Die Gartenlaube (1865)/Heft 35
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No. 35. | 1865. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen.
Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.
In der Tragödie von Lincoln’s Ermordung taucht, wenn auch so sorgsam verdeckt, so genügend geschützt, daß nur die Stimme des Volks ihn erreichen kann, unter andern ein Name auf, an den sich schon aus früheren Jahren eine schwere Anklage knüpft. John B. Floyd war unter Buchanan Kriegssecretair, während unter demselben Präsidenten Thomson den Posten des Staatssecretariats bekleidete; – beide diese hochgestellten Männer sind von der öffentlichen Meinung bezichtigt, im December 1860, nachdem der Abfall des Südens sich zu einer Thatsache gestaltet hatte, den unter Thomson’s Verwaltung stehenden „Indianer-Hülfsfond“ im Betrage von achthundert und dreißigtausend Dollars entwendet und zur Beförderung der unionsfeindlichen Schritte des Sonderbunds gebraucht zu haben.
Um den gravirenden Verdacht des gemeinen Diebstahls von sich abzulenken, mußte ein Thäter gefunden werden; als solcher mußte denn ein junger Mann herhalten, auf dessen Leben nie der geringste Vorwurf gefallen ist und der, im Herzen der Union anhängend, in Rücksicht auf die begonnene Laufbahn die Fahne seiner Freunde und Gönner zu tragen hatte. Henry Gibson war der Neffe des Staatssecretairs, der Schwiegersohn des Kriegsministers Floyd und der Cassirer des erwähnten Departements. Er mußte im Auftrage seines Chefs und Onkels eine Reise nach Pittsburg in Pennsylvanien machen, und inzwischen wurde unter seinem Namen der Streich ausgeführt. In Pittsburg fand er einen von ihm unbekannter Hand geschriebenen Brief vor, in welchem er benachrichtigt wurde, daß die ihm anvertraute Casse im Interesse des Südens geleert, daß man ihn als Thäter ausersehen und daß bei einem genannten Hause in New-York der Betrag von hunderttausend Dollars für ihn deponirt sei, mit welchem er sich nach Frankreich zurückziehen solle.
Anfangs fühlte sich Henry durch diese ihn zum Verbrecher stempelnde Nachricht so verwirrt, daß es ihm unmöglich war, die Größe seines Unglücks zu erfassen. Aber das Gefühl der Unschuld, das Bewußtsein, nie unrecht gehandelt zu haben, stärkten ihn wunderbar; er beschloß, den Stoß abzuwenden und, koste es auch sein Leben, vor seinen Richter mit offenem Visir hinzutreten, für seine Unschuld bis zum letzten Blutstropfen zu kämpfen und dann, wenn es nicht anders sein könne, das Unvermeidliche über sich ergehen ;u lassen. Um wo möglich noch die Plünderung seiner Casse zu vermeiden, telegraphirte er seinem Chef:
„Ich werde nicht thun, was Ihr verlangt, sondern komme morgen zurück.“
Keine Antwort erfolgte, wohl aber für den braven Mann eine Nacht voll Angst und Unruhe. Beinahe hätte er sich selbst des Verbrechens angeklagt, so verwirrten sich seine Gedanken; er, als unschuldiges Werkzeug einer ehrlosen Handlung ausersehen, sollte das Land verlassen, weil man seinem Rechtsgefühl nicht traute und bei dem vielleicht unglücklichen Ausgang des Aufstands eine Bloßstellung durch ihn fürchtete. Vor ihm lag seither ein mühsamer, aber sicherer Weg zu Glück und Ehre, – jetzt Schande und Verachtung, und diese konnte er nicht durch das Sündengeld wegwaschen, welches ihn vor Mangel und Sorgen sicherstellen sollte, er sah schon den Finger, welcher hinter ihm her deutete, und hörte die Stimme, welche rief: der hat’s gethan! Das brachte ihn zur Verzweiflung.
So saß er noch am andern Morgen, den er zur Rückreise bestimmt hatte, auf dem Sopha seines Hotelzimmers, als sich die Thür öffnete und eine Dame zu ihm eintrat. Betroffen aufspringend, erkannte er sein junges Weib und im Glück des Augenblicks schlang er es in seine Arme. „Du gutes Weib kommst zu einer Zeit, wo ich Deines Trostes am meisten bedarf.“
„Du bist aufgeregt, Henry, scheinst krank; was quält Dich so, daß Du Trost von mir verlangst?“
„Weißt Du denn nicht, wozu Dein Vater und mein Onkel mich ausersehen haben, daß Du die Wuth nicht erklärlich findest, mit der ich sie Alle zu Boden schlagen könnte? Ich soll ein Dieb sein und Du das Weib eines Spitzbuben!“
„Beruhige Dich, mein theurer Henry, und sieh die Sache anders an; mein Vater will Dir die Mittel an die Hand geben, Dir auswärts eine bessere Lebensstellung zu sichern, als sie Dir bei uns Angesichts der nahen Zukunft eröffnet sein würde.“
„Lebensstellung – Frau? Los will man mich sein, mich zum Träger einer Schuld machen, die sie selber nicht offen bekennen wollen.“
„Darin irrst Du ganz,“ sagte die Frau, „mein Vater weiß, daß Du ein Anhänger der Union bist, und täuscht sich nicht in Dir, wenn er vermuthet, daß Du, durch Bande des Blutes an den Süden gebunden, lieber einem Kampf gegen denselben ausweichst.“
„Da irrt er tausendmal, wenn er dies glaubt! lieber will ich die Waffe gegen ihn heben, als mich selbst schänden und mein Kind!“
[546] „Wir reisen mit Dir, Henry; in Frankreich oder in Deutschland finden wir viele Freunde und gehen der Möglichkeit aus dem Wege, gegen unser Vaterland zu fechten, wo wir für dasselbe nicht einstehen wollen.“
„Nein, sage ich Dir, ich gehe nicht aus dem Lande, das in der Stunde der Noth seine Söhne nöthig hat, denen es während der Zeit seines Glücks den Weg zu Wohlstand und Ehre öffnete.“
„Henry, bedenke, was Du thust. Mein Vater und der Staatssecretair haben sich bereits nach Mississippi hinabbegeben, und Du kannst den von ihnen vorbereiteten Schritt nicht mehr ändern. Der Aufstand ist ausgebrochen, die Staaten sind gerüstet, und sie Beide treten für ein Princip ein, dem auch Dein Vater in Tennessee anhängt.“
„Ich will keinen Theil an der Schuld haben und jetzt, da ich weiß, wie die Sache liegt, reise ich heute noch nach New-York und stelle das deponirte Geld zur Verfügung der neuen Regierung; dann mag sie entscheiden, ob ich der Dieb der Staatsgelder bin oder – Dein Vater!“
„Henry,“ rief die Frau, „nur diese Schmach nicht auf unser Haupt! Laß die Leute in Washington reden, was sie wollen, aber geh’ Du mit mir über’s Meer und rette Dich und uns Alle!“
„Geh Du zurück zu Deinem Vater, Betsy, und laß mich meinen Weg ferner allein wandern, wenn Du ihn nicht theilen willst. Meine Unschuld liegt zu klar am Tage, als daß ich zurückzuschrecken brauchte. Kann Lincoln meine Dienste nicht in seinem Cabinet gebrauchen, so trete ich in’s Militär und leihe meinem Lande meinen Arm, und soll ich fallen im Ringen für meines Landes Recht, so fall’ ich wenigstens als ehrlicher Mann!“
Und er trennte sich nach schwerem Kampfe von einer Frau, an der sein ganzes Herz hing, von der Mutter seines einzigen Kindes, eines lieblichen Knaben von zwei Jahren, und sie schied mit Thränen von ihm, weil sie nicht Muth genug besaß, der Armuth in’s Auge zu sehen und den Eid zu halten, den sie einst in seine Hand gelobte, „in Glück und Unglück, in Armuth und Reichthum“ sein Loos zu theilen. Betsy Gibson ging zu ihrem Vater nach Mississippi, wo sie sich besser versorgt glaubte, als am Herzen des liebenden Gatten.
In größter Aufregung eilte Henry nach New-York. Von den Seinen verlassen, der Spielball der Laune einer blutgierigen Clique, deren Treiben er als rechtlicher Mann verachtete, hoffte er durch klare Darlegung der Thatsachen sich leicht von allem Verdacht reinigen und unter dem Schutze gerechter Richter in sein früheres Amt eintreten oder in anderer Verwendung zur Fahne seines Landes stehen zu können.
In New-York angekommen, sein Gepäck der Sorge des Bagagemeisters überlassend, stürmte er aus dem Bahnhofsgebäude heraus, um sich sofort in’s Banklocal zu verfügen, wo er das Geld in Empfang nehmen und am gleichen Tage nach Washington zurückkehren wollte. Erhitzt, mit bestäubten Kleidern, kam er in Wallstreet an und präsentirte die ihm vom Minister des Innern ausgestellte Zahlungsanweisung. Der Cassirer sah ihn scharf und durchdringend an und fragte ihn, ob er selber Herr Henry Milnor Gibson sei. Als er dies, die verdächtigen Blicke der Beamten nicht bemerkend, offen bejahte, ward er gebeten, Platz zu nehmen, während auf einen von dem Cassirer mit einem jüngern Gehülfen gewechselten Blick sich der Commis entfernte, um bald darauf mit einem Constabler zurückzukehren. In Gedanken versunken, schreckte Henry wie vom Blitz getroffen auf, als der Polizeimann, vor ihn hintretend, die Hand auf seine Schulter legte und die Frage an ihn richtete: „Sind Sie Herr Henry Milnor Gibson aus Washington?“
„Ja, der bin ich,“ entgegnete er.
„Dann muß ich Sie verhaften und bitte Sie, mir ohne weitere Umstände zu folgen.“
„Und mit welchem Rechte thun Sie dies?“ fragte Gibson, im höchsten Grade bestürzt.
„Auf heute Morgen von der Regierung in Washington an die Bankdirection eingegangene telegraphische Ordre, wegen Unterschlagung von Staatsgeldern, die unter Ihrer Verwaltung standen,“ erwiderte ihm der hinzutretende höhere Bankbeamte.
Wie gelähmt stand Gibson da; also er unter der Anklage der Veruntreuung, die Andern zur Last fiel, vor dem Publicum bloßgestellt! Er dachte, wie am nächsten Tage es die ganze Stadt und dann das ganze Land wissen würde; das Land, dem er das Geld retten wollte, so weit er es vermochte. Hier war aber nicht der Ort, darüber zu rechten, der Constabler hatte den Verhaftbefehl und mußte die Person vor den Richter führen; so folgte er demselben willig, mehr todt, als lebend. Die Gemüthserschütterung des Arrestanten berücksichtigend, rief der Polizist einem Fiaker und setzte sich mit seinem Gefangenen hinein. Massen Neugieriger umstanden den Wagen und Jeder wollte wissen, was der Verhaftete verbrochen habe; man schien eine Beraubung der Bank zu vermuthen, da Niemand die Frage beantworten konnte.
Die Tombs, jenes mysteriöse Gebäude der Centrestreet, in dem so manche arme Seele zur Buße und Besserung auf Jahre und Jahrzehnte hinaus seiner Freiheit beraubt wird, lagen jetzt vor unserm muthigen Helden, und schweren Herzens ging er, dem Constabler voran, die steinernen Treppen hinauf. In das Bureau des Polizeirichters eintretend, der den Verhaftbefehl in Empfang nahm und registrirte, ward ihm vor der Hand Nummer zweiundachtzig als Aufenthalt angewiesen und auf seine flehentliche Bitte, ihn bald zum Verhör vorzulassen, ihm der nächste Morgen als Vernehmungstermin bestimmt.
Inzwischen war es dunkel geworden, als ihn Constabler und Schließer in die einsame Zelle führten. Ein Bretstuhl, ein Tisch, ein einfaches, sauberes Bett bildeten das ganze Mobiliar.
„Ich werde Ihnen Ihr Nachtessen bald bringen lassen,“ sagte der wohlgenährte Gefangenwärter zu ihm; „wenn Sie noch etwas Besonderes haben wollen und es bezahlen können, so darf ich es für Sie holen lassen.“
„Ich danke Ihnen für den guten Willen; ich bedarf nichts.“
Da schloß sich die eiserne Thür hinter ihm und er saß allein mit seinem Ingrimm und seinem Schmerz. Angekleidet warf er sich auf’s Lager und verbrachte in dumpfem Brüten die Nacht. Wir wollen es nicht unternehmen, das unendliche Weh des unschuldig Gefangenen zu schildern, solche Schmerzen muß man selber empfinden, um sie ganz zu verstehen. Was aber diese Nacht an seinem Marke zehrte, sah man am nächsten Morgen, als der sonst schwarzgelockte Mann mit grauem Haar vor seine Richter trat. In ihm war ein Entschluß gereift, der eines bessern Zwecks würdig gewesen wäre; er sagte sich, daß trotz seines reinen Herzens selbst sein Eid ihn nicht von dem Verdachte der Theilnahme an dem großartigen Unterschleif befreien würde, da er ohne alle Freunde und ohne die Möglichkeit des Gegenbeweises durch seine Richter verurtheilt werden mußte, und er beschloß zur Rettung der Ehre derer, die ihn jetzt vernichteten, aus unendlicher Liebe zu dem Weibe, welches ihn treulos verlassen, die Schuld auf sich zu nehmen.
Der Proceß war bald beendigt. Henry gestand, das Geld unterschlagen und zum Besten der Secessionsbewegung nach Nashville in Tennessee gesandt zu haben. Die bei der Bank deponirten und auf die Anweisung des Ministers zu erhebenden Capitalien behauptete er als sein und seiner Frau Erbtheil nach England bei Seite zu bringen Willens gewesen zu sein. Mitschuldige zu haben, leugnete er entschieden ab, wie gut konnte er dies auch verleugnen, er der dem Verbrechen so fremd war!
Das Geschwornengericht verurtheilte ihn zu zwölf Jahren Zuchthausstrafe, nicht ohne ihn wegen der Motive zu seiner verbrecherischen Handlung auf’s Schärfste zu geißeln. Mit Ruhe und Fassung nahm er sein Urtheil hin, war er ja vorher schon auf Alles vorbereitet. Am nächsten Abend sollte er nach Blackwell’s Island abgeführt werden.
Erst in seiner engen Zelle brach der Schmerz mit ganzer Gewalt aus und Thränen linderten endlich zum ersten Male, jetzt nachdem sein Loos entschieden war, das blutende Herz. Zwölf lange Jahre ein Sträfling und für immer aus der Gesellschaft ausgestoßen – und doch wollte er es tragen! Wer im Bewußtsein seiner Unschuld eine Strafe leidet, ist übler daran, als der gemeine Taugenichts, mit dem er zusammengespannt wird. Es erfordert Seelenstärke seltener Art, nicht in dem Schlamm zu vergehen, der ihn umgiebt.
Die Strafanstalt zu Blackwell’s Island ist auf einer kleinen Insel im East River nahe bei New-York gelegen und gehört zu den humansten Anstalten, welche die Vereinigten Staaten besitzen; sie wird jedoch nur von schweren und lange internirten Verbrechern bevölkert, während das nahe Singsing die kleinen Diebe aufnimmt. Die Bewachung auf der Insel besteht aus regulärem Militär.
Der Abend des verhängnißvollen Tages sah unsern sich selbst aufopfernden Gibson in seinem neuen Wohnort, und als der kleine [547] Kutter ihn an’s Land setzte und er mit noch drei Andern, die des Todtschlags überführt waren, dem Aufseher zur Einkleidung übergeben wurde, sank ihm der Muth. Er bat, er flehte, ihm seine Kleidung, die er seither mit Ehren getragen, zu lassen – vergebens, er mußte den schwarz und gelben Kittel anziehen und Alles, was ihn noch an die Außenwelt fesselte, sein Ring, ein Medaillon mit dem Bilde der herzlosen Frau, das er an der Uhrkette trug, die Uhr selber – Alles mußte in sichere Obhut des Beamten gegeben werden und nur ein Empfangsschein ward ihm statt dessen in die Hand gedrückt – eine Anweisung zwölf Jahre dato.
Materiell hat der Gefangene auf Blackwell’s Island nichts zu leiden, seine Beköstigung ist gut und sauber und die ihm auferlegte Arbeit kann er leisten. Hier gilt selbst noch der Verbrecher als Mensch; seinen Freunden und Verwandten erlaubt man ihm von Zeit zu Zeit kleine Erfrischungen und dergleichen zu senden, und mitunter darf er auch, freilich unter strenger Aufsicht, in der Freistunde Besuch annehmen, obgleich nur eine fremde Person auf einmal die Insel betreten darf und Booten nicht gestattet ist, länger als zum Aussetzen ihrer Passagiere anzulegen, um jeden Fluchtversuch zu verhüten.
So vergingen für unsern Gibson zwei schwere Jahre in gleichmäßiger Apathie. Von seinen Freunden und Verwandten hörte er kein Wort, kein Lebenszeichen kam ihm von seinem Weib und seinem Kind, die für ewig von ihm getrennt schienen. Wie manche Stunde der Nacht, die er trotz des Tages Mühen schlaflos, unerquickt auf dem harten Lager zubrachte; wie manche Stunde der stillen Nacht, in der nichts als das eintönige Auf und Abschreiten der Schildwachen die Ruhe unterbrach, dachte er an sie, die ihn wohl ganz vergessen hatte, und seinen kleinen Knaben – das arme Kind, das seinen Vater, der zum Auswurf der menschlichen Gesellschaft gestempelt war, wohl nie wieder kennen würde, was sollte aus ihm werden! War er auch freiwillig in das Grab gestiegen, welches ihn lebendig umschloß, der Wunsch nach Freiheit, nach warmem Sonnenlicht des Lebens erwachte in ihm und das Verlangen danach niederzukämpfen schien ihm unmöglich. Bei der strengen Bewachung aber konnte er keinen Plan zu seiner Erlösung fassen. Woche um Woche, Monat um Monat verging, schon begann der dritte Sommer seiner Haft – trübsinnig sah er den Tag erstehen, traurig sah er der scheidenden Sonne nach, wann sie sich über dem Hudson drüben in’s Land seiner Geburt verzog, und es schien ihm Wahnwitz zu sein, von hier aus an ein Entkommen zu denken, wenn ihn nicht ein Engel durch die Lüfte tragen würde.
Und der Engel erschien dem hart geprüften Mann! Es war ein schöner Junitag gewesen und glühend heiß brannte gegen Abend die Sonne, als die Gefangenen zum Spaziergang in’s Freie durften. Das kleine Dampfboot, welches eine Ladung Proviant für das Gefängniß gebracht batte, verließ eben die Brücke; mit welcher Sehnsucht sah er es nach und nach verschwinden! Auch ein kleiner Postbeutel war wie gewöhnlich in die Wohnung des Aufsehers gebracht worden, und als Henry im Begriffe war nach abgelaufener Freistunde in’s Arbeitszimmer zurückzukehren, wurde sein Name gerufen. Einer der Wärter winkte ihm und reichte ihm einen vorher zur Controle geöffneten Brief. Wer konnte denn an ihn schreiben? – die Seinigen wußten unmöglich, was aus ihm geworden war. Und doch wußten sie es und hatten ihn nicht vergessen. Der Brief war von dem für herz- und treulos gehaltenen Weib seiner Liebe aus New-York adressirt und lautete:
„Theurer Henry! Seit sechs Wochen bin ich in das Hospital auf Staten Island als Krankenpflegerin eingetreten, um nach meinen Kräften dem Vaterland nützlich zu sein, und nur der Gedanke, wie es Dir ergehen möge, foltert meine Seele. Möge der Allmächtige Dir Kraft verleihen, die lange Zeit mit Geduld zu ertragen, wie auch ich es tragen muß. Ich habe die Erlaubniß erhalten, Dir heute einige Erfrischungen senden zu können, und darf solche jede Woche einmal dem Dampfboot mitgeben; ich hoffe, daß Dir der Fruchtkuchen munden wird. Kann ich die Bewilligung erhalten, selber zu Dir zu kommen, so werde ich zu meinem schweren Werke Kraft und für mein gequältes Herz Stärkung finden.
Henry’s Ueberraschung war grenzenlos, und so sehr ihm die Freude das Herz erzittern machte, konnte er doch ein Gefühl tiefen Schmerzes nicht unterdrücken, denn der Brief war ohne allen warmen Lebenshauch, vielleicht nur aus Pflichtgefühl geschrieben. Aber von New-York aus datirt – sie im Norden auf Staten Island in seiner Nähe – wie sollte er dies zusammenreimen? Um sieben Uhr war die Arbeitszeit vorüber und dann durfte er nach dem gesandten Paket fragen. O welche lange, bange Zeit! Und doch was sollte er daraus für Aufklärung erhalten, vielleicht war es nur das Zeitungsblatt, das er darum geschlagen vermuthen durfte, welches ihn anzog, es war ihm wie Frühlingshauch, wie Freiheitswehen, und unwiderstehlich blieben seine Gedanken dabei stehen, als ob er davon Rettung erlangen müsse.
Die Stunde kam endlich, und nach dem frugalen Mahl sah er das kleine Paket in seiner Hand. In zwei neue Tagesblätter eingeschlagen, geöffnet und revidirt wie der Brief, lag der Obstkuchen und einige Fleischstücke vor ihm. Mit bitterer Enttäuschung sah er die Eßwaaren in seiner Hand an und heiße Thränen, bittere Mannesthränen, rolllen auf die Gaben der Liebe herab. „Warum denn klagen?“ fragte er sich, „diese Sachen sind von der Hand der Liebe gesandt, vielleicht selbst zubereitet – was haben sie mit deiner Freiheit zu schaffen – was kann das arme Weib zu deinem Entkommen thun? Dennoch – sie wäre die Einzige, die von außen darauf hinarbeiten könnte!“
Er aß ein Stück von dem Fleisch – Liebe hatte es gewürzt, und trotz alles Wehes, trotz der Thränen, die ihn am Lesen der Blätter hinderten, es mundete ihm. Jetzt den Kuchen versucht – in eine entfernte Ecke gedrückt, um der Neugier und Bettelei roher Cameraden zu entgehen, durchbrach er denselben – was ist das? Eine Federspule lugt heraus – sie muß aus den Schwingen der Freiheitsgöttin sein, sonst könnte sie nicht darin stecken. Sie schnell mit den Zähnen zerreißend, fühlt er innen eine kleine Papierrolle und Kuchen und Zeitungen vergessend, die zu Boden fallen, liest er darauf:
„Morgen Abend fünf Uhr Freund auf Wache – wälze das Faß spielend zum Wasser; bleib’ zuletzt draußen und wirf Dich in jenem in den Fluß ohne Besorgniß, Freunde sind nah.“
Er verschlang jeden Buchstaben mit den Augen, aber trotz des ihn durchzuckenden Glückes verschwand der Götterbote der Errettung zwischen den Lippen, deren stürmischer Kuß bald der muthigen Frau den heißen Dank des Gatten bezeugen sollte.
Den Zusammenhang begriff er nicht, nur so viel verstand er, daß ein Freund auf Wache sein würde, der ihm Hülfe lieh. Wo war ein Faß, in das er steigen sollte? – der nächste Tag mußte Alles aufklären, und er beschloß sich von den Umständen leiten zu lassen. Viel zu langsam verging die Nacht, die er fast schlaflos verbrachte, und als gegen Morgen die Natur ihr Recht forderte und holde Bilder seine Phantasie umschwebten, schreckte ihn die rauhe Stimme des Wärters auf. Ruhig nahm er den Morgengruß hin, hoffte er doch, daß es der letzte sein würde. Nach der Morgenandacht ging’s ins Joch, und nie hatte er es so willig getragen wie heute, keiner schaffte so viel wie er. Endlich kam die Befreiungsstunde, allein noch hatte er von Niemandem auch nur ein Zeichen erhalten, nach welchem er seine Handlungen berechnen konnte. Er flog mehr, als er ging, nachdem die Freistunde angekündigt war, zur Halle hinaus – gleichgültig schritt die am Hause postirte Schildwache auf und ab.
Da entdeckte sein Auge drüben am Wasser keine fünfzig Schritt vor ihm ein Faß von beinahe vier Schuh Höhe – das mußte es sein, welches ihm zur Rettung dienen sollte. Er suchte einige der Mitgefangenen nach und nach dorthin zu ziehen und erfuhr von einem derselben, daß Schinken darin gepackt gewesen sei, den er habe hereintragen helfen. Niemand konnte etwas Verdächtiges darin finden, daß es ihm beim Hantiren umfiel und am Wasserrand liegen blieb, gerade so wie er es wünschte. Keiner gab sich die Mühe es aufzustellen, alle Andern gingen wieder fort. Sorgsam spähte er nach der gegenüberliegenden Küste des Festlandes – kein Zeichen entdeckte sein scharfes Auge. Als er sich unbeachtet glaubte, ließ er den Blick auf den Wachtposten fallen – der nickte mit dem Kopfe. O glücklicher Gedanke, dies mußte der Retter sein! Das Herz klopfte, als ob es vor Freude und Angst zerspringen wollte.
Die Freistunde ging ihrem Ende entgegen – das Signal zur Arbeit ertönte; er hatte sich weiter vom Gebäude entfernt als die Uebrigen und schritt so langsam wie möglich zurück. Er war [548] der Letzte – an der Thür stand einer der Wärter – es mußte gewagt sein, er schritt dem Fasse zu, als ob er es aufnehmen wollte.
„Jetzt schnell!“ rief eine Stimme hinter ihm, es konnte nur der Soldat gewesen sein, doch er sah es nicht mehr. Sich zu Boden werfen und rückwärts in das Faß schlüpfen war das Werk einer Minute. Mit den Händen gab er sich einen Stoß und sein Fahrzeug bewegte sich. Ein schneller Blick belehrte ihn über die Strömung und abwärts dem Meere zu ging die gefährliche Fahrt. Er hatte sich drinnen auf den Boden niedergekauert; dadurch hielt er die Oeffnung nach oben und wohl saß er ganz still, um nicht umzuschlagen. Hatte er auch beinahe einen Schuh hoch Wasser auf dem Boden seines Fahrzeugs, so schien das Faß doch mehr durch seine Hast beim Abstoßen damit gefüllt zu sein.
Wie lange er so trieb, er wußte es nicht; es däuchte ihn eine Ewigkeit. Da stieß er an einen Gegenstand an – es war ein Boot. Er blickte auf und ein glückliches Frauenauge schaute in das seine. Schmerzlich und beseligend zugleich war die Erkennungsscene, und als er erst, mit Vorsicht seinem gebrechlichen Fahrzeug entstiegen, neben ihr saß und der kräftige Ruderer vorn ausgreifend das Boot dem Lande zu dirigirte, erwachte mit aller Gluth das Gefühl des Dankes für das Weib, das sich doch bewährt hatte.
Betsy hatte an Alles gedacht. Zuerst entfaltete sie einen neuen eleganten Anzug und schleunig war die Sträflingskleidung den Fluthen anvertraut, ein neuer Hut erhob sich aus der neben ihr stehenden Schachtel und sogar das Rasirmesser zog sie hervor. Da half kein Kokettiren – mit der Scheere wurde der Bart gestutzt, und war’s auch kein Vergnügen, daß er die Verseifung mit Salzwasser machen mußte, es ging schon einmal auch so.
Halbwegs zwischen Brooklyn und Jersey City, da, wo der Hudson am breitesten ist, hatte die Verwandlung und auch das Begegnen stattgefunden. Bei trübem Wetter sieht man von der Küste kaum hinüber – mithin war keine Entdeckung zu gewärtigen.
Wir wollen die Schwüre und Betheuerungen, die Erklärungen und Versicherungen, welche gewechselt wurden, mit dem Schleier der Liebe bedecken, welche auch diese That vollführte. Es liegt uns nur ob, zu berichten, was wir aus dem süßen Flüstern zweier Glücklichen an Thatsachen erlauscht haben. Betsy war auf ihr wiederholtes Drängen endlich von ihrem Vater fast durch die Reihen der bereits bis nach Virginien vorgedrungenen Heere nach dem Norden begleitet worden.
Tage lang waren sie zu Fuß gewandert, um die Vorposten zu umgehen, und nur erst als sie auf Unions-Gebiet gekommen waren, hatten sie sich der Eisenbahn bedient. Oft angehalten und bei der Verkleidung, in die sie sich gesteckt, bis auf die Haut untersucht, hatten sie erst in Westvirginien andere Kleider gekauft und die Mittel dazu, sowie auch zu seiner Befreiung, hatte sie erfinderisch in einigen großen Banknoten in ihrem ausgehöhlten Haarpfeil geborgen. Durch die langsame Reise ihrer auf den Rücken mitgeführten Vorräthe beraubt und nicht wagend, die Banknoten den Augen gieriger, mißtrauischer Feinde preiszugeben, hatten sie, als das wenige südliche Geld, das sie bei sich trugen, verausgabt war, verschiedene Male ihre Nahrung und Obdach als ausgeplünderte Patrioten erbetteln müssen. Von Henry’s Verhaftung und Verurtheilung waren sie schon gleich nach derselben durch die nördlichen Zeitungen unterrichtet worden, die ein großes Geschrei davon machten.
„Nie hatte ich seitdem mehr Ruhe, mein Henry,“ sagte das muthige Weib, „und mir geschworen, eher in den Tod zu gehen, als die Versuche zu Deiner Befreiung aufzugeben. Nur fürchtete ich stets, Du selbst würdest Dich denselben widersetzen und mich als Deiner unwürdig zurückstoßen. Ich habe genug gelitten, daß ich Dich in’s Unglück gehen ließ, doch glaubte ich nicht, daß Du Dich nach New-York wenden und so lange zaudern würdest. Hat mich früher die kindliche Anhänglichkeit zu meinen Eltern gezogen, so sollst Du nun sehen, was die Liebe eines Weibes vermag.“
„Laß jetzt die Vergangenheit ruhen und uns lieber bedenken, was demnächst geschehen soll. Daß ich nicht nach dem Süden gehe, wirst Du wohl als ausgemacht annehmen. Ich bin zwar jetzt, nachdem Du mich mit Leib und Seele geraubt hast, Dein Eigenthum, hoffe aber, daß Du mir hierin nachgiebst.“
„Du würdest zwar vor der Hand dort sicherer sein, allein es ist unendlich schwer die Linien zu passiren, so daß ich mich Deinem Willen im Norden zu bleiben um so lieber füge, als selbst mein Vater die Sache des Südens als verloren betrachtet. General Butler hat bereits New-Orleans besetzt, und ganz Missouri und Westvirginien sind in den Händen des Nordens.“
„Ich meinerseits bin entschlossen in die Armee zu treten und werde dort am sichersten sein. Aber was soll ich mit Dir beginnen? denn Dein Vater ist im Norden nirgends sicher, wo jeder Mann ihn kennt.“
„Er wird, nachdem er Dich gesehen und Deinen Entschluß kennt, nach Mississippi zurückkehren und sich den Rücken frei zu halten wissen. Ich ziehe mit Dir in den Krieg und werde in der Pflege von Verwundeten im Felde oder in irgend einem Hospitale ein Unterkommen finden. Nur dann werde ich Ruhe haben, wenn ich mich in Deiner Nähe weiß.“
„Aber die Schrecknisse des Kriegs, die Rohheiten, denen Du ausgesetzt sein wirst?“
„Ich kenne den Krieg schon und schaudere nicht mehr vor seinen Folgen.“
Das Boot legte unterhalb Jersey City an’s Land, und bald waren sie mit Mr. Floyd vereinigt. Der Nachtzug brachte sie noch nach Philadelphia und nach einigen Stunden Schlaf trennten sich Vater und Tochter für immer. Der Abschied zwischen Floyd und seinem Schwiegersohn war höflich und kühl, obgleich der Schwiegervater nach dringenden Bitten Verzeihung von Gibson erlangt hatte. Es war das letzte Mal, daß auch sie einander sehen sollten, denn nach drei Tagen schon, eben als die beiden Gatten in Baltimore zur Armee gingen, um ihre Pläne zu verwirklichen, kam ihnen das Gerücht zu, daß Mr. Floyd als muthmaßlicher Spion ergriffen und erschossen worden war.
Diese Schreckensnachricht wirkte furchtbar erschütternd auf Betsy’s Gemüth; jetzt gerade, wo sie im Begriff war, sich zeitenweise von ihrem Gatten zu trennen, drohte sie der Schlag zu vernichten. Henry hatte sie die Sorge um ihr Kind anvertraut, welches sie in dem zarten Alter nicht den Gefahren der beschwerlichen Wanderung aussetzen wollte, und freundlos ohne Stütze stand sie da, wenn das Schicksal ihr auch den Gatten rauben würde. Aber auch jetzt kämpfte sie den Schmerz nieder, denn sie wußte, daß sie aller Kraft bedurfte, das schwere Werk, welchem sie sich widmen wollte, zu erfüllen.
Sie trat in das Lazareth zu Baltimore als Krankenwärterin ein und wurde mit Freuden empfangen. Unter dem Namen einer Miß Sarah Underhill gerirte sie sich als die Schwester des Soldaten John Underhill, als welcher ihr Gatte dem Corps des General Grant beim dritten New-York-Regimente zugetheilt war. Mit seltener Aufopferung und Treue lag sie dem schönen Beruf ob, und das Gebet manches Sterbenden wie die Segenssprüche der Reconvalescenten folgten ihren Schritten. Sie wurde nicht allein das Vorbild der Andern, sondern auch in allen Fällen, wo besondere Willenskraft und Muth erforderlich waren, stand sie zuerst neben den Aerzten. Hunderte von ausgewechselten Gefangenen, die, in einer allem menschlichen Gefühl Hohn sprechenden Weise von den Südstaatlichen behandelt, als Skelete in die Heimath zurückkamen, erlagen hier den erduldeten Martern, und Betsy war nicht allein Helferin, sondern auch Trösterin der Leidenden. Gar manches junge Blut, das mit Muth und Begeisterung in den Kampf gegen den wüthenden Krebsschaden des Vaterlandes ausgezogen und gefangen genommen, erst nach langer, qualvoller Haft ausgewechselt wurde, hauchte bei ihr den letzten Athemzug, der dem Weib oder der Mutter daheim galt.
So waltete sie wie ein Engel segensreich in dem engen Kreise, während draußen auf dem Felde der Ehre ihr Gatte seine Brust dem Feinde bot. Sein siegreiches Corps war unter seinem heldenmüthigen Führer bis nach Centreville vorgedrungen und mußte hier der Uebermacht weichen. Zurückgeworfen und von der Cavalerie der Rebellen verfolgt, wurde er mit einem kleinen Theil seiner Compagnie versprengt und gerieth in Gefangenschaft. Mehrere Monate ohne Nachricht von ihm, verfiel Betsy in tiefe Melancholie und Trost in den rastlosesten Anstrengungen suchend, sank
[549][550] sie selber auf’s Krankenlager, um nicht wieder davon aufzustehen. Da kamen erneute Berichte von der schmachvollen Behandlung der im Libby bei Richmond gefangenen Soldaten, die alle seitherigen Schilderungen der Martern an Gräßlichkeit übertrafen. Durch Hunger sollte man sie langsam zu Tode quälen, hieß es in den amtlich aufgenommenen Berichten ausgewechselter Officiere, und im Freien jedem Wetter preisgegeben, seien auf einer Insel im Jamesflusse die Soldaten internirt, so daß täglich Dutzende von Leichen, die dem Delirium erlegen waren, in das Wasser geworfen würden.
Diese Nachrichten zerrütteten den einst so kräftigen Geist unserer Heldin der Art, daß an eine Linderung ihres Zustandes nicht zu denken war. Sie starb nach einigen Tagen, in der letzten Stunde mit lichten Augenblicken, Gott ergeben, wie eine Amerikanerin! Und wohl ihr, denn bald darauf lief die schauerliche Nachricht ein, daß Henry Gibson aus Washington, genannt John Underhill, der entsprungene Sträfling von Blackwell’s Island, im Kerker zu Libby durch einen jungen südstaatlichen Rekruten, als er gegen das Verbot dem Fenster des Gefangenensaals zu nahe gekommen, erschossen worden sei.
So endete Einer von den Vielen, die als brave Männer für das Wohl ihres Vaterlandes die Waffe führten – ein Mann, der aus Liebe zu den Seinen auf seine Schultern ein Verbrechen nahm, für das er unschuldig büßen mußte.
Gegen das Verbot unserer Eltern gingen wir, meine Spielgenossen und ich, recht fleißig in einem nicht weit vom Heimathsörtchen, aber recht versteckt in einem schattigen Wäldchen gelegenen Teich baden. Anfangs trieben wir uns im seichten Wasser des ganz allmählich abfallenden Ufers umher, später brachte es die Beharrlichkeit des Einen und des Andern dahin, daß er nach Pudelart eine kurze Strecke weit schwimmen konnte, zur Bewunderung und zum glänzenden Beispiel der Andern, und endlich gelang es auch Einzelnen, das Naturschwimmen gegen das kunstgerechte zu vertauschen. Ein solcher gestattete sich dann, beim Beginn des Badens sogleich vom steilen Ufer in die tieferen Stellen des Teiches zu stürzen. Das war Alles ganz gut, gereichte uns zu Nutzen und großer Freude und Niemand zum Schaden, außer einmal denen, welchen die von boshafter Hand vertauschten Hemden zum Verräther wurden. Aber es sollte schlimmer kommen, und beinahe hätte das Vergnügen noch ein böses Ende genommen.
Zu uns, die wir Stammgäste im Teiche und mit allen Untiefen und Tücken desselben vertraut waren, gesellte sich dann und wann ein Gast, dem eine so gründliche Kenntniß des Terrains abging. Meist hielten sich solche im knietiefen Wasser des Ufers. Eines Tages aber ließ sich ein solcher Neuling dadurch täuschen, daß Einige von uns sofort schwimmend in tiefe Stellen gingen und anscheinend noch Grund hatten; unbeachtet von den Andern folgte er ihnen an derselben Stelle und auf einmal war er verschwunden. Zwar wurde es von uns sofort bemerkt, aber durch seine heftigen Bewegungen war der unglückliche Schwimmer so weit in das tiefe Wasser gerathen, daß er nur nach vielfachen vergeblichen Anstrengungen gefaßt und an das Ufer geschafft werden konnte. Es war die höchste Zeit dazu gewesen. Die anfangs sehr lebbaften Bewegungen waren immer langsamer geworden, immer seltener war er emporgetaucht und endlich kamen nur noch dann und wann die Arme zum Vorschein. Fast als Leiche brachten wir unsern Freund aufs Trockene. Wie eine todte Masse lag er da, in sich zusammengesunken, mit blauen Lippen und blauen Wangen, in langen Pausen that er einen kurzen, heftigen Athemzug. Was war da zu thun? Sollte Einer von uns zu den nächsten, eine Viertelstunde entlegenen Häusern laufen und Hülfe holen, einen Arzt herbeischaffen, vielleicht während die Andern Belebungsversuche anstellten? Belebungsversuche, an diese dachten wir zunächst allerdings auch, aber was sollten wir thun? Einer schlug vor, den Verunglückten auf den Kopf zu stellen, damit das Wasser wieder herausliefe, ein Anderer war für das Frottiren der Haut, gethan haben wir aber nichts, denn er kam von selbst sehr bald wieder zu sich.
Mir ist der Vorfall nie wieder aus dem Gedächtniß gekommen und mit dem lebhaftesten Interesse habe ich auf Alles geachtet, was zur Belebung dergleichen Verunglückter in Vorschlag gebracht worden ist. Es wird auch zugegeben werden müssen, daß in vielen Fällen der Tod hätte abgewendet werden können, wenn zu rechter Zeit passende Hülfe geleistet worden wäre. Sachverständige herbeizuschaffen, nimmt die kostbarste Zeit in Anspruch, jede Minute Verzug macht die Aussicht auf Wiederbelebung immer unwahrscheinlicher, und doch giebt es ein Verfahren, das außerordentlich leicht und von Jedermann ausgeführt werden kann, also auch Jedermann bekannt sein sollte. In den folgenden Zeilen wollen wir dieses Verfahren auseinander setzen, um es aber recht deutlich zu machen, wollen wir zunächst erörtern, in welchem Zustande sich ein Ertrunkener befindet und worauf bei Hülfeleistung das Augenmerk eigentlich zu richten ist.
Vielfach ist die Ansicht verbreitet, wenn Einer ertrinkt, laufe ihm das Wasser in die Lungen. Das ist aber nicht richtig. Der in’s Wasser Gefallene hält in der Regel den Athem an und holt blos Athem, wenn er mit dem Kopf über Wasser kommt; dabei kann es allerdings geschehen, daß etwas Wasser mit in die Lungen gesogen wird; das Wasser aber, das ihm in den Mund kommt, verschluckt er; es kommt also in den Magen. Während nun der Ertrinkende den Athem an sich hält, kann weder die im Blut entstehende Kohlensäure dasselbe verlassen, noch neuer Sauerstoff in das Blut aufgenommen werden, und es tritt somit aus diesen beiden Ursachen einfach Erstickung ein. Das Bewußtsein trübt sich, die Bewegungen werden immer langsamer und kraftloser, immer seltener taucht der Verunglückte auf, endlich hört alle Bewegung auf, die Muskeln erschlaffen und nun kann es geschehen, daß Wasser in die oberen Luftwege läuft: es steigen über dem Versunkenen ein paar Luftblasen auf. Dies Alles hat die Aufhäufung der Kohlensäure im Blute bewirkt. Kohlensäurereiches Blut taugt nicht zur Ernährung und zur Erhaltung des Lebens. Solches Blut wirkt zunächst lähmend auf die Herzthätigkeit, das Herz schlägt nicht mehr so schnell und so kräftig, wie vorher; in Berührung mit dem Gehirn und Rückenmarke vermag solches Blut diese höchst wichtigen Körpertheile nicht mehr lebensfähig zu erhalten, das Bewußtsein erlischt und die ganze Nerventhätigkeit hört auf, der ganze Mechanismus steht still.
Offenbar ist nun das passendste Mittel für die Wiederbelebung dasjenige, welches die Kohlensäure aus dem Blute fortschafft, gerade so wie nach einer Vergiftung das Mittel das beste ist, welches das Gift wieder aus dem Magen entfernt. Ea muß also vor allen Dingen das Athmen wieder hergestellt werden. Diese Anschauung liegt jedenfalls dem Vorschlag zu Grunde, Ertrunkene auf den Kopf zu stellen; es soll das in die Lunge gedrungene Wasser wieder auslaufen. Doch ist dieses Verfahren nicht blos unnütz, sondern auch gefährlich. In die Tiefe der Lungen eingedrungenes Wasser läuft ebensowenig aus diesen heraus, wie Wasser aus einem mäßig feuchten Schwamme; dazu kommt, daß der von verschlucktem Wasser oft stark angefüllte Magen herabsinkt und den Lungenraum nun verkleinert. Das Wasser aber, welches dem Ertrunkenen in den hinteren Partien des Schlundes und in den oberen Luftwegen sitzt, läuft schon heraus, wenn man ihn auf den Bauch legt. Man muß also ein zweckmäßigeres Verfahren aufsuchen.
Vielfach ist auch das Einblasen von Luft in die Lungen empfohlen worden. Es könnte dies nur so gemacht werden, daß Jemand seinen Mund auf den des Ertrunkenen fest aufsetzt, ihm die Nase zuhält und nun kräftig bläst, dann die dem Ertrunkenen eingeblasene Luft entweichen läßt und von Neuem bläst und sofort in regelmäßigen Absätzen. Dies wäre das einzig mögliche Verfahren, da Instrumente zum Lufteinblasen, deren Gebrauch außerdem erst durch Uebung erlernt werden muß, nicht zur Hand sind. Allein auch ohnedem dürfte es für den Unerfahrenen schwer sein, [551] das Lufteinblasen so geschickt auszuführen, daß wirklich etwas damit erreicht würde; es kommt ferner in Frage, ob Jemand im Stande sein möchte, eine Viertel-, eine halbe, ja eine ganze Stunde lang regelmäßig Luft einzublasen. Doch ist das Verfahren auch an und für sich unpraktisch, denn es kann möglicher Weise dem Verunglückten der Schleim und das Wasser, die sich in seinem Schlund befinden oder die sich aus dem Magen entleeren, noch in die Lunge geblasen werden, und in vielen, vielleicht in den meisten Fällen sinkt die gleichfalls erschlaffte Zunge soweit zurück, daß sie den Eingang der Luftröhre verschließt. Die eingeblasene Luft wird also in diesen Fällen gar nicht in die Lunge kommen, eher in den Magen, wie es denn auch wirklich schon geschehen ist. Endlich aber ist die Luft, welche man einbläst, schon einmal zum Athmen gebraucht worden und mit solcher Luft wäre dem Ertrunkenen, dessen Blut mit Kohlensäure übersättigt ist, höchstens in den ersten Augenblicken etwas gedient, später, wenn sein Blut bei der Wiederbelebung schon viel von der angesammelten Kohlensäure verloren hat, müßte ihm reine Luft eingeblasen werden.
Wäre es nun nicht möglich, dem Verunglückten auf andere Weise gleich reine atmosphärische Luft einzuführen? Wie wäre es, wenn man nicht bliese, sondern den Ertrunkenen die Luft so einsaugen ließe, wie es der lebende Mensch thut? Das wäre ganz einfach so zu erreichen, daß man dem Brustkasten und dem Bauche künstlich die Bewegungen mittheilt, wie sie beim athmenden Menschen von selbst ausgeführt werden. Das geht z. B. durch elektrische Reizung der Muskeln, welche diese Bewegung bewirken, so des Zwerchfells, und in Wirklichkeit sind auch dadurch derartige Verunglückte wieder zum Leben gebracht worden. Bei Ertrunkenen läßt sich aber die Elektricität nicht sofort anwenden, man muß daher die künstliche Athmung in anderer Weise bewerkstelligen. Zu diesem Zweck hat man vorgeschlagen, man soll Brust und Bauch des Ertrunkenen mit beiden Händen umfassen und zusammenpressen; dabei entweicht Luft aus der Lunge; läßt man mit dem Drucke nach, so sollen sich Brust und Bauch wieder ausdehnen und so Luft einsaugen. Gründliche Untersuchungen haben aber gezeigt, daß dies nicht immer so geschieht. Man kann zwar Luft aus der Brust ausdrücken, aber es kommt in sehr vielen Fällen keine wieder hinein, zum Theil deshalb, weil die zurückgesunkene Zunge, Schleim und Wasser die Luftröhre verstopfen. Außerdem ist die nach dem Druck eintretende Erweiterung des Brustraumes nur eine geringe und gar nicht zu vergleichen mit der ausgiebigen, welche beim wirklichen Einathmen vor sich geht.
Es giebt aber ein Verfahren, welches allen möglichen Anforderungen entspricht, ein Verfahren, das schon vor mehreren Jahren von dem englischen Arzt Marshall Hall angegeben und schon oft mit dem günstigsten Erfolg angewandt worden, in Deutschland aber auffälliger Weise noch lange nicht so bekannt ist wie es verdient. Es ist einfach folgendes. Man legt den Ertrunkenen ohne Verzug auf den Bauch, einen seiner Arme unter die Stirn. Dadurch wird erreicht, daß Schleim und Wasser aus dem Munde abfließen können und bei den nun folgenden Athemzügen, welche man den Verunglückten machen läßt, nicht in die Lungen gelangen. Ferner sinkt die erschlaffte Zunge nach vorn und giebt den Eingang der Luftröhre frei. Ist der Betreffende in diese Lage gebracht, so drückt man mit den flachen Händen leicht gegen den Rücken, damit in die Luftröhre eingedrungenes Wasser abfließt und die Lunge einen Theil der in ihr enthaltenen Luft, wie beim Ausathmen, abgiebt. Dann läßt man mit dem Druck nach und rollt den Körper allmählich auf die Schulter, deren Arm unter der Stirn liegt, und noch ein wenig darüber hinaus, dann wieder schnell auf das Gesicht; darauf drückt man wieder gegen den Rücken, rollt den Körper wieder auf die Seite und fährt so fort. Dadurch, daß der Körper auf die Seite und etwas darüber hinaus gerollt wird, nimmt der Brustkasten nämlich die Stellung ein, wie beim Einathmen. Man läßt also bei diesem Verfahren regelmäßig Aus- und Einathmen aufeinander folgen, die Lunge entleert ihre von Kohlensäure reiche Luft und nimmt reine dafür auf, in Berührung mit dieser giebt auch das Blut seine übergroße Menge Kohlensäure ab und sättigt sich mit Sauerstoff.
Macht nun das Herz auch noch so selten Bewegungen und sind die Herzschläge noch so schwach, so gelangt doch jetzt wieder solches Blut in dasselbe, wie es zur Unterhaltung des Lebens völlig tauglich ist. Mit den nächsten Pulsschlägen wird die Herzsubstanz mit solchem Blute versorgt, und nun schlägt das Herz kräftiger und öfter, dann gelangt das sauerstoffreiche und kohlensäurearme Blut in das Gehirn und Rückenmark, und diese werden neu belebt und endlich wird der ganze Körper wieder in den früheren lebensfähigen Zustand versetzt. Bei dieser Belebungsmethode hat man noch darauf zu achten, daß man dies Rollen des Körpers und das Drücken recht ruhig und ohne Hast ausführt; man darf nicht öfter als sechszehn Mal in der Minute athmen lassen, also so oft wie ein gesunder Meusch athmet, darf aber die Bewegungen nicht aussetzen. Wenn möglich, reibt man die Glieder des Verunglückten tüchtig, weil auch dieser Hautreiz das Nervensystem und die Herzthätigkeit erregt. Die nassen Kleidungsstücke vertausche man mit trockenen. Wie lange man die künstliche Respiration fortsetzen soll, läßt sich nicht im Allgemeinen angeben. In Fällen, in welchen Ertrunkene bis fünf Minuten unterm Wasser waren, traten schon nach den ersten künstlichen Athemzügen wieder die wirklichen ein, in andern Fällen war erst nach dreißig bis vierzig Minuten langer Dauer der künstlichen Respiration das Leben wieder gesichert. Selbst wenn Ertrunkene bis zu zwanzig Minuten unter Wasser waren, ist es gelungen, sie wieder in’s Leben zurückzubringen, aber dann hat man sie meist noch länger, selbst mehrere Stunden künstlich athmen lassen, eine Mühe, die sicher nur sehr gering anzuschlagen ist gegen den Gewinn, den sie bringt.
Dieses Verfahren paßt nicht allein für die Wiederbelebung Ertrunkener, sondern auch für die plötzlichen, auf ähnlichen Ursachen beruhenden Todesfälle, so beim Tod durch Erhängen, nach dem Einathmen von Kohlendunst, von Leuchtgas, von Chloroform etc. Die Belebung eines Erhängten geht aus ganz denselben Gründen vor sich, wie die des Ertrunkenen, sie sind beide durch Abschluß der atmosphärischen Luft vom Blute und durch Anhäufung der Kohlensäure im Blute erstickt; nur kommt beim Erdrosseln noch hinzu, daß die Blutcirculation im Gehirn gestört ist. Beim Tod durch schädliche Gasarten ist die Gegenwart dieser im Blute Ursache der Unterdrückung der Lebensthätigkeit; wird solchen Verunglückten aber regelmäßig, in angegebener Weise, Luft zugeführt, so erhält der in das Blut eingeführte Sauerstoff das Leben, wenn auch auf einer niederen Stufe, der Körper gewinnt aber Zeit, sich der schädlichen Gasarten wieder zu entledigen. Für alle diese Fälle liegen Beispiele von Wiederbelebung vor. Auch bei Vergiftungen mit Opium hat man die Methode von Marshall Hall mit Erfolg angewendet, und sicher wird sie auch bei andern Vergiftungen, so bei der mit Alkohol, bei geringer Blausäurevergiftung u. a. m. den erwünschten Dienst leisten.
Das künstliche Athemholen nach Dr. Silvester’s Methode scheint noch wirksamer, als das nach der angegebenen Methode von Hall. Es geschieht auf folgende Weise: man legt den Kranken mit dem Rücken auf eine etwas schräge Fläche, so daß der Kopf ein wenig höher liegt, und erhebt und stützt den Kopf und die Schultern durch ein kleines, festes Kissen oder ein zusammengelegtes Kleidungsstück, das unter die Schulterblätter gelegt wird. Sodann wird die Zunge des Kranken nach vorn gezogen und vor den Lippen festgehalten; ein elastisches Band über die Zunge und unter das Kinn gebunden, ist hierzu am besten, oder es kann auch ein Stück Schnur oder Band darumgebunden werden. Hinter dem Kopfe des Kranken stehend, ergreift man nun die Arme dicht über den Ellenbogen, zieht sie sanft und fest aufwärts über den Kopf und hält sie aufwärts gestreckt etwa zwei Secunden lang, wodurch Luft in die Lunge gezogen wird. Dann führt man die Arme des Kranken abwärts und drückt sie sanft, aber fest zwei Secunden lang gegen die Seiten der Brust (wodurch Luft aus den Lungen getrieben wird). Dies wiederholt man abwechselnd ungefähr zehn Mal in der Minute, bis eine beständige Athembewegung wahrgenommen wird. Sowie dies der Fall ist, hört man mit den künstlichen Athmungen auf und sucht die Körperwärme und den Blutumlauf anzuregen.
[552]
Wir wurden nicht müde die Restauration, diese wahre Musteranstalt zu loben.
„Und doch drängen sich nicht Alle zu, denen es nöthig und heilsam wäre,“ gab uns unser Führer zur Antwort, „gewisse Beschränkungen, die zum Gedeihen der Restauration unumgänglich waren, halten Viele zurück. Zuerst muß jeden Tag baar gezahlt werden, und um das zu können, muß man ein ordentlicher Haushälter sein; dann ist keinerlei überlautes Wesen, Tumult oder Unordnung gestattet, kein Rauchen, nicht einmal das Anzünden der Pfeife vor dem Weggehen, endlich wird Keinem mehr als ein halber Schoppen Wein verabreicht, damit die Restauration nicht zur Kneipe für die liederlichen, zur Vogelscheuche für jeden ordentlichen Mann werde. Da verstecken sich denn die Zuchtlosen hinter allerlei Vorwände, schlucken lieber in andern Kosthäusern Massen heißen Wassers nebst saft- und kraftlosem Gras und Stroh und beweisen zum tausendsten Male, daß gegen den Blödsinn Götter selbst vergebens kämpfen.“
Als wir durch den Bäckerladen zurückgingen, erzählte unser Arbeiter, daß man in der Cité nicht nur das Brod, sondern sämmtliche Lebensmittel aus Magazinen zum Engros-Preise haben könne: Eß- und Kramwaaren, Hausgeräth und Bettzeug, fertige Kleider und Schuhe, ja daß die Steinkohlen, weil man sie als die bei Weitem wohlfeilste Feuerung mit allen Mitteln zu verbreiten suche, seit vielen Jahren unter dem Einkaufspreise abgegeben worden seien.
Der Pfarrer sah ihn groß an, griff nach seinem Taschenbuche und wollte schreiben, steckte es aber mit einem „Ueberflüssig!“ wieder ein und wünschte die Bibliothek zu sehen. Auch ich hatte mich darauf gefreut, die sechszehnhundert Bände zu durchmustern, um zu wissen, welchen Geist man durch die eintansend Leser, die man im verflossenen Jahre zählte, in der Cité verbreitet, leider war Niemand da, der die Mittel oder das Recht hatte, uns den Eintritt zu ermöglichen, und so mußten wir uns mit der allerdings werthvollen Versicherung unseres Führers begnügen, es seien „lauter vernünftige und schöne Bücher“. Nach den in Mülhausen herrschenden Gesinnungen ist jedenfalls mit Sicherheit anzunehmen, daß die Auswahl weder vom gouvernementalen, noch vom einseitig religiösen Standpunkt getroffen worden.
Wir verließen den Bau in der gehobensten Stimmung; der Himmel schien uns noch einmal so klar, der Schnee noch einmal so rein, die ganze Umgebung trotz der winterlichen Oede reizend. Wie glänzten uns jetzt mit ihren Spiegelscheiben die für anspruchsvollere Miether und Käufer errichteten, von außen vornehmen, im Innern hohen und weiten größeren Wohnungen entgegen, deren man nach und nach vierzehn errichtet hat und von denen bereits acht, zu sechszehn- bis siebenzehntausend Franken jede, verkauft sind. Wie köstlich erschien uns und war auch wirklich die elegante Kinderschule (Salle d’asile) in ihrem baumreichen, freundlich umgitterten Hofe, mit ihrem lachend grün gefärbten Vordache aus leichtem Gußeisen, den frischrothen, gefällig geschwungenen Fensterdecken und der blendend weißen Mauer – kein Zuchthaus, ein wahres Asyl, in dem zweihundert und fünfzig bis dreihundert Kindlein in hohen Sälen bei einer Vorsteherin und zwei Gehülfinnen beider Confessionen mütterliche Pflege und erste Unterweisung finden. Es wurde uns fast des Guten zu viel, denn auch das Genießen hat seine Grenze, und da obendrein unser trefflicher Führer uns verlassen mußte, so beschlossen wir, nur noch die Junggesellen-Wohnung und eins der kleineren Arbeiterhäuschen anzusehen und dann der Cité den Rücken zu wenden – auf Wiedersehen natürlich. So lautete auch der Gruß, den wir nach kräftigem Handschlage dem wackern Arbeiter zuriefen, der, nachdem er uns unserm nächsten Ziele zugeführt, unter Ablehnung jeglichen Dankes seiner Wege ging. Ich mag nicht leugnen, daß wir ihm mit einer wahren Verehrung nachsahen, bis er an einer Ecke verschwand.
Das vor uns liegende Gebäude mit der Aufschrift: „Chambres garnies pour hommes“ wird von einem besonderen Geranten verwaltet. Von außen jedem großen Hause ähnlich, hat es auch im Innern nichts Casernenartiges; eher erinnert es an eines jener heimeligen Klöster, die Einen fast zum Mönche machen könnten. Die einzelnen Zimmer, siebenzehn an der Zahl, münden wie Zellen auf lange Gänge und halten durch Ausdehnung und Helle jeden Vergleich mit einem Gefängniß fern. Ein lichter Raum von hundert Quadratfuß mit gutem Bette, mit Commode, Tisch und zwei Stühlen ist ein Aufenthaltsort, den sich Jeder gefallen lassen kann, zumal wenn ihm als Ersatz für den fehlenden Ofen ein den ganzen Winter hindurch geöffneter gemeinschaftlicher Saal zu Gebote steht. Und das Alles hat man einschließlich des Leinenzeugs und der Aufwartung für sechs Franken monatlich, d. h. für neunzehn Thaler jährlich. Auch ist das Haus, obgleich die Insassen Punkt zehn Uhr Abends zu Hause sein müssen, beständig besetzt, und mit einem zweiten und dritten würde es ebenso sein, wenn die Verwaltung nicht Anstand nähme, sie zu errichten; sie fürchtet mit Recht, zu viel junges Volk in die Cité zu ziehen und dadurch ihre sittlichen Zustände zu gefährden.
Aus den kleineren Wohnungen, die, nur aus Keller, Erdgeschoß und Speicher bestehend, auf nicht mehr als zweitausend vierhundert bis zweitausend sechshundert und fünfzig Franken zu stehen kommen und deren am äußersten Ende der Cité etwa achtzig, in zwanzig Pavillons gruppirt, beisammenliegen, nahmen wir die erste beste. Eine junge Frau, die augenscheinlich nicht weit von ihrer Niederkunft war, öffnete, nachdem wir das auch hier als Küche benutzte Vorhaus durchschritten, auf unser Klopfen die Stubenthür und bat uns in schlechtem Französisch, einzutreten. Das etwa fünfzehn Fuß lange und ebenso breite Zimmer, hinter welchem man durch eine halbgeöffnete Thür in die Schlafkammer von derselben Länge und halber Breite sah, war beengend warm und erschien unserm verwöhnten Auge etwas unordentlich und ärmlich. Wenig angenehm berührten uns die der Ausbesserung sehr bedürftigen Hemden und sonstigen Kleidungsstücke, die massenweise auf Tisch und Stühlen umherlagen, und die kleinen Fenstergardinen von rothem Kattun, auf denen die Sonne stand, warfen einen grellen und doch unreinen Wiederschein umher. Unsere Mienen mochten eine gewisse Unbefriedigtheit verrathen, denn die Frau sagte entschuldigend, sie und ihr Mann seien noch Anfänger und in ihrem jetzigen Zustande könne sie auch nicht säubern und ordnen, wie sie gern möchte.
„Das wird aber,“ fuhr sie lebhaft fort, „bald anders werden. Als Junggesell, wo mein Mann in der Stadt wohnte, verbrauchte er Alles, was er verdiente; ob ich einen Sou mehr oder weniger habe, sagte er gewöhnlich, ich bring’ es ja doch zu nichts. Jetzt aber, seitdem wir beisammen sind und das Haus hier zu kaufen angefangen, trinkt und spielt er gar nicht mehr, sondern legt jeden Heller zurück, damit wir sobald wie möglich frei werden. Dazu ist er’s nicht allein, der verdient; ich gehe auch in die Spinnerei der Herren Dollfus-Mieg und bringe alle vierzehn Tage ein hübsches Stück Geld heim. Nur jetzt muß ich des Kindbetts wegen acht Wochen zu Haus bleiben, und da will ich die erste Zeit benutzen, unsere Geschichten da ein wenig zu flicken. Sie sehen’s ja,“ schloß sie mit lächelndem Blicke auf die Siebensachen, die uns nun schon ganz anders anmutheten.
„Aber,“ sagte theilnehmend der Pfarrer, „da verdienen Sie ja zwei Monate lang gar nichts und müssen wohl noch obendrein Arzt, Apotheke und Wärterin bezahlen?“
„Das wäre schlimm,“ erwiderte sie mit spöttischer Zuversicht „da müßten unsere Herren nicht sein!“ Und damit lief sie zu einem Schranke und nahm aus einem schwarzgebundenen Gebetbuch mit verblaßtem Goldschnitt ein bedrucktes Papier, das sie uns hinhielt. Ich ergriff es und las in französischer Sprache, was ich zu gefälliger Nachahmung deutsch hier folgen lasse:
[553]
Art. 1. Vom 1. November 1862 an wird allen Arbeiterinnen der Fabrik Dollfus-Mieg und Co. eine Geldunterstützung bewilligt, sobald sie in Wochen sind, und zwar unter folgenden Bedingungen:
Art. 2. Um ein Recht auf diese Unterstützung zu haben, muß die Entbundene wenigstens ein Jahr lang ohne Unterbrechung in den Werkstätten der Herren Dollfus-Mieg gearbeitet haben.
Art. 3. Die als tägliche Unterstützung auszuzahlende Summe soll dem durchschnittlichen Tagelohn der sechs Monate gleich sein, die dem Tage der Arbeitseinstellung vorangegangen sind.
Art. 4. Die Arbeiterinnen bekommen diese Unterstützung sechs Wochen lang, vom vierzehnten Tage nach der Niederkunft an gerechnet.
Art. 5. Im Fall das Kind sterben sollte, hört die Unterstützung vom Tage seines Todes an auf.
Art. 6. Der Fabrikarzt der Herren Dollfus-Mieg wird die Wöchnerin besuchen und alle vierzehn Tage Zeugnisse ausstellen, auf welche hin die Auszahlung an den gewöhnlichen Zahltagen erfolgt.
Art. 7. Nach den Statuten des Unterstützungsvereins haben die Frauen ein Recht auf die gewöhnlichen Hülfsgelder aus der Casse desselben, wenn sie mehr als dreißig Tage nach der Niederkunft krank werden. Da diese Bestimmung in Geltung bleibt, so wird in einem solchen Erkrankungsfalle die Art. 3. erwähnte Unterstützung nicht ferner gewährt.
Art. 8. Jede Arbeiterin muß, so lange sie Unterstützung erhält, alle Arbeit einstellen, um ihrem Kinde die nöthige Sorgfalt widmen zu können. Von dem Tage an, wo sie dieser Verpflichtung zuwiderhandelt, werden ihr keine Hülfsgelder mehr ausgezahlt.
Art. 9. Die Herren Dollfus-Mieg werden die Wöchnerinnen häufig durch eine Person besuchen lassen, die im Stande ist, ihnen mit gutem Rath an die Hand zu geben.“ –
„Nein, nein, das ist denn doch der wahre Geist des Evangeliums, was diese Leute belebt!“ rief mein Pfarrer aus, dem bei dem trockenen Vorlesen der Artikel Thränen in’s Auge getreten waren, „Und Ihr,“ wandte er sich der Frau zu, „habt nichts dagegen zu leisten?“
„Nichts,“ erwiderte sie, „als daß die Arbeiterinnen sich alle vierzehn Tage fünfzehn Cent. von ihrem Lohne abziehen lassen müssen, wozu dann die Herren ebensoviel legen; das wächst und wächst, bis …“
„Bravo!“ unterbrach ich sie und gab das Papier zurück, „so ist es doch kein Geschenk, kein Almosen, sondern eine Art von Selbsthülfe, und so macht’s Euren Herren doppelte Ehre. Aber was fangt Ihr denn mit Eurem Kinde an, wenn Ihr wieder in die Fabrik müßt?“
„Dann kommt es für ein mäßiges Kostgeld,“ erwiderte sie, „den Tag über zu einer Frau da draußen, die zu ihren eigenen kleinen immer ein paar fremde Kinder nimmt und ganz gut versorgt, und mit drei Jahren geht’s in die Salle d’asile. So hilft man sich durch, und das schadet auch nichts, wenn man nur absieht, wohin und wohinaus.“
Wir reichten der wackeren Frau die Hand und empfahlen uns.
„Wollten Sie nicht das Haus sehen?“ warf sie ein.
„Ist nicht mehr nöthig,“ antwortete ich, mehr zum Pfarrer gewandt; „wir haben, denk’ ich, sattsam erfahren, wie Alles hier auf den inneren Menschen wirkt, und das ist genug. Kommen Sie!“
Ich faßte ihn am Arme und zog ihn hinaus; mir war, als kennte und liebte ich ihn seit Jahren, und der innige Blick, den er mir zuwarf, sprach eine ganz ähnliche Empfindung aus. Glücklich plaudernd gingen wir nebeneinander bin. Die von concurrirenden Privatleuten gebauten Arbeiter-Wohnungen, die wir auf dem Rückwege sahen und die mit Gärtchen zu achtzehn Franken monatlich nur vermiethet werden, waren uns kein Aergerniß; im Gegentheil zählten wir sie ebenso zu den glücklichen Ergebnissen der ersten Unternehmung, wie, als sie uns bekannt wurden, die Nachahmungen des Wöchnerinnen-Vereins in Frankreich und Deutschland (Gladbach). Ueberdies beschäftigte uns fast ausschließlich der Gedanke an die ungeheure Geldsumme, welche diese Mülhauser Kaufleute hingeben mußten, um das Alles zu ermöglichen.
„Da liegt eben das,“ bemerkte der Pfarrer, „was die Sache zu einer ganz vereinzelten macht. Wo wird man zum zweiten Male bei solchem Reichthum solche Mildthätigkeit, solche Hingebung finden?“
„Ich möchte wissen,“ erwiderte ich, „wie der ganze Plan entstanden und wie groß eigentlich die Opfer sind, welche die Gesellschaft im Ganzen und die jeder einzelne Theilnehmer gebracht hat.“
„Wir müßten uns,“ meinte Jener, „die Statuten und Rechenschaftsberichte zu verschaffen suchen.“
„Das wäre langweilig,“ scheint mir, „und würde wahrscheinlich noch Raum zu fragen genug lassen. Was meinen Sie, wenn wir zu einem der Theilnehmer gingen, den ich so oben hin kenne, und ihn bis auf den Grund ausfragten?“
Nach kurzem Sträuben gegen einen für ihn etwas kühnen Besuch willigte der Freund ein; nicht lange nachher waren wir in der Stadt und schellten an der Thür eines von außen ziemlich unscheinbaren Kaufmannshauses. Eine Magd öffnete. Durch das mit Strohmatten belegte Vorhaus wurden wir in ein kleines, aber prachtvolles Anspruchszimmer geführt; der Hausherr, ein frischblickender, untersetzter Fünfziger, dessen Namen zu nennen ich mich nicht befugt glaube, trat bald darauf ein.
Kaum hatte er den Grund, der uns herführte, vernommen, als er ohne Umstände sagte:
„In diesem Augenblick bin ich nicht frei; für Unsereinen ist nun einmal das oberste Gesetz: die Geschäfte vor allem Andern. Ich bitte aber die Herren, in einer Stunde wiederzukommen, und hoffe ihnen dann Genüge zu leisten.“
Damit gab er mir die Hand, verneigte sich kurz vor meinem Begleiter und bugsirte uns hinaus.
„Der macht’s einfach,“ brummte draußen der Pfarrer mit einem fragenden Blick auf mich.
„Er hat Recht und wir können die Zeit gebrauchen,“ erwiderte ich und zog ihn in das nächste Speisehaus, wo wir uns gründlicher restaurirten, als Frankreich unter Ludwig dem Achtzehnten. Genau nach einer Stunde zogen wir die Klingel wieder. Diesmal empfing uns der Herr selbst an der Thür und führte uns in ein einfaches Cabinet mit Büchergestellen und Kupferstichen an den Wänden. Auf einem runden Tische in der Mitte stand eine Flasche Champagner mit drei Gläsern und ein Kistchen Cigarren nebst einer brennenden Kerze.
„Setzen Sie sich,“ bat er, die Cigarren vor uns hinschiebend und aus der bis zum Knallen des Pfropfens vorbereiteten Flasche einschenkend, „ein leichter Trunk in der Januarfrische kann nicht schaden.“
Wir stießen an, zündeten an, und sich behaglich auf einen Sessel streckend, fragte der Wirth, was wir denn nun gesehen und erfahren.
Wir erzählten um die Wette.
„Gut,“ sagte er, „doch ist Ihnen noch Etwas entgangen. Eine sehr gute Einrichtung sind auch die Volkscurse, die man übrigens auch in Thann, Gebweiler und Markirch hat, demnächst sogar in Paris einführen will und die mehr noch als die Bibliothek zur geistigen Hebung der Arbeiter beitragen. Der beständige persönliche Verkehr mit den dreizehn Professoren, die sich unter Leitung eines Directors zusammengethan haben, ist nicht minder hoch anzuschlagen, als die positiven Kenntnisse, die alltäglich in den neun Sälen der Anstalt erworben werden. Und auch diese sind nicht gering, denn sie umfassen Sprachen, Arithmetik und Zeichnen. Die Arbeiter betheiligen sich zahlreich, obgleich der Unterricht aus Grundsatz nicht ganz umsonst gegeben wird. Jeder Theilnehmer zahlt zwanzig Cent. monatlich pro Curs; für die Zeichenstunde sogar fünfzig Cent. und fürs Englische, weil es kein allgemeines Bedürfniß ist, zwei Franken.
Als ich den Wunsch nach weiteren Zahlen aussprach, nahm er ein Notizbuch von einem der Gestelle und gab mir die folgenden:
Eingeschriebene. | Wirkliche Besucher. | |
Lesen und Schreiben | 339 | 244 |
Rechnen | 237 | 175 |
Angewandtes Rechnen | 58 | 48 |
Französische Sprache | 77 | 55 |
Linearzeichnen | 117 | 80 |
Englische Sprache | 78 | 65 |
Summa | 906 | 667 |
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„Sie sehen,“ fügte er lächelnd hinzu, „an dem Unterschiede zwischen Eingeschriebenen und wirklichen Besuchern, daß auch bei
[554] unsern Arbeitern der Geist willig, das Fleisch schwach ist. Dann muß aber auch zugegeben werden, daß wir Fabrikanten selbst noch lange nicht gethan haben, was geschehen müßte und muß. Haben wir doch z. B. erst jetzt die Volksbank zu gründen begonnen, nach dem uns Deutschland und sein Schulze-Delitzsch so lange mit gutem Exempel vorangegangen; die tausend Actien zu je hundert Franken sind erst in diesen Tagen gezeichnet worden.“
Wir widersprachen dieser Selbstunterschätzung und äußerten fast zugleich, daß doch nirgendwo etwas so Imposantes geschaffen worden sei, wie die Arbeiterstadt in Mülhausen.
„Nun, nun,“ suchte er unsere Bewunderung zu dämpfen, „auch da sind wir keineswegs die Ersten. Ich will nicht von der Wirksamkeit der 1849 gegründeten ‚gemeinnützigen Baugesellschaft‘ in Berlin reden, die nach dreißigjähriger Zahlung einer sechsprocentigen Miethe die Wohnung als Eigenthum in den Händen des Miethers läßt; die Frist kann zu lang, die Größe der Bauten und manches Andere verfehlt erscheinen. Auch nicht von den Arbeiterwohnungen in Flandern, die viel zu wünschen übrig lassen, oder in Böhmen, obgleich die der Lindheim’schen Hütten und der Kohlenwerke in Brandeisl vortrefflich sein sollen. Was Graf de Madre in Paris gethan, kann bei aller Preiswürdigkeit ebenfalls nicht in Betracht kommen, weil seine Häuser nur zu miethen, nicht zu kaufen sind. Aber unser Vorbild ist England, wo William Taylor vor fünfundzwanzig Jahren auf die kleinen Grundstücke, welche die Arbeiter vor den Thoren der Städte besaßen, kleine Wohnungen baute, die durch Abzahlung aus den Ersparnissen allmählich freies Eigenthum der Arbeiter werden sollten. In Leith, Birmingham, Nottingham geschah dasselbe, am Ende auch in London. Es bildete sich eine Gesellschaft, die Häuser mit zwei Zimmern, zwei Dachstuben, einer Küche und einem Waschkeller errichtete und für 90 Pfund Sterl. (2250 Franken) verkaufte; etwas größere für 120 bis 150 Pfund Sterl. (3000–3750 Franken). Dann ließ man seit 1848 die gemeinsame Beschaffung wohlfeiler Lebensmittel folgen – kurz, man bahnte dort den Weg, den wir nur nachzuwandeln brauchten. Und das haben wir ja nicht einmal allein gethan; Gebweiler hat seine vierzig bis fünfzig Arbeiterhäuser, in Beaucourt hat das Haus Japy deren gegründet, Lille ist seit Jahren bestrebt uns nachzuschreiten, und von allen Seiten bittet man uns um Aufschlüsse und Nachweisungen, weil man nicht zurückbleiben möchte.“
„Was eine Seelenfreude für Sie sein muß,“ fiel der Pfarrer dem bescheidenen Manne ins Wort.
„Für den Continent,“ setzte ich hinzu, „ist Ihre Anstalt jedenfalls das Muster aller Muster.
„Mag sein,“ erwiderte er, „daß wir den Grundgedanken consequenter durchgeführt haben, als Andere, was freilich auch nöthig war, um eine aus aller Herren Ländern zusammengeschneite Masse von Arbeitern, die sich oft kaum verstehen, langsam in eine geordnete Einheit zu bringen, bei der sich Jeder wohl fühlen kann. Ein solcher Zweck verdient schon, daß man ihm einige Opfer bringe.“
„Einige?“ fragte der Pfarrer gedehnt; „sagen Sie lieber riesenmäßige! Denn was Sie hingegeben haben und noch täglich hingeben müssen –“
„Nur keine Complimente,“ fiel unser Wirth ein. „Sie sehen,“ fuhr er lächelnd fort und füllte die Gläser auf’s Neue, „daß wir selbst noch ziemlich behaglich dabei leben. Auch bedarf es bei allen richtig angefaßten Unternehmungen gar keiner unmöglichen Selbstvergessenheit. Abgesehen davon, daß das eigene Gedeihen dem Menschen erst recht wohlthut, wenn es sich in seiner Umgebung spiegelt, kommt es uns selbst zu statten, wenn die Arbeiter treuer, rüstiger, freudiger schaffen, und dann ist sogar, rein kaufmännisch gesprochen, die Sache viel rentabler, als Sie glauben. Die englischen Arbeiterhäuser tragen vier und ein halb bis fünf, die des Herrn Hilliard sogar sechs Procent, und der Erbauer unserer Cité, Herr E. Möller, hat in einer lesenswerthen Schrift mit Recht darauf aufmerksam gemacht, daß, ganz ohne Rücksicht auf den philanthropischen Zweck, ein Capitalist, der sein Geld sicher anlegen wolle, kaum eine bessere Verwendung finden könne.“
Wir begriffen das nicht.
„Wie haben Sie denn die Sache nur angefangen und fortgeführt?“ fragte ich, und die Spannung, mit welcher der Pfarrer den Fabrikanten ansah, bewies mir, daß er dieselbe Frage auf den Lippen gehabt.
„Darüber haben,“ war die Antwort, „fast alle Pariser Journale mit mehr oder weniger Sachkenntniß geschrieben. Das Ding ist sehr einfach. Schon vor 1851 waren bei der Papierfabrik der Herren Zuber und Nieder einzelne Arbeiterwohnungen mit Gärtchen angelegt, die zu elf Franken monatlich vermiethet wurden. Da kam das Buch des Engländers Roberts „The dwelling of labouring classes“ (die Wohnungen der arbeitenden Classen) in unsere Hände, und auf seine Anregung hin stiftete der nachmalige Maire von Mülhausen, Herr Johann Dollfus, die Gesellschaft zur Gründung der Cité. Es wurden 60 vierprocentige Actien zu je 5000 Franken creirt, von denen der Gründer allein 35 behielt, während wir Uebrigen, elf an der Zahl, den Rest nahmen. Mit diesem Capital von Franken fingen wir im Juli 1853 zu bauen an und errichteten im ersten Jahre hundert Häuser. Auf diese Häuser liehen wir unter Bürgschaft des Herrn Joh. Dollfus von den Baseler Capitalisten drei Viertel ihres Werthes, erst zu fünf, später zu vier und ein halb Procent, und zwar unter der Bedingung, daß die geliehene Summe in den ersten fünf Jahren nur zu verzinsen, in den fünfzehn folgenden aber von den mittlerweile eingegangenen Verkaufspreisen nach und nach abzuzahlen sei. Dann traten noch sieben Theilnehmer mit elf Actien im Betrage von 55,000 Franken hinzu, der Crédit Foncier betheiligte sich mit einem Darlehen auf dreißig Jahre, und das Bauen ging so unaufhaltsam fort, daß schon vierhundert, zwei Jahre später sechshundert standen und in diesem Augenblick nahe an siebenhundert vollendet sind, die über zwei Millionen Franken kosten und ungefähr sechstausend Menschen beherbergen. Wie die Engländer könnten wir leicht höhere Zinsen ziehen, als unsere vier Procent, aber wir wollen nicht und verwenden jeden Ueberschuß auf Verbesserung und Verschönerung des Werkes.“
„Ehre, dem Ehre gebührt!“ sprach der Pfarrer und verbarg trinkend seine Ergriffenheit.
„Gewiß,“ stimmte ich bei. „und darum begreife ich nicht, warum die Herren, die doch so trefflich auf eigenen Füßen zu stehen wissen, durch die Benennungen Rue und Place Napoléon diese Ehre gleichsam der Regierung zuschreiben. Warum denn nicht Rue des Ouvriers, nicht Place Dollfus?“
„Auch das erklärt sich leicht,“ erwiderte unser Mentor. „Der Staat, der auch eine Hand im Spiele haben wollte, gewährte uns nicht nur für jedes neugebaute Haus eine dreijährige Grundsteuerfreiheit, sondern gab auch eine Summe von 300,000 Franken mit dem Beding, daß die Gesellschaft wenigstens das Dreifache verbaue, die Häuser zum Kostenpreise verkaufe und nicht höher als zu acht Procent desselben vermiethe. Wir verbauten, wie gesagt, mehr als das Sechsfache, vermietheten höchstens zu sieben Procent, wollten aber mit unserm Unternehmen wirklich ganz ‚auf eigenen Füßen stehen‘ und verwandten deshalb den Zuschuß der Regierung nicht zum Häuserbau, sondern lediglich zur Anlegung von Straßen und Plätzen, Bürgersteigen und Baumpflanzungen, Bädern und Waschküchen, zur Einrichtung der Gasbeleuchtung etc., kurz, zu Verschönerungen und Anlagen von allgemeinem Nutzen. So sind die Häuser selbst nicht vertheuert worden, und dafür danken, weil in unserm Staate doch einmal Alles vom Kaiser persönlich ausgeht, die Namen von Platz und Straße. Oder ist nicht jede Hülfleistung, wober sie auch komme, dankenswerth?“
Ich schämte mich meiner voreilig demokratischen Bemerkung und empfand dagegen einen gründlichen, fast scheuen Respect vor dem Geschäftsmanne.
„Ihr seid Helden.“ rief ich nach tiefem Zuge aus Cigarre und Champagnerglas; „wie muß Euch nicht zu Muthe werden, wenn Ihr heute auf den Zustand Eurer Arbeiter vor zehn Jahren zurückblickt! Damals in schlechten Löchern unsaubere, verkommene Familien, die ihre Kinder ohne Zucht und Lehre herumwühlen ließen, bis sie zur Arbeit, zum Verdienen tauglich wurden; abgeschnitten von der frischen Luft, vom Freien, das uns selbst befreit, ohne Besitz, ohne Zukunft, ohne Freudigkeit. Jetzt Menschen in frischen, sonnigen Wohnungen, in denen sie selber sonnig, frisch und heiter werden, ihre Kinder allmorgendlich in ordentlichem Anzuge zur Schule sendend. Die Beschäftigung im Garten, den sie in den Freistunden bebauen, verdrängt allen verderblichen Zeitvertreib und macht gesund, wie’s der Fisch ist im Wasser; die frische Luft dehnt aus, erfreut und stählt, und sinniger wird der Mensch, der so schalten und walten kann, er mag’s merken oder nicht. Und [555] das Alles, Haus und Garten, ist sein! Der Besitz macht ruhig, sicher, stolz im guten Sinne; die Zukunft hat für den Miethfreien, der allwöchentlich zurücklegen kann, nichts Erschreckendes mehr: sie lächelt von ferne als die Zeit der wohlverdienten Ruhe. Die beiden Grundsäulen des wahren Lebens: Arbeit und Unabhängigkeit, sind fest eingesenkt, und wer sie so dauernd hingepflanzt, das seid Ihr! Wahrlich, Ihr könnt Euch das Zeugniß geben, in aller Stille groß gewirkt zu haben, und dürft den Aehnlichgestellten in Nähe und Ferne zurufen: ‚So gehet nun hin und thuet desgleichen!‘“
Auch aus des Pfarrers Mienen sprach ein seliges Gefühl. Mehrmals leise nickend, stieß er mit mir an; dann bot er ausstehend sein Glas dem Wirthe hin und sagte mit schwankender Stimme:
„Der Segen des Herrn sei mit Euch heute und immerdar! Mehr vermag ich nicht zu sagen.“
Die drei Gläser klangen glockenrein.
„Wenn man lange mit Euch zu thun hätte,“ wand sich der Geschäftsmann heraus, „würde man unfehlbar eitel. Zum Glück hat man keine Zeit dazu. Wollen Sie diesen Abend mit mir speisen?“
Wir lehnten dankend mit der Bemerkung ab, daß wir Beide reisen müßten.
„Und die linke Seite des Taschenbuchs ?“ fragte ich, als wir draußen waren.
„Spötter!“ lachte mein Freund und führte mich vorwärts.
Wer uns Arm in Arm und Aug’ in Auge dem Gasthause, von da dem Bahnhofe zuschlendern sah, der hätte uns für Brüder halten können. Wir sind’s auch jetzt, unbekümmert um nichtige Meinungsunterschiede, und das verdanken wir – Mülhausen und seiner Arbeiterstadt.
Es sind nicht viel über dreißig Jahre verflossen, als Heinrich Heine schrieb, das; er die Hand des letzten Malers gesehen und geküßt habe. Jener Maler, Peter Cornelius, repräsentirte aber nicht den Abschluß einer Kunstperiode, sondern im Gegentheil den Beginn einer neuen Aera, die sich kein geringeres Ziel gesetzt hat, als wieder zu den Höhen aufzuklimmen, auf denen Raphael, Michel Angelo, Dürer und Rubens gestanden haben. In dieser kurzen Spanne Zeit von dreißig Jahren sind nicht blos einzelne große Künstler, sondern ganze Schulen entstanden. Den Malern haben die Bildhauer emsig nachgestrebt. Schon können wir mit Stolz von einer deutschen Bildhauerei sprechen, deren monumentale Werke die Straßen und Plätze unserer Städte schmücken. Und nicht etwa einzelne Mäcene haben diese neue Kunstblüthe geschaffen, aus dem Volksgeist heraus hat sie sich entfaltet, aus demselben Volksgeist, dem wir auch eine neue Literatur, ein neues und frisches wissenschaftliches, bürgerliches und poetisches Leben verdanken.
Die dritte der bildenden Künste, die Baukunst, ist insofern zurückgeblieben, als sie uns noch keinen neuen Baustyl geschenkt hat. Leben und Thätigkeit herrschen aber auch auf ihrem Gebiet. Mit der wichtigsten ihrer Vorarbeiten, mit der Ausbildung künstlerisch tüchtiger Gehülfen, ist sie fertig. Wir haben wieder Steinmetzen und Maurer, Holzschnitzer und Zimmerleute, die einen Vergleich mit ihren mittelalterlichen Genossen nicht zu scheuen brauchen. Wie das liebevolle Studium der alten Gothik für die Baukunst überhaupt vom höchsten Einflusse gewesen ist, so hat es auch sehr bedeutend zum Aufschwunge der Baugewerke beigetragen, In diesem Sinne ist es ein Glück zu nennen, daß unsere Altvordern uns unvollendete Dome hinterlassen haben und die Zopfzeit das Vorhandene vernachlässigt hat. Um der Ausbaue und Restaurationen willen hat man Bauhütten gegründet, aus denen Schaaren von kunstgebildeten Arbeitern hervorgegangen sind.
Wundern wir uns über die Nichtvollendung von alten Bauen in solcher Zahl, daß man den vollen Ausbau einer großen gothischen Kirche als eine seltene Ausnahme betrachten kann, so können wir uns diesen Umstand damit erklären, daß unsere Vorfahren, theils freiwillig und theils im Drang der Noth, sich Zeit nahmen und daß, ehe sie mit dem Begonnenen fertig wurden, ein neuer Styl, der der Wiedergeburt, die Herrschaft antrat.
So war es mit dem Dom von Köln, einer der größten und wohl der schönste[WS 1] unter den vielen derartigen Bauten, welche das dreizehnte Jahrhundert begann. Ein Theil, das Chor, etwas mehr als ein Dritttheil der ganzen Länge messend, war seit 1322 vollendet, abgeschlossen und zum Gottesdienste geweiht: 1347 begann man am anderen Ende an den Thürmen und der westlichen Façade, der südliche Thurm ward im Laufe etwa eines Jahrhunderts bis zu einer ansehnlichen Höhe hinaufgeführt, dann zugedeckt, und 1437 hing man die Glocken darin auf. Die Langschiffe waren etwa bis zur Höhe von vierzig Fuß in Mauern und Pfeilern aufgeführt, im äußersten nördlichen Seitenschiff eingewölbt und bereits 1508 mit prächtigen gemalten Fenstern versehen, das Uebrige war mit Holz nothgedeckt; vom Querschiff war der nördliche Theil zu einer besonderen Pfarrkirche verbaut, vom südlichen stand nur ein Theil der östlichen Seitenwand.
So übernahm unser Jahrhundert den Bau, aber noch überdies in einem sehr verfallenen trümmerhaften Zustande. Vierhundert Jahre lang hatte man aufgehört zu bauen und endlich gar die Reparaturen unterlassen. Ringsum war das Gebäude mit anderen Gebäuden verbaut: im Süden war eine geräumige Kirche, St. Johann gewidmet, daran gebaut; im Osten stand dicht daran eine andere Kirche, Sta. Maria ad gradus; im Norden hing die Pfarrkirche Sta. Maria in pasculo, auf kölnisch „zum Pesch“, damit zusammen; zwischen die Strebepfeiler der Südseite des Langschiffes waren Häuser und Häuschen eingebaut, und das Ganze steckte halbverborgen in einer formlosen Masse von Baulichkeiten.
Von fern gesehen bildete der Dom zwei große hohe Massen, den Chor und den südlichen Thurmstumpf, auf welchem der Krahnen zum Aufbringen des Materials wie ein wunderliches Ausrufungzeichen emporstand und als Wahrzeichen der Stadt galt. Zwischen den beiden großen Massen streckte sich niedrig langhin das unvollendete Langschiff der Kirche. Es schien, daß dieser Bau das bleiben sollte, als was ihn die große kölnische Chronik bezeichnet, „ein ewiger Bau“, und es war endlich nahe daran, daß diese Ewigkeit des Werkes mit seiner Abtragung ein Ende nahm, als mit Ausbruch der französischen Revolution der Krieg und die Eroberung das Land überzogen, das Domcapitel flüchtete und seine reichen Schätze mitnahm, als 1801 das Erzbisthum Köln aufgelöst und Klöster und Stifter aufgehoben wurden.
Es wäre ein solcher Kunstfrevel vielleicht ziemlich unbemerkt vorübergegangen, denn noch zehn Jahre später klagt Sulpiz Boisserée in einem Briefe an den Baumeister Moller, daß sich in Köln außer ihm selber und einem alten Glasermeister kein Mensch um den Dom bekümmere.
Was diesen rettete, war, daß bei einer neuen Eintheilung der Pfarreien in der Stadt (die Franzosenherrschaft räumte auch in kirchlichen Dingen auf) die aufgehobene Laurentiuspfarre in den Dom verlegt wurde, der somit Pfarrkirche wurde. Mehr aber that der Antheil und die Thätigkeit eines einzelnen Privatmannes, dessen Namen wir eben nannten, Sulpiz Boisserée. Dieser, ein Kölner von Geburt, damals noch jung (1783 geb.), wohlbegütert, ursprünglich kaufmännischen Geschäften gewidmet, dann dilettirend in Philosophie und Geschichte, ist überhaupt, obschon persönlich eben nicht bedeutend, für die ganze neuere Kunst von großer Bedeutung gewesen.
Sulpiz Boisserée war in philosophischen und ästhetischen Dingen ein Schüler von Friedrich Schlegel, der mit Tieck die deutsche Romantik zur höchsten Blüthe brachte und den Sinn für altdeutsche Kunst neu erweckte. Er hatte natürliche Neigung zu romantischen Anschauungen und Gefühlen, die in der alten ruinenhaften Vaterstadt sehr natürliche Nahrung fanden, und er brauchte nicht wie Schlegel erst katholisch zu werden, er war es schon von Hause aus und frommen Sinnes. So widmete er dem Dom eine Art von Cultus, eine Verehrung wie einem Heiligthum und unternahm das große Bauwerk wenigstens idealer Weise herzustellen und zu vollenden. Etwa 1809 begann er mit Zeichnen und Vermessen desselben, und damit ward endlich wieder ein wärmerer Antheil auch in Köln für den Dom erweckt. 1811 kam es endlich so weit, daß die französische Regierung einige Tausend Franken zu Reparaturen auswarf, daß der Baumeister Moller aus [556] Darmstadt zu Rathe gezogen und ein wenig geflickt, ein bischen gestützt und das Einsturz Drohende abgerissen wurde.
Boisserée’s Werk ist bekannt; er hat mit einer Art von naiven Zuversichtlichkeit und Ausdauer Jahre lang bei Hoch und Niedrig für altdeutsche Kunst und besonders für den Dombau Propaganda gemacht und mit Erfolg. Als die Franzosenherrschaft vorüber war und Preußen Köln und die Rheinlande übernahm, da war der Sinn für die gothische Kunst schon wieder so geweckt, daß sogleich an die Restauration des Domes gedacht wurde, und der damalige Kronprinz, nachmaliger König Friedrich Wilhelm der Vierte, erhob sich bereits zu dem Gedanken der Vollendung des großen Wunderbaues. Schinkel wurde beauftragt den Bau zu untersuchen, und auf seinen Bericht verordnete der König Friedrich Wilhelm der Dritte, das Vorhandene solle erhalten werden, aber es dauerte noch bis zum Jahre 1824, ehe man wirklich Hand anlegte. Doch beschränkte sich Alles auf nothdürftige Reparaturen, die unter Leitung des Bauinspectors Ahlert bis 1833 fortgesetzt wurden, wo dieser starb. Nun übernahm Zwirner das Werk und machte sofort Pläne zum Weiterbau und zur Vollendung der eigentlichen Kirche, des Quer- und Langschiffes bis zu den Thürmen heran. Auch Schinkel hatte solchen Plan gefaßt, jedoch in der Weise, daß nur das Nothdürftigste im Rohbau geschaffen, selbst das Strebesystem womöglich gespart und alles Ornamentale und baulich nicht durchaus Erforderliche späteren Zeiten überlassen werden sollte. Bei dem System äußerster Sparsamkeit, welches unter Friedrich Wilhelm dem Dritten in Preußen herrschte, kam aber von alledem Nichts zur Ausführung.
Inzwischen war aber ein allgemeiner Enthusiasmus für den Kölner Dom erwacht: je weniger man im Grunde von der gothischen Kunst verstand, um so mehr schwärmte man dafür, und mit dem Regierungsantritte König Friedrich Wilhelms des Vierten kam ein kunstfreundlicher, ja kunstschwärmerischer Herrscher an die Spitze der Dinge in Preußen. Nun bildete sich in Köln ein Verein von angesehenen Bürgern zu dem Zwecke, den Dombau auf jede Weise zu fördern und zwar den Dom ganz nach dem ursprünglichen Plane fertig zu bauen, ohne Aenderungen, ohne Sparsamkeitsrücksichten das zu vollenden, was das Mittelalter nicht hatte vollenden können. Der König ward Protector dieses Vereins (1841) und gab dem Projecte des Ausbaues seine völlige Zustimmung, Zwirner’s Plan und Kostenanschlag wurden genehmigt, am 4. September 1842 wurde im Beisein verschiedener deutscher Fürsten durch den König der Grundstein zum Weiterbau gelegt, dort, wo sich das Südportal des Querschiffs öffnet, und der König sprach: „Hier, wo der Grundstein liegt, dort, mit jenen Thürmen zugleich, sollen sich die schönsten Thore der ganzen Welt erheben. Deutschland bauet sie, so mögen sie für Deutschland durch Gottes Gnade Thore einer neuen, großen, guten Zeit werden!“
Und in der That baute Deutschland an dem Werke; überall bildeten sich Zweigvereine zu solchem Zweck, der Kölner Verein ward Centralverein, wie er noch jetzt besteht. Der Staat gab jährlich fünfzigtausend Thaler für den Aufbau der Südseite, die Vereine brachten die gleiche Summe auf für die Nordseite. Aber auch von anderen Seiten flossen dem Werke bedeutende Hülfen zu. Der Prinz von Preußen, der jetzige König, gab zehntausend Thaler für die Bildwerke des Südportals, König Ludwig von Baiern gab sechszigtausend Thaler, der österreichische Kaiser fünftausend fünfhundert und zweiundfünfzig Thaler, die Königin von England dreitausend fünfhundert Thaler, der Großherzog von Baden eintausend einhundert zweiundvierzig Thaler, der Großherzog von Mecklenburg eintausend sechshundert und fünfzig Thaler, und der Herzog von Aremberg (die Familie der Aremberg stammt unseres Wissens von denen von Aare ab, denen auch der Erzbischof Conrad von Hochstaden, welcher den Grundstein des Domes legte, angehörte) giebt jährlich eintausend Thaler. Eine Menge sonstiger Schenkungen, Vermächtnisse und dergleichen Gaben flossen zu; die industriellen Gesellschaften zum Beispiel, welche bei dem ungemeinen Aufschwung des rheinischen Handels und der rheinischen Industrie sich bildeten und glänzende Geschäfte machten, gaben dem Dombau von ihrem Gewinne einen Antheil; dies beläuft sich auf etwa zweimalhunderttausend Thaler.
Auch die Stadt als solche that das Ihrige und thut es noch. Mau hat in letzterer Zeit die Umgebung des Domes freigelegt, eine Menge von Häusern sind verschwunden, wozu die Stadt ein Opfer von etwa fünfmalhunderttausend Thalern gebracht hat; so hat auch die Versicherungsgesellschaft Colonia ihre Gebäude, welche einen Theil der Nordostseite des Doms verdeckten, zum Opfer gebracht und sie sind abgetragen worden.
Im Jahre 1848 am 14. August waren sechshundert Jahre verflossen, seit der Grundstein zum Baue des Domes gelegt ward. Die Zeiten waren für solches Werk schlimm, Revolution brauste durch Europa und Alles war schwankend und schwebend. Gerade wie vor sechshundert Jahren der Graf Wilhelm von Holland als Gegenkönig bei der Grundsteinlegung zugegen, war König Friedrich Wilhelm der Vierte als erwünschter, nicht gewordener Kaiser von Deutschland bei der Feier anwesend, womit die neue provisorische Eindachung des Langschiffes, die Ummauerung des Querschiffes begangen wurde. Die Stürme der Bewegung legten sich bald und das Werk ging seinen ruhigen Gang fort. Im Jahre 1855 am 3. October konnten die Dachgiebel des Querschiffes durch Aufsetzung der Kreuzblume auf dem südlichen in Gegenwart des königlichen Protectors vollendet werden. Zur Eindeckung des Ganzen, welche gemäß den Fortschritten neuerer Technik nicht mehr mit Holzgebälk, sondern mit Eisen geschaffen wurde, gab wiederum die Stadt eine bedeutende Summe, und 1860 wurde der Mittelthurm, freilich nicht nach dem ursprünglichen Plane, wohl aber nach historischen Ueberlieferungen aufgebaut und vollendet, der jetzt über der Vierung des Lang- und Querschiffes sich erhebt, ein manchmal bestrittenes Werk von höchst geistreicher Construction aus Eisen und Zink. Es war das Letzte, was der Dombaumeister Zwirner an seinem Lebenswerke fertig werden sah; am 22. September 1861 starb er.
Zwirner’s Nachfolger, der Baumeister Voigtel, war früher schon seit vielen Jahren unter Jenes Leitung am Dombaue thätig. Ihm war es beschieden, einen Theil des großen Werkes zu dem Abschluß zu bringen, welchen man schon so lange ungeduldig erwartete. Viele Jahre hatte es gedauert, ehe Reparaturen und Vorarbeiten ein wirklich sichtbares Vorschreiten des Werkes möglich gemacht hatten, und dann traten scheinbar immer wieder verhältnißmäßige Pausen und Stillstände ein, weil sich der Fortschritt im Stillen vorbereitete. Jetzt plötzlich schritt der Bau fast zusehends vor: die Strebesysteme waren vollendet, die Gratbogen der Gewölbe standen, die Kappen wurden eingewölbt, und nun konnte die Scheidemauer, womit man vor mehr als fünfhundert Jahren den Chor abgeschlossen hatte, fallen, das ganze Kirchenhaus war vollendet.
Dieser Moment ward am 15. October 1863, dem Geburtstage des Protectors dieses Baues, der ihn indeß nicht mehr sehen sollte, feierlich begangen. Nicht, wie es seiner Zeit Schinkel der ungeheuren Aufgabe gegenüber schon als ein hohes Ziel ansah, nur im Rohbau und im Nothdürftigsten, sondern in der ganzen Fülle der Formen und des Schmuckes, war das Gebäude vollendet, und was Goethe vor fünfzig Jahren „mit Staunen und stiller Betrachtung“ als ein unmögliches Unternehmen mit dem Thurmbau von Babel verglichen hatte, war nach diesen fünfzig Jahren doch gethan und im Wesentlichen vollendet.
Aber nur das Kirchenhaus; es fehlen noch zwei Thürme, jene riesenhaften Steinpyramiden, welche fünfhundert Fuß in die Luft hinaufragen sollen, geschmückt mit aller Pracht der entwickeltsten gothischen Kunst, wie sie der Meister projectirt hat, dessen Zeichnung dazu verloren und auf die wundersamste Weise wiedergefunden war. Und auch dieser Aufgabe gegenüber mochte leicht der Muth erlahmen und die Kräfte ermatten. Wenigstens zwanzig Jahre noch bedarf es, mit den bisher angewandten Mitteln diese Aufgabe zu lösen. Zwanzig Jahre! Werden diese zwanzig Jahre gleichmäßig verlaufen und ohne Störungen? Wird die Begeisterung für das Werk, welche nach Jahrhunderte langem Schlafe endlich erwachte und die großen Mittel freudig schaffte, noch fernere zwanzig Jahre lang in gleicher Wärme dauern?
Bis dahin hatte der Bau jährlich etwa einmalhunderttausend Thaler gekostet. „Gebt mir jährlich das Dreifache zu verbauen,“ sagte der Dombaumeister, „und ich stelle Euch die Thürme in acht Jahren fertig!“ Wie schaffen wir diese Summe? fragte sich der Dombauverein und kam auf den glücklichen Gedanken, die Opferwilligkeit dadurch anzufeuern, daß den Gebern auch außer der Freude am wachsenden Werke ein anderer Vortheil in Aussicht gestellt wurde. Eine Prämiencollecte ward eingerichtet, das heißt eine Lotterie zum Besten des Dombaues: wer einen Thaler beiträgt, erhält ein Loos, worauf größere oder kleinere Gewinne fallen können. Fünfmalhunderttausend
[557]solcher Loose werden nach Abzug der Gewinne und der Kosten dem Dombau etwa dreimalhunderttausend Thaler einbringen. Auf ein Jahr hat die Regierung diese Prämiencollecte versuchsweise genehmigt; gelingt das Unternehmen, so wird es in den folgenden sieben Jahren fortgesetzt, und am Ende dieser Periode ist denn auch das große Werk des „ewigen Baues“ vollendet.[3]
Aber noch eine andere gute und schöne Seite hat das Unternehmen: ein Theil der Gewinne wird in Kunstwerken bestehen, und somit kommt ein Theil des gesammelten Geldes ganz rein der vaterländischen Kunst zu Gute; dreißigtausend Thaler sind zu solchem Zwecke ausgesetzt, die deutsche Künstlergesellschaft ist berufen worden, ihre Werke anzubieten, und in den letzten Tagen war im Museum zu Köln eine Ausstellung von vierhundert Kunstwerken deutscher Meister aller Schulen, aus welchen das Beste und Zweckentsprechendste ausgewählt und unter die Gewinne der Dombaulotterie aufgenommen werden wird. Derart wird der größte Gewinn einmalhunderttausend Thaler, der kleinste ein Gemäldchen von fünfzig Thalern Werth sein.
So greift in unserer commerciellen und industriellen Zeit der Handelsgeist in Alles ein und auch der Kunst unter die Arme, und was das Mittelalter mit aller Frömmigkeit des Sinnes, mit aller Ueberzeugung des Glaubens und allem Muthe unbeirrter Ueberzeugung nicht vollenden konnte, das fertigt die moderne Welt des neunzehnten Jahrhunderts, die so oft verschrieene, unfähig, frivol, leichtsinnig genannte.
Jede Zeit hat ihre Art, und wenn im dreizehnten und im vierzehnten Jahrhundert St. Peter’s Boten durch das Land gingen, Gaben heischend für das große Gebäude zu Gottes und der heiligen Jungfrau Ehren, und Ablaß der Sünden geboten wurde als Lohn für die Beiträge, so macht man das jetzt anders und sagt: „Gebet, Ihr Weltkinder, Etwas zu dem gewaltigen Werke, das wir zu Gottes Ehre errichten, indem wir darin der geschaffenen Menschen Schöpfungskraft aufs herrlichste offenbaren, und da Ihr liebe Weltkinder seid, so versprechen wir Euch als Gegengabe die Aussicht auf einen ganz hübschen Gewinn. Ob Ihr den Gewinn bekommt, ist Glückssache, aber Euer Thaler wird gut, wird vortrefflich verwandt.“
Die „Gartenlaube“ ist durch den nachstehenden Artikel mit einer ebenso seltenen wie tiefernsten Bestimmung betraut worden: sie soll, möglicherweise, ein junges Menschenleben vor dem Fallbeil des Scharfrichters retten. Es gilt Geheimnisse an das Licht zu ziehen, welche vielleicht im Schooße einer einzigen Familie, vielleicht in einer einzigen Menschenbrust verborgen sind, und weil die „Gartenlaube“ an dem Heerde von Tausenden von Familien heimisch ist, bis zu welchen oft nur wenig andere öffentliche Blätter vordringen, so hat ein Beamter der Oberstaatsanwaltschaft von Sachsen-Weimar es für seine Pflicht gehalten, in unserem Blatte noch einen Versuch zum Herbeiruf eines Zeugnisses zu machen, das allein dem Richterspruch nach Geschworenen-Urtheil über ein verwirktes Leben entgegentreten, eine vielleicht Unschuldige aus der Todesnoth erlösen und die deutsche Rechtspflege vor einem Justizmord bewahren kann.
Am 22. Mai d. J. wurde vor dem Schwurgerichte zu Eisenach eine Untersuchung zu Ende geführt, für deren mannigfache Räthsel und Geheimnisse der Wahrspruch der Geschworenen selbstverständlich nur eine Entscheidung, aber keine Lösung zu bieten vermochte.
Des Mordes angeklagt, stand Amalie Wechsung aus Oldisleben vor Gericht; aber sie leugnete beharrlich ihre Schuld, Niemand war da, welcher Zeuge der dunklen That gewesen wäre, und so mußte denn der Beweis durch Indicien geführt werden, d. h. durch eine geeignete Zusammenstellung von einzelnen Umständen, Ereignissen und Beobachtungen, welche in ihrer Vereinigung und Gesammtwirkung keinen Zweifel mehr an der Schuld des Verbrechens übrig lassen können. Ein solcher Beweis ist schwer, und doppelt schwer da, wo ein drohendes Todesurtheil, dessen Folgen nie getilgt werden können, zur höchsten Vorsicht ermahnt: aber er wirkt auch dann, wenn er durchgeführt wird, ergreifender und tiefer, als jede andere Art der Ueberführung. Zeugen können sich täuschen, oder sich zum Verderben eines Unschuldigen vereinigen, Angeklagte können sich aus Lebensüberdruß, oder um Andere in ihr eigenes Schicksal mit zu verstricken, für schuldig bekennen, ohne es zu sein: wo aber an den verschiedensten Orten und unter den verschiedensten Umständen Tausende von sonst kaum beachteten Kleinigkeiten sich vereinigen, um unter ihrer Gesammtlast den Schuldigen zu erdrücken, wo die stillen Fluthen Sprache gewinnen, einzelne Blutstropfen, wie im Märchen, vernehmlich reden, und Steine selbst nach Rache schreien, da fühlt man schauernd die Nähe einer höheren, vergeltenden Macht, welche den verborgenen Verbrecher an das Tageslicht zieht und ihm seinen Richtern überliefert.
Einen Beweis dieser Art galt es gegen die Wechsung zu führen.
Die Angeklagte ist jetzt dreißig Jahre alt, von mittlerer Größe und schlankem Wuchse, die Züge ihres mageren, etwas gebräunten Gesichtes verrathen noch jetzt, daß sie einst hübsch war, ihre Stimme klingt sanft und gewinnend, ihr Haar ist dunkel, um den hübschen Mund lagert sich der Ausdruck der Sinnlichkeit, während aus den hellblauen Augen ein leichter oberflächlicher Geist oder aber eine wohlmaskirte Heuchelei zu sprechen scheint. Obwohl den unteren Volksclassen angehörig, weiß sie doch ihre Worte gut zu setzen und führte während der langen Verhandlung die Vertheidigung für ihr Leben mit so viel Ruhe, Umsicht und Kaltblütigkeit, daß sie einem erprobten Krieger zum Muster hätte dienen und einen Advocaten der englischen Schule zur Begeisterung hätte entflammen können.
Im Jahre 1853 gebar Amalie Wechsung ein Mädchen, und im Jahre 1857 Zwillinge, beide ebenfalls Mädchen. Alle diese Kinder starben auffallend schnell: das eine nach drei Wochen, das andere nach sieben Wochen, das dritte nach einem und drei Vierteljahren. Haftet auch schon ihr Blut an den Händen der Angeklagten? Der öffentliche Ankläger lieh diesem Verdachte klare Worte, allein die kleinen Leichen sind längst wieder zu Erde geworden; versuchen wir es daher nicht, diesen Schleier zu lüften, und lassen wir der Angeklagten ihr düsteres Geheimniß! Im Jahr 1859 stand dieselbe abermals im Verdacht, heimlich geboren zu haben; man hatte eine Kindesleiche in einem Baum gefunden, aber es fehlte an Beweisen, und die Untersuchung mußte auf sich beruhen bleiben.
Am 20. April 1864 mußte Amalie, die zuletzt bei dem Gastwirth Wolf in der Theaterstraße in Leipzig als Köchin in Diensten gestanden hatte, in das Trier’sche Entbindungsinstitut daselbst gebracht werden und gab hier, obschon sie gegen Jedermann ihren Zustand verleugnet hatte, am 26. April 1864 einem Knaben das Leben, welcher in der Taufe die Namen Johann Ludwig Wilhelm erhielt und im Leipziger Kirchenbuche als nach Oldisleben gehörig eingetragen wurde.
Noch vierzehn Tage verweilte sie in dem Institute, dann verließ sie mit ihrem Kinde dasselbe am 11. Mai 1864 und trat Tags darauf, am 12. Mai, früh um fünf Uhr bei der ihr befreundeten Familie des Arbeitsmannes Bertram zu Halle, wo sie vor ihrem Leipziger Aufenthalte gelebt hatte, in’s Zimmer, jedoch – ohne ihr Kind. Ihr leidendes Aussehen fiel den Bertram’schen Eheleuten sofort auf, allein sie suchte dasselbe durch kranke Füße zu entschuldigen. Am Nachmittag des 13. Mai verließ sie die Bertram’sche Wohnung wieder mit der Aeußerung, daß sie nun nach Stadtsulza zu ihren Großeltern fahren wolle; statt aber diesen Vorsatz auszuführen, erschien sie am 14. Mai Abends um dreiviertel acht Uhr bei der Frau des Schmiedegesellen Fuchs in Halle und versicherte dieser, daß sie soeben mit der Eisenbahn von Leipzig gekommen sei, um ihren Geliebten zu besuchen. Bei der Fuchs erkrankte sie nach wenigen Tagen und blieb fünf Wochen lang krank, immer indeß ohne das Geringste von dem in Leipzig Vorgefallenen zu erzählen.
So breitete sich denn allmählich Schweigen über die ganze Angelegenheit und diese schien bereits vollkommen der Vergessenheit anheimgefallen zu sein, als die Wechsung zu Anfang des Septembers 1864 in ihrem Heimathsorte Oldisleben wieder eintraf und von dem dortigen Gemeindevorstande – welcher durch das Leipziger Polizeiamt von ihrer Entbindung benachrichtigt worden war – nach dem Verbleiben ihres Kindes gefragt wurde. Jetzt erst räumt sie das Geschehene ein, und es taucht nun in ihren Erzählungen eine Person auf, deren Verhalten offenbar räthselhaft und geheimnißvoll, deren Vorhandensein zwar zweifelhaft, aber nicht unmöglich ist und an deren Existenz das Leben der Angeklagten hängt. Fassen wir Alles zusammen, was die Wechsung über jene Person anzugeben vermag, denn es gilt vielleicht, eine Unschuldige zu retten und das Henkerbeil aufzuhalten, welches bereits drohend über ihrem Haupte schwebt.
Acht Tage vor ihrer Entlassung aus dem Trier’schen Entbindungsinstitut, so erzählt die Angeklagte, fand sich daselbst eine anständig gekleidete Frau in einem Alter von etwas über dreißig Jahren ein, welche sich den Namen „Frau Werther“ beilegte und sich gegen sie erbot, ihr Kind an sich zu nehmen und aufzuziehen; mehrere weibliche Patienten des Institutes sollen diese Unterredung mit angehört haben, ohne daß die Angeklagte deren Namen anfänglich zu nennen vermochte. Erst in der Hauptverhandlung behauptete die Wechsung, daß ihr nunmehr die Namen dieser Personen eingefallen seien, aber sowohl sie, als ihr Vertheidiger versäumten es, die Ermittelung und nachträgliche Vernehmung derselben ausdrücklich zu beantragen. Es steht ferner durch die Aussage der Hebamme Richter, welche die Wechsung unter ihrer Obhut hatte, fest, daß Jene an den ihrer Entlassung aus dem Institute vorhergehenden Tagen mehrmals sich unter dem Vorwande entfernte, daß sie noch ihr Dienstbuch und den rückständigen Lohn von ihrem Dienstherrn zu holen habe. Am Tage ihrer Entlassung wurde sie mit ihrem Kinde angeblich von der Frau Werther am Eingange des Trier’schen Institutes in Empfang genommen: die Straßen, durch welche Beide gingen, vermag sie nicht mehr anzugeben, denn sie hat, wie erwiesen ist, die Wohnung ihrer Dienstherrschaft fast nie verlassen und kennt deshalb Leipzig nicht; nur soviel ist sie im Stande mitzutheilen, daß die Frau Werther mit ihr erst eine Strecke geradeaus und dann „links um die Ecke herum“ gegangen und daß sie bei ihrer großen Erschöpfung ziemlich eine halbe Stunde gebraucht habe, ehe sie zur Wohnung der Frau Werther gelangt sei. Letztere habe in einem anständigen Hause drei Treppen hoch gewohnt und sei recht gut eingerichtet [559] gewesen. Sie habe ihr erzählt, daß sie schon früher ein Kind in Pflege gehabt habe, welches aber im fünften Jahre gestorben sei, und daß sie dessen Kleider noch besitze. Die bisherige Kleidung des Wechsung’schen Kindes sei ihr zu schlecht gewesen, da sie „mit demselben habe Staat machen wollen“; sie habe der Angeklagten daher diese Kleidungsstücke zurückgegeben und diese habe noch an demselben Tage dem Kinde einen neuen Anzug von der Farbe des bisherigen gekauft. Obwohl die Frau Werther sich sogar bereit erklärt habe, das Kind ohne alle Entschädigung zu ihrem puren Vergnügen“ bei sich zu behalten, so sei doch schließlich verabredet worden, daß die Angeklagte ihr für’s erste Jahr zwanzig Thaler Ziehgeld geben solle, und Letztere habe sofort fünf Thaler abschläglich bezahlt. Dagegen habe sich die Frau Werther verpflichtet, sie regelmäßig am ersten Sonntage jeden Monats in Halle aufzusuchen und ihr das Kind zu zeigen; auch habe dieselbe die Angeklagte, welche noch an demselben Abende (11. Mai) um ein halb sechs Uhr nach Halle abreiste, bis zum Bahnhofe begleitet, ihr aber schon unter dem 21. oder 22. Mai, während die Wechsung bei der Frau Fuchs krank lag, brieflich gemeldet, daß das Kind an Krämpfen gestorben sei. Die Wechsung selbst bezweifelt die Richtigkeit dieser Meldung und spricht die Vermuthung aus, daß jene Frau Werther das Kind nur ganz in ihre Gewalt habe bekommen und ihr durch die Todesnachricht die Lust zu weiteren Nachforschungen habe benehmen wollen.
Existirt nun eine Frau der bezeichneten Art in der That? Heißt sie wirklich Werther? Lebt sie noch in Leipzig? Kennt sie die entsetzliche Lage der Angeklagten? Ist es ihr möglich, offen aufzutreten und die Unschuld derselben darzuthun?
Die Leipziger Polizei hat unter der Leitung des Actuar Richter die umfassendsten und sorgfältigsten Nachforschungen nach der Frau Werther angestellt; aber sie hat überall diesen, möglicherweise falschen Namen zu ihrer Richtschnur genommen. Die Seelenlisten Leipzigs weisen nur zwei Frauen mit Namen Werther auf; allein von diesen ist die eine schon ziemlich bejahrt, die andere ist eine junge Musiklehrerin, die Stellung Beider aber ist von einer Art, daß die Polizeibeamten es für unnöthig befunden haben, sie auch nur mit einem Worte nach dem Wechsung’schen Kinde zu befragen. Außerdem hat nach der Fremdenliste damals auch eine Schauspielerin Werther sich „zur Cur“ in Leipzig aufgehalten, über welche es an weiteren Nachrichten fehlt. Auch in den benachbarten Ortschaften hält sich keine Frau Werther auf und hier, wie in Leipzig, geben auch die Sterbelisten keine Nachricht über das Wechsung’sche Kind. Daß Gaukler oder Seiltänzer das Kind an sich genommen haben sollten, ist unwahrscheinlich, denn Leute dieser Art befassen sich nicht mit Kindern von so jugendlichem Alter.
Alle jene polizeilichen Nachforschungen jedoch gehen von der Voraussetzung aus, daß die angebliche Frau Werther in guter Absicht gehandelt habe und deshalb auch der Polizei gegenüber vollkommen gesetzmäßig verfahren sei. Wie nun aber, wenn es sich darum handelte, das Kind zu einem Verbrechen zu verwenden? Nicht blos in Romanen, sondern auch im wirklichen Leben verschwinden Kinder und tauchen in angesehenen Familien wieder auf. Man vergesse nicht, daß das verschwundene Kind ein Knabe war und daß bei vielen Familien Vermögen, Ansehen und häuslicher Friede von der Geburt eines Knaben abhängen; wie nun, wenn auch der Wechsung’sche Knabe das, was die Natur verweigerte, ersetzen, oder an die Stelle eines kurz nach der Geburt verschiedenen Kindes eintreten sollte, da, wo vielleicht keine Aussicht mehr auf einen gesetzlichen männlichen Erben vorhanden war? Würde dann wohl die angebliche Frau Werther, wenn sie, um einen solchen Betrug zu unterstützen, nach Leipzig kam, die geringe Geldstrafe gescheut haben, welche auf die unterbliebene Anmeldung bei dem Polizeiamt gesetzt ist? oder würde sie wohl der Angeklagten denselben Namen genannt haben, welcher in den polizeilichen Listen stand, um so den Nachforschungen mißtrauischer Verwandten Thor und Thür zu öffnen? War es dann nicht am Gerathensten, das Kind einer Person zu wählen, welche, nicht in Leipzig wohnhaft, nicht einmal mit den Straßen Leipzigs bekannt, schwerlich dorthin zurückkehrte, und diese Person dann durch die Meldung von dem Tode des Kindes von allen weiteren Nachfragen abzuhalten? Konnte sie eine solche Person wohl anderswo leichter finden, als in einer öffentlichen Entbindungsanstalt, deren Bewohnerinnen ihre Mutterschaft als ein Unglück zu betrachten pflegen? und sollte es ihr, einen solchen Zweck vor Augen, so ganz unmöglich gewesen sein, die Wachsamkeit des Thürhüters und des Dienstpersonals im Trier’schen Institute zu täuschen, um mit der Wechsung in Verkehr zu treten? Natürlich würde der weitere Verlauf des beabsichtigten Betruges schwerlich in Leipzigs unmittelbarer Nähe stattgefunden haben, und so ließe es sich wohl auch leicht erklären, daß die öffentlichen Aufrufe in den Leipziger Localblättern den Mitschuldigen des Betruges nicht zu Augen gekommen sind, selbst wenn dieselben geneigt sein sollten, sich selbst und die Ehre ihrer Familie der öffentlichen Schande preiszugeben, um eine unschuldig Angeklagte vom Tode zu erretten.
Freilich dürfen wir uns auch nicht das schwere Gewicht der Thatsachen verhehlen, welche gegen die Angeschuldigte sprechen. Sie hat in Leipzig gegen Niemand geäußert, daß sie ihr Kind dort zu lassen gedenke, sondern vielmehr erklärt, sie nehme dasselbe mit sich, um es ihrem Geliebten zu zeigen; aber mußte nicht gerade eine solche Erklärung den Absichten der geheimnißvollen Frau Werther entsprechen, welche ihr dieselbe vielleicht erst eingeflüstert hatte? Sie reiste am Abend des 11. Mai von Leipzig ab und behauptet, noch an demselben Abend bei den Bertram’schen Eheleuten in’s Zimmer getreten sein, um sich aus ihrem dorthin vorausgeschickten Koffer ein Nachtkleid zu holen; während Jene eidlich versichern, daß sie erst am 12. Mai früh um fünf Uhr bei ihnen sich eingestellt habe, zu einer Zeit, zu welcher noch kein Frühzug von Leipzig angekommen sein konnte. Nur in jener Nacht vom 11. zum 12. Mai kann sie ihr Kind getödtet haben, wenn sie es überhaupt getödtet hat, weil nur für diese Zeit es an einem Nachweis über ihren Aufenthalt fehlt und weil erst von da an ihr Kind verschwunden ist. Als sie bei Bertram’s eintrat, trug sie ein Bündel unter ihrem Arme und verschloß dasselbe in ihrem Koffer. Dieses Bündel enthielt bei späterer Prüfung die Kleider ihres Kindes in beschmutztem Zustande, als seien sie soeben erst einem Kinde vom Leibe genommen worden. Es waren die einzigen Kindersachen, welche die Hebamme Richter für sie angeschafft und welche sie im Trier’schen Institute überhaupt besessen hatte; aber stimmt dies nicht mit ihrer Angabe, daß die Frau Werther ihr die alten Kleider des Kindes zurückgegeben und nur den nach ihrer Entlassung aus dem Trier’schen Institute neu angeschafften Anzug behalten habe? Die Frau Fuchs bezeugt ferner, daß die Wechsung, während sie bei ihr krank gelegen, zwar mehrere Briefe erhalten habe, jedoch keinen aus Leipzig; reicht aber wohl diese Aussage hin, um zu bestreiten, daß jene Frau Werther existirt und der Angeschuldigten den Tod ihres Kindes gemeldet hat?
Die Angeklagte hat in Halle ihren Zustand und ihre erfolgte Niederkunft geleugnet; aber welchen Grund hätte sie auch dafür gehabt, jedem Unbetheiligten offen ihre Schande zu bekennen? Sie hat überhaupt mannigfach gelogen, selbst da, wo es durch ihre Vertheidigung nicht unbedingt geboten war, wie z. B. damals, als sie der Fuchs erzählte, sie sei erst am Abend des 14. Mai in Halle angekommen; allein hieraus geht nur hervor, daß sie eine gewohnheitsmäßige Lügnerin ist und nicht etwa erst zur Lüge ihre Zuflucht genommen hat, als es galt ein Verbrechen zu verheimlichen.
Das schwerste Moment, welches freilich die Angeklagte zu erdrücken droht, ist folgendes. Am 16. Mai 1864 wurde bei Halle unterhalb der Gasanstalt ein nackter Kindesleichnam männlichen Geschlechtes in der Saale gefunden. Die Länge dieses Leichnams stimmt annähernd mit dem Maße, welches im Trier’schen Institute von dem Wechsung’schen Kinde genommen wurde, überein, und die geringe Differenz sucht die Anklage mit der Schwierigkeit, welche die Messung eines lebenden Kindes darbietet, zu erklären. Die Kindesleiche wog fünfzehn Loth schwerer als das vermißte Kind, und auch dieser Umstand wird durch das eingedrungene Wasser zu erläutern gesucht; die Augen der Leiche waren weiter in der Verwesung vorgeschritten, als andere Körpertheile, und es wurde allerdings festgestellt, daß die Augen des Wechsung’schen Kindes geschwürig gewesen waren; die Haare der Leiche waren blond und spärlich, gerade wie beim Wechsung’schen Kinde, und die Physikatspersonen gaben ihr Gutachten dahin ab, daß das fragliche Kind bei seinem Tode ungefähr vierzehn Tage alt gewesen und durch Ertrinken um’s Leben gekommen sei. Von entfernteren Orten her konnte die Leiche auch nicht herbeigeschwommen sein, denn es war gerade niedriger Wasserstand, und ein Wehr, kurz über der Stelle, wo man die Leiche fand, würde dieselbe damals nicht durchgelassen haben. Das Kind mußte daher erst unterhalb des Wehres in das [560] Wasser geworfen worden sein, und die Vermuthung sprach dafür, daß dieses eben da geschehen, wo die Leiche gefunden wurde, weil hier gerade ein Wirbel in der Saale war, welcher einen einmal erfaßten Gegenstand nicht leicht wieder entließ. Hierzu kam noch, daß die Angeklagte zweimal in der Nähe dieses Platzes gedient hatte, und daß dicht dabei eine Brücke über die Saale nach mehreren Vergnügungsorten führt, über welche die Angeklagte häufig gekommen sein mußte.
Unter der Leitung des Polizeirathes Albrecht in Halle sind nun in der Stadt und in deren Umgegend die sorgfältigsten Nachforschungen nach verschwundenen Kindern angestellt worden: man hat von allen Küstern und Hebammen Verzeichnisse der in der Zeit vom 15. April bis zum 5. Mai 1864 in Halle und Umgegend geborenen Kinder eingezogen und deren Verbleib mit bewundernswerther Genauigkeit festgestellt. Auch öffentliche Aufrufe sind ohne Erfolg geblieben. Das ertrunkene Kind kann daher unmöglich eines von denjenigen sein, deren Geburt zur vorschriftsmäßigen Kenntniß der Hebammen und Küster gelangt war. Aber mußte es darum gerade das Kind der Angeklagten sein? Konnte es nicht von einem anderen unglücklichen Geschöpfe herrühren, welches sich zu dem verzweifelten Entschlusse gedrängt sah, den Zeugen seiner Schande für immer in den Fluthen zu begraben? Konnte das Kind nicht von einer durchreisenden Person herrühren? Pflegen nicht bei Kindern dieses Alters Gewicht und Maß ziemlich gleich zu sein? Sind Augenkrankheiten nicht bei neugeborenen Kindern eine ziemlich häufige Erscheinung? Sind blonde spärliche Haare bei Kindern so selten zu finden? Muß es nicht auffallen, daß jener Wasserwirbel die Kindesleiche vom 11. bis zum 16. Mai herumtrieb, ohne daß eine der zahlreichen auf der Brücke vorübergehenden Personen dieselbe bis dahin bemerkt haben sollte? Und vor Allem muß doch auch hervorgehoben werden, daß nicht der geringste Beweis dafür vorliegt, daß die Angeklagte überhaupt ihr Kind mit nach Halle gebracht hat.
Die Anklage lautete auf Mord; denn das Strafgesetz nimmt lediglich da einen nur mit zeitlicher Zuchthausstrafe bedrohten Kindesmord an, wo eine Mutter ihr nicht legitimes Kind entweder während der Geburt oder innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden nach derselben vorsätzlich um’s Leben bringt, weil es im letzteren Falle voraussetzt, daß die Mutter in Folge von Schmerz, Aufregung und Furcht vor Schande nicht bei voller Zurechnungsfähigkeit gewesen sei.
Es ist ein ergreifender Anblick, zu sehen, wie ein einzelner Mensch vor ernsten zweifelnden Richtern und gegenüber einer Beweislast, zu deren Aufbringung der Staat alle Kräfte aufgeboten bat, um sein Leben kämpft, und doppelt ergreifend ist dieser Kampf da, wo ein schwaches Weib ihn führt. Die Angeklagte führte ihn, wie schon erwähnt, mit einer Ruhe und Umsicht, welche in Erstaunen setzten. Beiläufig sei bemerkt, daß der Vertheidiger sich fast nur darauf beschränkte, einen kürzlich vorgekommenen Fall aus der englischen Schwurgerichtspraxis ausführlich mitzutheilen und im Allgemeinen die Behauptung aufzustellen, daß ein Schuldig überall da nicht ausgesprochen werden dürfe, wo sich doch möglicherweise die Sache noch anders verhalten könne, ohne daß er aber nach Maßgabe dieses Grundsatzes die Einzelnheiten des Falles der Reihe nach einer tiefer gehenden Prüfung unterzog. Nach kurzer Berathung sprachen die Geschworenen mit elf Stimmen gegen eine über die Angeklagte das Schuldig aus, und selbst bei dieser einen Stimme ist es zweifelhaft, ob sie aus principieller Abneigung gegen die drohende Todesstrafe oder aus Ueberzeugung von der Unschuld der Angeklagten zu deren Gunsten ausfiel. Jedenfalls ist dieses Stimmenverhältniß indeß ein Beweis für die Schwere der Verdachtsmomente, welche sich über ihrem Haupte zusammengethürmt hatten. Aber weder jetzt, noch als der Gerichtshof das Todesurtheil über sie aussprach, verlor die Angeklagte ihre Fassung; ohne ein Geständniß abgelegt zu haben, folgte sie ihrem Wärter in das Gefängniß und wird dieses nur verlassen, um entweder das Schaffot zu besteigen, oder, im günstigsten Falle eines Gnadenactes, auf Lebenszeit hinter Zuchthausmauern zu verschwinden.
Haben wir es nun hier mit einer betrogenen Unglücklichen oder mit einer verlogenen Mörderin zu thun? Ist der Beweis wirklich so vollständig erbracht, daß es die Frau Werther nicht giebt und nicht geben kann? Es sei fern von uns, den Händen der Justiz eine ihr verfallene Schuldige wieder entreißen zu wollen; aber es kommt uns darauf an, das Geheimniß aufzuklären, welches über der Sache zu schweben scheint. Noch lebt, noch athmet die Angeschuldigte; noch hat das Henkerbeil seine grausige Arbeit nicht gethan. Noch ist die Möglichkeit gegeben, vielleicht eine Unschuldige zu retten, vielleicht aber auch die Schuld einer Verbrecherin so klar hinzustellen, daß selbst der geringste Zweifel, welcher etwa in der Brust eines ihrer Richter bei der Abstimmung der Geschworenen sich regt, schwinden muß. Scheuen wir diesen letzten Versuch nicht! An der Existenz der geheimnißvollen Frau Werther hängt das Leben der Angeklagten; das Erscheinen derselben giebt der Angeklagten Leben und Freiheit wieder! Wohlan denn, dehnen wir die Nachforschungen, welche bisher nur auf den kleinen Umkreis von Leipzig und Halle beschränkt waren, über ganz Deutschland aus. Es war dies bis zur Urtheilsfällung unmöglich, weil die Gesetze es verbieten, bis zu diesem Augenblick den Inhalt von Untersuchungsacten zu veröffentlichen. Lebt eine Frau Werther, sei es auch unter anderem Namen, so wird unser Ruf sie sicher erreichen. Die „Gartenlaube“, welche in der Hütte des schlichten Arbeiters ein ebenso willkommener Gast ist wie in den Sälen der Reichen, wird diese Frau ausfindig zu machen wissen, wenn dieselbe nicht überhaupt blos die schlaue Erfindung einer durchtriebenen Verbrecherin ist; sie wird dann auch diejenige Mutter erreichen, deren Kind in den Wellen der Saale todt gefunden wurde, wenn diese nicht mit der Angeklagten eine und dieselbe Person ist. Mögen diese Frauen der Wahrheit die Ehre geben! Mögen sie offen auftreten und für die Angeklagte Zeugniß ablegen! Möge Jeder, welcher Auskunft zu geben vermag, dieses thun!
Es gilt ein Menschenleben!
Eine freche Verhöhnung der Gesetze. Um die Wirkungen des heilkräftigen Seebades zu paralysiren, hat das stolze England seit Jahren, versteht sich gegen Erlegung einer enormen Pachtsumme, auf Helgoland die Erlaubniß zur Haltung einer Spielhölle gegeben. Diese Bank auf Helgoland bringt, Dank den vielen Gimpeln, die sich dort rupfen lassen, trotz der großen Abgaben, einen enormen Reingewinn. Was liegt daran, wenn die sonst so segensreichen Wirkungen des Badeaufenthaltes durch die zerstörende Aufregung der spielenden, meistens nervenleidenden Patienten für diese in das Gegentheil umschlagen? Man behauptet, der Gouverneur der Insel beziehe von dem Pachtschilling einen Theil seiner Einkünfte, auch die Ausbesserung des Straßenpflasters wird davon bezahlt: Grund genug, der Spielerbande den Schutz der Gesetze angedeihen zu lassen! Da aber dieser Schutz vollständig ungesetzlich ist, so ereignete sich vor mehreren Jahren ein Vorfall, der beinahe dem ganzen Unwesen ein Ende gemacht hätte und der in seiner Art sehr komisch genannt werden könnte, wenn er nicht eine fast beispiellose Verhöhnung der englischen Gesetze, ausgeübt von englischen Unterthanen, unter der Aegide eines englischen Gouverneurs, in sich schlösse.
Ein verkommenes Subject hatte irgendwie erfahren, daß alle Hazardspiele in England durch Parlamentsacte strenge verboten sind. Darauf baute der Strolch nun den Plan, „die Bank auf Helgoland zu rupfen“. Gesagt, gethan! Er machte der Administration den bescheidenen Vorschlag, ihm eine große Summe auszubezahlen, widrigenfalls er sie ruiniren würde. Man behandelte ihn ganz einfach als Verrückten und warf ihn zur Thür hinaus. Der hartgesottene Projectenmacher aber begab sich zum Gouverneur und machte diesem mündlich und, als dieser darauf nicht einging, schriftlich die Anzeige, daß auf der Insel Helgoland eine Spielerbande ihr Wesen treibe, deren Aufhebung er nach den bestehenden Gesetzen verlange.
Nach einigen Wochen erhielt er von dem „Stellvertreter der Königin“ den Bescheid, daß dieser von dem Bestehen einer solchen Bank nichts wisse, daß er aber den Aufsichtsbehörden den Befehl zugesandt habe, nach einer solchen zu recherchiren.
Und wie komisch es auch klingt, während Tag für Tag öffentlich, im Curhause, zwei Spieltische unausgesetzt arbeiteten, suchten die Behörden von Helgoland einen halben Monat lang, um die denuncirte Bank aufzufinden, und berichteten wieder an den Gouverneur, daß ihnen dies trotz aller Mühe nicht gelungen und eine Spielhölle auf Helgoland nicht aufzufinden sei. Hierauf wurde das „Subject“ wegen Mangel an Subsistenzmitteln von der Insel verwiesen. Um aber dem Eclat, den die Sache dort in sehr unliebsamer Weise verursachte, ein kleines Mäntelchen umzuhängen, wurden die Nachforschungen nach der Spielbank, die sich auf Helgoland befinden „solle“, so eifrig fortgesetzt, daß dieselbe kurz vor dem Schluß der Saison richtig aufgefunden und drei Tage vor dem Ende derselben wirklich polizeilich geschlossen wurde. Natürlich trat das Bänkchen im nächsten Sommer zu neuem blühenden Leben auf und besteht seit der Zeit unangefochten und unbehelligt weiter. Einen Commentar braucht die Geschichte nicht, wohl aber die möglichste Verbreitung.
M. v. d. Gr–n in Berlin. Schon mit nächster Nummer beginnt wieder eine größere Erzählung. Im Uebrigen werden wir Ihren und den Wünschen vieler Leser gemäß, zu dem alten Principe der Gartenlaube, wo möglich in jedem Monatshefte eine Erzählung abzuschließen, fortan zurückkehren.
- ↑ Wir verdanken die nachstehenden durchaus auf Wahrheit beruhenden Mittheilungen, welche von Neuem den Charakter der südstaatlichen Bewegung kennzeichnen, einem Manne, der zu dem Bruder des unglücklichen Gibson (dessen wirklicher Name allerdings anders lautet) jahrelang in den engsten geschäftlichen und persönlichen Beziehungen stand. Die Redaction.
- ↑ S. Nr. 19 und 21.
- ↑ Dürfte es nicht gerathen sein, den Ziehungstermin noch um einige Wochen hinauszuschieben? Die Red.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: schönsten