich, „sag’ mir’s noch einmal! Die Monika war bei meinen Leuten? Sie denkt noch an mich? Sie ist nit verheirathet?“
„Davon hab’ ich nichts gehört. Beim Fortgehn ist die Schwester mit hinaus; die hat mir gesagt, das Madel hätt’ eine Verlobniß gemacht, daß sie ledig bleiben wollt’! Sie thut still ihre Arbeit und ist fleißig für zwei – jeden freien Augenblick aber benutzt sie zum Beten, sie hat ein gar schweres Anliegen auf dem Herzen. … Sie ist immerfort schwarz angezogen, wie wenn sie mit der Klag’ ging, und sieht aus, als wenn sie nie einen Tropfen Blut im Gesicht gehabt hätt’. Die Schwester meint, es sei nimmer ganz richtig mit ihr … in ihrem Kopf …“
Hiesel hatte zu lange und zu fest an dem Gedanken festgehalten, daß Monika sich über die Trennung von ihm leicht getröstet und ihn vergessen habe, als daß diese Nachricht ihn nicht auf’s Tiefste erschüttern sollte. Fassungslos, wie Einer, in dessen Händen der letzte Stab zerbricht, auf den er sich mit trotzigem Vertrauen gestützt, brach er in sich zusammen; wieder lag er, wie damals im Vaterhause, die Arme auf den Tisch gekreuzt und das Angesicht in ihnen bergend, wieder war sein Gemüth zerknirscht und weich, wie damals bei den Worten des redlichen Pfarrers und gegenüber den vorwurfsvollen halberblindeten Augen des Vaters.
„Cameraden,“ sagte er, nach geraumer Zeit sich entschlossen aufrichtend, „es bleibt dabei, wir gehen nach Ulm und suchen die preußischen Werber auf … aber nicht sogleich! Geht Ihr voran – ich muß zuvor noch einmal in meine Heimath, muß meinen Vater noch einmal wieder sehen und die Monika, muß sie trösten und von ihnen Abschied nehmen …“
„Nein, Hiesel, das geht nit an!“ unterbrach ihn der Tiroler. „Das wär’ allzugefährlich. Ich hab’s auf meiner Wanderschaft jetzt gesehen, wie sie von allen Seiten nach Dir aus sind, Du bist zu bekannt – eh’ Du nach Kissing kommst, bist Du zehnmal gefangen!“
„Das fürcht’ ich nit … dort ist Niemand, der mich verrath’t, und einmal wird mir ja mein altes Glück noch beistehn, daß ich mich durchschleichen kann! Ich will schon machen, daß sie mich nit kennen … Ich muß hin, Cameraden; also halt’s mich nit auf – ich mach’ mich gleich auf den Weg …“
„So wart’ doch nur, Hiesel!“ rief der Tiroler, ihn festhaltend. „Es geht schon stark auf Mittag, wo willst heut noch hinkommen?“
„Der Wirth muß mir ein Fuhrwerk besorgen,“ entgegnete Hiesel, „so komm’ ich heute noch bis Osterzell und morgen nach Haus … B’hüt Gott, Cameraden … in Ulm sehn wir uns wieder?“
„Nein,“ begann der Tiroler wieder, „wenn Du’s denn durchaus willst, so geh’, aber nicht allein, Du begiebst Dich in eine große Gefahr – da soll’s nit heißen, daß wir Dich allein gelassen haben … wir gehn mit Dir!“
„Das geht nit … gerade wenn unser mehrere beisammen wären, könnt’s verdächtiger werden …“
„Dann begleiten wir Dich nach Osterzell und bleiben dort, bis Du zurück kommst – da sind wir doch für alle Fälle nicht gar zu weit weg, das darfst uns nit verweigern, Hiesel …“
Hiesel reichte ihnen die Hand; sie gingen, den Wirth zu bereden, der bereitwillig das Fuhrwerk zu besorgen versprach und dem Knechte zurief, er solle die Füchse anschirren und den langen Schlitten aus dem Schuppen ziehn.
Während der Knecht damit beschäftigt war, ging ein Gäumetzger an ihm vorüber und blieb wie zufällig stehn. „Wo geht das Fuhrwerk hin, Landsmann?“ fragte er unbefangen. „Könnte man vielleicht mitkommen?“
„Nach Osterzell,“ erwiderte arglos der Knecht, „wird auch schon besetzt sein …“
„Thät’ mir auch nichts nützen … mein Weg geht da hinaus,“ sagte der Metzger und schritt in entgegengesetzter Richtung weiter. Hinter dem nächsten Hause aber blieb er stehn, bis der Schlitten bespannt war und mit Hiesel und seinen Gefährten pfeilschnell über die gehärtete Schneebabn dahinflog. „Fahrt nur zu,“ rief er ihnen nach. während der Fuhrmann lustig mit der Peitsche knallte und das Schellengeklingel sich schon in der Ferne verlor, „hast einen tüchtigen Vorsprung, Hiesel, wie allemal … aber ich hol’ Dich doch noch ein!“
Mit raschen Schritten eilte er die einsame Waldstraße hinan, der verlassenen Schmiede zu, und blickte, dort angekommen, scharf spähend über die winterliche Ebene hin. „Dort!“ rief er plötzlich in wilder Freude. „Was blitzt dort über den Schnee herauf … Eins, Zwei, Drei! Sie sind’s – es sind Soldaten – sie haben meine Botschaft also doch erhalten und kommen just zur rechten Zeit! Halloh!“ rief er und schwenkte wie grüßend die Mütze, „jetzt hat meine glückliche Stund’ geschlagen!“ Er eilte in die Stube, leerte den Wandschrank und machte sich daran, allerlei kleine Habseligkeiten in einen Bündel zu packen, wie Einer, der einen Ort verläßt, an den er nimmer wieder zu kehren gedenkt.
Er war noch vollauf beschäftigt, als Faustschläge an das Thor der Schmiede krachten und das Klirren niedergestoßener Gewehre hörbar wurde. Er öffnete und einige stattliche Grenadiere traten mit dem Anführer des Detachements in die Stube.
„Ist Er’s “ rief ihn der Lieutenant an, „der versprochen hat, den bairischen Hiesel auszukundschaften und uns zu überliefern?“
„Der bin ich,“ sagte der Rothe keck.
„Gut. Vorwärts dann! Wo ist der Versteck der Räuber? Führ’ Er uns hin!“
„Oho,“ erwiderte der Rothe mit häßlichem Lachen, „so geschwind wird das nicht gehn! Zuvor sind da ein paar Kleinigkeiten, die abgemacht werden müssen … Wie sieht es mit den tausend Gulden aus, die Demjenigen versprochen sind, der den bairischen Hiesel ausliefert?“
„Die soll Er haben – aber nur vorwärts!“
„Soll sie haben! Ist leicht gesagt … aber wann und wo? Das muß ich vorher wissen: ich mag nicht etwa nach Dillingen oder Augsburg hineingehen, und bei dem Köder stecken bleiben, wie die Maus in der Falle! Und wenn es vorbei ist, kann ich auch nicht mehr in der Nähe bleiben, der Hiesel hat noch immer gar viele Freunde – ich muß auf der Stelle fort!“
„Gut.“ rief ungeduldig der Lieutenant. „In dem Augenblick. wo Hiesel sich wirklich in unserer Gewalt befindet, zahl ich Ihm die tausend Gulden aus – ich habe sie zu diesem Zwecke in vollwichtigen Ducaten bei mir …“
„Schön – dann fehlt nur noch Eins …“ begann der Rothe wieder, den Officier und seine stattlichen Gefährten mit noch immer mißtrauischen Blicken musternd. „Wenn ich mitgehe und die Herrn führe … wer steht mir dafür, daß Sie nicht denken, … weil ich so gut Bescheid weiß um die Bande, ich könnt’ auch dabei gewesen sein, und behalten mich mit den Andern?“
„Es soll Ihm nichts zu Leid geschehn,“ rief der Lieutenant, „ich habe Vollmacht, Ihm General-Pardon zu geben für Alles, was er gethan hat, bis zum heutigen Tag’ – dafür bürgt Ihm mein Wort als Officier … ich bin der Grenadier-Lieutenant Schedel … Nun werden Seine Bedenken wohl zu Ende sein? Wo finden wir den Hauptmann?“
„Wenn Sie um ein Stündchen früher gekommen wären, hätten Sie ihn schon in Ihrer Gewalt … jetzt wird’s einen weitern Weg kosten und nicht so leicht abgehen. Lassen Sie Ihre Grenadiere den Weg am Walde hinab einschlagen: der Hiesel ist [384] in Osterzell und bleibt dort im Wirthshause über Nacht … er ist hingefahren, aber auf dem kürzern Weg, den ich Ihnen zeigen kann, sind wir vor Tagesanbruch lang schon dort und können das ganze Nest im Schlaf ausheben …“
„Ein tüchtiger Marsch!“ rief der Lieutenant. „Wie ich die Entfernung kenne, werden wir, zumal bei dem vielen Schnee, tüchtig auftreten müssen … also vorwärts! Er geht immer vor mir her, und wie ich etwa Unrath merke, laß’ ich Ihn auf dem Fleck fusiliren …“
„Darauf will ichs wagen,“ grinste der Rothe, „aber gehen Sie nur voran, Herr Officier … in einer Minute komm’ ich nach, muß nur erst noch ein wenig aufräumen und meinem Weibe sagen, wann ich wieder komme …“
Die Soldaten gingen und bald waren ihre Tritte verhallt. Der Rothe bückte sich zu der Fallthüre nieder, schob den Riegel zurück und wollte sie eben aufheben, als mit einmal die schwere Thüre, mit Gewalt emporgeschleudert, aufflog … Kundel stürzte heraus und mit Blitzesschnelle dem Ausgange zu. Eben so rasch aber hatte der Rothe nachspringend sie gepackt und zurückgerissen. „Oho,“ rief er, „was soll das bedeuten? Du hast wohl in dem Keller unten gehört, was da verhandelt worden ist, und willst wohl fort, Deinen alten Schatz zu warnen, damit ihm nicht geschieht, was einem so rechtschaffenen Mann gehört? … Bist eine gute Wirthin, Kundel – diesmal aber hast Du die Rechnung doch falsch gemacht … Hinunter wieder in den Keller! Da bleibst Du, bis ich morgen wieder komme … bis dahin ist der Hiesel schon, wo er hin soll, und dann gehst Du mit mir…“
Kundel antwortete nichts; sie vermochte es nicht vor Aufregung und wand sich nur mit Anstrengung all’ ihrer Kräfte, um sich aus seinen sie umklammernden Armen zu befreien; er hielt sie um den Leib gefaßt und suchte sie mit vorgestemmtem Knie nach der Kellerthüre hinzudrängen – einige Augenblicke war nur das Keuchen der Ringenden vernehmbar; es war ein grimmiger Kampf roher Bosheit mit verzweifelter Ohnmacht. Kundel hielt den Gegner mit der einen Hand an einem der Schnürknöpfe des Wammses gefaßt, mit der andern suchte sie an dessen Kehle zu gelangen … im Moment aber besann sie sich anders und machte eine Bewegung, das Stilet in seinem Besteck zu erfassen; der Rothe durchschaute ihre Absicht und kam ihr zuvor … im Augenblick blinkte das Dolchmesser in seiner Hand. Sie fiel ihm in den Arm und wollte es ihm entreißen … wüthender noch wurde der Kampf, … „Ich laß’ Dich nit,“ keuchte Kundel, „… Du sollst ihn nit verrathen … ich will ihn retten oder sterben …“
Es war nicht zu unterscheiden, wie es eigentlich so gekommen … im nächsten Augenblick war das Messer in Kundel’s Brust gedrungen; mit einem schwachen Schrei brach sie zusammen, hielt sich aber im Sinken noch stärker und krampfhafter an dem Wamms ihres Mörders fest … da brach der Knopf, die Berschnürung riß, blutüberströmt, regungslos, stürzte sie zu Boden …
„So ist Eins von den Zweien, was Du gewollt hast, doch wahr ’worden,“ sagte der Rothe indem er zurücktrat und sie einen Augenblick mit scheuen Blicken betrachtete … „Ich hab’s anders im Sinn gehabt – aber Du hast es selber nit anders haben wollen…“
Ein Lehrer in einem reußischen Dorfe hat in seiner Schule eine Sparcasse errichtet. Jeden Pfennig, den eines seiner Schulkinder ihm bringt, legt er für dasselbe zurück; jedes Kind führt selbst über seine Einlagen Buch.
Was bezweckt wohl dieser Lehrer mit einer solchen Einrichtung, durch welche er seine schulamtlichen Arbeiten freiwillig vermehrt? Sollte er ein Erziehungs- und Bildungsmittel in diesem Pfennigsammeln gefunden haben?
Ohne Zweifel! Und betrachten wir die Sache ein wenig näher, so sehen wir aus der Gewöhnung des Kindes an Sparen eine ganze Quelle heilsamer Folgen hervorkommen. Die Anregung zu dieser Betrachtung aber verdanken wir einem einfachen Arbeiter, der, selbst ein gewissenhafter Sparer, den Einfluß des Sparens auf die Charakterentwickelung des Kindes und dadurch auf die Verbesserung der menschlichen Gesellschaft erkannt hat und eben deshalb schon lange mit dem Gedanken umgeht, die Gründung von allgemeinen Kinder-Sparcassen zu veranlassen, damit die Wirksamkeit dieser Segensquelle immer weiter über das deutsche Vaterland sich verbreite. Die mündliche Erklärung, die uns Herr Wilhelm Wahl, Maurerpolier in Leipzig, darüber gab, bringen wir hiermit in die Oeffentlichkeit und möchten sie vor Allen den Herren Lehrern ans Herz legen, die zunächst die Gelegenheit haben, den heilsamen Gedanken zur That werden zu lassen.
Nach der Ansicht des Herrn Wahl muß das Sparen des Kindes in der Wiege beginnen. So lange das Kind dazu noch nicht selbst fähig ist, müssen die Angehörigen es besorgen; sobald das Kind die Schule betritt, beginnt seine Selbstthätigkeit im Sparen.
Ein äußerer Zwang darf jedoch dabei nicht stattfinden. Der Trieb dazu muß ein innerer sein, dieser wird jedoch durch das Zusammenleben der Kinder in der Schule, ist er vom Lehrer angeregt und anfangs auch vielleicht nur von wenigen Eltern und Kindern erfaßt, bald genug so mächtig wirken, daß der Besitz eines Sparbüchleins nicht als bloßes Glück des Besitzes, sondern als eine Ehre erscheinen wird, welcher selbst das ärmste Kind theilhaftig sein will. Einsichtige Eltern halten wohl überall ihre Kinder zum Sparen an, und es bestehen Kinder-Sparbüchsen in jeder guten Familie. Niemand wird zweifeln, daß auch dieses Sparen sein Gutes hat, aber es ist doch bedeutend verschieden von dem öffentlichen Sparen. Wir wollen nicht einmal den Umstand hoch anschlagen, daß der Inhalt der Sparbüchsen in der Familie nicht immer zu dem bestimmten Zwecke auch wirklich verwendet, daß die Casse nur zu oft von den Kindern und nicht selten sogar von den Eltern zu anderen Zwecken angegriffen und dadurch die moralische Wirkung des Sparens bedeutend verkürzt wird; wir deuten nur auf den Umstand hin, daß das Sparen in der Familie eine Art geheimes Thun ist, das blos sich im Auge hat, eher geeignet, Selbstsucht zu begründen und dem Laster des Geizes Vorschub zu leisten, während das öffentliche Sparen das Gemeingefühl in den Kindern weckt und durch den vernünftigen Zweck des Sparens von vornherein dem unvernünftigen Geiz den Eingang verschließt.
Damit aber nicht ein noch schlimmerer Feind des Menschenglücks mit diesem öffentlichen Sparen sich in die Herzen der Kinder einschleiche: der Neid – muß der wöchentliche Sparbeitrag für Arme und Reiche ein gleicher sein. Nur für die Aermeren hat auch die geringe Summe Bedeutung, die ein kleiner Sparbeitrag bis zum Austritt des Kindes aus der Schule ansammelt. Für die Kinder der Reichen ist die moralische Wirkung die Hauptsache, da die kleine Sparsumme für sie kein Gewicht hat; dagegen kann beim Armen die moralische Wirkung sogar auf die Eltern übergeben. Viele derselben werden sagen: Wir haben schon zu wenig zum Leben, woher sollen wir noch zum Sparen nehmen? Und doch muß der ehrliche, offenherzige arme Mann der Arbeit uns zugeben, daß jeder, der den ernsten Willen hat, daß sein Kind wöchentlich einen halben Groschen zur allgemeinen Sparbüchse bringe, es auch ausführen kann; selbst in der armen Arbeiterfamilie ist es in der Regel dem Manne möglich, durch irgend eine kleine Entbehrung (am leichtesten, wo das nichtsnutzige Cigarrenrauchen auch den armen Arbeiter im stinkenden Netze hat) ein paar Pfennige zu erübrigen, die seinem Kinde in der Schule die Ehre eines Sparbüchleins sichern. Für die Aermsten und Waisen würden sehr wahrscheinlich diese allgemeinen und deshalb öffentlichen Kinder-Sparcassen neue Quellen der Wohlthätigkeit erschließen. Gar mancher Wohlhabende würde viel lieber einem armen Kinde das Sparen möglich machen, als daß er durch seine Milde die Bettelei unterstützt. Denn wer wird zweifeln, daß diese öffentlichen Kinder-Sparcassen wenigstens der Kinderbettelei ein Ende machen? Haben erst auch die armen Eltern sich ermannt, ihren Kindern „die Ehre des Sparbüchleins“ zu verschaffen und gehören die Kinder in der Schule zu denen, welche Sparbüchlein besitzen, so werden diese sicherlich dadurch zum Betteln unfähig werden. Man wird es bald als eine schöne Wahrheit achten: „Ein sparendes Kind bettelt nicht.“ Man wird sehr bald die herzerhebende Erfahrung machen, daß in der That die Wege des Sparsinns in den Kindern ein lebendigeres Bildungsstreben, größeren Ordnungssinn, die Lust an erworbenem Besitz und das erste Ehrgefühl auf Besitz erweckt; ja bis zur größeren Freude am Erlernen des Schreibens und Rechnens kann der einfache Wunsch, sein Sparbüchlein selbst zu führen, ein Kindesherz erbeben, und jede dieser guten Regungen ist ein Segen mehr für das allgemeine Wohl.
Wir gehen noch einen Schritt weiter. Aus dem alten Sprüchwort: „Wie gewonnen, so zerronnen“ leiten wir Zweierlei ab. Erstens: Wer sein Besitzthum mit eigener Arbeit erworben hat, wird es sorgfältiger zusammenhalten, als wer ohne Bemühen dazu gekommen ist. Und zweitens: Wer es unredlich erworben, wird es am wenigsten achten. Kurz: „Wer stiehlt, spart nicht.“ Und so richtig dies ist, so richtig ist der Gegensatz, daß die Ehre eines Sparbüchleins in der Kindheit der beste Schutz für die Ehre des ganzen Lebens sein wird, daß aus den allgemeinen Kinder-Sparcassen die noch weit schönere Wahrheit erblühen wird: „Wer spart, der stiehlt nicht!“ –
Das sind nicht etwa blos moralische Möglichkeiten des Sparens, sondern unausbleibliche Folgen desselben. Nicht die zwölf bis vierzehn Thaler, die ein Kind mit Halbegroschen-Wochenersparnissen sammt Zinsen bis zu seinem Schulaustritt aufzubringen vermag, wie wohlthätig sie in armen Familien auch mögen empfunden werden – sondern diese moralische Wirkung des Sparens in der angedeuteten Weise verdient es wohl, daß Jedermann, hauptsächlich aber die deutsche Lehrerschaft diesen Gegenstand ihrer Beachtung und Prüfung für würdig halte.
Die praktischste Weise der Organisation und Verwaltung solcher Kinder-Sparcassen kann ein Gegenstand besonderer Besprechung sein, deren Resultaten die Gartenlaube gern ihre Spalten öffnet.
- ↑ Ich glaube den Lesern der Gartenlaube einen Gefallen zu thun, wenn ich ihnen hier das Recept zu einem Arkansas-Stew mittheile. Es ist derselbe eigentlich nichts anderes, als ein „steifer Grog“ von Whisky, der sich auch eben so gut von Rum oder Arrac herstellen läßt. Hat man es, so thut man noch etwas gestoßenen Gewürzpfeffer hinzu; ein Ingredienz aber, was nicht fehlen darf, ist etwas ungesalzene Butter. Butter? entsetzlich, nicht wahr? Bitte, versuchen Sie es einmal. Der Grog muß aber sehr heiß sein, dann thut man auf das Glas etwa eine kleine Messerspitze ungesalzener Butter. Diese zerschmilzt augenblicklich und legt sich nur mit einer unsichtbaren Fettschicht auf das Getränk, dem sie aber dadurch jede Schärfe nimmt und einen milden Wohlgeschmack verleiht.
- ↑ Nicht der Pastor Schmid in Wenigenjena, wie überall zu lesen, sondern dessen eben genannter Sohn, Erhard Schmid, der in Jena Kantische Philosophie docirte und später ein Theolog von Ruf war, 1791 Professor in Gießen und 1795 wieder in Jena war, woselbst er 1812 als Kirchenrath starb, hat Schiller getraut.
- ↑ In alten Biographien Schiller’s, selbst in der seiner Schwägerin, mit alleiniger Ausnahme der von Palleske, steht der 20. Februar als Trauungstag. Die Kirchenbücher von Jena und Wenigenjena geben aber übereinstimmend den 21. als den Tag des Aufgebots und den 22. als Trauungstag an. Dazu kommt, daß Schiller in dem Briefe nach der Hochzeit an Körner selbst den 22. als Tag der Trauung angiebt.
- ↑ Frankfurt bei Christ. Riegel. 1831.
- ↑ Sie theilt diese Eigenschaft mit der Zunge des heiligen Anton von Padua, welche in dieser Stadt, in welcher er starb, ebenso bewahrt wird, wie die Zunge des heiligen Nepomuk in Prag.
- ↑ Siehe dessen Commentar zur preußischen Pharmakopoe.