Die Gartenlaube (1871)/Heft 44

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1871
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 44.   1871.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 15 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Das Haideprinzeßchen.

Von E. Marlitt.
(Fortsetzung.)


Schon während meiner Mittheilungen hatten zwei Lakaien geräuschlos einen vollständig arrangirten Theetisch in das Zimmer getragen, und eben, als mein letzter Ton verhallt war, trat ein Herr in schwarzem Frack ein. Er verbeugte sich tief, dann schnellte er empor und schlug mit unleugbarer Grazie applaudirend in die lederbekleideten Hände.

„Wundervoll, Hoheit! Bei Gott, magnifique!“ rief er mit Ekstase, indem er stürmisch, wenn auch mit völlig lautlosen Schritten auf die Prinzessin zukam. „Aber welche Grausamkeit gegen uns Alle, Hoheit!“ fügte er in vorwurfsvollem Tone hinzu und ließ die graciös geschwungenen Arme sinken – die ganze ältliche Erscheinung nahm die kindischen Mienen und Manieren eines schmollenden jungen Mädchens an. – „Seit Jahren bitten wir auf den Knieen um einen einzigen Ton aus dieser Nachtigallenkehle – vergebens! … Wie ein Dieb, ein unglückseliger Verbannter muß man draußen auf der Schwelle stehen, wenn man einmal wieder den langentbehrten Genuß haben will. … Wie, eine kranke, eine ruinirte Stimme soll das sein? Dieser Schmelz, diese Glockenfülle – Hoheit!“

Er schlug die Augen gen Himmel und berührte Daumen und Zeigefinger küssend mit den Lippen. … Ich war ganz bestürzt. Diese Menschenspecies war mir so völlig neu wie ein Bewohner von Otaheiti. Nur die ziemlich tiefe Stimme und zwei am Kinn sorgfältig gescheitelte Bartstreifen erregten mein Bedenken, sonst hätte ich d’rauf geschworen, es sei eine Hofdame im Frack.

„Mein bester Herr von Wismar,“ sagte die Prinzessin mit unterdrücktem Lachen, „in früheren Zeiten habe ich mich allerdings zuweilen der Sünde schuldig gemacht, mit einer sehr schwachen und sehr mittelmäßigen Singstimme meine Umgebung zu langweilen – daran sollten Sie mich doch ja nicht erinnern, ich habe es ja zu sühnen gesucht, indem ich bei Zeiten aufgehört. … Uebrigens sehe ich mit großer Befriedigung, daß meine musikalischen Missethaten glücklich vergessen sind, denn unser edler Kammerherr läßt meinen tiefen Alt frischweg zum glockenhellen Sopran, den armen Hänfling zur Nachtigall avanciren – Sidonie hat schön gesungen – ich niemals!“

Der „edle Kammerherr“ stand sehr verdutzt da. Das lange Gesicht war mir zu ergötzlich – ich kicherte in mich hinein, wie ich ja auch immer gethan hatte, wenn Heinz verblüfft vor einer ungeahnten Wendung stand.

Fräulein von Wildenspring hatte sich bei den letzten Worten der Prinzessin rasch erhoben. Sie warf einen bitterbösen Blick auf mein vergnügtes Gesicht und huschte hinter den Theetisch.

„Aber Hoheit, der Vergleich hinkt denn doch gar zu sehr!“ schmollte sie herüber, während sie sich mit der silbernen Theekanne zu schaffen machte. „Mag auch Herr von Wismar hinsichtlich der Stimmlage irren, wundervoll gesungen haben Hoheit doch – die Gräfin Fernau wird noch Feuer und Flamme, wenn sie darauf zu reden kommt!“

„O weh, ist das Ihr einziger Gewährsmann, Constanze?“ lachte die Prinzessin. „Die gute Fernau ist seit fünfundzwanzig Jahren stocktaub!“

„Aber Papa und Mama schwärmen ja auch noch,“ versetzte das Hoffräulein beharrlich, schlug aber doch die Augen nieder vor dem sarkastischen Gesichtsausdruck, mit welchem sie von ihrer Gebieterin gemustert wurde.

„Bitte, wenden Sie Ihre Augen und Complimente rechts, Herr von Wismar,“ sagte die Prinzessin und winkte mit der Hand nach mir hin – „da sitzt die Nachtigall.“

Der Herr fuhr herum. Er hatte mich bis dahin nicht gesehen, weil eine Gruppe riesiger Blattpflanzen meine kleine Person fast ganz verdeckte. Die Prinzessin nannte meinen Namen – ich erhob mich bei dem tiefen Bückling des Hofherrn, lachte ihm in’s Gesicht und machte einen Knix, so tief und gelungen, daß Charlotten das Herz im Leibe gelacht haben würde. Der Kobold des Muthwillens, der seit dem Tode meiner Großmutter in meiner Seele fest geschlafen hatte, regte sich wieder und gab mir die Leichtigkeit der Bewegungen zurück.

Herr von Wismar sagte mir flugs verschiedene Complimente, in denen das simple Gänseblümchen meines Vaters zur Rosenknospe, zum Elfenwesen erhoben wurde, und schalt auf „den lieben Doctor“, daß er bisher dem Hofe meine beglückende Gegenwart entzogen und mich allzu lange im Pensionat gelassen habe.

„In welchem Institut sind Sie denn erzogen, meine Gnädigste?“ fragte er schließlich.

„In einem Haidedorfe, Herr von Wismar!“ rief Fräulein von Wildenspring mit einem kinderunschuldigen Lächeln herüber.

Der Kammerherr stutzte; allein ein Blick auf das nach mir hinlächelnde Gesicht der Prinzessin gab ihm sein inneres Gleichgewicht zurück. „Ach, daher die köstliche Maifrische in dieser Stimme. … Die Landluft, ja, die Landluft! … Hoheit, das wäre eine Acquisition für unsere Hofconcerte! … So keusch, so völlig unberührt –“

[730] „Welche Idee, Herr von Wismar!“ unterbrach ihn das Hoffräulein. „Fräulein von Sassen kann doch unmöglich mit unsrer ausgezeichneten Primadonna vom Hoftheater rivalisiren wollen – da sollte sie mir leid thun!“

„Sehen Sie nach Ihrem Thee, Constanze, ich fürchte, er wird bitter!“ sagte die Prinzessin. „Uebrigens mögen Sie sich beruhigen, ich acceptire den Vorschlag durchaus nicht, seltene Gäste behütet man wie seinen Augapfel, und den erquickenden Haideduft, der auf einmal aus dem fernen ‚Haidedorfe‘ in unsere schwülen Kreise dringt, will ich für mich allein behalten.“

Fräulein von Wildenspring schwieg. Sie schwenkte ihre Theekanne und schüttete den ersten unbrauchbaren Aufguß so jäh und stürmisch in den albernen Spülnapf, daß die braunen Tropfen auf das weiße Damasttuch sprühten.

„Und Sie wohnen nun mit dem Papa im Claudius’schen Hause?“ fragte mich der Kammerherr hastig, indem er den stolz zurechtweisenden Blick auffing, mit welchem die Prinzessin ihre ungeschickte Hofdame maß – Herr von Wismar schien eine Art Blitzableiter am Hofe zu sein.

„Wir wohnen in der Karolinenlust,“ antwortete ich.

„Ah, in den Räumen des armen Lothar!“ rief er in bedauerlichem Ton nach der Prinzessin hin.

„Ei bewahre,“ corrigirte ich eifrig, „da drin doch nicht! Die sind ja versiegelt.“

„Ich sah, wie ein helles Roth bis unter das lockige Stirnhaar der Prinzessin lief. Sie hatte mit beiden Händen die überhängende Blüthendolde einer Hortensie erfangen, die neben ihr im Blumentisch stand, und drückte tiefathmend den unteren Theil des Gesichts hinein.

„Noch immer versiegelt? Aus welchem Grunde?“ fragte sie nach einer augenblicklichen Pause den Kammerherrn. „Ist nicht sein Bruder der einzige Erbe?“

Herr von Wismar zuckte die Achseln. Er versicherte, durchaus nichts Näheres zu wissen; das seien verschollene Dinge, und der Name Claudius werde ja erst hie und da am Hofe wieder genannt, seit Herr von Sassen den Antikenfund in dem alten Kaufmannshause gemacht habe.

„Die Siegel sollen an den Thüren bleiben bis in alle Ewigkeit,“ sagte ich schüchtern – ich war meiner Lauschersünden sehr wohl eingedenk und schämte mich; aber trotz alledem wollte ich die Prinzessin nicht ohne Auskunft lassen. „Der Todte hat es so gewollt; Herr Claudius leidet deshalb nie, daß solch ein Siegel angerührt wird, er ist ja so streng, so furchtbar streng!“

„Ei, das klingt ja fast, als ob Sie sich vor ihm fürchteten, meine kleine Gnädige!“ lachte der Kammerherr.

„Ich mich fürchten? Nein – nein!“ protestirte ich voll Aerger. „Ich fürchte mich gar nicht, nicht im Geringsten mehr. Aber ich kann ihn nicht leiden!“ fuhr es mir heraus.

„O, den Mann hat Niemand lieb, Niemand in der ganzen Welt, und das versteht sich von selbst!“ rief ich lebhaft. „Er liebt ja auch nur zwei Dinge, die Arbeit – sagt Charlotte – und sein großes, dickes Zahlenbuch. … Blumen hat er, so unermeßlich viel Blumen, daß er sich und sein häßliches Haus in der Mauerstraße drin vergraben könnte, aber in dem Zimmer, wo er von früh bis spät steckt und arbeitet, duldet er nicht ein grünes Blättchen neben sich. … Mit der Uhr in der Hand schilt er seine Leute, wenn sie einen Augenblick zu spät in das abscheuliche Unkennest kommen, und Nachts betrachtet er sich die Sterne am Himmel nur, weil er sie auch so zählen kann, wie die Thaler auf seinem Tische. Er ist geizig und giebt nie einem Armen ein Almosen –“

„Halt, mein Kind,“ unterbrach mich die Prinzessin, „das muß ich widerlegen! Die Armen unserer Stadt haben keinen besseren Freund, wenn er auch vielleicht in etwas bizarrer Weise giebt und wirkt, und consequent seine Unterschrift auf Collectenlisten und dergleichen verweigert.“

Ich schwieg einen Augenblick betroffen. „Aber er ist hartherzig und kalt wie ein Eiszapfen gegen – gegen Charlotte,“ sagte ich dann rasch, „und Alles will er besser wissen als Andere.“

„Ein hübsches Sündenregister!“ lachte der Kammerherr. „Uebrigens hat der Mann vor Kurzem gezeigt, daß er wirklich manchmal Etwas besser versteht, als Andere,“ wandte er sich an die Prinzessin. „Unser schlauer Graf Zell ist endlich auch einmal zu unser Aller Genugthuung gründlich düpirt worden; sein Darling, den er von der letzten Reise mitgebracht hat, ist ein Prachtstück an Schönheit und Eleganz, aber eine heimtückische Bestie! Manche behaupten, es sei ein Circuspferd, es hat so absonderliche Gewohnheiten. Zell mochte es gar zu gern wieder los sein; in unserem Kreise hat natürlicherweise Keiner angebissen, aber man war in Rücksicht auf Zell discret, um Andere nicht kopfscheu zu machen. … Der junge Lieutenant Claudius war denn auch Feuer und Flamme, einige gute Freunde Zell’s hatten ihm die Acquisition sehr plausibel gemacht, der Herr Onkel aber hat Darling angesehen und – gedankt, sehr zum Besten des jungen Mannes, denn vor einer Stunde hat das Thier den Sohn des Banquier Tressel, der es gekauft und ein ganz respectabler Reiter sein soll, abgeworfen und ihn obendrein mit seinen Hufen übel zugerichtet.“

„Das muß ich sagen, Herr von Wismar, diese sogenannte Discretion in Ihrem Kreise verdrießt mich sehr, und Graf Zell mag sich in Acht nehmen bei seinem nächsten Erscheinen am Hofe!“ rief die Prinzessin, aus ihren großen glänzenden Augen schlug eine Flamme der Entrüstung. „Wird der Sturz schlimme Folgen haben?“

„Ich glaube kaum,“ stotterte der Kammerherr. „Hoheit mögen sich aber beruhigen und bedenken, wer der Reiter war,“ fügte er nach einem leichten Husten lächelnd hinzu, „das ist robustes Blut und eine ganz andere Knochenmasse, das ist nicht leicht umzubringen; mit ein paar Schrammen und blauen Flecken wird die Sache abgemacht sein.“

Sie sprachen vorhin von einer Charlotte im Claudius-Hause,“ sagte Herr v. Wismar, der wohl fühlen mochte, daß er zu weit gegangen sei, dann zu mir. „Ist sie das imposant schöne, junge Mädchen –“

„Nicht wahr, Charlotte ist schön?“ unterbrach ich ihn glückselig – ich verzieh ihm sofort sein ganzes kindisches Thun und Wesen um dieser einen Bezeichnung willen.

„Für meinen Geschmack ein wenig zu kolossal, zu emancipirt und herausfordernd, ich bin ihr einigemal im Frauenverein begegnet,“ sagte die Prinzessin mehr nach dem Kammerherrn hin. Die Bedeutung des „emancipirt“ verstand ich nicht, ich hörte den Tadel mehr aus dem Ton der Dame, und er schmerzte und kränkte mich tief. „Ein seltsames Verhältniß in dem Hause!“ fuhr sie fort. „Wie mag Claudius dazu gekommen sein, die Kinder eines Franzosen zu adoptiren?“

Herr von Wismar zog, abermals auskunftslos, die Schultern in die Höhe.

„Und dabei sind die Betreffenden nichts weniger als dankbar für diese Adoption,“ rief Fräulein von Wildenspring herüber. „Diese Charlotte wehrte sich stets zornig gegen den Namen Claudius, auf ihren Schulheften stand Mericourt, und die Pensionairinnen waren boshaft genug, sie so oft wie möglich mit jenem verhaßten Namen zu nennen, nur um ihre funkelnden Augen zu sehen.“

„Ah, Sie kennen das junge Mädchen näher, Constanze?“ fragte die Prinzessin.

„So weit sich eben zusammengewürfelte Pensionairinnen verschiedenen Standes kennen, Hoheit,“ entgegnete das Hoffräulein mit einem gleichgültigen Achselzucken, das mir das Blut wallen machte. „Wir waren zwei Jahre lang in ein und demselben Dresdener Institut. … Sie hat bei ihrer Hierherkunft diese nothgedrungene Bekanntschaft zu erneuern gesucht und mir sofort einen Besuch gemacht –“

„Nun?“ forschte die Prinzessin, als die junge Dame einen Augenblick zögerte.

„Papa wünschte den Umgang durchaus nicht für mich, ich bin deshalb einfach vorgefahren und habe eine Karte abgegeben –“

Sie verstummte plötzlich, wandte sich seitwärts und machte eine tiefe, sehr graziöse Verbeugung. Ein hübscher junger Herr mit einem sehr ernsten Gesicht trat in Begleitung meines Vaters und zweier anderer Herren durch die Seitenthür, es war der Herzog.

Die Prinzessin begrüßte ihn warm und herzlich wie eine Mutter; dann stellte sie mich ihm vor. Ich bedurfte keines besonderen Aufwandes von Muth mehr, um zu Serenissimus aufzusehen und seine freundlichen Fragen ruhig zu beantworten, ich war rasch sicherer geworden auf dem heiklen Boden, und „das Gänseblümchen“ mochte wohl um Vieles zuversichtlicher den Kopf heben; denn mein Vater sah mich ganz erstaunt an und fuhr mir plötzlich liebkosend mit der Hand über das Haar.

[731] Er hatte wieder ein sehr echauffirtes Gesicht. Mit einem förmlichen Haß sah ich nach den Goldmünzen, von denen nun auch der Herzog einige vor seine Tante hinlegte. Er sagte ihr, daß ihm dieser Münzenschatz eine bedeutende Summe koste; nun sei aber auch das altberühmte herzoglich K.’sche Medaillencabinet eines der vollständigsten, denn es habe durch den heutigen Ankauf Exemplare erhalten, die für manchen Liebhaber so sagenhaft seien, wie der Nibelungenhort. …

Ich sah, wie fast unausgesetzt ein nervöses Zucken durch die Züge meines Vaters lief, er dauerte mich unbeschreiblich. Ich konnte mir recht gut denken, welche Qual es ihm verursachen müsse, zu sehen, wie die heißgewünschten Schätze unter allgemeiner Bewunderung von Hand zu Hand gingen, als das rechtmäßig erworbene Eigenthum eines Anderen. … Die Bitterkeit gegen Den, der ihn in seiner „Krämerweisheit“ zu dieser Entsagung verurtheilt, machte abermals meine ganze Seele rebellisch und ließ mich alle Zurückhaltung vergessen.

„Sehen Sie,“ sagte ich halblaut zu der Prinzessin, welche eben die prächtige Kaisermünze entzückt betrachtete, „das hat Herr Claudius auch besser wissen wollen, er behauptet, das Medaillon da sei unecht!“

Der Herzog fuhr herum, und sein durchbohrender Blick heftete sich zu meinem Schrecken halb überrascht, halb zürnend auf mein Gesicht.

Mein Vater aber lachte und strich mir mit der Hand wiederholt das Haar von der Stirn zurück. „Sieh da, mein kleiner Diplomat!“ rief er. „Ein Glück, daß der Papa sattelfest ist, der schöne Plaudermund da könnte ihm sonst schwer zu schaffen machen! Lächerlich!“ sagte er achselzuckend zu Herrn von Wismar – der Einzige, der sein Gesicht in bedenkliche Falten zu legen suchte, obgleich dieser geckenhafte Mensch sicher nicht das mindeste Verständniß für die Sache hatte – „der Mann versteht von Numismatik ohngefähr so viel, wie ich von seiner Tulpenzucht. … Zu Ihrer Beruhigung will ich Ihnen aber sagen, daß der Verkäufer der Münzen heute noch, mit verschiedenen Empfehlungsbriefen von mir in der Tasche, K. verläßt; er geht an Höfe und Universitäten unter der Aegide meines Namens; genügt Ihnen diese Bürgschaft für die von mir befürwortete neueste Acquisition Seiner Hoheit?“

Herr von Wismar lächelte verlegen und versicherte, daß ihm ein Zweifel auch nicht mit dem leisesten Gedanken gekommen sei.

Ein wahrer Sturm gegen den Dilettantismus erhob sich nun unter den Anwesenden, und Niemand war erboster als Fräulein von Wildenspring, die kaum noch mit der zuversichtlichsten Miene gelehrte Brocken in das Gespräch eingestreut hatte.

„Die Dilettanten sind und bleiben die Plage des Fachmannes,“ sagte mein Vater. „Ueber Claudius, den älteren, habe ich mich zwar bisher durchaus nicht zu beklagen gehabt – er ist streng zurückhaltend, vermeidet meine Begegnung auf seinem eigenen Grund und Boden geflissentlich und läßt mich mit seinen Kunstschätzen schalten und walten, wie ich Lust habe – dagegen macht mir häufig mein sogenannter Famulus das Leben recht schwer.“

„Ah, der schmucke Lieutenant?“ lachte einer der Herren.

„Er benippt die Wissenschaft wie der Schmetterling einen Blumenkelch,“ fuhr mein Vater mit einem bestätigenden Kopfnicken fort. „Appellirt man nur im Entferntesten an sein Nachdenken, husch, ist er auf und davon! … Für ihn ist die vom Hofe ausgehende Vorliebe für die Alterthumskunde gleichbedeutend mit jenen rasch wechselnden Modethorheiten, die ihn heute einen kleinen goldenen Sattel, morgen einen Maikäfer als Berloques tragen lassen. … Vor kurzer Zeit begleitete er seinen Onkel auf einer Geschäftsreise im Norden. Auf seine dringenden Bitten gab ich ihm eine Empfehlung an Professor Hart in Hannover, der denn auch so freundlich gewesen ist, die Herren nach einer Gruppe von Hünengräbern in der Haide zu begleiten und eines derselben öffnen zu lassen. … Gott, wie sahen die Fundstücke aus, die der Herr Lieutenant in meine Hände niederlegte! Verbogen und in Stücken zerbrochen, ‚weil er sie in ein und dieselbe Kiste mit Mineralien zusammengesteckt habe, die ihm Professor Hart für einen Collegen mitgegeben,‘ entschuldigte er sich – das Herz hat sich mir umgewendet!“

Wie wenig ahnte mein Vater, daß sich in diesem Moment auch mir das Herz umwendete, daß ich einen unbeschreiblichen Groll empfand gegen Die, unter denen ich saß! … Man lachte und spöttelte, und Niemandem fiel es ein, den Abwesenden in Schutz zu nehmen. Herrn Claudius hatte die Prinzessin sofort vertheidigt, als ich in meiner Beschuldigung zu weit gegangen war; selbst Herr von Wismar hatte zu seinen Gunsten gesprochen – nur für Charlotte und Dagobert fiel kein freundliches Wort – die armen Geschwister!

Die Prinzessin unterbrach das allgemeine Gespräch plötzlich mit der an meinen Vater gerichteten Frage, bis zu welchem Zeitpunkte die Aufstellung der Antiken in der Karolinenlust beendet sein werde, sie interessire sich lebhaft für die an’s Tageslicht gezogenen Kunstschätze und habe sich vorgenommen, den Herzog bei seinem ersten Besuche zu begleiten.

„Ich habe dabei auch noch einen stillen Nebengedanken,“ sagte sie. „Ich möchte mir einmal gar zu gern das Claudius’sche Etablissement ansehen – die Glashäuser mit ihren Palmen sind ja weit berühmt. … Direct hinzugehen habe ich Anstand genommen – der Mann hat einen unerträglichen Bürgerstolz; da ist, wie ich fürchte, das Terrain sehr schwierig –“

„Und die entschieden pietistische Färbung, welche das Etablissement seit einiger Zeit an der Stirn trägt und die Eurer Hoheit so unsäglich zuwider ist?“ fragte Fräulein von Wildenspring lauernd – man sah, das fürstliche Vorhaben, jenes Haus zu betreten, war ihr sehr fatal.

„Ebendeshalb soll die Besichtigung der Kunstschätze Hauptzweck sein – ich werde im Vorübergehen den Garten besehen und brauche dabei weder den Hochmuth, noch die pietistische Tendenz des Besitzers in den Kauf zu nehmen.“

Das Hoffräulein reichte ihrer Gebieterin schweigend eine Tasse Thee und nahm dann scheinbar unterwürfig ihre Stickerei wieder auf. Den übrigen Theil des Abends füllte eine lebhafte Debatte über die Kunst der Alten aus, und die Hofherren, die über den Dilettantismus so grausam den Stab gebrochen, sprachen so sicher und zuversichtlich, so enthusiastisch mit, als seien sie sämmtlich solch berühmte Gelehrte wie mein Vater und als sei das Studium der Archäologie dasjenige, was einzig und allein ihre Zeit und Seelenkräfte in Anspruch nehme. Ich hätte ihnen auch unbedingt geglaubt, wären nicht die sarkastischen Blicke gewesen, die der Herzog häufig mit meinem Vater wechselte.

Bei unserm Weggange ließ die Prinzessin einen Foulard kommen und legte ihn mir um den Hals. Es sei kühl geworden, sagte sie, und ihre liebe, kleine Haidelerche dürfe nicht heiser werden. Meinem Vater versicherte sie, daß sie mich sehr oft bei sich sehen und unter ihren ganz besondern Schutz nehmen werde, dann küßte sie mich auf die Stirn, und wir verließen das Schloß.




21.

Ein Gewitter war inzwischen über die Stadt hingezogen. Kühl umfloß die Luft meine Schläfen, und der durchfeuchtete Kies des Schloßplatzes glänzte und funkelte im Lichte der Gaskronen. Eine Hofequipage brachte uns nach Hause; sie fuhr donnernd in den Claudius’schen Geschäftshof ein, und ein Gefühl von kindischem Hochmuth machte mir das Herz schwellen, als ich neben dem demüthig am geöffneten Schlage verharrenden fürstlichen Lakaien auf das Pflaster herabsprang, das mir vor wenigen Tagen ein halb und halb verweigerter Weg gewesen war. Meine Augen suchten Charlottens Zimmer, ich wünschte lebhaft, von dort aus gesehen zu werden, aber das ganze Vorderhaus war dunkel, mit Ausnahme der Treppenhausfenster. Eine prächtige, aber uraltmodische Lampenglocke hing hoch droben inmitten der Hausflur und beleuchtete in nächster Nähe die grauen, kräftig geschwungenen Steinbogen der Decke, welche am Tage dem Blicke unerreichbar erschienen.

In einem der ungeheuren Glashäuser, von denen auch die Prinzessin heute Abend gesprochen, brannte Licht – zwei große Kugellampen glühten purpurn in die Nacht hinein. Während wir den Hauptweg entlang schritten, hörte ich hastige Tritte vom Glashaus herkommen – es flatterte hell durch das nächste Rosengebüsch, und plötzlich stand Charlotte vor uns.

„Ich habe Sie kommen hören,“ sagte sie mit gedämpfter Stimme und fliegendem Athem. „Bitte, überlassen Sie mir das Prinzeßchen noch für eine halbe Stunde, Herr von Sassen – es ist eine so köstliche Nacht – ich bringe Ihnen die Kleine unversehrt nach der Karolinenlust.“

[732] Mein Vater sagte mir gute Nacht und versprach, Ilse von meinem Verbleiben zu unterrichten. Er ging, während Charlotte den Arm um meine Schultern legte und mich fest an sich drückte.

„Es hilft Ihnen nichts, Kindchen, Sie müssen ein wenig Blitzableiter sein,“ sagte sie halblaut und hastig zu mir. „Dort drüben,“ sie zeigte nach dem Glashaus, „sind zwei harte Köpfe aneinander gerathen. … Onkel Erich bringt so wunderselten den Abend mit uns zu, daß der gute Eckhof sich allmählich daran gewöhnt hat, die erste Geige an unserem Theetisch zu spielen. Heute nun präsidirt der Onkel selbst zu unser Aller Erstaunen; aber kaum sind wir vor den ersten fallenden Regentropfen aus der Laube in das Glashaus geflüchtet, als auch Eckhof in unbegreiflicher Albernheit und Tactlosigkeit anfängt, dem Onkel bittere Vorwürfe über Helldorf’s Anwesenheit beim heutigen Diner zu machen – er hat in ein furchtbares Wespennest gestochen!“ …

Sie verstummte und blieb horchend einen Augenblick stehen; Eckhof’s starke Stimme dröhnte herüber.

„Schaden kann es dem Alten freilich nicht, wenn seinen Muckerumtrieben im Geschäft und Haus ein wenig gesteuert wird,“ sagte sie, man hörte ihr den Aerger an; „er ist zu sicher geworden und treibt es arg, das ist ganz richtig! Nur vor Onkel Erich’s Forum durfte die Sache nicht kommen – er mordet den alten Mann mit seinen unerbittlichen Augen, mit seiner Kälte und Gelassenheit, die jedes Wort zu einem schneidenden Messer machen.“ Etwas beschleunigt schritt sie weiter. „Gott mag wissen, was den eigentlichen Anstoß zu diesem plötzlichen Aufeinanderplatzen gegeben hat! Jahrelang ist Onkel Erich wie mit verbundenen Augen neben dem Muckergeist im Hause hingegangen – Eckhof hat sich gehütet, ihm gegenüber je in sein unausstehliches biblisches Pathos zu verfallen; in diesem Augenblick aber, in seiner grimmigen Aufregung strömt ihm unwillkürlich die Salbung von den Lippen – es ist kaum zum Anhören! Mich widert es an, aus einem Männermunde solch unmündiges Gewäsch zu hören; andererseits bin ich doch auch dem Alten Dank schuldig; er hält zu Dagobert und mir, und das verpflichtet mich, das Strafgericht möglichst schnell abzukürzen. Kommen Sie, Ihr Erscheinen wird der Scene sofort ein Ende machen!“

Je mehr ich mich dem Glashause näherte – es war nicht das von Darling verwüstete – desto traumhafter wurde mir zu Sinne; ich hörte kaum noch, was Charlotte flüsterte, und ließ mich mechanisch von ihr weiterschieben. … Das Warmhaus lag weit abseits vom Hauptweg – ich hatte bisher nur die ungeheuren Glaswände herüberfunkeln sehen und war nie in seine Nähe gekommen. Damals lagen mir selbstverständlich Geographie und Botanik weltenfern – ich verstand nicht, daß die fremdartigen Gebilde dort ein zwischen Glas eingefangenes Stück Tropenwelt inmitten deutscher Vegetation seien, und hatte für beide nur die Bezeichnung: Wunder und Wirklichkeit. …

Da standen aber auch weder Kübel, noch Blumentöpfe, wie im vorderen Treibhause. Unmittelbar aus dem Boden stiegen Palmen so hoch und kräftig hinauf, als wollten sie den schützenden Glashimmel sprengen. Ueber braunes Felsgestein herab sprangen Wasser – sie zerstäubten an den Zacken in sprühende Funken und machten die riesigen, in die feinsten Federchen zerschnittenen Wedel prächtiger Farrnkräuter unaufhörlich erzittern. Cacteen krochen über das Gestein und streckten ihre abenteuerlichen Formen plump unbehülflich von sich; aber aus ihrem grünen Fleisch tropften spannenlange Purpurglocken und selbst drin, im fernsten Dämmerdunkel der wunderlich gezackten und verschränkten Pflanzenarme leuchtete es gelb und weiß auf, wie hingestreute, matte Lichtreflexe.

Ich sah zu Charlotte empor und meinte, sie müsse in demselben Rausch befangen sein und weiterwandeln, wie das aufgeregte, unerfahrene Menschenkind in ihrem Arm – ich bedachte nicht, daß das Alles ja auch zu „der Krambude“ gehörte, die sie und Dagobert so gründlich haßten und verachteten. … Sie hatte ihr funkelndes Auge unverwandt auf einen Punkt gerichtet, auf das Gesicht des Herrn Claudius. Er stand im vollen Lampenlicht neben einer Palme – genau so schlank und hochaufgerichtet, wie ihr feingepanzerter Stamm. … Es war nicht wahr – er hatte in diesem Moment keine tödtliche Kälte in den „unerbittlichen Augen“. Sein Gesicht war belebt und geröthet vor innerer Erregung, wenn auch die über der Brust ineinandergeschlungenen Arme ihm den Anschein von Ruhe und Unbeweglichkeit gaben.

Seltsam genug erschien der eilig hereingeschobene Theetisch inmitten der fremdartigen Umgebung. Dagobert saß daran – er war noch in Uniform; all’ das Blitzen und Leuchten auf Brust und Schultern harmonirte ganz anders mit der farbenglänzenden Pracht der tropischen Blüthen, als die ungeschmückte Gestalt des Onkels. … Mit dem Rücken nach Herrn Claudius gewendet, und in sichtlicher Verlegenheit einen Theelöffel auf dem Zeigefinger balancirend, sah er aus, als ob er sich vor einem über ihn hinrollenden Gewitter unwillkürlich niederducke. Er schien sich mit keinem Wort an den unliebsamen Erörterungen zu betheiligen, so wenig, wie Fräulein Fliedner, die so fieberhaft schnell strickte, als wenn es gelte, eine ganze Kinderbewahranstalt mit neuen Strümpfen schleunigst zu versorgen.

„Damit richten Sie bei mir nichts aus, Herr Eckhof,“ sagte Herr Claudius zu dem Buchhalter, der sich, beide Hände auf eine Stuhllehne gestützt, in ziemlich weiter Entfernung von seinem zürnenden Chef hielt, trotz alledem aber doch den Kopf herausfordernd in den Nacken warf – er hatte ja eben gesprochen, gesprochen mit seiner tönenden Stimme, in dem breit markirenden Tone, der schlagen mußte. – „Gotteslästerung, Unglaube, Gottesleugner – diese Lieblingsschlagwörter Ihrer Partei darf man allerdings in ihrer Wirkung nicht unterschätzen,“ fuhr Herr Claudius fort. „Mit ihnen hauptsächlich vollziehen Sie die unglaubliche Thatsache im neunzehnten Jahrhundert, daß sich ein großer Theil der aufgeklärten Menschheit einer Schaar engherziger Fanatiker äußerlich unterwirft – Viele, selbst Leute von Geist, scheuen immer noch einen gewissen Einfluß dieses, wenn auch sehr abgenutzten Anathemas auf die großen Massen und schweigen lieber, gegen ihre bessere Ueberzeugung – und das giebt dem Thronsessel Ihrer Partei noch für eine Spanne Zeit thönerne Füße.“ …

Der Stuhl unter den Händen des Buchhalters schütterte und schwankte, Herr Claudius ließ sich jedoch durch das Geräusch nicht beirren.

„Ich hin ein Verehrer des Christenthums – verstehen Sie mich recht – nicht der Kirche,“ fuhr er fort. „Ich habe auf Grund meiner eigenen Ueberzeugung deshalb auch an der Verfügung aller meiner Vorgänger festgehalten, nach welcher ein frommer Sinn unter den Arbeitern der Firma gepflegt werden soll – nie aber werde ich dulden, daß mein Haus zu einem Brutnest religiöser Verirrungen gemacht wird! … Ein Handlungshaus, das die Fäden seiner Beziehungen über die Meere hinüberwirft und sie im türkischen, im chinesischen, in jedwedem Boden wurzeln läßt, und die finstere Orthodoxie, die Unfehlbarkeit im Glauben, die sich in ihr fest zugekittetes Schneckenhaus verkriecht – eine widersinnigere Verschmelzung giebt es nicht! … Müssen unsere jungen Handlungsreisenden, die Sie so beflissen sind orthodox zu erziehen, nicht entsetzlich heucheln, wenn sie mit Denen, die sie als von Gott verworfene Andersgläubige verachten, in freundlichen Geschäftsverkehr treten sollen? … Ich kann es mir selbst nicht verzeihen, daß der finstere Geist unbemerkt so lange neben mir herwandeln durfte, daß meine Leute leiden mußten –“

„Ich habe Niemand gezwungen!“ fuhr der Buchhalter auf.

„Allerdings nicht mit der Knute in der Hand, Herr Eckhof – wohl aber mittels Ihrer Stellung zu den Leuten. Ich weiß, daß zum Beispiel unser jüngster Commis, ein mittelloser Mensch, der von seinem Gehalt eine verwittwete Mutter zu unterstützen hat, weit über seine Kräfte zu Ihrer Missionscasse beisteuert, von deren Existenz ich bisher keine Ahnung hatte. Unsere sämmtlichen Arbeiter und Arbeiterinnen lassen sich geduldig allwöchentlich einen Beitrag zu der genannten Casse von Ihnen abziehen, weil sie – nicht anders dürfen, weil sie der Meinung sind, daß Sie Alles bei mir vermögen, und ihnen schaden könnten. … Bedenken Sie denn nicht, daß diese Leute ihren Glauben ohnehin theuer genug bezahlen müssen? Tritt nicht die Geistlichkeit bei jedem ihrer wichtigeren Lebensmomente mit der offenen Hand an sie heran? Ihre Taufe, die Schließung der Ehe, die Feier ihrer Versöhnung mit Gott, selbst den letzten Schritt, den sie aus der Welt thun, das Alles versteuern sie der Kirche mit ihrer Hände Erwerb – und deshalb fort mit der Missionscasse aus meinem Hause! Fort mit den Tractätchen, die ich gestern massenhaft in den Tischkästen der Arbeitsstuben gefunden habe, und die

[733]

Purpurhühner und ihre Küchlein.
Nach der Natur gezeichnet von Emil Schmidt.

[734] mit ihrem blödsinnigen Kinderlallen unsere würdige Sprache verderben und lediglich an eine mittelalterlich rohe Anschauungsweise appelliren!“

Diese ganze zerschmetternde Verurtheilung wurde in nichts weniger als leidenschaftlichem Ton gesprochen – kaum, daß eine erhöhte Röthe in die Wangen des Sprechenden trat und er hie und da einmal ruhig zurückweisend die Hand gegen seinen Buchhalter ausstreckte.

Charlotte war wie festgewurzelt stehen geblieben – sie schien vergessen zu haben, daß sie mich geholt, um der Sache sofort ein Ende zu machen. „Er spricht gut,“ murmelte sie. „Ich hätte ihm das nicht zugetraut – er ist sonst so indolent und kargt mit jedem Worte. … Wahrhaftig, Eckhof ist einfältig genug, den Handschuh abermals aufzunehmen und sich eine neue Schlappe zu holen!“ stieß sie zornig heraus und heftete ihre flammenden Augen so durchbohrend auf den Buchhalter, als wolle sie die Glaswand sprengen. Er hatte seinen bisherigen Platz verlassen und war Herrn Claudius um einige Schritte näher getreten.

„Verachten Sie immerhin das blödsinnige Kinderlallen, Herr Claudius,“ sagte er – die volltönende Stimme konnte Messerschärfe annehmen – „mich und tausend andere echt christliche Gemüther erquickt und stärkt es. … Der Herr will ja, daß wir in Einfalt wandeln sollen, in kindlicher Einfalt, und deshalb finden wird doch wohl eher Gnade vor seinen Augen, als wenn wir die Werke der ‚unsterblichen‘ Herren Schiller und Goethe lesen, die die würdige Sprache natürlicherweise nicht verderben. … Wenn Sie meine redlichen Bestrebungen zur Ehre meines Herrn und Gottes in Ihrem Hause nicht dulden wollen, so muß ich mich selbstverständlich in Demuth fügen. … Ich habe nur gemeint, es könne dem Hause in der Mauerstraße nicht schaden, wenn recht, recht viel in ihm gebetet würde – es ist so Manches geschehen, was zu Gott im Himmel schreit und gesühnt sein will –“

„Sie machen mir diesen indirecten Vorwurf in Zeit von wenig Tagen bereits zum zweiten Male,“ unterbrach ihn Herr Claudius ruhig. „Ich respectire Ihre Jahre und Ihre Verdienste um das Geschäft und will deshalb eine Handlungsweise nicht näher bezeichnen, die es nicht verschmäht, alte Wunden aufzureißen und sie im Kampfe um die entschwindende Macht als Verbündete heraufzubeschwören – ich überlasse das Ihrem eigenen Urtheil, ob das edel ist. … Was ich in meiner Jugendthorheit und Leidenschaft verübt, nehme ich allein auf meine Schultern – ich habe leider eine neue Schuld dazu gelegt, sofern ich Sie in dem Bedürfniß, Ihnen einigermaßen den Sohn zu ersetzen, allzu unumschränkt in Haus und Geschäft und mit mir selbst habe schalten und walten lassen. … Es wäre ein schreiendes Unrecht, wollte ich alle die Menschen, die von mir abhängig sind, auch nur um einen Tag länger mein Vergehen mitbüßen lassen – ich will ihre Gebete nicht, die doch nur erpreßte, völlig wirkungslose sind!“

„Was hat er denn gethan?“ flüsterte ich Charlotte zu.

„Er hat den einzigen Sohn Eckhof’s erschossen.“

Ich riß mich entsetzt von ihr los und unterdrückte mit Mühe einen Aufschrei.

(Fortsetzung folgt.)




Purpurhühner und ihre Küchlein.
Von Brehm.

Ein glückliches Zuchtergebniß, welches ich bisher nur in einer streng wissenschaftlichen, in den engsten Kreisen gelesenen Zeitschrift besprochen habe, ist es, welches mich zu nachstehenden Mittheilungen veranlaßt. Die Purpurhühner des Berliner Aquariums und bezüglich Vivariums gewährten mir und allen regelmäßigen Besuchern der von mir geleiteten Anstalt die Freude, über das Fortpflanzungsgeschäft der schönen Vögel Beobachtungen anstellen zu können. Ich spreche nicht von dem ersten bekannten Falle der Vermehrung gedachter Hühner oder richtiger Rallen im Zustande der Gefangenschaft; denn sie haben bereits einige Male in den Thiergärten zu London und Antwerpen gebrütet; aber immerhin gehört ein solches Vorkommniß zu den seltneren und hat meines Wissens noch in keinem deutschen Thiergarten stattgefunden, sowie auch eine ausführliche Schilderung desselben noch gänzlich mangelt.

Die Purpur- oder Sultanshühner (Porphyrio) bilden eine über alle Erdtheile verbreitete Gruppe der Rallen im weiteren oder der Sumpfhühner im engeren Sinne, bewohnen Brüche, Sümpfe, Zuckerrohr- und Reisfelder Südeuropas (Spaniens und Süditaliens), Afrikas, Asiens, Amerikas und Australiens, führen nach Art ihrer Verwandtschaft ein ziemlich verstecktes Leben, schreiten mit ihren langzehigen Füßen leicht über schlammigen Boden dahin, klettern geschickt an Rohrstengeln und Zweigen in die Höhe, schwimmen recht gut, fliegen aber schwerfällig und schlecht. Wie alle Rallen Allesfresser, begnügen sie sich keineswegs mit den Pflanzen und dem Kleingethier, welches ihnen ihre Wohnorte bieten, fügen vielmehr den Reisfeldern oft beträchtlichen Schaden zu und plündern außerdem in rücksichtslosester Weise alle Nester der mit ihnen in demselben Gebiete brütenden Vögel, sei es, daß sie deren Eier zertrümmern, um sich des Inhalts zu bemächtigen, sei es, daß sie die bereits ausgeschlüpften Jungen mörderisch überfallen, durch einige Hiebe ihres kräftigen Keilschnabels tödten und sodann unbekümmert ob des Klagegeschreies der Alten zerstückeln und fressen. Tristram sah sie junge Enten verzehren; ich beobachtete sie in der Gefangenschaft wiederholt beim Fangen oder richtiger Erlegen der Sperlinge, welche sich erdreisteten, von ihrem Futternapfe zu schmaußen, und mußte auch im Berliner Aquarium erleben, daß sie wiederholt Mordthaten an dem mit ihnen zusammenwohnenden Geflügel verübten, dafür sich freilich auch durch Verminderung der so lästigen Mäuse Verdienste erwarben, so daß ich mich bewogen gesehen habe, ihnen einen ganzen und vollständigen Ablaß zu verleihen. Hierbei war freilich nicht blos die Schwere ihrer Unthaten maßgebend, vielmehr kam auch ihr Aussehen und Betragen wesentlich mit in Betracht. Nicht nur, daß sie vier bis sechs schöne weiße Eier legen: die ungeachtet einer gewissen Ungefügigkeit ansprechende Gestalt, das glatte, in lebhaften Farben, vorherrschend in Grün, Blau und Sammetschwarz prangende Gefieder, die stolze und selbstbewußte Haltung, die damit verbundene Eigenschaft, sich leicht zähmen zu lassen, machen sie zu einer wahren Zierde aller Sammlungen, Thiergärten, und in Indien oder Sicilien zu einem Schmucke der Hühnerhöfe, erwerben ihnen auch aller Orten Freunde, welche rücksichtlich ihrer Uebelthaten eben so nachsichtig denken mögen wie ich.

Die Art der Gruppe, welche man am häufigsten in unseren Höfen sieht, ist das Sultanshuhn aus Nordafrika; außerdem erhalten wir eine indische und eine australische Art ziemlich regelmäßig, ebenso zwei durch ihre geringe Größe etwas abweichende Sammethühnchen aus Afrika und Amerika, niemals oder doch nur äußerst selten das europäische Purpurhuhn, aus dem der Laienwelt vielleicht auffallenden, uns jedoch sehr erklärlichem Grunde, weil Südeuropa uns überhaupt äußerst wenig Käfigvögel liefert. Alle Arten zählen zu den ausdauerndsten Gefangenen, welche ihre Familie aufzuweisen hat, und geben sich, wenn man ihre Ansprüche einigermaßen befriedigt, als genügsame Vögel zu erkennen. Verschiedene Getreide- und Körnerarten als da sind: Mais, Weizen, Gerste, Hanf, Grünzeug (Kohl, Salat, Kraut, Teichlinsen), in genügender Menge, Rüben und Möhren, ein wenig Fleisch, am liebsten solches von Fischen oder Fröschen, decken ihnen den Tisch zur vollsten Genüge und verbannen in der Regel auch so ziemlich die ihnen natürlichen Mordgedanken. So leicht sie sich bei solchem Futter an die Gefangenschaft gewöhnen, so gut sie in ihr aushalten, so selten schreiten sie übrigens zur Fortpflanzung, ohne daß man dafür eine wirklich befriedigende Erklärung zu geben wüßte. Anscheinend mit dem ihnen Gebotenen vollständig zufrieden, lassen sie doch in der Regel den liebeweckenden Lenz an sich vorübergehen, ohne entsprechende Frühlingsgefühle zu äußern. Es kommt vielleicht zu etwas Kampf [735] und Streit zwischen zwei Männchen, zu einer Absonderung der Paare und gegenseitigem Schönthun zwischen Männchen und Weibchen: das aber ist auch Alles.

Im April des vorigen Jahres zeigte sich unter der ziemlich starken Gesellschaft der Sultanshühner des Berliner Aquariums eine besonders auffallende Unruhe, welche bald zu einer gehobenen Stimmung einzelner Stücke und sodann zu ungewöhnlicher Kampflust führte. Namentlich eines der Männchen that sich in absonderlicher Weise vor den übrigen hervor, stolzirte mit kühnerhobenem, zuweilen wippend bewegtem Schwanze im Käfige auf und nieder, gesellte sich inniger denn je zuvor zu einem Weibchen, begleitete dasselbe auf Schritt und Tritt, ließ es nicht eine Minute aus den Augen und betrachtete alle übrigen Männchen mit entschieden feindseligen und herausfordernden Blicken. Der Lockruf und vielleicht einzige Stimmlaut unserer Vögel, ein eigenthümlich dröhnendes und dabei doch klagendes „Tröö“, wurde jetzt öfters als sonst vernommen und erhielt, wie wir uns bald überzeugen sollten, die Bedeutung des Schlachtrufes, mindestens der Aufforderung zum Kampfe. Denn ohne eigentlich erklärliche Ursache stürzte sich das rufende Männchen urplötzlich auf ein anderes, welches seine Eifersucht erregt haben mochte, verfolgte es, mit weit ausgeholten Schritten dahinlaufend, durch den ganzen Raum, brachte es endlich zum Stehen und begann nun den Zweikampf nach der bei den Meisten Sumpfhühnchen üblichen Art auszufechten: es prügelte mit seinen langläufigen und langzehigen Füßen tüchtig auf den Gegner los und erhielt in derselben Weise seine Tracht Prügel zurück. Da nun aber die Liebe bekanntermaßen ganz absonderliche Fähigkeiten und Kräfte weckt, war es nicht zu verwundern, daß der angegriffene und wider seinen Willen zum Kampf gestellte Gegner stets nach kurzer Prügelei zu Boden geworfen wurde, die Stellung jedes Besiegten einnehmen mußte und sich sodann, endlich glücklich wieder freigekommen, in eine entfernte Ecke des Raumes flüchtete, ohne seinerseits auch an „Revanche“ zu denken. In demselben Maße, wie sein Muth abnahm, erhöhte sich das Selbstgefühl des siegenden Männchens, und es betrachtete sich fortan als entschiedenen Selbstherrscher im Käfige, fand auch keinen Gegner mehr, welcher es wagte, die Herrschaft ihm streitig zu machen.

Das Gebühren der Vögel, insonderheit des in Rede stehenden Männchens, hatte in mir lebhafte Hoffnung erweckt, und als nun das Pärchen sogar begann zum Neste zu tragen, wußte ich, woran ich war. Unsere Vögel hatten sich eine Niststelle erwählt, auf welche wir mit unserem erhabenen Menschenverstande gewiß nicht gekommen wären, und welche trotzdem als die günstigste des ganzen Käfigs erscheinen mußte. Abweichend von ihrer Gewohnheit, im freien Sumpfe sich eine möglichst vom Wasser umgebene Kaupe zur Niststelle zu suchen, erkoren sie sich in dem Gefelse des Käfigs die höchstgelegene Nische aus dem einfachen und auch für uns schlagenden Grunde, weil sie bei der täglichen Spülung des Käfigs und der Felsen insbesondere am meisten von dem reinigenden Wasser verschont blieb. Zu dieser Nische hinauf trugen sie in Ermangelung geeigneter Niststoffe zunächst die ihnen zur Nahrung gereichten Pflanzentheile, und als ihnen allerlei Baustoffe geboten wurden, diese letzteren. Hierbei betheiligten sich beide Geschlechtern und das streitlustige Männchen vergaß über der Arbeit allen Kampf und Streit. Schößlinge unseres gewöhnlichen Schilfes, welche ich reichen ließ, wurden dankbar angenommen und verbaut; indessen schien mir die Arbeit denn doch zu lange zu währen, und ich beschloß, helfend einzugreifen, nämlich mit eigener Hand ein Nest zu errichten. Einige gröbere Reiser als Unterlage, darauf Strohhalme und endlich aus grobem Heu die Nestmulde, das war der Bau, welchen ich errichtete. Zum Schutze gegen die übrige Bewohnerschaft des Käfigs, unter der sich ein amerikanischer Löffelreiher und ein Scharlachibis durch nicht zu zügelnde Neugier und muthwillige Zerstörungslust des Nestes, oder richtiger vielleicht durch unnütze Spielerei mit den Stoffen desselben, hervorthat, ließ sich durch Dornengeflecht eine schützende Decke über die Nische anbringen und wartete des Erfolges nicht ohne Besorgniß; denn das Nest war, so sehr es der rohen Menschenhand auch Ehre machen mochte, im Grunde genommen doch nichts Anderes, als ein Heuhaufen mit eingedrückter Mulde.

Beide Purpurhühner erschienen, sobald unser Bau vollendet war und wir den Käfig verlassen hatten, an altgewohnter Stelle, betrachteten anfänglich neugierig, sodann prüfend die getroffenen Vorkehrungen und fanden sich bewogen, unser Werk dadurch gutzuheißen, daß sie es einfach in Besitz nahmen. Das Weibchen ordnete die Halmen der Mulde, glättete sie bis zu einen gewissen Graden indem es sich wiederholt um sich selbst drehte, und blieb dann längere Zeit auf derselben Stelle sitzen, gleichsam als freue es sich des erworbenen Besitzes. Das Männchen saß währenddem außen vor dem Neste und verließ den gewählten Platz erst, nachdem das Weibchen ebenfalls aus dem Neste gegangen war. Seine Aufregung erreichte ihren Höhepunkt. Mit hochgestelztem Schwanze, welcher gelegentlich wippend bewegt wurde, um dem Vollgefühle geeigneten Ausdruck zu geben, schritt es durch den Käfig, und wüthend fiel es über jedes andere Purpurhuhn her, welches sich nahte, unhöflich auch über jedes andere Weibchen. Nebenbuhler, welche sich erdreisteten, jetzt noch Stand zu halten, wurden nicht allein mit den Füßen geprügelt, sondern auch mit Schnabelhieben und Flügelschlägen angegriffen. Die Folge davon war, daß es sich die unbedingteste Herrschaft zu sichern wußte, da sich schließlich kein anderes Purpurhuhn mehr getraute, dem kühnen Gesellen entgegenzutreten.

Das Weibchen legte am dreißigsten Mai das erste Ei in das Nest und so einen Tag nach dem anderen, bis das Gelege von vier Stücken beisammen war. Schon während des Legens brachte es täglich mehrere Stunden im Neste zu, vom sechsten Juni ab begann es regelmäßig zu brüten. Möglicherweise wechselten beide Geschlechter während des Brütens ab; wenigstens behaupteten die Wärter, dies gesehen zu haben, und zwar soll das Männchen niemals länger im Neste geweilt haben, als das Weibchen Zeit bedurfte, sich zu sättigen. Im Uebrigen behielt es seinen Stand in der Nähe des Nestes und ließ sofort seine dröhnende Stimme vernehmen, sobald sich ein anderes Huhn dem Neste näherte, während es der neugierigen Zudringlichkeit des gedachten Löffelreihers und Ibis nicht entgegenzutreten wagte. Nach siebenundzwanzig oder achtundzwanzigtägiger Brutzeit schlüpften zwei prächtige Junge aus – ein Ei hatten die Vögel selbst eingedrückt, ein anderes war faul. Beide Junge wurden mehrere Tage lang vom Weibchen im Neste erwärmt, während das Männchen Atzung zutrug. Da ich Störung durch andere Vögel befürchtete, ließ ich in einem andern Käfige ein Nest errichten und das Pärchen, nachdem es vorher durch Anspritzen mit Wasser gezeichnet worden war, herausfangen und mit seinen Küchlein in den andern Käfig bringen. Letztere waren in der That reizende Geschöpfchen, den Jungen unseres Wasserhuhnes in Größe und Färbung so ähnlich, daß man sie auf den ersten Blick wohl für solche hätte halten können, in ihrem Gebahren noch sehr ungeschickt und deshalb der sorgfältigsten Pflege im höchsten Grade bedürftig.

Diese Pflege gewährten ihnen nun freilich die besorgtem Eltern im vollsten Maße. Das verständige Weibchen schien, auch ohne daß wir die Jungen in das Nest gesetzt hatten, sehr bald unsere gute Absicht zu erkennen, führte die Jungen, welche mehr watschelnd als laufend unter beständigem Pipen der Mutter schwerfällig folgten, zunächst in das Nest, überdeckte sie vorsichtig mit den Seitenfedern der Brust und den etwas gespreizten Flügeln, und schien sie zunächst an den neuen Aufenthaltsort gewöhnen zu wollen. Die Atzung der unbehülflichen Kleinen geschah in einer überaus zarten Weise, anfänglich so gut wie ausschließlich durch die Mutter, später, als die Jungen etwas herangewachsen waren und den Alten bereits folgen konnten, durch beide Eltern. Wir hatten diesen ein nach bestem Wissen zusammengesetztes Mischfutter gereicht, welches sich auch als durchaus zuträglich erwies. Frische Ameisenpuppen und etwas fein gehacktes rohes Fleisch, mußten die thierische Nahrung, fein geriebene Semmel, gewiegter Salat und Teichlinsen die Pflanzenstoffe ersetzen, welche unserer Annahme gemäß von freilebenden Purpurhühnern zur Fütterung der Jungen verwendet werden, und wie der Erfolg zeigte, hatten wir uns nicht getäuscht. Beide Eltern näherten sich dem Futtergeschirr, suchten sich aus dem Gemisch das für ihre zarten Sprossen Tauglichste heraus, indem sie mit dem Schnabel das Futter durchwühlten, bald von diesem, bald von jenem Stoffe ein Bröckchen nahmen, oft auch das bereits Gefaßte wieder fallen ließen und ein anderes wählten, packten endlich ein kleines Bröckchen mit der Spitze des Schnabels so behutsam, daß es an dieser mehr zu kleben als von ihr gehalten zu sein schien, bogen sich hierauf zu [736] den untenstehenden Küchlein herab und hielten ihnen das Nahrungsbröckchen vor, bis das Junge sich entschloß, es vom Schnabel abzupicken.

Anfänglich trugen beide Eltern die Atzung bis in das Nest; schon mit dem achten Tage ihres Lebens aber verließen die Jungen unter Führung der Eltern ihre Sitzstelle und trippelten bis zum Futternapfe, später auch wohl weiter und weiter, bis sie endlich den Boden des ganzen Käfigs durchmaßen und über Stock und Stein wegstolperten. In der Regel führte auch jetzt noch die Mutter beide Sprossen; später aber geschah es nicht selten, daß diese sich trennten und eines hinter dem Männchen, das andere hinter dem Weibchen herlief. Und es war ein wahrhaft erbaulicher Anblick zu sehen, wie beide Eltern mit einander zu wetteifern schienen, dem ihnen eben folgenden Küchlein ihre Liebe und Sorgfalt zu beweisen. Je größer unsere Hühnchen wurden, um so selbstständiger zeigten sie sich; doch währte es sehr lange Zeit, bevor sie sich entschlossen, von dem vorgesetzten Futter ohne Mithülfe der Alten etwas aufzunehmen: sie waren schon mehr als halbwüchsig, und noch immer mußte ihnen Bröckchen für Bröckchen gereicht werden. Doch bemühten sich die Alten ersichtlich, sie weiter und weiter zu bringen, mehr und mehr zu unterrichten.

Die Futterstoffe des Gemenges wurden auch jetzt noch mit dem Schnabel dargeboten, größere Stoffe aber, welche wir anfänglich eigentlich zur Nahrung der Alten gereicht hatten, nicht mehr zerstückelt, sondern nur mit einer Klaue gepackt und so vorgehalten. Besonders hübsch sah es aus, wenn eines der Eltern einen kleinen Fisch den Jungen darreichte. Durch ein paar kräftige Hiebe des starken Schnabels wurde der Fisch zunächst an einer Seite entschuppt, hierauf durch einige Bisse gewissermaßen vorgeschnitten, die so mundrecht gemachte Stelle sodann aber dem Jungen vorgehalten, bis dieses sich entschloß, ein und andere Bröckchen loszupicken. Viele Minuten lang konnte man bei dieser Gelegenheit die Alte auf einem ihrer Füße stehen und mit dem anderen die Nahrung vorhalten sehen, bis endlich beide Küchlein gesättigt sich abwandten und damit die sorgsamen Eltern bewogen, ihnen zu folgen.

So wuchsen die Vögel zu Aller Freude gedeihlich auf und gaben uns vollste Gelegenheit, ihr kindliches Treiben sowohl, wie ihre eigenthümliche Umfärbung zu beobachten. Im Dunenkleide sahen sie bis auf den lebhaft rostrothen Flügelrand und einige zimmetrothe Stellen am Kopfrande kohlschwarz aus, der Schnabel und der Ansatz zur Stirnplatte waren hellblau, die plumpen Beine schwarzblau. Später, noch lange vor erreichtem Wachsthum, verschwand das Rostroth ganz allmählich, und auch das Schwarz wurde auf der Unterseite durch deutlich hervortretende, weißgraue Längsstreifen unterbrochen, während es auf der Oberseite der Vögelchen noch vorherrschend blieb; gleichzeitig begannen die Füße sich röthlich zu färben. Anfangs August hatten sich Rücken und Flügel schon ziemlich dicht befiedert und zwar ganz wie bei den Eltern, nur daß die Färbung der Federn etwas trüber war; auf der Unterseite dagegen verschwanden die erwähnten Streifen ganz allmählich und gingen in einen braunlich fahlgrauen Farbenton über, welcher nach und nach sich in Blau oder Graublau verwandelte, ohne daß dabei eine Feder vermausert worden wäre. Je weiter diese Färbung vorschritt, um so deutlicher wurde das Blau, so daß man alle Uebergänge durch Fahlgrau, Schmutzig- oder Graulich-Violet bis zum Grau-Blau beobachten konnte. Die Umfärbung des Schnabels und der Füße ging ebenso allmählich vor sich, und erst Mitte October hatten diese Theile eine Röthe erlangt, welche der bei allen Vögeln vorhandenen fast gleich kam. Im December endlich trat die Mauser ein, durch welche die Jungen ein ihren Eltern vollständig gleiches Kleid erhielten, und damit endete auch das innige Zusammenleben zwischen Eltern und Kindern.




Meine Begegnungen mit Meister Heinz.
Von Feodor Wehl.


So ist nun auch Marr in Hamburg dahingegangen, ein glänzender Schauspieler, ein berühmter Regisseur, einer der tüchtigsten Vertreter der alten, heute nun fast ausgestorbenen Schule, mit einem Worte: ein echter Meister in seiner Kunst. Ich lernte Meister Heinz, wie Marr im Kreise seiner näheren Freunde genannt wurde, zuerst in Berlin Anfang der vierziger Jahre flüchtig kennen. Es wurde damals Laube’s Lustspiel „Rococo“ neu in Scene gesetzt und dazu war zugleich mit dem Verfasser auch Marr, der Schöpfer des alten Marquis von Brissar, von Leipzig mit herübergekommen.

Wie der berühmte Schauspieler damals ausgesehen, weiß ich mich nicht mehr zu erinnern; ich war zu jener Zeit noch sehr jung und von dem Ereigniß der bevorstehenden Darstellung vollkommen in Anspruch genommen. Ich gehörte zu den Anhängern und Parteigängern des jungen Deutschland, zu Laube’s näheren Freunden und den ständigen Mitarbeitern seiner Wochenschrift „Zeitung für die elegante Welt“. Selbstverständlich, daß mir aus diesen Ursachen die Darstellung eines Stückes von Laube von höchster Wichtigkeit war. Ich hatte den Vermittler zwischen Laube und dem damaligen Berliner Intendanten, Herrn von Küstner, abgegeben, war der Ueberbringer aller Winke und Rathschläge des Ersteren an die Schauspieler gewesen und ließ es mir zuletzt natürlich auch[1] nicht nehmen, durch die Presse die Aufmerksamkeit des Publicums auf die Arbeit meines literarischen Herrn und Meisters hinzulenken.

Alles dies hatte mich in große Erregung versetzt: zu jener Epoche gab es in Berlin eben noch sehr wenig politisches Interesse, und die öffentliche Meinung gipfelte in der lebhaftesten Theilnahme für Literatur und Theater. Eine Recension Gutzkow’s im „Telegraphen“ über ein neues Buch, eine Kritik Kühne’s in der „Europa“ über das Spiel eines bekannten Darstellers setzten noch die ganze gebildete Welt in Bewegung. An den Tagen, an denen die neuen Nummern jener Zeitschriften in Berlin einzutreffen pflegten, waren die Conditoreien bei Stehely und Spargnapani den ganzen Tag über gefüllt und die Blätter flogen aus einer Hand in die andere. Was Wunder, daß der Gedanke an das Ge- oder das Mißfallen des fünfactigen Lustspiels „Rococo“ meine ganze Seele erfüllte, noch obenein, da nun Laube selbst erschienen war, der Aufführung in Person beizuwohnen. Mit einer nicht zu schildernden Spannung saß ich neben Laube im Parquet.

Der erste Act des Lustspiels fand Anklang, namentlich erhielt der Komiker Gern in der Rolle des Dieners Tulpe am Schluß desselben lebhaftesten Beifall. Ich war erfreut von diesem Erfolg und flüsterte dem Verfasser eben meinen Glückwunsch zu, als sich plötzlich ein Kopf zwischen uns schob, der Laube kurz angebunden in die Ohren raunte: „Das Stück ist verloren; man applaudirt eine nebensächliche Episode in der Exposition und vergißt darüber auf den Schlüssel des Ganzen Acht zu geben.“

Mir stockte das Wort im Munde.

„Wer ist der Mann?“ fragte ich leise.

„Marr,“ antwortete dieser, augenscheinlich sehr verstimmt und stutzig geworden.

Ich sah dem sich wieder Entfernenden kopfschüttelnd nach, indem ich Laube über diese lächerliche Prophezeiung, wie ich meinte, zu besänftigen und zu trösten suchte. „Abgeschmackt,“ sagte ich zuversichtlich. „Das Publicum, ist in gute Laune versetzt, angeregt und lustig. Wie könnte da ein solcher Umschlag kommen?“

Aber er kam doch in der That. Im zweiten Act waren die Zuschauer zerstreut, enttäuscht vor Allem auch darüber, daß der komische Diener nicht so viel Spielraum gewann, als sie gehofft. Sie hatten den Sinn für die Hauptintrigue, die eigentliche Idee der Komödie versäumt; sie verstanden sie nicht und verloren die Theilnahme. Man wurde mehr und mehr unruhig und abgespannt; im dritten Act verließ Laube das Haus, und mit dem vierten war das Stück todt, wie Marr es vorausgesagt. Daß seine Voraussagung so vollkommen eingetroffen, hat mir einen unvergeßlichen Eindruck und den Mann selbst bedeutsam gemacht. Ich habe von da an vor Marr einen besonderen Respect gehabt und auch später alle Ursache erhalten, denselben bestätigt zu finden.

Ich lernte Marr näher in Hamburg kennen, wohin er von Weimar kam. Er hatte dort seine Stellung als Director des [737] Hoftheaters aufgeben müssen, weil, wie es heißt, er sich nicht allen Launen fügen, sondern seinen Kopf behaupten wollte. Und das wollte er denn in der That auch stets und meist mit gutem Grunde. Meister Heinz hatte feste, bestimmte Anschauungen und Grundsätze, für die er tapfer und so zu sagen auf Tod und Leben einstand. Nachgeben, sich finden, accommodiren, wie man sich auszudrücken pflegt, war seine Art nicht. Man hat Marr vielfach als lieblos und ohne Gemüth geschildert, von ihm gemeint, er besäße kein Herz. Wer so über ihn urtheilt, hat ihn nicht gekannt. Meister Heinz war wie jedes echte Künstlerwesen fein besaitet und dem wahren Gefühl zugänglich, aber zugleich auch eine strenge Natur, der die Sache höher stand, als die Person. Wo es die Sache galt, da verschwand ihm der Mensch. Ich kenne keinen Schauspieler, mit dem ich so viel über Kunst gesprochen hätte, wie mit Marr, ohne dabei auf die Namen und die Interessen der Leute zu kommen.

Wir haben so manche Stunde im angeregtesten Verkehr zugebracht. Jede Unterhaltung mit ihm war nützlich und lehrreich; noch auf seinem Sterbebett habe ich das empfunden. Marr wünschte nichts so sehr, als die letzten Jahre seines Lebens als Director einer schauspielerischen Bildungsschule oder eines Hoftheaters verleben zu können, wo er nicht genöthigt sei, aus der Kunst eine milchende Kuh zu machen.


Heinrich Marr.


Er wollte seine gesammelten Erfahrungen, Anschauungen und Grundsätze noch einmal möglichst rein und voll zur Anwendung gebracht sehen. Als er im Anfang der sechsziger Jahre auf dem Hoftheater in Dresden gastirte, war viel die Rede davon, ihn dort zum technischen Director zu machen. Nur sein vorgerücktes Alter war schließlich die Ursache, daß man den Plan wieder fahren ließ. Nicht anders ist es mit ähnlichen Ideen in München gegangen. In Stuttgart wäre er gleichfalls gern als künstlerischer Leiter der Hofbühne angestellt gewesen, als aber endlich ich dafür berufen wurde, entfaltete Marr einen so uneigennützigen Eifer, mir mit Rath und That zur Hand zu gehen, daß ich mich ihm immer im tiefsten Herzen dafür verpflichtet fühlen werde. Der alte Freund hat mir manchen langen und eingehenden Brief geschrieben, um mir wegen eines Ersatzes für Grunert, wegen Rollenbesetzung und Repertoire seine Meinung mitzutheilen. Er hegte zu Anfang meiner dramaturgischen Leitung Besorgniß, ich würde in meinem ganzen Verfahren zu literarisch bleiben. Noch unter dem 20. Januar 1871 ließ er sich wie folgt vernehmen:

„Ich bleibe dabei: das alte Repertoire allein kann als Bildungsschule für Schauspieler dienen. Zuerst müssen die jungen Bursche lernen Menschen darstellen, Menschen in ihrer natürlichen Einfachheit und Wahrheit; wenn poetisches Element vorhanden, werden sie dies späterhin um so bedeutender zur Geltung bringen, weil sie auf Grundlage des Realen wandeln und nicht Gefahr laufen, das Ideale in unnatürliche Fratze zu verkehren.“

„Pardon! Aber der alte Komödiantenschulmeister kann das Dociren nicht lassen. Leider wird heutigen Tages nicht viel damit gewonnen, denn – der Schulmeister darf ja nicht den Bakel schwingen. Ach, und wie heilsam könnte dieser oft wirken, denn die verfluchte Libertinage beim Theater richtet so manches Talent zu Grunde.“

„So, nun bin ich schon still, lieber Fedor. Sie sehen, ich habe meine Ihnen bekannte Polterei auf ein bescheidenes Duodezmaß beschränkt. Möge Ihnen und Ihrem sanfteren Wesen gelingen, so gute Resultate zu erzielen, daß Sie Ihr Streben belohnt sehen.“

„Ihre Thätigkeit, welche sich in Vorführung der neueren und auch älteren bedeutenden Werke kundgiebt, ist anerkennenswerth, aber – verstehen Sie mich recht, es ist ein mehr literarisches als schauspielerisches Streben. Finden Sie, daß Ihre Schauspieler auf diesem Wege an künstlerischer Bedeutung gewinnen, dann haben natürlich auch Sie nach beiden Richtungen hin gewonnen.“

„Ich hätte gern eine Vorstellung der ‚Miß Sara Sampson‘ gesehen, um mich von den Darstellungsfähigkeiten zu überzeugen. Wahrscheinlich war der Eindruck mächtig, ich hoffe es und hoffe, daß nicht allein die Dichtung diese Macht ausübte, sonst wäre die Wirkung doch nicht nachhaltig und die Vorführung des Stückes bliebe dann nur ein literarisches Experiment.“

Diese briefliche Auslassung mag und kann beweisen, wie zartfühlend und schonend der schroffe und polternde Meister Heinz sich auszusprechen vermochte, wo er zwar seine Meinung sagen, aber nicht verletzen wollte.

Praktiker, Kenner des Theaters, wie er es war, beunruhigte ihn zunächst das alte Vorurtheil, wonach ein Schriftsteller nun einmal nie ein die Gewohnheiten des Publicums und die Bedürfnisse der Casse befriedigender Director werden können soll. Er fürchtete, ich würde mich in literarische Bühnen-Experimente verrennen, und beruhigte sich erst, als er sah, daß ich dergleichen nur dann und wann vornahm, nur älteren Dichtern und bevorzugten Begabungen an unserer Bühne Rechnung zu tragen. Daher sein Bedenken und sein Interesse für Lessing ’s „Miß Sara Sampson“.

Ein zweiter Punkt des Zwiespalts zwischen uns war die Ausbildung junger schauspielerischer Begabungen. Der dramatische Altmeister behauptete, wie ja auch zur Genüge aus der angeführten Briefstelle hervorgeht, daß der Jünger der Bühne, ehe er Rhetorik und Declamation lernt, lerne Menschen darzustellen. Ich bin der Ansicht, daß diese Darstellung der Gipfel, so zu sagen die Krönung der Schauspielkunst und somit die Vollendung derselben ist. Sie ist das Schwerste, aber auch Höchste und Letzte der Kunst. Die Kunst des Vortrags, die wahre, echte Kunst des Vortrags ist zwar auch nicht leicht, aber minder schwierig zu erreichen. Begeisterung, Schwung, ein volles Herz und ein lebhafter Geist können hier schon viel erlangen, und da man diese Eigenschaften doch mehrentheils immer bei der Jugend trifft, so habe ich dafür gehalten, daß man junge Schauspieler zunächst darin bilden soll, mit einem Wort: ich habe geglaubt und glaube noch heute, Anfänger in declamatorischen Rollen zuerst beschäftigen und vor das Publicum hinausstellen zu dürfen und erst langsam und nach und nach zu solchen Aufgaben hinüberführen zu müssen, die mehr von natürlicher Wahrheit und Wirklichkeit an sich haben, kurz, ich will aus dem Idealismus in den Realismus und in dem Letzteren noch so viel von dem Ersteren bewahren, als die Schönheit der Kunst dies zur Bedingung macht. Marr wollte das auch, aber auf umgekehrte Weise: er verlangte die realistische Schule und dieser zur Zierde einen gewissen idealen Hauch, welcher, nach seinem Dafürhalten, sich schon im Wesen der Kunst selbst bedinge und erzeuge.

So hat er verfahren, meiner Verfahrungsweise entgegengesetzt, und sicher ist, daß er vorzügliche Resultate erzielt. Er hat nicht nur gute Schauspieler, er hat Künstler gebildet, und dieses Bilden habe ich mehrfach Gelegenheit gehabt unter meinen Augen vor sich gehen zu sehen. Es war ganz eigenthümlicher Art. Marr gab eigentlich seinen Unterricht nur auf Proben und dann sehr heftig und dicatorisch. Er fuhr die Darsteller an und hunzte sie tüchtig herunter, wenn sie etwas boten, was er nicht gelten ließ. Zehn Mal ließ er einen Auftritt probiren, der nicht klappte, zehn Mal rief er einem Mitgliede an derselben Stelle sein Veto zu. Er schonte nie, ersparte keine Beschämung, und doch war er stets der Abgott aller strebenden Jünger.

Woher kam das?

Ganz einfach daher, daß der junge Schauspieler überall empfand, wie Marr sein „Metier“ bis auf’s Kleinste hinab verstand, ihn mit kurzen Winken und Fingerzeigen auf den rechten [738] Weg darin führte. Aber nicht daher allein; die Anhänglichkeit junger Schauspieler an Meister Heinz entsprang auch zugleich dem Umstande, daß er eine wahrhaft feine und bezaubernde Weise besaß, mit ihnen collegialisch zu verkehren. Wenn er auf der Probe gescholten, gezankt und gewettert, wenn er über ein Vergreifen oder Mißverstehen der Rolle oder der Situation wie ein Rasender gewüthet, wenn Alles verstimmt, verdutzt und beleidigt war, dann am Schlusse der Probe trat Marr’s glänzendste Seite an’s Licht. Dann lächelte er verschmitzt, rief die Getadelten um sich und wußte sie durch ein paar gut angebrachte Worte wieder aufzurichten. Vorher ganz Director oder Regisseur, war er jetzt ganz College und welch liebenswürdiger College!

Es war wahrhaft reizend, ihn im näheren Umgange mit seinen „Komödianten“ zu sehen. Da konnte er toll und lustig sein, wie der Jüngsten einer. Und war er nicht auch jung und frisch bis in sein hohes Alter, bis in den Tod hinein? Noch sehe ich ihn im Geiste vor mir, Meister Heinz, mit seinen hellen, großen blauen Augen, seinen langen weißen Locken, seiner straffen strammen Gestalt – die ewige Jugend gaukelte um sein Haupt, „jene Jugend, die uns nie entfliegt“ und welche immer, „früher oder später, den Widerstand der stumpfen Welt besiegt“. Ja, Marr ist jung geblieben, jung in und mit seiner Kunst.

Wie lebhaft empfand er nicht auch ihre Stellung während des letzten Krieges! Unter dem 2. Januar 1871 schrieb er mir:

„Alle Theater bringen jetzt sogenannte patriotische Stücke! – Ich bin gewiß aus vollem Herzen ein redlicher Patriot, ja, ich habe es tief bedauert, daß meine Jahre mir die Anstrengung eines Feldzugs nicht mehr gestatten; aber diese sogenannten patriotischen Machwerke, deren ganzer Werth darin besteht, die Franzosen lächerlich zu machen und in trivialen Couplets zu beschimpfen, diese Machwerke sind mir verhaßt. Ein gewaltiger Muth, den geschlagenen Feind zu verhöhnen! Die nämlichen geistreichen Autoren würden dem Napoleon huldigen, wenn er als Sieger bei uns eingezogen wäre, und die nämlichen Coupletsänger dem siegenden Feinde ihren Sang mit dem nämlichen feurigen Accent darbringen. Pfui! Die Bühne soll sich nie zum Tummelplatz politischer Leidenschaft herabwürdigen. Man schreibe doch Stücke, die den Patriotismus, die Vaterlandsliebe auf eine würdige Weise heben und stärken. Ist das nicht ein testimonium pauperatis unserer deutschen Autoren?“

Seine geliebte Kunst beschäftigte ihn noch unausgesetzt auf dem Krankenbette, von dem er nicht wieder aufstehen sollte. Als ich im August dieses Jahres nach Hamburg kam und mich beeilte, ihn zu besuchen, fand ich ihn schon von den Aerzten aufgegeben.

Schon wurden alle Freunde abgewiesen, schon war seine liebevoll ihn pflegende Gattin auf sein Ende gefaßt. Mit einem fernher kommenden Vertrauten machte man jedoch eine Ausnahme; ich habe den sterbenden, von entsetzlichen Körperleiden gefolterten Marr noch dreimal gesprochen. Es war schon so weit mit ihm, daß er fast nichts mehr genoß und daß die geringste Bewegung an seinem Lager ihm unerträgliches Mißbehagen verursachte. Er lag meist und dämmerte vor sich hin. Aber sobald der Arme meinen Namen hörte, richtete er sich mühsam von seinem Kissen empor, öffnete seine großen blauen Augen und reichte mir die Hand, um dann sofort mit mir ein Gespräch über Theater zu beginnen. Er sprach von meinen Bestrebungen in Stuttgart, von Eleonore Wahlmann, in der er ein bedeutendes Talent erkannte, von Laube, von seinen eigenen Hoffnungen und Wünschen. „Ich werde nicht mehr spielen,“ sagte er, „aber ich werde auch an Krücken noch die Regie führen können. Ach, lieber Freund,“ fuhr er dann mit leiser, schwindender Stimme fort, „sie ist doch schön, unsere Kunst! Sie sitzt mit meiner guten Elsbeth“ (so nannte er seine Gattin) „an meinem Schmerzenslager, und während diese mich körperlich pflegt und hegt, richtet mich jene geistig auf. Sie ist meine Scheherizade, die mir die wunderbarsten und lachendsten Märchen erzählt. Ich kann Ihnen nicht sagen Fedor“ (er liebte im vertrauten Umgange die Vornamen), „ich kann Ihnen nicht sagen, Fedor, was für reizende und schöne Pläne noch jede meiner Stunden beschäftigen, die mir die Krankheit von Schmerzen noch frei läßt. Wie viel bleibt mir noch zu wirken und zu schaffen, und welche Lust ist es, zu wirken und zu schaffen in einer Kunst, die wir lieben und welche unsere ganze Seele erfüllt!“

Ich kann nicht sagen, wie mich diese Auslassungen ergriffen. Sie berührten mich auf’s Traurigste; aber sie gaben mir auch zugleich eine versöhnende Empfindung. Marr sah und empfand den Tod nicht, der an seiner Seite stand, vor lauter Liebe und Begeisterung für seine Kunst. Seine Kunst verdeckte und verbarg ihm den Tod. Von ihr redend, von ihr träumend, ist er, wie die Wittwe mir telegraphirte, „wie ein Hauch dahin gegangen.“ Ehre seinem Andenken, ein großer Meister ist in ihm entschlafen, ein Meister, der dramatische Aufgaben mit seltener Wahrheit, Einfachheit und Natürlichkeit zu spielen verstand. Viele seiner Leistungen waren nicht leicht zu übertreffende Cabinetstücke der darstellenden Kunst. Sein alter Feldern, sein Riccaut, sein Kaufmann, sein Jude im Cumberland’schen Stücke dieses Namens, sein Baruch in „Dienstpflicht“, sein alter Marquis in „Helene von Seiglière“ – welche Rollen waren das von ihm noch in seinem hohen Alter! Wer sie sah, wird sie nie vergessen.




Ein erzbischöflicher Ketzer und Märtyrer.
Von E. M. Sauer.


Wer die stolze Bergveste Hohensalzburg besucht hat, erinnert sich gewiß noch jenes kleinen, engen Gemachs zur Seite des prunkvollen Banquetsaales, das, genau dreiundsechszig Quadratfuß messend, dem Besucher als Kerker des Fürsterzbischofs Wolf Dietrich gezeigt wird. In diesem Käfige soll der Gefangene fünf volle Jahre bis zu seinem Tode zugebracht haben, weil er, wie die Führerin zu sagen pflegt, „das Cölibat habe aufheben wollen“. Der Tourist, wenig vertraut mit der Specialgeschichte des ehemaligen Fürsterzbisthums Salzburg, nimmt gewöhnlich die Angabe auf Treu und Glauben hin. Er bewundert vielleicht das Raffinement geistlicher Bosheit, welche die gefallene Größe hart neben den Banquetsaal einsperrte, wo der Gefangene Ohrenzeuge der erzbischöflichen Tafelfreuden sein mußte, und denkt sich wohl dabei, wenn Wolf Dietrich kein anderes Verbrechen begangen hat, als daß er das Cölibat aufheben wollte, dann war die Strafe eine echt mittelalterliche, geistliche Barbarei. Nur wenige unter dem Gros der Touristen mögen dabei eine Ahnung davon haben, daß hier ein geistig hochbedeutender Mensch, der größte unter den Kirchenfürsten Salzburgs, jesuitischen Ränken und elender Habgier und Rachsucht elendiglich zum Opfer gefallen ist, denn trotz manches dunklen Schattens in seinem Charakter, zumeist eine unvermeidliche Folge der Zeit und der Sphäre, in welcher Wolf Dietrich lebte, war der Gefangene auf Hohensalzburg doch ein deutscher Fürst, wie es deren nur wenige gab, und darum verdient die Geschichte des erzbischöflichen Ketzers und Märtyrers von dem deutschen Volke gekannt zu sein. Gestützt auf die Mittheilungen des strengkatholischen und, was hierbei besonders schwer in’s Gewicht fällt, des kurfürstlich bairischen Archivbeamten Judas Thaddäus Zäuner, in dessen leider bis auf wenige Exemplare durch die große Feuersbrunst in Salzburg vernichteter Chronik von Salzburg, der seinen Bericht überall mit Documenten von unbestreitbarer Echtheit belegt, will ich versuchen in Kürze die Geschichte Wolf Dietrich’s wiederzugeben.

Wolfgangus Theodorikus von Raittenau, gewöhnlich Wolf Dietrich genannt, wurde im Jahre 1587 vom Salzburger Domcapitel zum Erzbischof gewählt. Er war damals kaum achtundzwanzig Jahre alt. Obwohl er das zu seinem Amte erforderliche Alter noch nicht erreicht hatte, übertrug ihm das Capitel doch die hohe Würde „in Ansehung seines hohen Verstandes und seiner seltenen Bildung“, wie es in dem betreffenden Documente heißt. Mit dieser seltenen Bildung hatte es seine Richtigkeit, denn Wolf Dietrich hatte sich nicht weniger als sechs Sprachen vollkommen zu eigen gemacht, war erfahren in der Wirthschaftskunde, der Staats- und Kriegswissenschaft und stand mit dem berühmten Astronomen Tycho de Brahe in fortlaufendem freundschaftlichem Briefwechsel. Daß jedoch die seltene Bildung und der hohe Verstand bei der Wahl nicht allein maßgebend gewesen sein mögen, geht daraus hervor, daß sich das Domcapitel in der [739] Wahlcapitulation ausdrücklich ausbedang: „die ansehnlichsten Aemter als Landeshauptmannschaft etc. sollten vor allen andern den Domherrn selbst verliehen werden“. Ohne Zweifel glaubte man unter einem jungen lebensfreudigen und prachtliebenden Erzbischofe dieses Ziel leichter erreichen zu können als unter einem andern, gleich seinem Vorgänger Georg, von dem die Chronik nur meldet, daß er einen „sehr großen, fetten Leib besessen habe, obwohl er nicht viel zu essen pflegte.“ Wolf Dietrich scheint jedoch den Erwartungen des Domcapitels nur wenig entsprochen zu haben. Wegen seiner Jugend anfangs vom Volke nicht besonders geachtet, gewann er bald die Liebe seiner Unterthanen durch weise und entschiedene Regierungsmaßregeln. „Er ließ,“ sagte der Chronist, „die Pfleger, d. h. Vögte und Bedrücker des Volkes, zum warnenden Beispiel an den Pranger stellen, mit Ruthen aushauen oder sonst des Landes verweisen.“ Solche Maßregeln mögen gerade nicht nach dem Geschmacke des Domcapitels gewesen sein, und, wie sich später zeigte, trat schon damals eine Mißstimmung zwischen dem Erzbischofe und seinem Domcapitel ein, die durch das selbstbewußte, autokratische Wesen des Fürsten im Laufe der Zeit jedenfalls noch gesteigert wurde. Wie väterlich Wolf Dietrich für die Bedürfnisse seines Volkes sorgte, ersieht man daraus, daß er zur Zeit der Theuerung den Armen das Korn, das sonst elf bis dreizehn Gulden kostete, aus dem „Hofkasten“ um acht Gulden verkaufen ließ. Auch für die geistigen Bedürfnisse seiner Unterthanen trug Wolf Dietrich Sorge. Gegen die Unwissenheit der Geistlichen gründete er eine höhere Lehranstalt, deren Leitung er den Franziskanern übertrug.

Schon bei der Gründung dieser Klosterschule traten die ersten Spuren einer Dissonanz mit Baiern zu Tage, welche später dem Erzbischof so verderblich werden sollte. Der bigotte Herzog Wilhelm von Baiern empfahl nämlich Wolf Dietrich zur Leitung der neuen Schule die Jesuiten, allein der Erzbischof „weigerte sich standhaft, denselben in seiner Residenz einen beständigen Aufenthalt zu geben,“ was ihm nachher von bairischer Seite den Vorwurf zuzog, „als ob er die Protestanten heimlich begünstigte.“ Auch für den jungen Adel und „die Jugend des Volkes“ errichtete Wolf Dietrich Schulen. In den Volksschulen sollte „Buchstabiren, Lesen, Schreiben, Rechnen“ gelehrt werden (Schulordnung vom 15. Februar 1594). Wie sehr der Erzbischof den Jesuiten abgeneigt war, beweist noch ein anderer Umstand. Als nämlich im Februar 1604 Herzog Wilhelm von Baiern „in größter Stille mit einigen Jesuiten nach Salzburg kam, um nach St. Wolfgang zu wallfahrten,“ verbot Wolf Dietrich seinen Unterthanen „bei schwerer Strafe auf der Gasse zu stehen, aus dem Fenster zu sehen, vielweniger aber dem Zuge selbst nachzulaufen.“ Es läßt sich denken, daß ein solches Vorgehen des Erzbischofs Seitens der Jesuiten und ihres Anhangs sehr übel vermerkt wurde. Auffallender Weise blieb jedoch Wolf Dietrich trotz alledem am päpstlichen Hofe gut angeschrieben, und der Papst hatte sogar die Absicht, ihn zum Cardinal zu erheben, was jedoch der kaiserliche Gesandte Veit von Dornberg im Einverständnisse mit Kaiser Rudolph zu hintertreiben wußte. Es ist dies um so befremdlicher, als Wolf Dietrich sich großer Gunst und Achtung „bei des Kaisers Majestät“ erfreute und auf dem Regensburger Reichstage (1594) von dem Monarchen in so hervorragender Weise ausgezeichnet wurde, daß er dadurch den Neid des bairischen Erbprinzen Maximilian, des nachmaligen Hauptes der Liga und Wolf Dietrich’s unversöhnlichsten Gegners, erregte. Es müssen hier merkwürdige Intriguen in einander gespielt haben.

Gegen die Salzburger Lutheraner ergriff Wolf Dietrich verschiedene Maßregeln, wahrscheinlich auf Betreiben Roms, von wo er im Jahre 1588 zurückgekehrt war, nachdem er dem Papste persönlich seinen Dank für die Bestätigung seiner Wahl dargebracht hatte. Das von ihm erlassene „verschärfte Reformationsmandat vom 9. September 1588“ bekundet trotz seiner „verschärften neun Artikel, immerhin noch eine gewisse Milde gegen die Irrgläubigen“. Ebenso bezeichnend ist es, daß er, als er im Jahre 1596 die Gegenreformation im Gebirge unternahm, diese damit begann, daß er den Franziskaner Tobias Henschel als „Religionslehrer“ hinausschickte. Er wollte also die „Ketzer“ auf dem Wege der Ueberredung und Ueberzeugung wieder in den Schooß der Kirche zurückführen. Der Sendbote fand jedoch hartnäckigen Widerstand, namentlich zu Wagrain. Als der Mönch dem Erzbischof rieth, er möge die „Rädelsführer“ der Wagrainer Lutheraner nach Radtstadt locken, um sich hier derselben zu bemächtigen, wies Wolf Dietrich den Vorschlag „mit Entrüstung“ zurück und zog es vor, lieber das Werk der Gegenreformation ganz fallen zu lassen, als sich einer so „treulosen Handlung“ schuldig zu machen. Auch dies wurde ihm in der Folge sehr übel ausgelegt.

Man sieht aus diesen einzelnen Zügen, daß Wolf Dietrich, wenn er auch katholischer Kirchenfürst war und als solcher z. B. kein Bedenken trug, die Häuser der ausgewanderten Salzburger Lutheraner zur Verschönerung seiner Residenz zu verwenden, doch durchaus nicht dem Grundsatze von den „durch den Zweck geheiligten Mitteln“ huldigte und für einen Erzbischof des erzkatholischen Salzburg zu Anfang des siebenzehnten Jahrhunderts immerhin ganz merkwürdig liberale Anschauungen bekundet. Freilich muß man sich hierbei stets die Zeit, den Ort und die ganze Situation gegenwärtig halten, wenn man die Persönlichkeit richtig beurtheilen will. Auch als Maximilian von Baiern im Jahre 1609 die katholische Liga schloß, war es Wolf Dietrich, welcher sich alles Drängens ungeachtet standhaft weigerte, dem Bündnisse beizutreten. „Er wolle seinen Unterthanen nicht dergleichen neue Servituten aufbürden,“ schrieb er in dieser Angelegenheit im Jahre 1610 an den Erzbischof von Mainz. „Er sei Manns genug, sich selbst zu schützen, auch könnten im Nothfall die oberländischen Stifter im Reiche ihm wenig Hülfe bringen.“

Uebrigens war das Verhalten des Erzbischofs gegen die Liga und die deutschen Protestanten keineswegs die Ursache seines Sturzes und seiner Gefangenschaft, sondern diese resultirten aus ganz anderen, rein materiellen Gründen. Schon seit langen Jahren gab es nämlich zwischen Wolf Dietrich und Herzog Maximilian erbitterte Streitigkeiten wegen der Ausfuhr des Salzburger Salzes, die, nothdürftig beglichen, stets wieder auf’s Neue ausbrachen. Die endlosen Weiterungen zwischen dem Erzbischof und dem Herzog führten endlich zum vollständigen Bruche. Umsonst hatte Maximilian versucht, sowohl den Kaiser als den Erzherzog Ferdinand zu Graz von der Gerechtigkeit seiner Ansprüche zu überzeugen. Ueberall zurückgewiesen, griff er zur Gewalt. Dabei wußte er es jedoch so einzurichten, daß er dem heftigen Erzbischof, trotz der vielfach ausgesprochenen und bethätigten Bereitheit dieses Letzteren zu einem gütlichen Vergleiche, noch überdies das Gehässige des Landfriedensbruchs zur Last schieben konnte, denn Wolf Dietrich, auf’s Aeußerste getrieben, eröffnete die Feindseligkeiten damit, daß er das Berchtesgadener Ländchen durch seinen Obersten Ehrgott besetzen und gegen Baiern sperren ließ.

Nun sammelte Maximilian bei Berghausen ein Heer von zehntausend Mann unter Tilly und rückte damit gegen das Salzburgische vor. Durch seine Emissäre wußte er gleich zu Anfang das Domcapitel von dem Erzbischof zu trennen. Die Domherren verbanden sich untereinander „durch feierlichen Eid“, sich „mit Baiern in keine Feindschaft einzulassen“. Jetzt hatte Maximilian gewonnenes Spiel. Am 22. October betrat er an der Spitze seines Heeres bei Tittmoning das Salzburgische Gebiet. Die Stadt ergab sich schon nach dem zweiten Kanonenschusse. Besser hielt sich das von dem Pfleger Ehrenreich Schneeweiß vertheidigte Schloß, vor welchem Maximilian um ein Haar durch einen Pinzgauer Scharfschützen erschossen worden wäre, hätte nicht der Pfleger, welcher den Herzog persönlich kannte, den Soldaten daran verhindert. Anstatt Maximilian’s fiel der neben ihm haltende Hauptmann der sicheren Kugel des Pinzgauers zum Opfer. Gegen Abend capitulirte das Schloß. Wolf Dietrich, der sich von seinem Domcapitel verrathen und von seiner bewaffneten Macht im Stiche gelassen sah, bat nun um Einstellung der Feindseligkeiten, allein Maximilian wies alle Unterhandlungen zurück. Jetzt erkannte der Erzbischof, daß er verloren war. In Begleitung seines Untermarschalls Thomas Perger und dreizehn Mann flüchtete er in weltlicher Kleidung nach Golling. Als er den Degen umgürtete und zu Pferde stieg, rief er den hierbei gegenwärtigen Domherren zu: „Behüte Euch Gott! Nun seht Euch um nach einem andern Herrn!“

Nach der Entfernung des Erzbischofs begab sich das Domcapitel sogleich zu Hofe, nahm alle Beamten und Räthe in Pflicht des Capitels, obwohl der Erzbischof demselben durch einen hinterlassenen Brief die Regierung nur in seinem Namen übertragen hatte, installirte sich am 24. October mit allen Förmlichkeiten wie bei einer wirklichen Stuhlerledigung und schickte Gesandte an Maximilian. Zugleich erließ das Capitel Befehle, den Erzbischof [740] zu verfolgen und festzunehmen. Drei Tage darauf wurde Wolf Dietrich’s Geliebte, Frau Salome von Altenau (von der wir später sprechen werden), mit zwei Söhnen und drei Töchtern nebst Gefolge zu Werfen festgenommen. Der Erzbischof setzte seine Reise durch’s Gebirg nach Kärnthen fort. In Moßheim erhielt er die Nachricht, daß er verfolgt werde. Er begab sich deshalb mit seinen beiden Brüdern Rudolph und Christoph über den Krätschberg und hatte die Grenze bereits hinter sich, als er von bairischen Reitern unter der Führung des Rittmeisters Herceles bei Gemünd eingeholt wurde. Sein Postmeister, Rottmayer hieß der Biedermann, hielt sogleich an und erklärte dem Erzbischof, er sei nicht mehr sein Diener. Unter Mißhandlungen aller Art wurde Wolf Dietrich nun nach Moßheim und von hier nach Werfen zurückgebracht, wo er auf dem Schlosse gefangen gesetzt wurde.

Die Gefangennahme eines so hervorragenden Kirchenfürsten machte natürlich eine ganz ungeheure Sensation in ganz Deutschland. Der Kaiser war empört, der Erzherzog Ferdinand in Gratz war wüthend wegen der Grenzverletzung und verlangte kategorisch, man solle den Erzbischof auf demselben Platze, wo man ihn gefangen, wieder in Freiheit setzen und ihm die abgenommenen Güter wieder zurückstellen, sonst werde er die in Kärnten gelegenen Besitzungen des Erzbisthums einziehen. Maximilian fand jedoch Mittel und Wege, den Kaiser und den Erzherzog zu beschwichtigen. Dem Kaiser sagte er, Wolf Dietrich sei nicht sein Gefangener, sondern der des Domcapitels, und bei dem Erzherzog entschuldigte er sich mit seiner „Unkenntniß der Grenze“. Das Domcapitel schickte Gesandtschaften an den Kaiser nach Prag und an den Papst. Von beiden wurde ihnen das Verfahren gegen den Erzbischof „ernstlich verwiesen“. Dabei hatte es jedoch sein Bewenden, und am 23. November wurde Wolf Dietrich früh zwischen fünf und sechs Uhr in aller Stille von Hohen-Werfen als Gefangener über den Nonnberg nach der Veste Hohen-Salzburg gebracht, die er nun nicht mehr verlassen sollte. Frau Salome von Altenau hatte man unterdessen wieder in Freiheit gesetzt, nachdem sie ein gewisses eisernes Kistchen übergeben hatte, welches ihr „nach genommener Einsicht“ unfehlbar wieder zugestellt werden sollte. Welche Bewandtniß es mit diesem interessanten „eisernen Kistchen“ hatte, wird nirgends erwähnt.

Nun begannen die Verhandlungen mit Wolf Dietrich wegen seiner Resignation. Der Erzbischof, durch die harte Behandlung kleinmüthig geworden, war hierzu bereit. Unter anderen Stipulationen bedang er sich eine jährliche Pension von zwanzigtausend Gulden aus. Der Vertrag wurde unterzeichnet, kam aber niemals zur Ausführung.

Da Papst Pius der Fünfte nicht gesonnen war, Maximilian’s gewaltthätiges Verfahren gegen einen so hohen Kirchenfürsten ruhig hinzunehmen, so gab er dem Herzog auf’s Neue sein „Mißfallen“ kund. Nun befahl Maximilian seinem Geheimrath Dr. Wilhelm Jocher in Salzburg, er solle „alle und jede Fälle, welche zu irgend einem Beweise des vom Erzbischofe bislang geführten ärgerlichen Lebens, Uebelhausens etc. wie immer dienen können, umständlich erkundigen und ausführlich verzeichnen und ihm solches ehestens zum Behufe seiner nach Rom gehenden Gesandtschaft überschicken“. Herr Jocher ließ sich das nicht zweimal sagen. Er brachte, wie der Chronist sagt, „ein ungeheures Sündenregister“ zusammen, welches den bairischen Gesandten Christoph Peutinger und Dr. Aurel Gilgen nach Rom geschickt wurde. Die Hauptbeschuldigungen lauteten: „Wolf Dietrich lebe in offenbarem Concubinate, sei Begünstiger der Ketzer und selbst der Ketzerei verdächtig und anbei auch Unterdrücker der Wittwen und Waisen.“ Der Papst setzte eine Congregation von Cardinälen ein, welche die Sache „ohne Geräusch“ untersuchen sollten. Es erfolgte jedoch kein Spruch, und zwar aus guten Gründen, denn die Beschuldigung der Ketzerei war absolut nicht zu erweisen, und was das Concubinat betrifft, so waren derartige Verhältnisse damals etwas so Alltägliches, daß es geradezu lächerlich gewesen wäre, darauf hin Wolf Dietrich zu verurtheilen. Man entschloß sich also zu dem Auswege, der Erzbischof solle in die Hände eines päpstlichen Nuntius resigniren. Zu diesem Behufe wurde Monsignor Anton Diaz nach Salzburg gesandt. Am 7. März 1612 brachte man Wolf Dietrich unter starker Bedeckung in die Klosterkirche auf dem Nonnberge. Alle Thüren wurden mit Soldaten besetzt; Niemand hatte Zutritt. Der Nuntius führte Wolf Dietrich in die Sacristei, welche sofort verriegelt wurde. Außer den direct Betheiligten waren nur drei Diener zugegen, von denen einer als Notar, die beiden anderen als Zeugen fungiren mußten. Der Erzbischof wollte gegen diese Procedur Einwand erheben; er wurde jedoch gezwungen, zum Zeichen der Einwilligung die Hand auf die Brust zu legen, und hierauf wieder in’s Gefängniß gebracht. Wolf Dietrich war somit von jetzt an officieller Gefangener des Papstes.

Nach dieser infamen, jedem Gesetze hohnsprechenden Procedur schritt das Domcapitel, ohne die Genehmigung des Papstes abzuwarten, auf Betreiben des Nuntius noch in demselben Monate zur Wahl eines neuen Erzbischofs. Diese fiel auf Marx Sittich, Grafen von Hohenembs. Um sich zu behaupten, verfolgte der neue Erzbischof Wolf Dietrich sogar noch weit mehr, als dies Maximilian bisher gethan hatte. Beide setzten nun gemeinschaftlich ihre Beschuldigungen gegen den Gefangenen fort. Wahrscheinlich um dem Scandale ein Ende zu machen, befahl jetzt Papst Pius der Fünfte, der Gefangene solle nach Rom gebracht werden. Maximilian jedoch widersetzte sich auf das Heftigste. Wolf Dietrich, dem man in letzter Zeit einige Erleichterungen gewährt hatte, wurde nun im Juli in engste Haft gebracht. Man sperrte ihn mit zwei Franziskanern und zwei Dienern in ein Zimmer, dessen Fenster von unten mit Brettern verschlagen waren. Niemand hatte Zutritt; Bücher und Schreibmaterialien wurden ihm versagt, blos Bibel, Brevier und Gebetbücher blieben ihm gestattet. Im zehnten Monate seiner Haft erhielt er durch einen gemeinen Soldaten des Nachts Schreibmaterialien durch das Fenster gereicht. Wolf Dietrich richtete nun einen in vortrefflichem Latein geschriebenen (in Zäuner’s Chronik zweiundzwanzig Octavseiten umfassenden) Brief an Paul den Fünften, worin er, mit Ausnahme seines Verhältnisses mit Frau von Altenau (unius mulierculae contubernium heißt es in dem Briefe), alles Uebrige für elende Verleumdung erklärt, über den Nuntius bittere Beschwerde führt und bittet, man solle die Bischöfe von Sackau und Lavant zu seinen Richtern bestellen. Zugleich richtete er einen gleichfalls lateinisch geschriebenen Brief an die Cardinäle. Beide Briefe wurden von dem Soldaten zur Post gebracht, aber eine halbe Stunde vor Abgang derselben verrathen und dem Erzbischofe Marx Sillich übergeben.

Trotz der Verwendung mehrerer deutschen Fürsten, ja sogar trotz des Bittschreibens des Kaisers Matthias (vom 21. Oct. 1613) an den Papst, wurde von da an die Behandlung Wolf Dietrich’s noch „ungleich schärfer und schimpflicher als ehedem“, so zwar, daß zuletzt sogar sein unerbittlichster Feind, Herzog Maximilian „sowohl selbst als durch die Seinigen erklärte, er habe an dieser Behandlung nicht den mindesten Antheil!“

Wolf Dietrich ließ nun alle Hoffnung fahren und ergab sich in sein Schicksal. Im Innersten gebrochen, verbrachte er seine übrige Lebenszeit mit Beten und Bußübungen. Was er von seinem Deputat ersparte, ließ er unter die Armen vertheilen. Sein Beichtvater, der wackere Franziskaner Caspar Gopelzrieder, hielt treulich bei ihm im Gefängnisse fünf volle Jahre aus bis zu seinem Tode am 16. Jan. 1617. Aus dem Documente, welches Gopelzrieder über die letzten Stunden Wolf Dietrich’s ausstellte, geht hervor, daß der Gefangene auf dem Sterbebette allen seinen Feinden verziehen hat. Sein letzter Wunsch, „ohne alles Gepränge und nur von sechs Franziskanern begleitet“ begraben zu werden, wurde von Marx Sittich nicht respectirt. Er ließ die Leiche mit großem Prunke auf dem Friedhofe zu St. Sebastian bestatten.

So endete dieser unglückliche deutsche Kirchenfürst, ein Opfer nichtswürdiger Willkür, keines Vergehens überwiesen und Kaiser und Reich, ja sogar dem Papste zu Trotze, in elender Gefangenschaft. Frau Salome von Altenau (eigentlich Salome Alt, die Tochter eines Salzburger Bürgers und in ihrer Jugend das schönste Mädchen Salzburgs), mit welcher der Erzbischof lange Jahre hindurch in einer sogenannten „Gewissensehe“ gelebt hatte, begab sich, nachdem das Schicksal Wolf Dietrich’s entschieden war, mit ihren fünf Kindern nach Steiermark und später nach Wels. Sie starb, wie die Chronik sagt, in den besten Jahren. Bis zu ihrem Tode trug sie Trauerkleider um ihren unglücklichen Freund.

Es verdient hervorgehoben zu werden, daß Salzburg seine jetzige Gestalt weitaus zum größten Theile dem feingebildeten prachtliebenden Erzbischofe Wolf Dietrich verdankt. Während seiner

[741]

Die Erinnerungseiche im Rosenthal zu Leipzig.
Nach der Natur gezeichnet von G. Sundblad.

[742] Regierung hat er nicht weniger als fünfundfünfzig größere Bauten vorgenommen. Die schöne Residenz, das Kapuzinerschlößchen u. a. sind das Werk Wolf Dietrich’s von Raittenau.

Das als Gefängniß des Erzbischofs auf Hohensalzburg gezeigte Gemach war offenbar nur eine kleine Nebenkammer, etwa zur augenblicklichen Wegstellung von Speisen und Tischgeräthschaften während der Mahlzeiten. Auch hätte Wolf Dietrich mit seinen zwei Franziskanern und zwei Dienern darin kaum sitzen, geschweige denn gehen und liegen und ebenso wenig hätte ihm der Soldat hier die Schreibmaterialien durch das Fenster reichen können, da dieses sich über einem thurmhohen Abgrunde befindet. Man hat also augenscheinlich das Gemach, dessen ursprüngliche Verwendung in Vergessenheit gerathen war, gewaltsam mit der Haft Wolf Dietrich’s in Verbindung gebracht. Wo sich in der weitläufigen, winkelreichen Felsenburg das wirkliche Gefängniß befunden hat, scheint Niemand zu wissen.




Pariser Bilder und Geschichten.
Eine Pariser Nähterin.


Es ist sechs Uhr Abends. Ein schneidiger Novemberwind fegt über die stäubenden Straßen der Weltstadt und rüttelt zornig an den Dachfirsten, Schornsteinen und Fensterläden der thurmhohen Cité-Häuser. Die Flammen der Gaslaternen zittern und beben unter seinem wilden, ungestümen Anprall; jeden Augenblick scheinen die züngelnden Lichter verlöschen zu sollen, und der flackernde, ungewisse Schimmer, den sie auf die räucherigen Façaden und die verödeten Trottoire werfen, verleiht der ganzen Scenerie etwas unsagbar Freudloses, Gespenstisches.

Im siebenten Stocke jener gigantischen Baracke, deren wettererprobte Frontseite nach dem südlichen Seine-Arm geht, sitzt ein junges Mädchen vor der düster qualmenden Petroleumlampe und handhabt die Nadel. Ihr feines, zierliches Gesichtchen ist fast so bleich und fahl als die Leinwand, die durch ihre schlanken, emsigen Finger gleitet. Nur in der Mitte der Wangen glühen ihr zwei purpurne Fieberflecken, die unheimlichen Verräther eines verborgenen Wurmes, der ihr im Stillen am Lebenskeime nagt, und vielleicht schon vor der Wiederkehr der ersten Schwalben sein trauriges Werk vollendet haben wird. In dem Stübchen des armen Kindes ist es bitter kalt. … Wohl steht in der Ecke am Fenster ein kleiner eiserner Ofen, wie man ihn beim Trödler für zwei Franken kauft; aber es ist lange her, seit die letzte Kohle auf seinem Roste in Rauch aufgegangen ist. Mélanie sucht diesen Mangel durch ein wollenes Fichu zu ersetzen, das sie in festester Schlingung über Rücken und Brust gezogen hat, – ein kärgliches Hülfsmittel bei zwei Grad Kälte. Auch der Bettteppich, der sich über ihre Kniee breitet, vermag sie nicht gegen die Unbilden der winterlichen Witterung zu schützen. Jetzt schauert sie krampfhaft zusammen und läßt die Hände in den Schooß sinken. Draußen aber verdoppelt der Sturm sein Zischen und Heulen, als freue er sich darüber, daß die dünnen Wände der Mansarde nicht im Stande sind, seinem eisigen Hauche Halt zu gebieten.

Es schlägt ein Viertel auf Sieben. Mélanie legt die Arbeit bei Seite und erhebt sich. Ein heftiger Hustenanfall treibt ihr das Blut in die Schläfe. Sie nimmt die Bettdecke auf und legt sich die derbe Hülle um Nacken und Schultern. Dann reibt sie sich die erstarrten Finger, die bereits nah daran waren, ihr den Dienst zu versagen … Sie tritt an das Tischchen, auf dem die Lampe steht, und sucht die bläulichen Gelenke an dem heißen Cylinder zu erwärmen. Ein schmerzliches Lächeln gleitet über ihre Lippen.

„Es ist Essenszeit,“ murmelte sie vor sich hin. „Ich will für mein Diner sorgen.“ …

Sie geht zu der rohgezimmerten Commode, die mit dem Tische, dem Stuhle und dem Bette das ganze Meublement der engen, kalkbeworfenen Kammer ausmacht, und zieht eine Schublade heraus. Dann rückt sie den Stuhl an das Fenster, blickt hinaus in die kalte, sternenklare Nacht, – und dinirt. Ihre Mahlzeit besteht aus einem Zwei-Sous-Brod und einigen Körnern Salz. Nicht ohne eine gewisse Gier verschlingt sie die hastig abgebrochenen Stücke der ausgetrockneten Semmel, – denn seit früh um Elf hat sie gehungert. Ihr Frühstück war freilich ein wenig reichlicher. Sie hatte einen Napf voll Milchkaffee und zwei Brode; aber sieben volle Stunden sind eine lange Frist, zumal in einer kalten Mansarde und bei angestrengter Arbeit.

Mélanie näht Hemden für ein großes Weißwaarengeschäft in der Rue de la Chaussée d’Antin. Das Magazin hat einen täglichen Umsatz von sechs- bis siebentausend Franken. Der glückliche Inhaber hält Kaleschen, Landauer, Tilburys und Phaetons in überraschendster Auswahl; seine Lakaien und Grooms wetteifern mit den elegantesten Domestiken des Faubourg St. Germain. In den Kreisen des Sport spielt Monsieur Telettel eine hervorragende Rolle, obgleich ein Weißwaarengeschäft eigentlich nicht so ganz Chic ist, aber sechs- bis siebentausend Franken täglichen Umsatzes lassen Fünf gerade sein, und lehren ein Auge zudrücken. Monsieur Telettel besitzt vier vorzügliche Renner, von denen der schlechteste seine vierzigtausend Franken werth ist. Er rechnet fest darauf, demnächst in Longchamps einen glänzenden „hippischen Erfolg“ (succès hippique) zu erringen. Kurz, der „Patron“ des Magazins ist ein Mann comme il faut, – allein er bezahlt für die Anfertigung seiner Waaren einen beklagenswerth niedrigen Preis. Er lebt ganz und gar von weiblichen Händen, und die Arbeiterin darf in Paris, wie anderwärts, ungestraft als Sclavin betrachtet werden. Eben darum rentirt sich ja das Weißwaarengeschäft so „admirablement“; eben darum ist ja Monsieur Telettel in der angenehmen Lage, bei Gelegenheit eines fashionablen Pferderennens zwanzigtausend Franken zu verwetten, ohne den verlornen Napoleons nachseufzen zu müssen.

Mélanie erhält für die Verfertigung eines Hemdes durchschnittlich fünfundsiebenzig Centimen (sechs Silbergroschen). Mit der größten Anstrengung, wenn sie die Hälfte der Nacht noch zu Hülfe nimmt, vermag sie täglich etwas mehr als einen Franken zu verdienen. Dafür muß sie wohnen, essen und trinken, – und sich kleiden, und zwar anständig kleiden, denn „zerlumptes Gesindel“ kann Monsieur Telettel nicht ausstehen. Er „liebt“ es, wenn „seine Arbeiterinnen“ die Ehre des Hauses wahren, das heißt, er weist ihnen die Thür, wenn ihre Toilette in irgend einer Beziehung zu wünschen übrig läßt. Wie die armen Kinder mit der Erfüllung dieses väterlichen Gebotes zu Stande kommen – das ist ihre Sache!

Mélanie hat seit einem Jahre – so lange arbeitet sie für das Weißwaarengeschäft der Rue de la Chaussée d’Antin – ein tägliches Deficit von durchschnittlich fünfundsiebenzig Centimes zu verzeichnen. Gestern ist der letzte Gegenstand von Werth, über den sie verfügte, ein kleines goldnes Kreuz, das ihr die Mutter auf dem Sterbebette in die Hand drückte, zum Schacherjuden gewandert. Die fünf Franken, die sie dafür erlöste, reichten gerade hin, den unbarmherzigen Hauswirth zu befriedigen, der unter unzweideutigen Drohungen den Betrag der Miethe verlangte. Jetzt besitzt sie Nichts mehr, absolut Nichts mehr, als das spärliche Gewand, das sie auf dem Leibe trägt, und den sorgfältig zusammengefalteten Anzug, den die zweite Schublade der Commode birgt. Die zwölf Monate ihrer Thätigkeit für Monsieur Telettel haben Alles, Alles verschlungen. …

Mélanie hat Das, was sie mit furchtbarer Selbstironie ihr Diner nannte, beendigt. Sie tritt langsam an’s Fenster und blickt hinaus in die finstere, stürmische Nacht. Dumpf und schaurig tönt das Rauschen des Stromes zu ihr herauf. Sie läßt das Kinn schwer auf die Brust sinken und faltet die Hände. Eine volle, brennende Thräne rollt über ihre abgehärmten Wangen; um die schmalen Lippen zuckt und flattert es wie von tausend qualvollen Empfindungen. … Sie gedenkt ihrer glücklichen Kinderzeit! Noch vor drei Jahren schlug ihr Herz frisch und fröhlich einer rosig ausgemalten Zukunft entgegen. Ach, wer ihr damals gesagt hätte, daß Alles so ganz anders kommen würde! … Ihre Thränen fließen reichlicher. … Sie preßt die fiebernde Stirn wider die eisigen Scheiben und schluchzt lauter und wilder. Dann wird sie mit einem Male ruhig. … Es überkommt sie wie eine wohlthuende Erstarrung. … Vor ihrem inneren Auge aber gleiten die Bilder des Einst in immer klareren und freundlicheren Umrissen vorüber, [743] da sie, unbehelligt von den Stürmen des Lebens zu Hause, in der Provinz gelebt hatte, bis endlich der Vater, der Ernährer der Familie, bis endlich vor Noth und Kummer auch die Mutter gestorben war. Auch den Geliebten hatte das unglückliche Mädchen damals verloren, nur ihrer, nun durch Nichts mehr zu verbergenden Armuth wegen, und so, nur auf ihre Kräfte angewiesen, zog die Arme, Verlassene nach Paris, ohne freilich zu ahnen, was ihrer wartete! Denn wie ganz anders ist sie erzogen worden, wie ganz anders hätte sie sich vorbereiten und stählen müssen für den ernsten, ehernen Kampf des Lebens!

Sie kommt nach Paris. Die Empfehlung eines alten Bekannten ihres Vaters verschafft ihr eine Stellung in dem Pasteten-Laden des Monsieur Glouton. … Sie wird „Confiseuse“, – Conditor-Demoiselle. …

Einige Tage lang glaubt sie wieder an die Gunst ihres Sternes. Die glänzende farbenreiche Umgebung, der lebhafte Verkehr, die ewig wechselnden Physiognomien der Käufer und Käuferinnen, – dies Alles verfehlt nicht seinen wohlthätigen Eindruck. Aber der Wahn verfliegt wie Morgennebel und die schale Prosa der Wirklichkeit macht ihre vollen Rechte geltend. Früh um Sechse heißt’s: „Auf den Posten!“ Die „Confiseuse“ versieht bis zum Beginn der Verkaufsstunden die Stelle eines Stuben- und Küchenmädchens. Sie reinigt die Spiegel, die zahlreichen Glasglocken, die Krystallbecher, die Platten und Schüsseln. Um neun Uhr frühstückt sie. Dieser Morgenimbiß, – eine Tasse Chocolade und ein Brödchen – ist ihre beste und reichlichste Mahlzeit. Nach dem Déjeuner erscheint sie in eleganter Toilette und geht an ihr eigentliches Tagewerk. Das Metier will gelernt sein; die „Patronne“, – d. h. die Frau des Ladenbesitzers, – ist peinlich streng; kein Versehen, keine Ungeschicklichkeit entgeht ihren lauernden Blicken. … Mélanie giebt sich alle erdenkliche Mühe: umsonst. Madame Glouton hat ewig zu mäkeln, ewig zu keifen, ewig mit dem Kopfe zu schütteln. Bald hat „Mademoiselle“ – „täppischer Weise“ – eine glacirte Kastanie zerbrochen; bald benimmt sie sich den Kunden gegenüber nicht routinirt und graciös genug; bald war die Schleife an der Düte mangelhaft; bald waren die Bonbons und Papillotten schlecht gewickelt. Als endlich gar Monsieur Glouton das verwais’te Kind mit schimpflichen Anträgen bestürmt, da bleibt ihr keine Wahl mehr: sie dankt für die rosenduftige Sclaverei und geht ihre Wege. …

Ihr monatliches Salair beim Herrn Pastetenbäcker betrug vierzig Franken; jetzt, da sie ihre Baarschaft zählt, entdeckt sie zu ihrem Schrecken, daß ihr von den geträumten Ersparnissen auch nicht ein luftiger Schatten erübrigt. Die tadellosen Sammtjäckchen, die feingestickten Blousen, die zierlichen seidenen Schürzchen, die Madame Glouton für unumgänglich erklärte, haben ein Zwanzig-Sous-Stück nach dem andern vertilgt: Mélanie sieht sich „sur le pavé“, – auf dem Straßenpflaster –, ohne zu wissen, womit sie ihr nächstes Diner bezahlen soll. …

Da verfällt sie auf den unglückseligen Gedanken, ihren Unterhalt mit der Nadel zu erwerben. … Monsieur Telettel, Rue de la Chaussée d’Antin, sucht, laut Anschlag, Arbeiterinnen für Weißzeug. … Sie meldet sich. … Ihr Urtheil ist gesprochen!

Trostloses Ringen! Jammervoller Kampf! Jede Entbehrung, auch die schwerste, läßt sich ertragen, wenn man ein Ziel der Hoffnung vor Augen sieht. Der Elende aber, der das Bewußtsein mit sich herumträgt, daß alle Anstrengung, aller Fleiß, alle Entsagung nicht im Stande ist, sein Lebensschiff flott zu halten, der gleicht dem Delinquenten, dem das letzte Gnadengesuch abgeschlagen wurde!

Ein Jahr lang hat Mélanie gearbeitet wie eine Leibeigene. Die kurze Frist genügte, um die Kraft ihrer Jugend zu brechen. Materielle Noth und seelische Qualen vereinigten sich, um die einst so blühende Gesundheit der Verlassenen zu unterwühlen, und wo diese beiden Gespenster sich verbinden, da widersteht auch die eisernste Natur nicht. … Mélanie hat keine Hoffnung mehr als den Tod. …

– – – Immer wilder umheult der Sturm die zitternde Mansarde. Aengstlich zuckt die Flamme der qualmenden Lampe, und das Klirren der schlecht gefügten Scheiben klingt wie das höhnische Kichern feindseliger Nachtgeister. Das arme kranke Mädchen hüllt sich fester in ihre Wolldecke und schwankt dem dürftigen Lager zu. Erschöpft sinkt sie auf den harten Pfühl. Sie schauert zusammen und schließt stumm und ergeben die Augen. Ein sanfter Schlummer überkommt sie. Regungslos liegt sie da; nur die kleinen zarten Finger spielen noch krampfhaft auf und nieder und verwirklichen so das Wort des englischen Dichters, der da singt:

Näh’n, näh’n, näh’n
Von Stunde zu Stunde hin!
Näh’n, näh’n und näh’n
Wie eine Verbrecherin!
Saum und Zwickel und Band,
Band und Zwickel und Saum,
Bis der Geist erlahmt und der Schlaf mich zwingt:
Dann näh’ ich weiter im Traum!

Ja, der erschütternde „Song of the Shirt“ (das Lied vom Hemd) gilt heute nach wie vor so und so viel Jahrzehnten. Noch heute können wir mit dem britischen Poeten den Mahnruf erschallen lassen:

Ihr Männer mit Schwestern und Frau’n,
Mit Müttern, so freundlich und gut:
O glaubt mir, ihr tragt nicht Leinwand auf,
Nein, menschliches Leben und Blut!

Wohl hat sich Manches seit dem Tage, an welchem der englische Lyriker sein Lied sang, gebessert; gern bekennen wir, daß unser Bild die Farben so grell wie möglich aufträgt; aber wie Vieles bleibt noch zu thun, ehe das Loos dieser wahren Armen und Elenden, der „petites ouvrières“, auch nur einigermaßen den Anforderungen entspricht, die jedes denkende, fühlende und arbeitende Wesen an das Leben zu stellen berechtigt ist! Im besten Falle ist die Ouvrière befähigt, ein ödes, farbloses Dasein zu fristen; hat sie Unglück, oder ergreift sie eine jener unseligen Branchen, wie Buntstickerei, Weißzeugnähen etc., so wird sich ihr Schicksal von dem Mélanie’s nur wenig unterscheiden.

Auch Deutschland hat seine gemarterten „petites ouvrières“; die „Arbeiterin“, wie ich sie hier geschildert habe, ist nicht nur in Paris, sie ist auch in Berlin, in Leipzig, in Wien, in Hamburg zu finden, und ihre Lebensschicksale haben mit denen ihrer Berufsgenossin in Paris eine erschreckende Ähnlichkeit, wenngleich sich die Verhältnisse der Letzteren aus mannigfachen Gründen weit trüber gestalten. Möchten diese Zeilen dazu beitragen, das Bewußtsein dieser Thatsache wachzuhalten – denn oft ist es nicht Hartherzigkeit, nicht böser Wille, was die Noth der Armen und Unglücklichen verschuldet, sondern Unkenntniß und Vergeßlichkeit. Ein französischer Schriftsteller sagt: „Alles sociale Elend erklärt sich aus dem Umstande, daß die eine Hälfte der Menschheit nicht weiß, wie die andere lebt.“ Das gilt besonders von den gigantischen Städten, die alle Sprossen der gesellschaftlichen Leiter dicht nebeneinander aufspeichern, ohne dieselben miteinander in wirkliche Berührung kommen zu lassen. In diesem Paris „plein d’or et de misère“, wie Béranger seine Vaterstadt getauft hat, wühlt und wogt der wahnwitzige Luxus über die eleganten Trottoirs, ohne auch nur zu ahnen, daß fünfzig Schritte seitwärts ein Mensch, ein Bruder, im buchstäblichen Sinne des Wortes verhungert. Wüßten es die Reichen – oder dächten sie daran –, sie würden ohne Zweifel weit öfter und weit wirksamer eingreifen, als es so geschieht. Die gnädige Frau, die ihre Putzmamsell für eine unverschämte Person erklärt, weil sie „impertinenter Weise“ um Zahlung bat, würde sich ihrer Schroffheit schämen, wenn ein Zufall ihr einen Einblick in die Verhältnisse des armen, so lieblos angelassenen Mädchens gestattete. Die Mehrzahl der Menschen will das Gute: ihre Fehler sind Irrthümer. …

Und Mélanie? Wir haben unserer Skizze nur noch wenige ergänzende Striche hinzuzufügen. Die trübe Scene, deren Zeugen wir waren, spielt sich tagtäglich nach derselben trostlosen Melodie ab. Mélanie kennt keinen Sonntag, keine Erholung, keine Freude. Ihr Leben ist eine ununterbrochene Kette von Leiden, und der letzte Act der Tragödie endet mit einem gellen höhnischen Mißklang. …

Es ist Sylvesterabend. … Die Straßen der Weltstadt wimmeln von frohen lustigen Menschen. Alles kauft ein, Alles beschenkt sich. Aus den Cafés und Brasserien schallt lautes Lachen und ausgelassener Jubel.

[744] Auf der Treppe, die in sieben Windungen zu Mélanie’s Mansarde führt, begegnen wir einem Blousenmann. Er trägt einen sechskantigen Sarg aus Tannenholz auf dem Rücken und schreitet langsam der Hausthür zu, vor der ein schwarzangestrichener Karren wartet.

„Uff!“ sagt er, indem er den Sarg auf den Wagen wirft. „Es ist verdammt hoch da herunter!“ …

Der Kutscher knallt, die Pferde ziehen an. Die Fahrt geht nach dem Père Lachaise.

Niemand giebt der armen Mélanie das Geleite. Der Todtengräber senkt den rohgezimmerten Kasten in das große gemeinsame Bettlergrab. Morgen früh, oder übermorgen wird er ihn verscharren. Für heute hat er keine Zeit – es ist ja Sylvesterabend!

Ernst Eckstein.




Blätter und Blüthen.


Eine französische Execution. Im Augenblick, wo sich die Tagesliteratur mit den wortbrüchigen französischen Generalen beschäftigt, dürfte, nachstehender Charakterzug des Ex-Generals Crèmer nicht ohne Interesse und eine gute Illustration zu dem Wirken dieses Ehrenmannes und der Disciplin seines Corps sein.

Kurz vor der Schlacht bei Nuits, die bekanntlich mit dem Rückzuge dieses Corps endete, plagte und ermüdete Crèmer in Beaune, wo er lag, seine Truppen durch tägliches Alarmiren, so daß zuletzt dem Alarm nur wenig Leute folgten. Ein Artillerist Namens Alexander Chenai aus Nantes (Rue de la Rosière Nr. 8) hielt es auch für überflüssig, dem Alarmsignal zu folgen, und fand es vielmehr für angemessener, dem erhabenen Beispiele seines Generals nachzustreben und sich in einem Weinhaus zu betrinken. Crèmer, der zufällig dasselbe Local zu seinem Hauptquartier ausersehen, sah Mr. Chenai und forderte ihn auf, dem Rufe Frankreichs zu folgen und zu den Waffen zu eilen. Chenai theilte diese Ansicht nicht, sondern sagte kurz, wenn Frankreich in Noth sei, gehöre der General an die Spitze seiner Truppe und nicht in’s Café, er werde dann folgen. Crèmer, über diese Frechheit wüthend, ließ Mr. Chenai am Collet packen, arretiren und Tags darauf durch ein Kriegsgericht zum Tode verurtheilen.

Die Execution sollte sogleich mit dem nöthigen Pompe stattfinden. Die Garnison rückt dazu aus. Mr. Crèmer erscheint wie gewöhnlich un peu grisé mit glänzendem Gefolge. Ein Peloton tritt vor, es wird Feuer commandirt – aber Chenai steht nach der Salve noch aufrecht. Das Peloton hatte zu hoch geschossen. Crèmer ist wüthend und läßt ein zweites Peloton vortreten. Dieselbe Scene wiederholt sich. Alles brüllt: „Gnade! Gnade!“ Das Publicum nimmt eine drohende Haltung an. Crèmer, um sich nicht weiter vor dem Publicum zu blamiren, läßt die Truppen einrücken und spielt den Edelmüthigen. Mr. Chenai wird, mehr todt als lebendig vor Angst, gebunden nach dem Gefängniß geschleppt und wähnt mit Galeerenstrafe das Leben erkauft zu haben. Doch bald sollte er sehen, wie sehr er sich in dem Edelmuthe seines Generals getäuscht. Plötzlich erscheint Crèmer von seinen Generalstabsofficieren begleitet im Gefängniß, läßt Chenai gebunden vor sich führen und befiehlt einem Generalstabsofficier, ihn zu erschießen – dieser folgt nicht nur dem gegebenen Befehl, es gelingt ihm auch, das gefesselte Opfer mittelst einiger Revolverschüsse zu ermorden. – Eines Kommentars bedarf dieser Meuchelmord weiter nicht.

Doch Crèmer sollte wenigstens in etwas schon jetzt gestraft werden. Das Volk und besonders die Weiber, welche für das Opfer Partei ergriffen, waren Crèmer in’s Gefängniß gefolgt, hatten die Schüsse gehört und den Mord erfahren. Als nun Ehren-Crèmer das Local verließ, stürzten die empörten Weiber sich auf ihn und seinen Stab und würden ihn sicher zerrissen haben, wenn ihn nicht seine Gensdarmerie befreit hätte; für diesmal kam er mit ausgerauften Kopf- und Barthaaren davon und wenn ihm damals in Beaune zugleich von dem empörten Volke seine Gradabzeichen abgerissen wurden, so erscheint das Kriegsgericht von heute, das ihn zum Hauptmann degradirt hat, nur als Nachrichter.

Doch die Gunst des französischen Volkes ist wandelbar, schon ein paar Tage nach jener widrigen Scene wurde ein vermeintlicher Sieg von Crèmer ausposaunt, und Ehren-Crèmer ward wieder der Held des Tages. Dieselben Damen, welche ihm den Bart ausgerauft, fanden ihn un peu grisé unwiderstehlich.

Vorstehende Thatsachen wurden mir, zur Zeit wo ich in Beaune stand, von den glaubwürdigsten Magistratspersonen mit tiefer Entrüstung erzählt und vollständig verbürgt.

v. F.



Bock’s Briefkasten.

An die Dummen, welche nicht alle werden. 1) Die Dümmsten unter diesen Dummen sind diejenigen, welche sich bei sichtlichen Augen durch Geheimmittel-Schwindler ihr schönes Geld aus der Tasche stehlen lassen. Trotzdem daß immer und immer wieder von reellen Männern der Wissenschaft gepredigt wird, daß alle Geheimmittel nichtsnutziges, wenn nicht gar schädliches Zeug sind und daß es bei allen auf Geldprellerei abgesehen ist, so blüht der Geheimmittelschwindel doch in einer Weise, daß man geradezu am Volksverstande verzweifeln möchte. Soviel sollte doch eigentlich jeder Mensch in der Schule denken lernen, selbst ohne naturwissenschaftlichen und anthropologischen Unterricht genossen zu haben, daß er die Heilung einer Menge ganz verschiedener und schwerer Krankheiten durch ein und dasselbe, von einem unwissenden Laien gebrautes oder gemischtes Zeug für nicht gut möglich halten müßte. Aber nein, je widernatürlicher ein Mittel, je tiefer der Bildungsgrad und je höher die Frechheit des Geheimmittelbrauers ist, desto mehr findet das Mittel Anklang.

Es sind aber doch Kranke und sogar solche, die vom Arzte aufgegeben wurden, dadurch gesund geworden und haben ihre Heilung gerichtlich attestirt? – Wie oft soll man denn aber erklären, daß Kranke auch bei dem unsinnigsten Hokuspokus und dem lächerlichsten Firlefanz gesund werden können und zwar deshalb, weil die allermeisten Krankheiten ohne Arznei mit Hülfe des Naturheilungsprocesses zur Heilung gelangen. Ja, es können durch diesen Proceß sogar Krankheiten heilen, welche vom Arzte für unheilbar erklärt wurden. Dann hatte freilich dieser Arzt die Krankheit nicht richtig erkannt und zu vorschnell geurtheilt. Dies ist aber deshalb recht leicht möglich, weil manches ungefährliche, vorübergehende und heilbare Leiden in seinen Erscheinungen einem unheilbaren tödtlichen ziemlich ähnlich auftritt. So kann z. B. eine tiefe, meist ungefährliche Magengeschwürnarbe im späteren Lebensalter zeitweilig für unheilbarer Magenkrebs, eine Erweiterung der Luftröhrenzweige innerhalb der Lunge für Lungenschwindsucht gehalten werden. Es folgt hieraus, daß man die Zeugnisse Solcher, die während des Gebrauchs eines Geheimmittels gesund wurden, durchaus nicht anzuzweifeln braucht; die Geheilten wurden aber nicht durch, sondern trotz des Mittels mit Hülfe des Naturheilungsprocesses gesund, und litten sie angeblich an einem sonst unheilbaren Leiden, so war dies eben keins. – Der frechste aller Geheimmittelbrauer ist

Hr. Carl Jacobi in Berlin, der Königstrank-Verfertiger, der sich selbst zum wirklichen Gesundheitsrath (Hygiëist) und seinen Trank zur langersehnten, wirklichen Universal-Medicin ernannt hat. Dieser Rath, dessen Schreibart die eines Unzurechnungsfähigen ist, greift in der schamlosesten Weise Männer der Wissenschaft öffentlich mit gemeinen Redensarten so an, daß jeder anständige und vernünftige Mensch sofort in den Stand gesetzt wird, das schmutzige Geschäft des Herrn Jacobi zu erkennen. Dieser saubere Gesundheitsrath hat aber den Muth zu derartigen Angriffen, weil er recht wohl weiß, daß die von ihm angegriffenen wissenschaftlich gebildeten Aerzte seine blödsinnigen Behauptungen zu widerlegen sich nicht die Mühe geben. – Nur Solche, welche die Natur mit demjenigen Maße von Dummheit begabt hat, Alles zu glauben, was ein Schwindler in den Zeitungsinseraten sagt, werden es für möglich halten, daß ein Trank, dessen Hauptbestandtheile bald Aepfelwein und Pflaumenmus, bald Tamarindenabkochung mit Zucker und Weinsteinsäure sind, folgende schwere und unheilbare Krankheiten zu heilen im Stande ist: Hundswuth (durch nur zwei Flaschen), Magen- und alle anderen Krebse, die tödtlichsten Herzkrankheiten, unheilbare Erblindungen, Blasensteine (mitunter schon nach wenig Tagen aufgelöst), Pocken (mit Heilung über Nacht), Hals- und Lungenschwindsucht, Rückenmarksdarre, Milzbrand u. s. f. Die Flasche dieses Wundertrankes, der angeblich aus mehr als hundert Pflanzen bereitet sein soll, kostet einen halben Thaler und ist für einige wenige Pfennige herzustellen. – Daß die Presse, und sogar die liberale, die Jacobi’schen und andere derartige Anzeigen, trotzdem daß sie recht wohl weiß, weß Geistes Kind dieselben sind, in ihre Spalten, nur des erbärmlichen Gewinnes einiger Thaler wegen, aufnimmt und in der Welt verbreiten hilft, dadurch aber die Hand zum Betrügen ihrer armen kranken Mitmenschen bietet, ist eine sehr unmoralische Handlung.

Wird fortgesetzt.




Die Erinnerungseiche im Rosenthal bei Leipzig. (Mit Abbildung.) Wohl fast an allen Orten des großen deutschen Vaterlandes, von den großen Städten herab bis zum kleinsten Dorfe, hat man das Bedürfniß gefühlt, der Erinnerung an das große Kriegsjahr 1870–71 irgend ein äußerliches, für alle Zukunft berechnetes öffentliches Denkzeichen zu weihen, welches das gegenwärtige und das zukünftige Geschlecht mit Freude und nationalem Stolz erfüllen, zugleich aber dankbar erheben soll in dem Gedanken an die braven Söhne des Vaterlandes, welche für die große Sache ihr Leben geopfert haben. Besonders mit Bezug auf den letzten Gedanken hat die Stadt Leipzig ein sinniges Project zur Ausführung gebracht, indem sie zum Andenken an die Namen der gefallenen Söhne der Stadt in dem weitbekannten schönen Rosenthale im Mai dieses Jahres eine Eiche gepflanzt und mit dieser gleichzeitig einen Denkstein gesetzt hat. Unser heutiges Bild zeigt diese Eiche nebst ihrer Umgebung. Sie steht auf dem äußersten westlichen Ende der großen Rosenthalwiese, einem Flecken, der abliegt vom Verkehr und Geräusch der Welt und recht geeignet ist zur Erweckung einer andachtsvollen Stimmung. Im Hintergrund bilden schöne große Bäume eine breite Waldstraße, welche den Blick auf den Horizont gen Westen eröffnet. Dorthin gen Westen, wo die Leipziger Kinder so zahlreich in stiller Erde gebettet liegen, schaut die Eiche, und an ihrem Fuße lesen wir mit Rührung auf einem in Gestalt eines Schildes gearbeiteten marmornen Gedenkstein die von einem goldenen Lorbeerkranz eingerahmten Worte:

 Ihren
in den Siegeskämpfen
 1870–1871
 gefallenen Söhnen.
 Die Stadt Leipzig.

Rings um die eingegitterte Eiche ist ein schönes Blumenbeet geschaffen worden, welches nach vier Seiten hin in Kreuzformen ausstrahlt. Nach dieser Eiche ist schon Mancher gewallfahrtet, und mit Gefühlen des Dankes für das erhaltene Leben eines theuren Familiengliedes einen Lorbeerkranz den Gefallenen zu weihen. Aber auch solche, welche den Verlust irgend eines Lieben zu beklagen haben, wandeln dahin, um, fern von dem Grabe des theuren Todten, in Wehmuth an diesem seinem Andenken geweihten Orte einen Immortellenkranz niederzulegen und seiner zu denken. Namentlich wird dies in den ersten Tagen des Novembers der Fall sein, wenn das 107. Regiment, erst jetzt von Frankreich zurückkehrend, in Leipzig seinen Einzug hält. Da wird denn auch die „Erinnerungseiche“ reich geschmückt werden und für Viele das Ziel traurig ernster Wallfahrt sein.


Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig

  1. Vorlage: „euch“