Die Gartenlaube (1875)/Heft 46

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1875
Erscheinungsdatum: 1875
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[765]

No. 46.   1875.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennige. – In Heften à 50 Pfennige.



Der Doppelgänger.
Erzählung von Levin Schücking.
(Fortsetzung.)


Der Fremde begab sich langsamen Schrittes unter die mächtige alte Linde, die ihm als Margarethenlinde bezeichnet worden war, und nahm hier auf der unter dem breitschattigen Geäst angebrachten Steinbank Platz. –

„Gottlob!“ sagte, als sie aus seiner Gehörweite waren, die Kammerzofe, „Gottlob, daß wir ihn endlich los sind, den unheimlichen Menschen! Ich wagte nicht, meinen schweren Sack vom linken Arme auf den rechten zu nehmen, und nun ist mir der linke wie völlig zerbrochen.“

„Es war der wunderlichste Mensch, der mir je vorgekommen ist,“ versetzte die Prinzessin; „just, als ob er durch den Blick seiner armen spanischen Nonne noch immer aus allen Geleisen geworfen wäre.“

„Ach, glauben Sie mir, Durchlaucht,“ fiel Marianne ein, „gewiß erlog er die Geschichte, um sich damit interessant zu machen. Man kann Jemand gar nicht in ein brennendes Gebäude schleudern, weil man selbst nicht so nahe an die Gluth herantreten und es bei ihr aushalten kann.“

„Laß’ uns jetzt sehen, wie er heißt!“ fiel die Prinzessin ein, die Karte, welche er ihr gegeben und die sie zu sich gesteckt hatte, hervorziehend. Sie las die Worte: „Ulrich Gerhard von Uffeln.“

„Ah,“ rief sie stehen bleibend aus, „Marianne, ich bitte Dich, das wird immer seltsamer.“

„Was haben Sie, Durchlaucht? Was ist?“

„Mein Gott, ich darf ja die Karte Niemand sehen lassen, darf Dir’s nicht sagen. Aber das darf ich Dir sagen: Dieser Mensch ist ein Doppelgänger.“

„Ein Doppelgänger?“

„So ist es, wirklich und wahrhaftig.“

„Ich glaube weit eher,“ versetzte Marianne, „er ist ein Schwindler. Ich will auch wetten, daß er Sie ganz gut kannte. Darum brachte er das Gespräch geflissentlich auf das hochfürstliche Haus, nur um sich auch damit interessant zu machen.“

Prinzessin Elisabeth schüttelte den Kopf. Sie schüttelte höchst nachdrücklich den Kopf. Sie wußte in der That nicht, was denken. Die Erscheinung dieses Mannes, der ihr nun einmal gar nicht den Eindruck eines Schwindlers gemacht, hatte ihr ein Räthsel aufgegeben, zu dem sie absolut keinen Schlüssel fand. Sie ging schweigend weiter. Sprechen durfte sie ja auch über ihn nicht weiter – das hatte sie ihm gelobt. Darum verbot sie Marianne, die immer wieder von ihm beginnen wollte, endlich ganz streng, weiter zu fragen, zu reden von diesem – Doppelgänger. Und so kamen die beiden Frauen an das Ende des Waldes. Durch ein verfallenes kleines Gitterthor traten sie in den Park des fürstlichen Schlosses; dann gelangten sie um einen großen Weiher herum zu dem alten, halb noch burgartigen Schlosse, an dessen Gartenseite hier ein Rest alter Umwallung zur Terrasse umgeschaffen war, auf der Orangenbäume und Oleander standen; dazwischen prangte ein reicher Blumenschmuck. Prinzessin Elisabeth eilte durch eine offen stehende Fensterthür in’s Innere, um zu ihrem Vater zu gelangen und ihm sofort den günstigen Erfolg ihrer Wanderung zu Meyer Jochmaring mitzutheilen.




2.

Eine halbe Stunde weit von dem Städtchen mit der Schloßburg des Fürsten von Idar, etwa zwanzig Minuten rechts ab vom Jochmaringshofe, lag ein alter Edelhof, ein malerisches Bauwerk. Den Eingang zu demselben bildete ein über eine Zugbrücke zugängliches gewölbtes Thor; links und rechts schlossen sich niedrige Stallgebäude daran, an die sich wieder kleine, dicke Thürme reiheten. Da all diese Gebäudetheile einsprangen und deshalb das Thor etwas wie der Scheitel eines stumpfen Winkels war, dienten sie als eine Art ritterlichen Schildes für das dahinter stehende Hauptgebäude. Und dieser Schild war auf’s Malerischste von uraltem, üppig wucherndem Epheu überzogen, dem der breite schlammige Graben zu seinen Füßen die reichste Nahrung bot. Bis hoch zu den Dächern hinan war auch der Hauptbau von diesem Epheu umrankt, dieser wunderlich construirte Hauptbau, der eigentlich nur aus drei schmalen viereckigen Thürmen zu bestehen schien, die, wenige Fuß weit voneinander in die Höhe gebaut, durch zwei zurückspringende Zwischenwände miteinander verbunden waren. Dadurch waren denn zwischen je zwei der Thürme die reizendsten Eckchen entstanden, nach je drei Seiten durch Mauern und nach vorn durch das Epheugerank geschützt. Die darin aufgestellten Tische und Gartenstühle zeigten, daß die Familie des Eigenthümers sie zu benutzen wußte. Auf der Rückseite des Gebäudes, wo es sich mit hohen von Essen und Wetterfahnen überragten Giebeln abschloß, erweiterte sich der Burggraben zu einem runden Weiher, und um das Alles drängte sich schützend und schattend ein prächtiger uralter Laubwald.

Schloß Wilstorp hieß unsere malerische Waldburg, die im [766] Innern nun freilich, wenn auch viel kleiner, doch um nichts wohnlicher und komfortabler eingerichtet war, wie nach der Schilderung des wunderlichen Fremden im vorigen Capitel der alte Fürstensitz zu Idar es sein mußte. Und auch sonst boten die Verhältnisse der beiden Häuser manche Vergleichspunkte dar, was in einer Zeit, wo der Krieg und der fremde Eroberer Deutschland ruinirten und aussaugten und namentlich den Grundeigner zum unglücklichsten aller Sterblichen machten, allerdings sehr begreiflich war. Das Besondere und Auffallende war nur, daß der Edelhof von Wilstorp, so nahe der Fürstenburg von Idar, nicht längst wie ein Habichtsnest von dem Adler zerstört worden war, den der Fürst, wie alle sich zu dem Blute Widukind’s rechnenden Geschlechter, im Wappen führte. Duldeten doch sonst die kleinen Fürstlichkeiten in ihren Ländlein keine Rittersitze mehr, seitdem sie der darauf wohnenden Vasallen nicht mehr zu ihren Fehdehelfern bedurften. Seitdem, seit langen Jahren schon, hatten sie auf jegliche Weise den Kindern und Enkeln des Mohren, der seine Schuldigkeit gethan, angedeutet, daß sie gehen könnten, suchten ihre Güter zu ihren Domänen zu schlagen, und beuteten ihr Jagdgebiet, ohne Concurrenz solcher Junkerschaft, lieber für sich allein aus. Schloß Wilstorp aber war ein alter Ansitz, der in früheren Zeiten nicht ein Burgmannshof des Fürsten gewesen und der auch nicht beim Thurm von Idar zu Lehn ging und deshalb nicht als verfallenes Lehn hatte aus der Welt geschafft werden können. Auch durch Kauf konnte der Uebelstand nicht beseitigt werden, da die Familie, welche auf dem Schlosse saß, durch Fideicommiß und andere Feudalbande daran gefesselt war. Sie gehörte nämlich dem Schloß Wilstorp, wie der wunderliche Fremde es ausdrückte, und wurde von ihm nicht losgelassen.

Nicht losgelassen! Das hatte in der letzten Zeit nun sehr schwer auf der Familie gelastet, die oben in dem schönen Waldschlosse wohnte. Aus einer nicht weit entfernten Stadt, wo Herr von Mansdorf die Verwaltung einer geistlichen Stiftung geführt hatte, waren sie gekommen, diese Leute, der gutmüthige, wohlhäbig aussehende Herr, der keinen Tropfen bösen Blutes in sich hatte, er müßte ihm denn durch die Giftmischerei der Weinhändler aus den vielen Flaschen gekommen sein, die er den Tag über zum Zeitvertreib zu leeren pflegte, die hohe, magere, störrische Dame mit ihrer gebieterischen Adlernase und die zwei jungen Damen, von denen die ältere von großer Schönheit und des Vaters Liebling und größte Lebensfreude war und die jüngere, magere, scharf dreinschauende, mit ihrem Fürwitz den Lauf des täglichen Lebens und die Haushaltsvorgänge auf Wilstorp weit mehr als es den Dienstboten bequem war, controllirte. Sie waren als die Erben eines entfernten Verwandten, eines alten Junggesellen, in den Besitz der romantischen Ritterburg gekommen, aber diese Burg war auch etwas wie die Höhle des Löwen geworden, aus der keine Fußstapfen zurückführen. Es war das eine drückende Lage, unter der Frau von Mansdorf moralisch am meisten litt, weil sie sah, daß ihr Gatte in dieser beschäftigungslosen Einsamkeit nach und nach unrettbar dem Trunke verfallen würde, und ihre Tochter Adelheid physisch, weil sie hier ihre blühende Gesundheit einbüßte. Sie litt nämlich an einer Brustaffection, die, wie der Arzt erklärte, nur durch einen Aufenthalt im Süden geheilt werden könne. Wie aber die Dinge lagen, war an einen Aufenthalt im Süden, an einen Ortswechsel auf längere Zeit nicht zu denken.

Die Familie Mansdorf war nämlich nicht die einzige Eigenthümerin von Wilstorp; es gab einen dem letzten Besitzer ganz ebenso nahen Verwandten in der Welt und dieser war mit den Mansdorfs „zu gesammter Hand“ belehnt. Die letzteren hatten deshalb nirgends unbeschränkte Dispositionsbefugnisse, wo sie nicht den mitbelehnten Agnaten herbeibrachten und seine Einwilligung aussprechen ließen, und so war ein Flüssigmachen von Geldern, um eine längere Reise zu machen, um nur in einer größeren Stadt in Deutschland zu leben, für sie eine Unmöglichkeit. Es bedurfte dazu des unglückseligen Agnaten, und dieser war verschollen, war durch keine Mittel, keine Erkundigungen, keine Aufrufe in den Zeitungen zu entdecken gewesen; vielleicht war er längst todt und begraben. Aber wenn das der Fall, so streckte er auf höchst dämonische Weise aus seinem unbekannten Grabe eine gespenstische Faust heraus, die sich auf jedes Rechtsgeschäft legte, welches Herr von Mansdorf irgend hätte vornehmen können.

Wie hatte man sich gequält mit dem Nachforschen nach diesem Manne, der nicht anders als Ulrich Gerhard von Uffeln hieß! In wie vielen Blättern der damals freilich sehr gering entwickelten Journalistik war nicht Ulrich Gerhard von Uffeln gesucht worden! Wie viele Abende hindurch hatte Herr von Mansdorf mit einem Notar aus Idar, der zugleich als Justitiar die Patrimoniatsgerichtsbarkeit des Hauses Wilstorp verwaltete, allein darüber gesprochen, wie man es zu einer Todeserklärung des besagten Ulrich Gerhard von Uffeln bringen könne, der sicherlich – man wußte ja, daß er in Kriegsdienste gegangen – irgendwo in fremder Erde modere und nur hier in dem alten Edelhofe noch wie ein Gespenst lebendig sei, das die Lebenden in Verzweiflung bringe! Wie oft hatte man berathen, ob man sich nicht die gerichtliche Bevollmächtigung verschaffen könne, frei zu handeln und gültig zu disponiren, wenn man eine Bürgschaft bestelle, daß man den nicht zu Fassenden, nicht zu Erreichenden, wenn er wirklich einst aus dem Nebel seiner geheimnißumkleideten Existenz auftauchen sollte, entschädigen wolle für alles während seiner Abwesenheit ohne ihn Vorgenommene und Geschehene! Auch das war unausführbar. Man hatte nicht die Mittel, solche Bürgschaft zu stellen. Man war ohnehin schon nur mit Schwierigkeit ohne solche Bürgschaft für die abwesenden Mitbelehnten vom Gerichte in den Besitz eingelassen worden.

So standen die Dinge auf Wilstorp, und zu dem Drucke, den hier der Name Ulrich Gerhard von Uffeln auf das Herz jedes Einzelnen legte, war noch der allgemeine Druck der Spannung um die immer näher herantretende Entscheidung auf dem großen Kriegstheater getreten, denn man war im Spätsommer des Jahres 1813, und obwohl man kaum sich rückhaltslos der Hoffnung hinzugeben wagte, daß es den alliirten Mächten gelingen werde, die eiserne Herrschaft des die Welt maltraitirenden Soldatenkaisers zu sprengen und ihn aus Deutschland wenigstens hinauszuschlagen, hatten doch die Nachrichten von der Schlacht bei Großbeeren und an der Katzbach die Möglichkeit, daß es gelingen könne, gezeigt. Es war endlich etwas von einer Erregung und Gährung in das seine politischen Schicksale sonst so apathisch und lammesfromm hinnehmende Land gekommen – ja, man munkelte etwas von Vorbereitungen, die im Stillen getroffen würden, den Alliirten, wenn ihre Heere herankämen, thätliche Unterstützung zu leisten, und dunkle Gerüchte gingen um von geheimen Verbindungen, die thätig seien, Waffen zu den Depôtplätzen zusammenzubringen; das Wort „Tugendbund“ war aufgetaucht und hatte destomehr Eindruck gemacht, je weniger man wußte, welche Vorstellung man damit verbinden solle.

Eines Abends nun hatte Herr von Mansdorf in einem der hübschen Winkel unter dem Epheudache vor seiner Ritterburg gesessen, mit seinem breiten Rücken fast die ganze Breite der Mauer zwischen den vorspringenden zwei Thürmen ausfüllend; um ihn her befanden sich seine Getreuen; zunächst vor ihm stand auf dem alten Eichenholztische der schöne, alterthümliche und weitbauchige Krug, seines stillen, ländlichen Daseins Lieblingsgefährte; auf der Bank zur Rechten saßen die gestrenge Hausfrau und die älteste Tochter, links ihnen gegenüber Herr Plümer, der Notar und Justitiar, und neben ihm Herr Runkelstein, der fürstliche Oberförster, der eine halbe Stunde von Wilstorp seinen Amtssitz in einem alten Jagdhause hatte. Die Hausfrau strickte an einer wollenen Socke; das Fräulein beugte das zarte, leisgeröthete Oval ihres gutmüthigen Gesichts über ein Zeitungsblatt, aus dem sie eine Nachricht vorgelesen – natürlich berichteten die unter strenger Censur stehenden Blätter nur von französischen Siegen – und die Herren dampften aus irdenen Pfeifen einen ganz abscheulich riechenden Tabak, wie ihn eben die unter dem Gebote der Continentalsperre stehende Menschheit zu rauchen gelernt hatte, um dabei zu vergessen, daß sie statt des Kaffees Cichorienwasser trinken und dieses statt mit Zucker mit Honig versüßen mußte.

„Was soll man nun davon halten?“ sagte der Hausherr, nachdem eine lange Pause erfolgt war, in der jeder der Anwesenden die eben gelesene Zeitungsnachricht in seinem Herzen überdacht zu haben schien. „Was soll man davon halten? Sie schreiben immer nur von ihren Siegen, und doch hat der Rentmeister [767] mir gesagt, daß Preußen durch Idar marschiren würden, ein Bataillon nach dem andern, und daß dies noch geschehen würde, ehe das Jahr zu Ende.“

„Sollte mich freuen,“ fiel der Justitiar, ein kleiner gelber Herr, mit skeptischem Lächeln ein, „sollte mich freuen, obzwar dem Herrn Rentmeister mit seinen Vorgeschichten doch nicht allerwegen zu trauen ist.“

„Herr Justitiar, nicht zu trauen?“ sagte jetzt die Hausfrau. „Bitte, sagen Sie das nicht. Der Rentmeister hat uns wunderliche Dinge vorausgesagt, und sie sind bis auf’s Haar eingetroffen, meist bis auf’s Haar!“

„Nehmen Sie’s nicht ungnädig, gnädige Frau – aber viele sind doch nicht eingetroffen.“

„Viele? Daß ich nicht wüßte,“ entgegnete die gnädige Frau. „Und was verschlägt das? Wenn er etwas sieht – und nachher trifft es nicht ein – ich denke nicht, daß es dann seine Schuld ist. Wir stehen Alle in Gottes Hand, und wenn er einen Leichenzug sieht oder eine Feuersbrunst, und sie ereignen sich später nicht in der Wirklichkeit, so beweist das nicht, daß andere Ereignisse, die er sieht, auch nicht eintreten werden. Und das thun doch die meisten, wie’s der Herr Justitiar wissen müssen.“

„Freilich, freilich,“ sagte der Herr Justitiar ein wenig spöttisch und eine Wolke Dampfes ausstoßend, „obzwar mich diese Ansicht der Sache zu dem Glauben bringen könnte, daß das Sehen von Vorgeschichten ein leichteres Ding ist, als wofür es gemeiniglich gehalten wird.“

„Ah, Plümer, Sie sind ein schlechter Christ,“ versetzte die gestrenge Rittersfrau.

„Ich wollte,“ rief jetzt Herr von Mansdorf, seine wuchtige Faust schwer auf den Tisch legend, aus, „der Rentmeister säh’ einmal als Vorgeschichte diesen vermaledeiten Ulrich Gerhard von Uffeln in diese alten Thürme einziehen.“

„Ist das nicht eben auch ein Beweis für die Sache?“ entgegnete Frau von Mansdorf. „Er sieht ihn nicht – und deshalb kommt er auch nicht.“

„Was denken Sie über die Sache, Fräulein?“ wandte sich jetzt der Oberförster an sein Gegenüber.

„Ich?“ versetzte das Burgfräulein mit einem schlauen Lächeln zu dem Oberförster aufschauend. „Ich weiß nicht, welche unheimliche und schreckhafte Dinge der Rentmeister voraussieht, aber wohl, daß ich etwas Schreckhaftes und Unheimliches sehe, wenn er plötzlich vor mir steht, die lange dürre Gestalt mit den hohen Brauen und glänzenden Augen; man meint, man sähe Kirchenfenster, in die der Mond scheint.“

Der Oberförster lächelte; dann, nachdem er sich geräuspert, fuhr er nachdenksam fort: „Möchte ihn wohl einmal ein wenig auf die Probe stellen, den Herrn Fäustelmann.“

„Auf die Probe stellen? Und wie könnten Sie das, Oberförster?“ fiel die Rittersfrau ein, die nun einmal die gläubigste Anhängerin der Visionsgabe ihres Rentmeisters war.

„Ist mir neulich etwas Wunderliches begegnet,“ entgegnete mit einer die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer spannenden Langsamkeit der Oberförster. „Etwas, auf das ich mir keinen Vers machen kann. Gar keinen Vers! Und etwas recht Grausiges war es. Hab’ auch Fäustelmann gesagt, er solle mit mir gehen, ob wir’s Beide zusammen sehen könnten, und er solle, mir’s dann auslegen. Aber ich bringe ihn nicht hin; er nimmt den Schein an, als glaube er, ich wolle ihn zum Besten halten. …“

„Ich glaube schon, daß er nicht mit Ihnen geht,“ fiel hier die Hausfrau ein, „wissen Sie denn nicht, daß solch eine Gabe ohnehin schwer genug auf den Leuten lastet, und daß Sie von ihnen nicht verlangen dürfen, sie sollen so unheimliche Dinge, die ihnen genug das Leben verbittern, auch noch freiwillig aufsuchen?“

„Aber so erzählen Sie Ihre Geschichte doch, Oberförster!“ rief hier ungeduldig Herr von Mansdorf aus.

„Hoffentlich keine Jagdgeschichte,“ sagte der Justitiar.

„Nein, keine Jagdgeschichte,“ erwiderte der Oberförster, „durchaus nicht. Hören Sie nur! Vor einigen Abenden komm’ ich – es mochte eine Stunde vor Mitternacht sein – aus Idar zurück, hatte am Nachmittage Geschäfte bei Seiner Durchlaucht, dem Fürsten, gehabt, und den Abend war ich in die Casinogesellschaft gegangen und hatte da mit den Herren von den Zeitläufen discurirt und dann mich aufgemacht, wieder in meine Försterei zu kommen. Geh’ also heim und bin ganz allein – auch ohne meine Hündin, die ich daheimgelassen hatte, weil sie Junge geworfen hat. Komm’ an dem alten Kropp, dem verfallenen Burgmannshofe, vorüber, der nicht weit vom Wege ab in den versumpften Niederungen steht – Sie kennen ja das alte verruinirte Castell. Wie ich nun bis dicht heran bin, sehe ich ein Leuchten, einen Lichtglanz auf dem Wassergraben vor dem Gebäude liegen; ich bleibe stehen und frage mich: ‚Wo kann denn da das Licht herkommen? Vom Monde doch nicht – der war nicht aufgegangen; aus den Fenstern nicht, denn die sind ja immer mit alten Holzklappen verschlossen. Wo kann der Lichtschein herkommen?‘ Die Sache dünkt mir curios, und um ihr auf den Grund, zu kommen, geh’ ich rechts ab, auf die alte Spelunke zu, und wie ich näher und näher dem Wassergraben komme, seh’ ich, daß der Lichtschein, der auf dem leise vom Nachtwinde bewegten Gewässer schwimmt, aus zweien der Fenster im untern Stockwerke kommen muß, und zwar so, daß die alten Holzklappen vor den Fenstern unten einen Spielraum lassen, durch den der Schein schräg nach unten hinausfällt. Es sind also, sag’ ich mir, Menschen in dem verlassenen Gebäude – aber wie kommen sie dahin, da es verschlossen und verrammelt ist, und was haben sie da zu thun? ‚Möcht’ das doch wissen‘ sag’ ich mir und stapfe über Schutt und durch wildes Riedgras und Nesseln, was da auf dem alten Damme wächst, der anstatt der früheren Steinbrücke durch das Wasser führt, an das Gebäude heran; als ich an die Fenster komme, bin ich nicht hoch genug, hineinzuschauen, sehe mich also nach einem Steine oder dergleichen um und finde auch richtig einen Holtzklotz in der Nähe, den ich an die Mauer lege …“

„Steigen hinauf“ – fiel hier ungeduldig der Justitiar ein – „und sehen, daß der Lichtschein nichts ist, als das Glühen von dem alten verfaulten Holze der Fensterbänke …“

„Nun, lassen Sie ihn doch weiter erzählen und stören ihn nicht!“ fuhr in strafendem Tone die gestrenge Rittersfrau den Justitiar an.

Dieser klopfte lächelnd seine Pfeife aus, während der Oberförster mit einem ärgerlichen Seitenblicke auf ihn fortfuhr:

„Freilich stieg ich hinauf – was ich aber sah, das war wahrhaftig kein faules Glühholz, Herr Justitiar, das kann ich Sie versichern.“

„Nun, was sahen Sie denn? Heraus damit, Mann!“ sagte, hier Herr von Mansdorf, dem hinter seinem dickbäuchigen Kruge die großen vorliegenden Augen vor Vergnügen über solch eine angenehm spannende und sogar ein wenig in’s Grauliche spielende Geschichte leuchteten.

Der Oberförster aber hatte durchaus keine Eile, vorschnell seinen Haupteffect zu verpuffen und die Karte, womit er die Skepsis des Justitiars abtrumpfen wollte, zu rasch auszuspielen.

„Was ich sah?“ sagte er, und dann räusperte er sich, blickte rundum im Kreise, heftete zuletzt seine Augen mit dem Ausdrucke eines vorzugsweisen Vertrauens auf die Dame vom Hause, die ihren Strickstrumpf hatte fallen lassen, indem ihr Oberkörper sich immer mehr in die Höhe streckte, und setzte mit halblautem dumpfem Tone hinzu: „Särge.“

Fräulein Adelheid fuhr zusammen und schrie leise auf – Herr von Mansdorf[WS 1]zog in wunderlichem Spiele seine Brauen zusammen, und die Hausfrau rief erschrocken:

„Särge?“

„So ist es, gnädige Frau,“ versetzte Oberförster Runkelstein mit einem eigenthümlich sinnigen Tone, aus dem ein ganzes System resignirter Lebensphilosophie sprach.

„Zwei neben einander?“ fragte die Dame.

„Zwei? Nein, ein halbes Dutzend.“

Der Justitiar schüttelte lächelnd den Kopf, während in den Mienen der Uebrigen etwas wie ein Zug von Mißvergnügen erkennbar wurde. Denn obwohl die Sache sich zu einem gründlich angenehmen Grauen auf’s Beste anließ, obwohl auch die Dämmerung leise herangekommen war und in dem versteckten Thurmwinkel tieferen Schatten gebreitet hatte, während aus einem nahen Baumwipfel, über die Dächer der Vorgebäude herüber, ein höchst melancholisches Gekrächze scholl, das nur eine alte und in Dingen solcher Art, wie sie hier eben verhandelt wurden, höchst erfahrene Krähenfrau ausstoßen konnte – obwohl das Alles den tiefen Eindruck, den Runkelstein’s Geschichte machte, nur in befriedigendster Weise unterstützen konnte, war doch offenbar [768] seine Versicherung, er habe gleich ein halbes Dutzend Särge auf einmal gesehen, etwas, was als doch gar zu stark die Wirkung seiner Erzählung ganz bedeutend beeinträchtigte.

Ohne eine Ahnung davon zu haben, verdarb der Oberförster sich seinen Effect noch mehr, indem er hinzusetzte:

„Es mochten auch ihrer acht oder zehn sein, denn die letzten verloren sich hinten im Dunkel des großen, öden Gemachs, das nur in der Mitte von einer auf einem Tische stehenden Lampe erhellt wurde. Sie waren nicht groß, die Särge, nicht wie für Erwachsene, sondern wie für Kinder. Das Gemach war sehr wüst. Ich sah große Theile des Kalkverputzes, die, von der Decke und den Wänden gefallen, auf dem Boden lagen – und von der Lampe angeschienen sah ich …“

Der Oberförster fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und hielt die Augen geschlossen; dann, als er sie wieder aufmachte schüttelte er, als ob er die Vision wieder abschütteln wolle, den Kopf mit dem dichten grauen Haare und sagte: „Es war gräulich.“

Alles schwieg, die Augen voll Spannung auf den Erzählenden geheftet.

Er kämpfte jetzt lange mit dem ausgehenden Feuer im Kopfe seiner irdenen Pfeife. Dann, als er Sieger geworden und eine Unzahl dunkelblauer Rauchwolken herausgezogen und von sich geblasen hatte, sagte er:

„Auf dem Boden, hinten in der Kammer, von der Lampe angeschienen, blickte ein Kopf hervor – ein Mannskopf – mit großen Augen und einem Schnurrbarte; die großen Augen sahen mich starr und fest an, als ob sie durch Wände und Fensterklappen schauen könnten, und als ich diesen Augen mit meinen durch – die schmale Querritze unter den Holzklappen spähenden Blicken begegnete, da hab’ ich nicht länger hinsehen mögen, sondern bin von dem Klotze heruntergestiegen und habe den Heimweg angetreten.“

„Einen Kopf haben Sie gesehen, Runkelstein?“ rief jetzt Herr von Mansdorf aus, „aber wenn man einen Kopf sieht, sieht man doch auch einen Menschen?“

„Ein Mensch war nicht bei dem Kopfe,“ versetzte mit der äußersten ihrer Sache sicheren Bestimmtheit der Oberförster.

„Ah Possen!“ hätte jetzt der Justitiar ausrufen mögen – aber er unterdrückte den Ausruf, um sich nicht eine allseitige unheilbare Ungnade zuzuziehen, und begnügte sich damit, seinen Gefühlen bei dieser unglaublichen Geschichte durch ein Kopfschütteln und spöttisches Lächeln Ausdruck zu geben.

„Ein Mensch war nicht bei dem Kopfe?“ echoete indeß die gestrenge Rittersfrau und dann mit sinnendem Auge den Erzähler fixirend, sagte sie: „Aber was war es denn? Es war doch kein blutiges, abgeschlagenes Haupt?“

„Nein, das war es nicht, gnädige Frau,“ entgegnete der Oberförster, „es stand ganz natürlich auf dem Boden, als ob es aus dem Fußboden gewachsen wäre.“

„Wie ein Schwammpilz,“ bemerkte der Justitiar halblaut.

Eine lange Pause folgte; man gab sich so völlig dem durch diese Thatsachen hervorgerufenen Eindrucke hin, daß, als nun Herr von Mansdorf mit der Faust auf den Tisch schlug, Alles erschrocken in die Höhe fuhr.

„Nun soll mir Einer sagen, dies sei nicht die wunderbarste Vorgeschichte, die noch je dagewesen ist!“ rief Herr von Mansdorf aus, als er sich dem Drange einer so heftigen Bekräftigung seiner Ansicht von der Sache hingab.

„Ja,“ fiel der Oberförster ein, „und deshalb wollt’ ich eben, ich hätte den Rentmeister bei mir gehabt und er hätte Särge und Haupt mit mir gesehen und mir ausgelegt, was beides zu bedeuten habe. Aber er will nun einmal nicht darauf hören; er stellt sich, als glaube er mir nicht.“

„Ja, sehen Sie,“ fiel hier der Justitiar ein, „Sie hätten ihm auch nicht in’s Handwerk pfuschen sollen. Auch, der Spukseher bleibt Mensch und läßt sich nicht gern durch solche Leute, die Abends sehr spät aus einer lustigen Gesellschaft von Idar heimkommen und dabei vom Wege ab in alte Waldcastelle gerathen, Concurrenz machen.“

Der skeptische Justitiar fand keinen Beifall für diese Bemerkung. Keine Silbe wurde laut. Es entstand ein allgemeines Stillstehen des Mittheilungsdranges, da jeder mit seinen Gedanken beschäftigt war und sich fragte, was diese Kindersärge und dieser wunderliche Kopf, an dem kein Mensch war, bedeuten könnten – welches seltsame und tragische Ereigniß geschehen und in Zukunft in Wirklichkeit sich ereignen könne, da der Oberförster es doch offenbar nur als Vision gesehen; denn das, eine „Vorgeschichte“, konnte es in dem alten unbewohnten Hause doch nur gewesen sein.

„Aber da kommt ja,“ hub endlich Herr von Mansdorf die Hand nach dem Henkel seines Kruges ausstreckend, um die Gläser seiner Gäste zu füllen, wieder an, „da kommt ja just der Rentmeister daher – was hat er denn für lange feierliche Schritte zu machen? – ich seh’s ihm an seinem Gange an, daß bei ihm etwas in den Bänken ist.“

In der That, er machte sehr weite und schwer auftretende Schritte, der Rentmeister; es war etwas Entschlossenes, Kampfbereites, womit er daher kam, der, große, ein wenig vornübergebeugte gesunde Mann, die hellen glänzenden Augen in seinem abenteuerlichen Kopf auf’s Unbestimmte und wie in’s Leere gerichtet. So kam er unter dem Einfahrtsthore in Sicht und schritt geraden Weges auf die Gesellschaft zu.

„Er scheint Geschäfte mit Dir zu haben, Leopold,“ sagte die Hausfrau zu ihrem Gemahl, „sonst sollte er uns doch jetzt gleich beichten, was er eigentlich von Runkelstein’s Geschichte denkt und ob er nicht von dem alten Castell, der Kropp, schon mehr solcher Dinge weiß.“

„Fäustelmann, haben Sie Geschäfte mit mir?“ rief ihm Herr von Mansdorf entgegen.

„Ja, Herr von Mansdorf, Geschäfte und etwas sehr Wichtiges.“

Herr Fäustelmann sprach das, indem er in den Thurmwinkel an die offen gebliebene Seite des Tisches trat, mit einer überaus traurigen und dumpfen Modulirung seines immer halbgedämpften Organs, und die Blicke, die er dabei auf seinen Gebieter heftete, hatten einen so traurigen Ausdruck, daß sich alle Anwesenden, noch völlig unter dem Eindrucke der erzählten unheimlichen Geschichte stehend, von einem unwillkürlichen Schrecken vor den unbekannten Dingen ergriffen fühlten, als deren Bote Herr Fäustelmann in diesen harmlosen Menschenkreis geschritten kam, anzusehen wie die Verkörperung des unerbittlichen Verhängnisses.

„Nun, und was giebt es denn?“ sagte Herr von Mansdorf, „was ist denn geschehen?“

Herr Fäustelmann sah schweigend ihn und dann mit seinen wasserblauen Augen die Frau vom Hause an – es war wie wenn er sich frage, ob er in ihrer Gegenwart reden dürfe und ob sie stark genug sie, den Schlag, den er führen müsse, zu ertragen; dann mit seinen Augen wieder die gewöhnliche Richtung in’s Leere und Unbestimmte suchend, sagte er dumpf und hohl und mit einem ganz merkwürdigen Tone von Wehmuth:

„Herr Ulrich Gerhard von Uffeln ist da – er ist angekommen.“

(Fortsetzung folgt.)




Zwei deutsche Jubelfeste in Weimar.
Von Robert Keil.
2. Zum Goethe-Feste 7. November 1875.
(Schluß.)


Drunten in der Försterstube saßen die Gefährten noch nach aufgehobenem Tische und schmauchten und schwatzten, daß Goethe, welcher zum Briefschreiben hinaufgegangen, es durch den Boden hörte; nur Einsiedel war zu Bett, „sein Magen lag schief; Kaffee und Branntwein wollten’s nicht bessern“. Goethe aber begann seinen Brief mit dem Zigeunerliede:

„Im Nebelgeriesel, im tiefen Schnee etc.“

Dann fuhr er fort: „Daß mir in diesem Winkel der Welt, Nachts in dieser Jahreszeit, mein alt’ Zigeunerlied wieder einfällt, ist ebenso natürlich, lieber gnädiger Herr, als daß ich mich gleich hinsetze, es Ihnen aufzuschreiben und hinterdrein einen Brief zu sudeln; denn ich vermisse Sie wahrlich schon, ob wir

[769]

Lieber Göthe, ich habe deinen Brief erhalten, er freut mich unendlich, wie sehr wünschte ich mit freirer Brust, u. Herzen die liebe Sonne in den Jenaischen Felsen auf, u. untergehen zu sehen, u. daß zwar mit dir. Ich sehe sie hier alle tage, aber das Schloß ist so hoch, u. in so einer unangenehmen Ebne, von so vielen dienstbaren Geistern erfült, welche ihr leichtes, lustiges Wesen in Samt u. Seiden gehüllt haben, daß mirs ganz schwindlich, u. übel wird, u. alle Abend mich den teufel übergeben möchte. Es sind hier der Leute comme il faut so viel, u. wissen so genau ihre Fischpflicht daß ich stets die S. N. möchte kriegen. Ich komme erst den Freytag wieder, mache doch daß du hier her kömst, die Leute sind gar zu neugierig auf dich. Miselchen ist recht brav. Ich habe um mich consistent zu erhalten meinen grosen Hund von Eisenach kommen laßen, welcher mir durch seine treue viel Freuden macht. Grüße unser Miselchen wenn du sie siehst. Gott befohlen.

C. A.


Der erste Brief des Herzogs Karl August von Weimar an Goethe.

Nach dem im Besitze des Herrn Dr. Robert Keil befindlichen Original.

[770] gleich nicht zwölf Stunden aus einander sind etc. – Hier liegen wir recht in den Fichten drin bei natürlich guten Menschen. Unterwegs haben wir in den Schenken den gedruckten Karl August gegrüßt und haben gefühlt, wie lieb wir Sie haben, daß uns Ihr Name auch neben dem (L. S.) Freude machte etc. – Gute, herzliche Nacht! – Noch ein Wort, ehe ich schlafen gehe. Wie ich so in der Nacht gegen das Fichtengebirge ritt, kam das Gefühl der Vergangenheit, meines Schicksals und meiner Liebe über mich, und sang so bei mir selber:

Holde Lili, warst so lang’
All’ meine Lust und all’ mein Sang,
Bist, ach! nun all’ mein Schmerz, und doch
All’ mein Sang bist Du noch.

Nun aber und abermal gute Nacht!

Gehab Dich wohl bei den hundert Lichtern,
Die Dich umglänzen,
Und all’ den Gesichtern,
Die Dich umschwänzen
Und umcredenzen;
Find’st doch nur wahre Freud’ und Ruh’
Bei Seelen, grad’ und treu wie Du.“

Bei Tagesanbruch setzte er den Brief fort: „Fatales Thauwetter, und so der ganze Ton des Tages verstimmt; wollen sehen, wie wir ihn wieder aufbringen. Der herrliche Morgenstern, den ich mir von nun an zum Wappen nehme, steht hoch am Himmel etc. – Die Kirche geht an, in die wir nicht gehen werden, aber den Pfarrer laß ich fragen, ob er die Odyssee nicht hat; und hat er sie nicht, so schicke ich nach Jena, denn unmöglich ist die zu entbehren in dieser Homerisch einfachen Welt etc. – Nun muß ich meinen Boten fortschicken, der Das nach Weimar trägt. Lassen Sie, lieber gnädiger Herr, den Brief Niemand sehen, als Wedeln[1]. Alles, was mich umgiebt, Einsiedel, Kalb, Bertuch, das ganze Haus legt sich zu Füßen.

Der Pflicht vergessen
Wir Fische nie.“

So schließt der Brief. Um elf war der Bote noch nicht da, der Schlittschuhe mitbringen sollte; es wurden ihm „tausend Flüche entgegengeschickt“, inzwischen wurde „in der Gegend herumgekrochen und geschlichen.“ Das Tagebuchblatt Goethe’s fährt fort: „Der Bote ist da, und nun auf’s Eis. Segen zum Morgen und Mahlzeit, lieber gnädiger Herr – die Schrittschuhe sind vergessen! Ich habe gestampft und geflucht und eine Viertelstunde am Fenster gestanden und gemault; nun laben sie mich mit der Hoffnung, es käm’ noch ein Bote nach. Muß also ohne geschritten zu Tische. – Abends vier. Sind gekommen, habe gefahren und mir ist’s wohl.“ – Der Abend wurde von den fröhlichen Gesellen „mit Würfeln und Karten vervagabundet“, am ersten Feiertag nach Bürgel zum Amthaus und zurück nach Waldeck geritten. Endlich war auch die Odyssee aufgetrieben und Kraus eingetroffen, und das Tagebuchsblatt schließt mit der ergötzlichen Schilderung: „Nach Tische rammelten sich Rugantino und Basko, nachdem wir vorher unsere Imagination spazieren geritten, wie’s sein möchte, wenn wir Spitzbuben und Vagabunden wären, und, um das natürlich vorzustellen, die Kleider gewechselt hatten. Kraus war auch gekommen und sah in Bertuch’s weißem Tressenrock und einer alten Perrücke des Wildmeisters wie ein verdorbener Landschreiber, Einsiedel in meinem Frack mit blauem Krägelchen wie ein verspielt Bübchen, und ich in Kalb’s blauem Rock mit gelben Knöpfen, rothem Kragen und vertrotteltem Kreuz und Schnurrbart wie ein Capitalspitzbube aus.“

Die Antwort des Herzogs sollte nicht lang’ auf sich warten lassen. Von Gotha aus schrieb am 25. December 1775 (wie eine Bleistiftnotiz darauf dieses Datum angiebt) Karl August seinen ersten Brief an Goethe. Nur ein Fragment davon war bisher bekannt, und selbst Vogel’s Ausgabe vom Briefwechsel Karl August’s mit Goethe hat nur dieses Fragment. In der obenerwähnten Schrift „Vor hundert Jahren“ theile ich die herzlich-brüderliche Antwort des achtzehnjährigen Herzogs zum ersten Male vollständig mit. Aber nicht nur der Inhalt derselben ist charakteristisch, auch die Form ist es, und wir glauben unseren Lesern durch den Abdruck des Briefes in treuem Facsimile, wie er auf vorstehender Seite wiedergegeben wird, eine besondere Freude zu bereiten.

Fürwahr, es giebt keine charakteristische Urkunde für die damalige Denkungsweise Karl August’s, keinen schlagenderen Beweis für den tiefen Eindruck, welchen Goethe auf ihn gemacht, kein besseres Denkmal für den damals geschlossenen innigen Bruderbund des Fürsten und des Dichters.

Auch der Wunsch des Herzogs, mit Goethe zusammen Waldeck zu sehen, ging in Erfüllung. Am 25. October 1776 waren sie Beide zusammen dort auf der Jagd. Karl August ging am Abende fort, Goethe aber blieb bis zum nächsten Tage, an welchem er über Jena nach Weimar zurückkehrte. Auf diesem Wege „erfand“ er sein Drama „Die Geschwister“; im Juli 1780 ging Karl August von Dornburg aus nach Waldeck auf die Rehjagd, „um Bertuch’s Monplaisir zu sehen“.

Von dem Briefe des Herzogs aber können wir nicht scheiden, ohne noch eine Bemerkung über den „großen Hund“ und eine Erläuterung hinsichtlich der „Miselchen“ beizufügen. Den Hund finden wir als den treuen Begleiter Karl August’s am 31. Mai 1776 auf dem Kyffhäuser wieder; dort war es, wo des großen Hundes wegen der ergötzliche Conflict mit dem Jägerburschen stattfand, worüber Schöll’s Karl-August-Büchlein berichtet. Der Bursche bedrohte den Hund mit Erschießen, seinen Herrn mit Arretur, bis sich der Letztere zum Schrecken des Jägerburschen als der Herzog von Weimar zu erkennen gab. Jedenfalls war es auch derselbe Hund, welcher der Herzogin Louise, die sich in ihres Gemahls Charakter und Ungebundenheit noch nicht finden konnte, nicht geringen Verdruß erregte und zu der Aueßerung Goethe’s in einem Briefe an Frau von Stein aus dem Januar 1776 Veranlassung gab: „Ihr Verdruß über’s Herzogs Hund war auch so sichtlich. Sie haben eben immer Beide Unrecht. Er hätt’ ihn draus lassen sollen, und da er hier war, hätt’ sie ihn eben auch leiden können.“

„Misel“ oder „Miselchen“ war in der damaligen Kunstsprache des Weimarischen Kreises der übliche Ausdruck für die Mädchen, mit denen man liebelte, und das Liebeln war damals für den jugendlich-feurigen Dichter Herzensbedürfniß wie es zu den Liebhabereien des jungen Fürsten gehörte. Wie Goethe selbst gestanden, „log und trog er sich bei allen hübschen Gesichtern herum“. Mit Schönen aus dem Bürger- und Bauernstande in Weimar, Ilmenau, Stützerbach etc., wie mit adligen Schönen wurde in frischer Lebenslust geliebelt, und so erklärt es sich, wie, heiter genug, der Herzog unter Anpreisung der „Bravheit“ der dortigen Miselchen seinen Freund nach Gotha einlud. Doch auch ernstere Herzensverhältnisse begannen schon damals sich zu gestalten. Zwar gehörte die große Künstlerin Weimars, die reizend-schöne Corona Schröter, zu welcher Goethe bald darauf in ein so inniges Liebesverhältniß trat, noch nicht Weimar an, aber die Beziehungen Goethe’s zu der geistvoll-coquetten, ebenso eifersüchtigen als anmuthig-pikanten Frau Oberstallmeister von Stein hatten bereits begonnen. Bei ihr suchte er Trost und Ersatz für Lili’s Verlust, suchte für seine Dichtungen ein empfängliches Gemüth, für sein Herz Freundschaft und Liebe, und sie, die kluge Frau, wußte – obwohl sieben Jahre älter, als er, und obwohl Gattin und bereits Mutter von sieben Kindern (von denen noch drei am Leben) – den flatterhaften, durch seinen Geist und seine Schönheit Alles bezaubernden Dichterjüngling zu fesseln und in jenem vieljährigen ungesunden, zuletzt förmlich krankhaften Verhältnisse zu ihr festzuhalten, welches für ihn so verhängnißvoll wurde, ihn an der Begründung häuslichen Eheglückes verhinderte, ihn endlich zur Flucht nach Italien, seiner Rettung, nöthigte. Immerhin bleiben der Frau von Stein für alle Zeit zwei Verdienste: sie war es, welche, „dem heißen Blute Mäßigung tropfend“, dazu beigetragen, daß das brausende Dichtergemüth sich soweit beruhigte und klärte, daß Meisterwerke classischer Vollendung wie eine Iphigenie, ein Tasso entstehen konnten; sie war es auch, die im Vereine mit Karl August’s Freundschaft den Dichter zum Bleiben in Weimar bewog.

Schon am 5. Januar 1776 schrieb Goethe an Merck: „Wirst hoffentlich bald vernehmen, daß ich auch auf dem Theatro mundi was zu tragiren weiß und mich in allen tragikomischen Farcen leidlich betrage,“ und weiter am 22. Januar: „Ich bin nun in alle Hof- und politische Händel verwickelt und werde fast nicht wieder weg können. Meine Lage ist vortheilhaft genug, und die Herzogthümer Weimar und Eisenach immer ein [771] Schauplatz, um zu versuchen, wie Einem die Weltrolle zu Gesicht stände. Ich übereile mich darum nicht, und Freiheit und Genüge werden die Hauptconditionen der neuen Einrichtung sein.“ Wieland aber schrieb am 26. Januar an Merck: „Goethe kommt nicht wieder von hier los, Karl August kann nicht mehr ohne ihn schwimmen noch waten.“ Der Herzog bot Alles auf, seinen Busenfreund in Weimar festzuhalten. Wohl entschloß Goethe, seiner Natur und seiner Dichterneigung eingedenk, sich nur schwer, diesen Wünschen zu willfahren. An Frau von Stein schrieb er am 29. Januar, es gehe ihm verflucht durch Kopf und Herz, ob er bleibe oder gehe, und noch bis zum März äußerte er wiederholt sorgliche Bedenken. Doch am 8. März schrieb er: „Den Hof hab’ ich nun probirt, nun will ich auch das Regiment probiren.“ Sein Entschluß war gefaßt: er blieb, er blieb aus Liebe zu Frau von Stein und aus Freundschaft zu Karl August, der ihn überdies auch durch Befriedigung seines Herzenswunsches nach eigener Häuslichkeit an Weimar fesselte. Aus dem Kalb’schen Hause war Goethe in das sogenannte kleine Jägerhaus (das jetzt zum Justizamtsgebäude verwandelt ist) gezogen, damals einer kleinen Burg gleichend, in welcher er, wie er scherzend äußerte, sich im Nothfalle mit seinem Bedienten Seidel einige Tage gegen ein ganzes Corps wehren zu können meinte. Durch Karl August erhielt er im Frühjahre 1776 den (vorher Bertuch gehörigen) Garten nebst Gartenhaus jenseits der Ilm, nahm ihn am 21. April in Besitz und fing im Mai die untere Anlage des Gartens an. An Gräfin Auguste von Stolberg schrieb er damals: „Hab’ ein liebes Gärtchen vorm Thore an der Ilm, schöne Wiesen, in einem Thale; ist ein altes Häuschen drin, das ich mir repariren lasse,“ und seine Mutter, die wackere Frau Rath, am 26. Mai an Klinger: „Der Doctor ist vergnügt und wohl in seinem Weimar, hat gleich vor der Stadt einen herrlichen Garten, welcher dem Herzoge gehört, bezogen. Weimar muß vors Wiedergehen ein gefährlicher Ort seyn, Alles bleibt dort. Nun, wenn’s dem Völklein wohl ist, so gesegne’s ihnen Gott.“ Und wie die Mutter, so konnte auch der Vater den Wünschen des Sohnes und seines Freundes, des Herzogs, nicht widerstehen, als Letzterer durch von Kalb an sie nach Frankfurt schreiben ließ: „Die wechselseitige Neigung des Herzogs gegen Ihren vortrefflichen Sohn, das ohnumschränkte Vertrauen, so er in ihn setzt, macht es beyden ohnmöglich, sich von einander zu trennen. Nie würde er darauf verfallen seyn, meinem Goethe eine andere Stelle, einen andern Charakter als den von seinem Freunde anzutragen, der Herzog weiß zu gut, daß alle andern unter seinem Werthe sind, wenn nicht die hergebrachten Formen solches nöthig machten. Mit Beibehaltung seiner gänzlichen Freiheit, der Freiheit Urlaub zu nehmen, die Dienste ganz zu verlassen, wann er will, wird unser junger edler Fürst in der Voraussetzung, daß Sie unfähig sind, Ihre Einwilligung dazu zu versagen, Ihren Sohn unter dem Titel eines Geheimen Legationsrathes und mit einem Gehalte von tausendzweihundert Thalern in sein Ministerium ziehen. – Gern unternähm’ ich, Ihnen die Verhältnisse meines Bruders (Goethe) zu bezeichnen, wenn ich mich dazu vermögend fühlte. Denken Sie Sich ihn als den vertrautesten Freund unseres lieben Herzogs, ohne welchen er keinen Tag existiren kann, von allen braven Jungen bis zur Schwärmerei geliebt, alles was wider uns war vernichtet, und Sie werden Sich noch immer zu wenig denken.“

Trotz allen aristokratischen Anfeindungen Goethe’s und trotz den Bedenken und Vorstellungen des Ministers von Fritsch erfolgte am 11. Juni 1776 die Ernennung zum Geheimen Legationsrath (am 3. September 1779 Geheimer Rath), und ebenso freudig als fromm schrieb Frau Rath im Juli 1776 an Salzmann, den Straßburger Freund ihres Sohnes: „Wir hörten gestern sehr viel Schönes und Gutes von unserem Sohne. Ich bin überzeugt, Sie freuen sich unserer Freuden, Sie, ein so alter Freund und Bekannter vom Doctor, nehmen allen Antheil an seinem Glücke, können als Menschenfreund fühlen, wenn der Psalmist sagt: ,Wohl Dem, der Freude an seinen Kindern erlebt!’ wie wohl das den Eltern thun muß. Gott regiere ihn ferner und lasse ihn in den Weimarischen Landen viel Gutes stiften! Ich bin überzeugt, Sie sagen mit uns Amen.“

Der fromme Wunsch der wackeren Mutter ist für Weimar, für Goethe, für die gesammte deutsche Nation in segensreiche Erfüllung gegangen. Zwar hat man oft gezweifelt, ob es für Goethe und die Entwickelung seines Dichtergenies nicht besser gewesen wäre, wenn er, statt in Weimar zu bleiben, nach Frankfurt zurückgekehrt wäre, und es haben diese Zweifel zum Theil Grund. Die vielfachen Geschäfte, namentlich auch die ihm übertragende Militärcommission, Wegebaucommission, Kammergeschäfte etc. nahmen ihn, seine Zeit und Kräfte dermaßen in Anspruch, daß die dichterische Production ganz wesentlich beeinträchtigt wurde. Das Durcheinander wurde ihm selbst bisweilen zu viel; er fand „den Kopf durch das tausendfache Zeug verwüstet“; er fand, „daß er doch fast zu viel sich auflade“, und manche angefangene Dichtung blieb liegen, da „die Unruhe, in der er lebte, ihn nicht über dergleichen vergnüglichen Arbeiten bleiben ließ“. Das Bedürfniß, sich zu poetischer Productivität wiederherzustellen, war das zweite Motiv seiner Flucht nach Italien. – Aber andererseits entsprach sein Leben, seine vielseitige amtliche Thätigkeit in Weimar gerade einem Bedürfnisse seiner innersten Natur. Während der ersten Jahre würden seine mächtigen Leidenschaften ihn aufgerieben haben, wenn nicht solche Vielthätigkeit sein Wesen in schönem Gleichgewichte erhalten hätte. Und gerade hierdurch wurde seine Kenntniß des Lebens, der Menschen und der Natur, seine Erfahrung bereichert, und indem er (um mit seinen eigenen Worten zu reden) durch seine Stellung zum Hofe und verschiedenartige Zweige des Staatsdienstes die Realität in sich aufzunehmen genöthigt war, wurde hierdurch und durch die mannigfachen Anregungen, welche das geistig bewegte Leben des Weimarischen Kreises ihm gab, die vielseitige und harmonische Ausbildung und Entwickelung seines ganzen Wesen ungemein gefördert.

In seinem Geheimtagebuche läßt es sich von Tag zu Tag verfolgen. Dies Alles bot ihm Weimar; nimmermehr würde es ihm der enge Frankfurter Kreis und die anwaltliche Proceßführung geboten haben. Das wußte Niemand besser, als Goethe selbst. Laut eines seiner Briefe an Lavater, aus dem Februar 1777, „lebte er ganz glücklich in anhaltendem Reiben und Treiben des Lebens“ und bemerkte sich am 13. Januar 1779 in das Tagebuch: „der Druck der Geschäfte ist sehr schön der Seele; wenn sie entladen ist, spielt sie freier und genießt des Lebens.“ An seinen Freund Knebel schrieb er 1782: „ich danke Gott, daß er mich, bei meiner Natur, in so eine engweite Situation gesetzt hat, wo die mannigfaltigen Fasern meiner Existenz alle durchgebeizt werden können und müssen,“ und der Vertrautesten seines Herzens, seiner Mutter, legte er in zwei Briefen, vom 9. August 1779 und 11. August 1781 über seine ganze Situation so klar und unumwundene Geständnisse ab, daß hiernach jedes weitere Wort über jene Streitfrage überflüssig geworden ist. In dem ersteren Briefe, in welchem er seinen und des Herzogs Besuch im Frankfurter Vaterhause ankündigte, bemerkt er: „ich habe Alles, was ein Mensch verlangen kann, ein Leben, in dem ich mich täglich übe und täglich wachse, und komme diesmal gesund, ohne Leidenschaft, ohne Verworrenheit, ohne dumpfes Treiben, sondern wie ein von Gott Geliebter, der die Hälfte seines Lebens hingebracht hat und aus vergangenen Leiden manches Gute für die Zukunft hofft, und auch für künftiges Leiden die Brust bewährt hat; wenn ich Euch vergnügt finde, werd’ ich mit Lust zurückkehren an die Arbeit und die Mühe des Tags, die mich erwartet.“ Der andere Brief, von 1781, enthält die Beichte: „Was meine Lage betrifft, so hat sie, ohnerachtet großer Beschwernisse, auch sehr viel Erwünschtes für mich, wovon der beste Beweis ist, daß ich mir keine andere mögliche denken kann, in die ich gegenwärtig hinüber gehen möchte. Merck und mehrere beurtheilen meinen Zustand ganz falsch; sie sehen das nur, was ich aufopfere, und nicht was ich gewinne, und sie können nicht begreifen, daß ich täglich reicher werde, indem ich täglich so viel hingebe. Sie erinnern sich der letzten Zeiten, die ich bei Ihnen, eh’ ich hinüber ging, zubrachte; unter solchen fortwährenden Umständen würde ich gewiß zu Grunde gegangen sein. Das Unverhältniß des engen und langsam bewegten bürgerlichen Kreises zu der Weite und Geschwindigkeit meines Wesens hätte mich rasend gemacht. Bei der lebhaften Einbildung und Ahndung menschlicher Dinge wäre ich doch immer unbekannt in der Welt und in einer ewigen Kindheit geblieben, welche meist durch Eigendünkel und alle verwandten Fehler sich und Anderen unerträglich wird. Wieviel glücklicher war es, mich in ein Verhältniß gesetzt zu sehen, dem [772] ich von keiner Seite gewachsen war, wo ich durch manche Fehler des Unbegriffs und der Uebereilung mich und Andere kennen zu lernen Gelegenheit genug hatte, wo ich, mir selbst, und dem Schicksale überlassen, durch so viele Prüfungen ging, die vielen hundert Menschen nicht nöthig sein mögen, deren ich aber zu meiner Ausbildung äußerst bedürftig war. Und noch jetzt, wie könnte ich mir, nach meiner Art zu sein, einen glücklicheren Zustand wünschen, als einen der für mich etwas unendliches hat!“

So ward es ihm möglich, Dramen wie Iphigenie, Tasso, Egmont, seine lyrischen Gedichte, seinen Wilhelm Meister, wie ferner, unter harmonischer Entwickelung durch die italienische Reise und später unter freundschaftlichem Zusammenwirken mit dem genialen Schiller sein Gedicht Hermann und Dorothea, seine Balladen, seinen Faust zu schaffen. Sein Eintritt in Weimar schuf für ihn selbst und für die deutsche Literatur, für die Geschichte deutschen Denkens und Dichtens eine neue, große Epoche. Die deutsche Nation hat es an seinem goldenen Jubeltage (7. November 1825) anerkannt; sie spricht diese Anerkennung am bevorstehenden Säcularfeste von Neuem aus; sie wird es anerkennen, solange es überhaupt ein deutsches Volk, eine deutsche Literatur giebt.

Goethe selbst war sich dessen dankbar bewußt, dankbar vor Allem gegen seinen fürstlichen Freund, von welchem er empfangen,

          was Große selten gewähren,
Neigung, Muße, Vertrau’n, Felder und Garten und Haus.

Ihm blieb er der treuste Freund bis zur letzten Stunde. Beim Regierungsjubiläum Karl August’s, 3. September 1825, war er der erste Gratulant. Schon vor sechs Uhr Morgens eilte er zu ihm in das römische Haus im Parke. Als er dem Jugendfreunde gegenüberstand, versagte ihm in Rührung anfangs die Sprache, nur die Worte brachte er hervor: „bis zum letzten Hauche beisammen!“ Karl August, beide Hände des Freundes ergreifend, faßte sich zuerst und gedachte der frohen Jugendzeit. „O, achtzehn Jahr und Ilmenau!“ rief er aus und schloß mit den Worten: „denken wir aber dankbar besonders daran, daß uns auch heut noch erfüllt ist, was uns einst in Tiefurt vorgesungen wurde:

Nur Luft und Licht und Freundeslieb’!
Ermüde nicht, wenn dies noch blieb!“

Als dann wenige Wochen später, am 7. November 1825, Goethe selbst sein Jubelfest beging und von seinem fürstlichen Freunde, seinen Verehrern[WS 2] in Nah und Fern, ja von der ganzen gebildeten Welt mit Glückwünschen und Ehrenbezeigungen überhäuft wurde, gedachte er mit Rührung seiner Uebersiedlung zur Ilm, die „eine Quelle manches Guten, Schönen geworden“; er ließ durch seinen Sohn beim Festmahle auf dem Stadthause dem Freunde Knebel, als „dem Manne, dessen Bekanntschaft und Vermittelung er seine erste freundliche Aufnahme und den Eintritt in dieses Land verdanke“, aus vollem dankerfülltem Herzen ein Hoch bringen.




Ein Parlament im Negligé.
Von Michael Klapp.


Von Zeit zu Zeit bekommt der fleißige Zeitungsleser zu seinem Morgenkaffee oder Morgenthee kleinere oder größere Telegramme aus Belgrad servirt, in denen das wenig melodiöse Wort „Skuptschina“ eine große Rolle spielt. Das Stadium der Allerweltsweisheit, in dem wir uns dank den Tageszeitungen befinden, bringt es mit sich, daß wir auch, nebst den Nachrichten aus den Parlamenten der großen Civilisationsträger, nebst den Berichten aus den Parlamentshäusern Westminsters, dem Versailler Nationaltheater und dem deutschen Reichstage, von den großen Worten, welche die kleineren Völker in ihren Nationalrathsstuben zu sprechen pflegen, immer die frischeste Kunde erhalten. Hat aber der bekannteste „kranke Mann“ Europas, wie in den letzten Wochen gerade, seine Congestionen und politischen Leibbeschwerden, dann tritt erst recht auffallend die serbische „Skuptschina“ aus der großen Telegramm- und Correspondenzmischung unserer Morgenlectüre heraus: die Skuptschina wird einberufen, die Skuptschina will den Krieg erklären, die Skuptschina geht von Kragujewac nach der alten Donauresidenz Belgrad etc. Die Skuptschina – alles dieselbe Skuptschina, jenes Serbenparlament, das sich unter dem Eindrucke des Parlamentarismus, der uns geläufig ist, in der Phantasie zu einem Ding gestaltet, das es so eigentlich gar nicht ist. Was sich wohl solch ein gebildeter Zeitungsleser alles unter jener Skuptschina Parlamentarisch-Schönes denken mag! Ach, Alles nur parlamentarische Illusion, mein Lieber, der du an ein Parlament von Professoren, Advocaten, Gelehrten, Industriellen, höheren Staatsbeamten, Gutsbesitzern etc. denkst, an ein Parlament mit Repräsentationskünsten und soliden Satzungen, die dem alten englischen Vorbilde entnommen sind, an ein Parlament der Peels und Pitts, Palmerstons und Gladstones, Simsons und Vinckes. Eine viel zu gute, zu hohe Meinung, die du da von dem Serbenparlament hast.

Auch Schreiber dieses hatte sie, bis ihm günstige Verhältnisse die erste Bekanntschaft mit einer Skuptschina vermittelt hatten.

Es war im Jahre 1868, im Hochsommer; der Mord an dem Serbenfürsten Michael Obrenowitsch hatte mich nach Belgrad geführt. Das alte Türkennest war in großer Aufregung. In der Waldeinsamkeit des Parkes von Toptschider, die etwa eine halbe Stunde von Koschutjnak (Hirschpark) entfernt ist, war der Fürst von drei wüsten Parteigängern der entthronten Karageorgewitsche mörderisch angefallen und niedergemacht worden. Auf den Lippen das „Ruku libam“ (Küsse die Hand), hielten die Mörder, als der Fürst an ihnen vorbeikam, in der nach rückwärts gekehrten Hand die vierläufigen Revolver, die sie, kaum daß ihnen die fürstliche Gesellschaft den Rücken gezeigt, nach den einzelnen Opfern abbrannten. Die zwölf Schüsse hatten ihre verfluchte Schuldigkeit gethan; in verschiedener Richtung sank die fürstliche Begleitung, theils schwer, theils leicht verwundet, dahin. Zusammengebrochen deckte Michael Obrenowitsch ein blutbeflecktes Stück Erde; da trat einer der verwegensten der Mordgesellen, Radovanowitsch mit Namen, (ich vergesse noch heute nicht sein wildes entmenschtes Antlitz, wie es sich mir dazumal, bei der Gerichtsverhandlung zeigte, die ihm und noch anderen fünfzehn Verschworenen den gerechten Tod eingetragen) an den Fürsten heran, den gefallenen Körper untersuchend, ob er noch Leben besitze. Nicht sicher seiner Untersuchungsergebnisse, fragte der Ruchlose:

Obrenowitsch, lebst Du noch?

Michael, der in der That noch lebte, glaubte wohl die Stimme seines Adjutanten Garaschanin zu hören und sagte: „Gast“ (Ja). Ein Wink von Radovanowitsch, und die Unmenschen alle, die im Mörderbunde standen, fielen nun über ihn her, und Mordinstrumente aller Art, bis zum Hackmesser herab, vollendeten das schändliche Werk, das eine Reihe von Schüssen, die aber kein edles Organ getroffen, nicht ganz zu thun vermocht hatten.

Die ersten Wochen dieser aufregungsreichen [WS 3] Zeit gehörten selbstverständlich der Aufspürung der Mörder. Sie waren alle nach und nach festgenommen worden, und das über einen großen Theil des Landes gespannte Netz der Verschwörung wider die Dynastie Obrenowitsch lag nach und nach sichtbar vor Augen. Militär, Advocaten, mißvergnügte höhere Beamte, denen ihre Faulheit noch mit zu wenigen Dukaten bezahlt dünkte, waren mit Verwandten der entthronten Karageorgewitsche und einigen entlassenen Sträflingen den unsauberen Bund eingegangen, der dem Fürsten Michael das Leben kostete. Niemand im Lande zweifelte einen Augenblick, wer der erste Urheber des Complotes, wer der indirecte Theilhaber jener in Toptschider vor sich gegangenen Schandthat sein könne. Sein Name wurde allgemein genannt, von allen Tagesberichten gebrandmarkt, ab der der Träger dieses Namens, Peter Karageorgewitsch, befand sich ruhig und sicher in der Magyarenhauptstadt, und auch später vorgenommene Gerichtsproceduren, die freilich wenig Halsnothpeinliches an sich hatten, thaten ihm nichts zu Leide. Die fünfzehn Mordgesellen waren alle zugleich, an einem und demselben Morgen, in einem der Gräben der alten Festung executionsmäßig erschossen, in die Grube gesunken; [773] zwei ihrer Cameraden, höhere Officiere, waren ihnen in den Tod, standrechtlich verurtheilt, vorausgegangen, und Ruhe und Friede kehrten wieder in die Gemüther zurück. Der junge Milan Obrenovitsch ward unter allgemeinem Jubel berufen, seinem gemeuchelten Oheim als Fürst von Serbien zu folgen, und war indeß von Paris, wo er eben noch seine Erziehung genossen, nach der Serbenhauptstadt geeilt. Das Ministerium Blaznavac hatte sich am Unglückstage von Toptschider mit so geschickter und energischer Hand allsogleich der Regierungszügel bemächtigt, daß ein Aufstandsversuch der Verschworenen zu gelingen keine Aussicht haben konnte. Das Ministerium regierte bereits in Milan’s Namen und hatte sofort die Wahlen zu einer großen, außerordentlichen Session der Skuptschina ausgeschrieben.

Und der 2. Juli schon war der Tag, an dem die


Die Kreuzigungsgruppe bei Oberammergau.


Skuptschina, die einzig und allein dazu berufen wurde, den neuen Fürsten auszurufen, zusammenzutreten hatte.

Ein außerordentliches Leben herrschte schon Tage vorher in den Straßen Belgrads, das seine gute Stimmung wieder gewonnen hatte. Das Gefühl der Unsicherheit war sichtlich von ihr genommen worden, je näher der Zeitpunkt kam, da fünfhundert serbische Männer, die das Volk selbst entsandte, in seinem Weichbilde den neuen Fürstenthron befestigen sollten. Die alten Straßen, durch Wochen hindurch traurig öde, fingen an, sich freundlich zu beleben. Die Terazia, der Boulevard von Belgrad (Boulevard in nicht streng parisischem Sinne genommen), nahm wieder ein heiteres Ansehen an. Auf der Terazia haben die diplomatischen Agenten der fremden Mächte ihre Residenzen aufgeschlagen; hier steht auch der „Konak“, das Palais des Serbenfürsten, mitten in einem herrlichen Blumengarten mit seiner schlichten, geschmackvollen Façade; das große Gitterthor zeigt das fürstliche Wappen im blauen Felde, mit den vier durch ein Kreuz gespaltenen S, die den Satz „Srbi samo sloga spasava“ (Einigkeit macht Serbien stark) andeuten sollen. Die schwarze Fahne wehte noch immer auf diesem Palais, aber, wie gesagt, die „Terazia“ fing eben wieder an von Menschen, von Spaziergängern und Corsofahrern freundlich bunt gefärbt zu werden. Die kleinen, in etwas türkischem Reinlichkeitsstyle gehaltenen Cafés fingen an sich zu füllen; drinnen und draußen saß an groben Tischen viel stämmiges Männervolk, aus seinen langen Tschibuks weise Ansichten über Serbiens nächste Zukunft herausblasend. In den vielen Gruppen ward lebhaft debattirt über Gefahren, denen das Vaterland soeben entronnen, und schon die gerade nicht classisch runde Plastik der Bewegungen der Debattirenden war für Alle, die Serbiens Sprache nicht verstehen, Dolmetsch genug, Dolmetsch der mancherlei grollenden Gedanken, die da zwischen den Männern ausgetauscht wurden. Ich brauchte mir nur den großen stämmigen Mann da neben mir, an einem der Tischchen des Cafés zum „goldenen Engel“, anzusehen, nur den Schwingungen seiner wuchtigen Arme und den wilden Bewegungen der Quaste seines tief am Hinterkopfe sitzenden Fez zu folgen, und ich wußte es auf’s Bestimmteste, daß er irgend einen Partisanen des Karageorgewitsch eigenhändig niederschlagen möchte.

Fünfhundert Männer waren mit einem Male mehr in dem alttürkischen Neste – das mußte sogar ein Schwerhöriger merken; das Auge allein konnte sich des ansehnlichen Zuwachses an Patrioten freuen. Sie sind eine schöne Race, diese Serbenmänner, hoch, stark und doch edelformig emporgeschossen, ein Bild von Urwüchsigkeit, ungebrochener Kraft, im Blicke Feuereifer und Thatenlust verrathend, der Schritt voll Mark und Stolz, jeder von ihnen an die alten Heldengestalten des serbischen Volksliedes mahnend, an die Genossen des Serbenczaren Lazar, die zu jedem Frühstücke ein paar Türkenköpfe so nöthig zu haben schienen, wie Unsereiner die Butter zum Thee.

Die nahende Skuptschina hatte diese Galerie malerischer Männergestalten um ein Erhebliches vermehrt. In den Straßen wandelten allerlei farbige Costümbilder vor mir herum. Serben im weiten, blauen Kaftan, der bis auf den Boden fiel, die breite Tuchkappe mit großem Schirme auf dem buschigen Haupte, die breite, wollene bunte Binde um die Lenden geschlagen, schon zur Hälfte das Abbild des orientalischen Kaufherrn; Serben in der blauen Tuchjacke, in blauen Pluderhosen und blauen wolligen Strümpfen, den Fez kühn aufgesetzt; Serben in rothen Hosen, rothem Bindtuche und blühendweißen Hemdärmeln, die ein coquett umgehängtes gesticktes Jäckchen umgaukelt. Und dazwischen wieder der Bauerngestalten viele, die Beine in weißes, weites grobes Linnen eingehüllt, mit dem vielfaltigen langen Hemde, darüber ein grobzeugiger Schnürrock ausgebreitet, auf dem starken Kopfe den kugelförmigen Filzhut mit breitem Rande.

Das waren alles Mitglieder der Nationalversammlung, die da bevorstand, Mitglieder des großen Congresses, Männer der Skuptschina. Wo man sie wohl nur Alle untergebracht haben mag, die Männer des großen Reichsrathes? Belgrad hatte im Ganzen drei Häuser, die auf den Namen „Hôtel“ (in der anspruchslosesten Bedeutung des Wortes natürlich) Anspruch hatten und sonst nur noch so viele kleinere und größere Häuser, wie es dermal für seine paar tausend Einwohner nöthig hat – wo mögen also diese fünfhundert Deputirten ihre Häupter des Nachts zur Ruhe legen?

Ich erfuhr es bald und ersah gleich aus dieser ersten Aeußerlichkeit, wie wenig die serbischen Männer des Volkes Parlamentsmänner im deutschen, französischen, englischen Sinne sein wollen. Ich möchte mir die Männer deutscher, englischer oder französischer Volkswahl ansehen, die anstatt mit schönen Hôtelzimmern oder gut möblirten Privatwohnungen mit der Bequartierung dieser serbischen Deputirten vorlieb nehmen müßten! Belgrad logirte seine Landesvertreter in Zelten, die in großer Reihe im Parke von Toptschider errichtet worden, ein; die serbischen Delegirten mußten bivouakiren, im Freien bivouakiren, gleich einem Kriegsheere; sie mußten ihre landesbesorgten schweren Köpfe im grünen Rasen bergen.

Zur Zeit der ordentlichen Skuptschina, die aus nicht mehr als hundert Deputirten besteht, bringt man diese nothdürftig in den Cafés unter, wo sie mit den obzwar harten Bänken gern vorlieb nehmen; bei dieser außerordentlichen Session aber, die fünfmal so viele Männer nach Belgrad zog, errichtete man ihnen ein – Lager, ein wahres Soldatenlager.

Ein prächtiger, eigenthümlicher Anblick, dieses parlamentarische Lager der Skuptschina! Unter schmucken Zelten lagen schon durch drei Tage die Delegirten des Landes, acht, neun und zehn unter einem Zelte. Weithin war die grüne Toptschiderebene, die sich vor dem Koschutjnak (Hirschpark) dahin breitet, voll von diesen Abgeordnetenzelten und bot, zusammengehalten mit dem Lager der Miliz, von der einige Bataillone die ganze Höhe des Toptschiderhügels hinauf zur Feier der Skuptschinaeröffnung herbeigezogen wurden, einen wahrhaft kriegerischen Anblick. Es

[774] fehlten nur noch die Gewehr-Pyramiden draußen vor den Zelten, um Einen an ein Uebungslager, an ein constitutionelles, parlamentarisches obendrein, zu gemahnen. Aber auch Waffen hatte dieses Deputirtenlager, nur ruhten sie unter den Zelten, Revolver, Pistolen, Dolche, kurze Säbel, Gürtelmesser, welche die Männer des Serbenvolkes mit in’s Lager gebracht, Waffen, ohne die der Serbe nie einhergeht und die er auch in sein Parlament mitbringt, wenn er auch nur zu friedlicher Berathung in schwierigen Landesangelegenheiten hierher gekommen ist und nur das Wort, das patriotische Wort allein als Waffe gebrauchen will.

Mit einem Soldatenlager hat dieses serbische Parlamentslager auch noch die Feldküche gemein. Der serbische Deputirte, der Mann der Skuptschina, hat nicht die mehr oder minder glänzenden Diätengelder des französischen oder österreichischen Volksvertreters, keine zehn Gulden österreichische Währung oder vierzig Franken täglich wie der Deputirte in Versailles oder in Wien; er hat Quartier (freilich in der primitiven, angedeuteten Weise der Cafébank) in gewöhnlichen Sessionen, seine Barake in der außerordentlichen Session, einen Thaler täglich Diätengeld (man könnte schon besser parlamentarisches Taschengeld sagen!) und seine Kost für den Mittag und Abend. In der nächsten Nähe der Abgeordnetenzelte war die große Feldküche errichtet, in der alltäglich während der außerordentlichen Session für die Skuptschinamänner abgekocht wurde.

Kost, Quartier und einen Thaler täglich – giebt es etwa irgendwo ein billigeres Recept für die Versorgung von Volksvertretern? Ich glaube nicht.

Nur Fürst Bismarck stellt sich seinen deutschen Reichstag noch billiger her, indem er den Mitgliedern gar nichts giebt und den bekannten „Lilienbekleider“ für sie sorgen läßt.

Der 2. Juli war da, und ich fuhr in Begleitung meines liebenswürdigen Führers, des Herrn v. K., der in Belgrad eine der Garantiemächte diplomatisch zu vertreten hatte, über die Terazia hinaus dem ominösen Parke von Toptschider zu. Ich gehörte zu den wenigen Glücklichen, denen durch ministerielle Gunst Eintrittskarten verliehen wurden und denen die am Parkeingange strenge Wacht haltenden Gensd’armen nach Vorzeigung der Karte die Einfahrt gewährten. An den weißen Zelten der Miliz vorüber fuhren wir dem parlamentarischen Bivouac der Abgeordneten zu. Gleich an den ersten Delegirtenzelten machten wir Halt und verließen unsern Wagen. Eben traten auch die Serbenmannen aus ihren Lagern und wallten der Stätte ihrer Berathungen zu.

„Wo ist denn das Parlamentshaus?“ fragte ich meinen kundigen Begleiter.

„Parlamentshaus? Giebt’s nicht,“ antwortete er.

„Ja, wo tagen sie denn, die fünfhundert Auserwählten des Landes?“ fragte ich erstaunt weiter.

„Sollen sie gleich sehen,“ sagte Herr v. K.

Wir schritten der großen Wiese zu, die den eigentlichen Park vom Koschutjnak trennte. Eine riesige Holzbarake stand, roh gezimmert, da; für Alles war dieser Rohbau eher zu nehmen, als für den Sitz eines Parlaments. Nach außen nahm er sich, wohlwollend beurtheilt, wie ein eben frisch fertig gewordenes, mit Fahnen behangenes, provisorisches „Stationshaus“ aus; innen hatten sie den weiten Raum nur mit schlichtem Laub decorirt, eine große Anzahl hinter einander laufender Bänke aufgestellt, in die freigehaltene Mitte einen Tisch, den „Tisch des Hauses“, für das Präsidium postirt, der von einem grünen Tuche niemals geträumt haben mag, an der einzigen Längenwand der Barake (nach der anderen Längenseite hin stand sie ganz offen) eine Balkonestrade errichtet, mit Sesseln für die Minister und Regenten – und das alles zusammen war das serbische Parlamentshaus.

Belgrad hat auch für seine ordentlichen Skuptschinas, die nur aus hundert Delegirten zusammengesetzt sind, keinen eigenen Parlamentsboden.

Dort oben in der „hohen Schule“, die der reichste Serbe, Mischa, der im Salz- und Schweinehandel fett gewordene Schwiegervater des Ministers Marinovitsch, gebaut und dem Lande geschenkt hatte, tagt gewöhnlich die Skuptschina, wenn sie nicht nach der zweiten Stadt des Landes, nach Kragujewac, einberufen ist. Den Luxus eines Parlamentshauses kann sich Serbien nicht gönnen. Leuten, die man mit einem Thaler Diäten abfindet, kann man doch keinen Palast bauen.

Es muß doch auch eine Harmonie in der constitutionellen Schöpfung gebe, ein Zusammenpassen von Menschen und Localitäten. Wie würde so ein serbischer Deputirter in Sandalen und Hemdärmeln in einem Parlamentshause wie das englische zum Beispiel, oder im Theater von Versailles sich ausnehmen!

Ist es also kein Parlamentshaus, so ist es eine Parlamentshütte, die man der Skuptschina rasch gezimmert hat. Lehnsessel, Pulte und was dergleichen mehr Parlaments-Commoditäten sind, die constitutionelle Staaten ihren Vertretern zu bieten pflegen, gab es da natürlich auch nicht.

Serbien verweichlicht seine Deputirten nicht.

„Wozu auch Pulte?“ sagte mein freundlicher Begleiter, der meinem parlamentarisch verwöhnten Auge ansah, daß es das besagte Parlamentsmöbel vermißte. „Wozu Pulte? Für die Wenigen, die schreiben können? Von den fünfhundertundvier Deputirten, die Sie hier nach und nach einziehen sehen, sind über vierhundert Bauern und Handwerker, die den Segen des Schreibens noch nicht kennen, gegen neunzig nur sind in der Schreibstube aufgewachsene Kaufleute, Advocaten, Gutsbesitzer, die sich der Feder zu bedienen im Stande sind.“

„Ein richtiges Bauernparlament also?“

„Nichts Anderes. Gevatter Schmied läßt zu Hause sein heißes Eisen, Gevatter Schneider – er ist auch in Serbien, wie überall, ein geborener Politiker – ein paar Dutzend halbfertiger Nähte und Zwickeln zurück und läuft nach Belgrad zur Skuptschina. wenn ihn das Land ruft. Und das ‚läuft‘ bitte ich bildlich[WS 4] zu nehmen.“

Gevatter Schuster, Schneider und Schmied laufen wirklich nach Belgrad oder Kragujevac, da ihnen das Vaterland keine Wagen und keine Eisenbahnen zur Verfügung zu stellen hat.

Diese Bauernmajorität bildet sich auch auf das, was sie ist, nicht viel ein, zum Unterschiede von Parlamentsmajoritäten. Diese Herren in groben Hemden und Jacken und zum großen Theil auch ohne Stiefel an den Füßen sind weit entfernt von jeglicher Parlamentsprätension.

„Bescheidene gute Leute sind’s,“ erklärte mir mein Freund, der Diplomat, weiter, „die sich von den Minoritätsherren Manches gefallen lassen, nur weil sie – schreiben und lesen können, rein aus gar keinem andern Grunde. Glauben Sie aber deshalb ja nicht, daß diese Bauern sich das Reden verwehren lassen. Was sie über diese und jene Angelegenheit auf dem Herzen haben, das muß heraus, und hätte es auch nicht die Weisheit gerade zur ehrsamen Gevatterin gehabt. Was kann dem Bauer auch passiren, wenn er wirklich das eine und das andere Mal mit seiner Ansicht von den häuslichen und Weltdingen auf den Kopf gefallen erscheint? Es steht höchstens so ein Minoritätscollege, der seine Jugend mit Schreiben- und Lesenlernen hingebracht hat, oder gar ein ‚Pane‘ Minister auf und sagt zu ihm: ‚Schau, lieber Bruder, das verstehst Du nicht, setz’ Dich nieder und schweig hübsch, bis wieder von etwas Anderem die Rede ist!‘ Und der Freund Bauer setzt sich nieder und schweigt. Aber glauben Sie nur nicht, daß dies selten geschieht – das ist ein gewöhnlicher Vorgang auf den Skuptschinas. Der serbische Bauer rächt sich in ganz eigenthümlicher Weise für solche Behandlung – er bringt fortwährend Anträge auf Vermehrung der Schulen im Lande ein. Der Minderwissende fügt sich auf der Skuptschina dem Mehrwissenden. Die Macht der ‚Federfuchser‘, die ja noch der alte Fürst Milosch, der ja selber von den Schweinen weg zum Fürstenthrone gekommen, nicht recht leiden und aufkommen lassen mochte, ist unter des armen Michael Obrenovitsch Regierung sehr gestiegen, aber auch mit ihr das Bedürfniß nach den Mitteln, das Bedürfniß nach Bildung. Es kommt schon die Zeit, wo alle Mitglieder der Skuptschina, und wären ihrer auch, wie heute, fünfhundert, werden schreibens- und lesenskundig sein – das sollen Sie schon erleben, das heißt wenn in den Bahnen der Intelligenz, in die Michael Obrenovitsch eingelenkt, weiterfortgefahren wird.“ –

Während mein diplomatischer Freund so warm für die [775] Skuptschina-Majorität einstand, waren die Bauern in die Parlamentshütte hineingeströmt.

Sie setzten sich nach Kreisen. Jeder der siebenzehn Landeskreise hatte seinen eigenen Raum in der Parlamentshütte, innerhalb dessen die Deputirten des Kreises ihre Plätze nahmen. Ein auf der Bank haftender Papierstreifen nannte den Männern den Kreis und ihren Sitz. Die Ueberschau, die der männererfüllte Raum bot, war, dank den vielen schönen Erscheinungen eine wahrhaft eigenthümlich imponirende.

Da saßen sie wirklich in großer Menge, alle die Männer, denen ich in den letzten Tagen so oft, auf der Terazia, in den Cafés, allüberall in Belgrad, begegnet war, in ihren bunten Jacken, groben Kleidungsstücken, in Fez und Kugelfilzhüten, ganz erhaben über alle parlamentarische Kleiderordnung.

Unter fünfhundert Abgeordneten kein einziger Frack, kein einziges Ordensbändchen, keine Uniform, keine Medaille, kein Kreuzlein auf einer Brust! Ich freute mich ordentlich des seltenen Anblicks von Parlamentsmännern, von denen nicht wenige ihre für das Vaterland schlagende Brust ganz entblößt offen präsentirten, andere wieder das grobe Linnen an Hemd und Gattie anspruchslos dem Blicke preisgaben, wieder Andere mit höchst mangelhafter Fußbekleidung dasaßen – ich freute mich dieses originellen Parlaments im Negligé.

Wenn nur nicht der bizarre Contrast bald nachgefolgt wäre! Der bizarre Contrast, den die erhöhte Estrade, gegenüber der männerehrenden Versammlung darbot!

Da nahmen alsbald in schweren, plumpen Lehnstühlen die Mitglieder des serbischen „Senats“ Platz, fast Jeder von ihnen einen großen Orden tragend, der Eine Aachats, der Andere einen Großcordon um den Hals, alle, alle mit Ordensbändern auf der Brust oder im Knopfloche, alle, alle im schwarzen Fracke, alle, alle in hohen weißen Binden und gelben Handschuhen und mit dem schwarzen Cylinder in der Hand. Mit einem Male war ich wieder aus der interessanten, patriarchalischen Skuptschina in die gewöhnliche Langweiligkeit eines civilisirten Parlaments zurückversetzt. Man kann sich nichts Grelleres denken, als den Contrast zwischen der Bauernversammlung da unterhalb der Bretterestrade und den eitel aufgeputzten, in weißen Cravatten und mit Orden paradirenden Senatoren auf der Estrade oben, nichts Grelleres, als die primitive, kahle Parlamentsbude und die üppig geschmückten Senatorenbrüste und Senatorenhälse. Und dazu noch, um die Bizarrerie nur noch zu erhöhen und auf die Spitze zu treiben, das auf einer Tribüne zunächst der Estrade höchstthronende Corps der Generalconsuln, in gestickten, geschmacklosen Uniformen und in goldenen Krägen.

Kaum, daß ich mich von dem Contrasteindrucke erholt haben mochte, trat schon ein neuer schwarzer Frack an den „Tisch des Hauses“ und eröffnete die Skuptschina. Es war dies Herr Karabiberovitsch, der in den letzten Tagen von den Skuptschinesen unter den Zelten designirte Präsident.

Er konnte schreiben, lesen, rechnen (er ist ja „Banquier“ in Belgrad!), hatte einen schwarzen Frack, und ein feines, weißes Hemd, war schön ausrasirt im Gesichte – wie sollte er nicht Präsident werden? Er redete die Herren per „Brüder“ an und setzte ihnen schlecht und gerecht die Ursache ihrer Einberufung auseinander. Nachdem er gesprochen, waren die Männer der provisorischen Regierung eingetreten: Blaznavac, Ristitsch, Gavrilowitsch und Marinowitsch.

Blaznavac, eine militärisch imponirende Erscheinung, mit ausdrucksvollem, schönem Kopfe und hoher Würde des Auftretens; Marinowitsch, der obenerwähnte glückliche Schwiegersohn des reichsten Serben Mischa, ein jüngerer Mann mit intelligenten Zügen und energischem Blicke; Ristitsch, durch und durch ein echt slavischer Typus. Der ordenüberfüllte Marinowitsch las eine Art von Thronrede vor, kühl bis an’s Herz hinan. Erst als er schließlich von der nothwendigen Proclamirung eines Fürsten sprach und den Namen des jungen Milan Obrenowitsch über die Lippen brachte, brachen die ersten „Zivios“ und „Hurrahs“ los und wuchsen dann rasch zu einer lärmenden Demonstration an.

Mir schien es, als wollte Marinowitsch nicht zu viel der Loyalität in der Versammlung aufkommen lassen, denn so oft nun der Lärm ihm zu stark wurde, machte er gewisse abwehrende Handbewegungen, die gleichsam ein „Genug! genug!“ bedeuten sollten und mir sehr sonderbar vorkamen. Als er geendet hatte und von dannen geschritten war, hatte er diese Handbewegung nicht nöthig – kein einziges „Zivio“ folgte ihm. Der Mann war schon dazumal nicht sehr beliebt und ist es auch heute noch nicht, was ihn aber nicht abhielt, bis auf die letzte Zeit herab eine große, entscheidende Rolle als Minister der conservativen Fraction zu spielen, eine Rolle, die er erst jüngst beim Sturze des Cabinets Ristitsch wiederum gespielt hatte.

Nun waren auch noch andere Männer der Skuptschina als Redner aufgetreten: Advocat Neditsch, ein trockener, scharf pointirender Redner, ferner ein Bauer aus Kragujevac, ein klarer Kopf, der sich den Teufel um die schwarzen Fracks und weißen Binden kümmerte und auf seinesgleichen mit mimischer Hastigkeit losredete, und ein Pope, eine jener interessanten Gestalten des orthodox-griechischen Clerus, mit schwarzem, tief herabwallendem Haupthaare und schönem langem Barte, wie die Skuptschina ihrer nicht wenig hatte.

Nachdem diese Herren ihre wenig auseinandergehenden Ansichten über die Fürstenwahl auseinandergesetzt, forderte Herr Karabiberowitsch die Entscheidung. Nun erdröhnte die mächtige Halle von einem wahren Sturm von „Zivios“. Milan Obrenowitsch war feierlichst einstimmig zum Fürsten ausgerufen. Einfach und kurz, ging nun eine Deputation von Skuptschinesen den jungen Milan gleich holen. Sie hatte nicht gar zu weit; am Toptschiderhügel harrte schon der junge Fürst der frohen Botschaft. Unter Kanonendonner und Musik und militärischem Geleite zog er alsbald in die Parlamentshütte ein, ein schmucker Junge in Oberstuniform, freundlich die Männer alle anlächelnd, die ihn zum Fürsten erkoren. Und dann bestieg er, den treuen (seitdem verstorbenen) Blaznavac zur Seite, die Estrade und sprach:

„Gott zum Gruße, Brüder! Ich bin noch jung, aber ich will lernen, ein treuer Führer Serbiens zu werden. Ich vertraue mich Euch und dem Volke an.“

Das war wenig und doch viel gesagt; die schlichten Worte, so treuherzig herausgebracht, wogen eine große Thronrede auf.

Der Effect war aber auch ein überwältigender; die Männer jubelten, warfen ihre Mützen in die Höhe, sprangen auf die Bänke, entwickelten einen ganz ungebändigten Enthusiasmus. Dann ward gleich die Regentschaft durch Acclamation gewählt, bestehend aus Blaznavac, Ristitsch, Gavrilowitsch; es wurde im Nu aus dem Präsidententisch ein Altar improvisirt; Kerzen wurden angezündet und Fürst und Regentschaft allsogleich beeidet. Die ganze Skuptschina sang dabei laut das Kirchenlied mit, das der Metropolit anstimmte, und das Kreuz machte die Runde.

Milan küßte darauf dem Metropoliten die Hand, rief der ganzen Versammlung ein lautes kräftiges „S bogem!“ („Mit Gott!) zum Abschied zu und schritt als Fürst von Serbien von „Zivios“ umrauscht, aus der Parlamentshütte hinaus.

Belgrad aber nahm die schwarzen Fahnen von seinen Häusergiebeln und steckte die roth-blau-weißen auf.

Die denkwürdigste Parlamentssitzung, der ich je angewohnt, war zu Ende.




Die Bergfahrt eines Monuments.


Der letzten Aufführung des weltbekannten Oberammergauer Passionsspieles im Herbst 1871 hatte auch Baierns kunstsinniger König Ludwig der Zweite beigewohnt und den Entschluß gefaßt, als Anerkennung für die vortrefflichen Leistungen der Spielenden und zur Erinnerung an das Passionsspiel von 1871 dort ein Kreuz aufrichten zu lassen, welches „weithin Kunde geben solle von dem frommen Sinn der den Sitten der Väter treu gebliebenen Oberammergauer“.

Mit der Ausführung der Kreuzigungsgruppe wurde noch im Herbst desselben Jahres der berühmte Münchener Bildhauer [776] und Professor Johann Halbig beauftragt. Als Material für die Gruppe wählte man Kehlheimer Marmor, welcher Stein durch seine Schönheit und Dauerhaftigkeit sich seit Jahrhunderten vorzüglich bewährt hat. Nach dreimal mißglückten Versuchen gelang es endlich, einen brauchbaren Steinkoloß von viertausend Cubikfuß auszubrechen. Nach Beseitigung der überflüssigen Theile verblieb noch eine Masse von neunhundert Cubikfuß, welche zur Anfertigung der Christusfigur bestimmt war; zu den Seitenfiguren des Johannes und der Maria waren Blöcke von je vierhundert und zu den Postamenttheilen von einhundertneunzig bis zweihundert Cubikfuß erforderlich, im Gesammtgewicht von etwa viertausend Centnern.

Vom Bruche bei Kehlheim wurde der Hauptblock auf Balken und Walzen mittelst zwanzig großen Winden zum Donaucanal und von dort zu Schiff nach Regensburg gebracht, um von da mittelst der Eisenbahn auf eigens hierzu gebauten Wagen München zu erreichen. Es waren hierzu drei Tage erforderlich. Eine Maffei’sche Straßenlocomotive übernahm den Transport des Steines bis an das Atelier des Künstlers.

Zur Ausführung der in byzantinischem Stil gehaltenen Kolossalgruppen waren vier Jahre erforderlich. Halbig wählte zur Darstellung den Moment, wo Christus die Worte spricht:

„Weib, siehe Deinen Sohn!
Sohn, siehe Deine Mutter!“

Diese Worte sind unter den Füßen des Heilandes am Untertheil des Kreuzes eingehauen. Am Sockel der Maria steht:

„Den kunstsinnigen und den Sitten der Väter treuen Oberammergauern.“

Unter dem Johannes:

„Von König Ludwig II. zur Erinnerung an die Passionsspiele.“

Am Haupttheile rückwärts in der Mitte:

„Errichtet im Jahre 1875.“

Der Transport der Kreuzigungsgruppe über den Ettaler Berg. Nach der Natur aufgenommen von Sachs und Vordermeyer in Partenkirchen.

[777] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.


Den Transport der Christusfigur sammt Kreuz überahm in liberalster Weise Herr von Maffei, Besitzer einer der großartigsten Maschinenfabriken in München, mittelst der von ihm eigens für die Fortschaffung kolossaler Lasten hergestellten Straßenlocomotive. Mit der Leitung des Ganzen war der Ingenieur der Fabrik, Karl Halm, beauftragt, dem wir die nachfolgenden genauen Mittheilungen darüber verdanken. Für diesen Transport mußte eine Kiste erbaut werden, welche die größte Sicherheit gegen den Bruch des Kreuzes bot, eine Breite hatte, welche die Befahrung der gegebenen Straßen möglich machte und endlich die Aufstellung des Kreuzes selbst möglichst erleichterte.

Man entschied sich deshalb, das Kreuz so zu legen, daß der Kreuzbalken horizontal und die Arme vertical standen, sodaß Sockel und Kreuzarm als Auflagepunkte dienten. Der Kreuzbalken mit dem Christus war demnach ganz frei, ohne jede Unterstützung. Das Holzgerüst mußte so construirt werden, daß es für sich einen absolut steifen Kasten bildete, denn es lag die Gefahr nahe, daß bei einem leichten Gerüste durch die Unebenheiten der Straße Drehungen vorkommen würden, welche der Stein nicht ausgehalten hätte. Das Gewicht des Gerüstes betrug 90 Centner, das des Kreuzes 210, das des Wagens 130, das Gesammtgewicht also 430 Centner. Die größte Höhe der Kiste über dem Boden betrug 5,486 Meter.

Der Wagen wurde eigens für diesen Zweck ganz aus Eisen gebaut und die Gewichtsvertheilung so gewählt, daß auf Vorder- und Hinterräder gleiche Last kam, und außerdem wurden die stärksten Bremsen und Radschuhe angebracht. – Nach eingehender Untersuchung der verschiedenen Wege von München nach Oberammergau entschied man sich für den Transport [778] über Starnberg, Murnau, Weilheim, Oberau und den Ettaler Berg. Alle anderen Straßen waren nicht brauchbar befunden worden; mußten doch selbst auf dieser Route ungefähr 60 Durchlässe und kleinere Brücken, sowie 4 größere Brücken, darunter eine von 40 Meter Länge, zuvor verstärkt und unterstützt werden. Die ganze Weglänge von München bis Ammergau beträgt 93,4 Kilometer (ungefähr 12½ Meilen). Davon sind nur 46 Kilometer (also etwa 6 Meilen) horizontal. Bis Oberau, am Fuße des Ettaler Berges, kommen Steigungen und Gefälle von 16 – 24 Procent vor. Der Ettaler Berg selbst hat eine Straßenentwickelung von 1267 Meter Länge, bei einer absoluten Höhe von 175,11 Meter. Einer der beschwerlichsten und gefährlichsten Punkte ist der an der sogenannten Mauer, wo die Straße außerdem noch sehr schmal ist. Unsere Illustration giebt den Moment wieder, wo der Wagen eben diese Stelle passirt.

Auch an der Maschine, welche, seit zwölf Jahren im Betrieb, sich für den Transport großer Lasten vorzüglich bewährte, mußten verschiedene Veränderungen vorgenommen werden, Vergrößerung der Kohlen- und Wasserkästen, dann eine Vorrichtung, die das Befahren dieser großen Steigung möglich machte. Diese Einrichtung überrascht durch ihre Einfachheit und Sicherheit. Außerhalb der beiden Triebräder wurden verzahnte Kettenrollen angebracht, über welche dazu passende Ketten gelegt wurden, die in die Verzahnung der Rolle eingreifen. Das eine Ende einer jeden Kette wird an einem Balancier, der an der Wagendeichsel hängt, befestigt; das andere hängt lose über die Rolle. Um nun den Lastwagen eine große Steigung hinaufzufördern, wird die Locomotive von dem Wagen abgehängt, fährt circa 30 Meter die Steigung hinauf, hält und wird durch eine am Ende derselben angebrachte Windevorrichtung soweit in die Höhe geschraubt, bis die Triebräder vom Boden frei sind. Nun wird die Maschine in Umdrehung gesetzt, die Verzahnung der Rollen greift in die aufgelegten Kettenglieder ein und zieht den Lastwagen langsam und sicher nach. Das andere Ende jeder Kette wickelt sich ab und wird auf jeder Seite der Maschine auf den Boden gelegt. Ist die Kette zu Ende, mithin die Last um 30 Meter vorgerückt, so wird die Maschine durch die Windevorrichtung wieder zurückgeschraubt; die Räder sitzen auf dem Boden auf; die Kette wird abgenommen; die Maschine fährt wieder 30 Meter vor, und die Arbeit beginnt auf’s Neue. Das Ganze ist also ein locomobiler Dampfaufzug.

Die Maffei’sche Straßenlocomotive ist ähnlich einer Bahnlocomotive. Die Kolbenbewegung wird auf eine Kurbelachse übertragen, an deren Ende zwei starke metallene Zahnräder festgekeilt sind. Diese Räder greifen in die Triebräder mit einer inneren Verzahnung ein. Das Gewicht der Locomotive beträgt 350 Centner. Außerdem wurde ein Wagen mit Holz und Winden und ein zweiter mit Kohlen und Wasser beigegeben. Das Arbeitspersonal bestand aus acht sehr verlässigen und ruhigen Arbeitern sowie zwei Fuhrleuten. Bei strömendem Regen fuhr der Transport Donnerstag, den 5. August, früh sechs Uhr von München ab und langte, durch Naturereignisse und andere unvorhergesehene Zufälle öfters aufgehalten, am 10. August in Oberau am Fuße des Ettaler Berges an. Auf guter Straße wurden, wenn auch die Steigungen beträchtlich waren, wie z. B. zwischen Weilheim, Murnau und Oberau, per Stunde fünf Kilometer zurückgelegt. Anders war es auf den durchweichten sumpfigen Straßen zwischen Starnberg und Weilheim; hier mußte stellenweise Zoll für Zoll vorgeschritten werden, eine ungemein ermüdende und gefährliche Arbeit. Ein interessanter Anblick war die Fahrt über den einen Kilometer langen Hirschberg (vor Wolzhofen) abwärts (Gefäll 16 Procent): hoch oben unser Transport, unten im Thale der vorbeisausende Eisenbahnzug. Von Weilheim nach Murnau ging es vortrefflich trotz der bedeutenden Steigungen.

Die Fahrt durch Murnau gehörte zu den aufregendsten und gefährlichsten des ganzen Transportes. Bekanntlich geht die Straße durch Murnau stark bergab und ist sehr schlecht gepflastert; außerhalb des Ortes ist der sehr steile Kapfelberg mit siebenzehn Procent Gefäll und sehr enger Curve. In dieser Curve stellte sich der festgebremste Wagen schräg gegen die Straßenachse und konnte nur mit Aufbietung aller Kräfte zum Feststehen gebracht werden; es gelang, sonst wäre ein Umkippen unvermeidlich gewesen. Die vierzig Meter lange Ramsachbrücke wurde nach eintägigem Aufenthalt (es waren neue und bessere Verstärkungen nöthig) glücklich überschritten. Das berüchtigte Moos bei Klein-Aschau wurde im Fluge durcheilt; der ganze Straßenkörper schwankte auf und nieder. Mittwoch den 11. begann die Arbeit am Ettaler Berge, und sie war eine der mühevollsten der ganzen Fahrt. Die linke Seite der Straße besteht aus sehr lockerem Material, und deshalb mußten die linksseitigen Räder des Wagens fast immer auf Holzdielen laufen. Die bereits oben erwähnte sogenannte Mauer wurde glücklich passirt, und Freitag Mittags war man noch zweihundertfünfzig Meter vom Ende der Straße entfernt, allerdings auch auf der höchsten Steigung.

Hier begann es in Strömen zu regnen. Wer auf einer Bergstraße noch keinen Regen mitgemacht hat, kann sich keine Vorstellung von den Verwüstungen desselben am Straßenkörper machen; derselbe glich dem Rinnsal eines Baches.

Nun mußten andere Mittel helfen, da die Locomotive diesen elementaren Hindernissen nicht gewachsen war und die Steigung nicht überwinden konnte. Bei trockener Straße wäre es ohne Anstand gegangen. Es wurden achtzig Mann Oberammergauer Feuerwehr aufgeboten mit Seilen und Flaschenzügen, und am nächsten Morgen entwickelte sich ein äußerst lebendiges Treiben; Alles war von dem einen Gedanken beseelt: „Heute noch muß das Kreuz nach Ettal,“ – und es gelang. Ein kräftiger Flaschenzug wurde an Bäumen festgehängt und durch diesen und eigene Kraft die Locomotive wieder vorwärts gebracht, worauf dann der Lastwagen nach der alten Manier leicht nachgezogen wurde. Nach den kolossalsten Anstrengungen erreichten wir Abends sechs Uhr die Spitze des Berges. Sonntag war Rasttag, Montags Einzug in Oberammergau, wo abgeladen wurde.

Den Transport der beiden Seitenfiguren hatte Steinmetzmeister Hauser von München übernommen. Bekanntlich wurde derselbe nebst einem Arbeiter an der steilsten Stelle des Berges von dem umstürzenden Wagen, auf welchem sich die Figur des Johannes befand, erschlagen. Unvorsichtigkeit trägt die Schuld an dem beklagenswerthen Vorfalle. Nachdem die Locomotive auch diese Last an ihren Bestimmungsort gebracht, dampfte sie wieder nach München zurück, wo sie am 26. August anlangte. – Soweit reichen die Mittheilungen des Ingenieurs Karl Halm, über dessen umsichtige und gewissenhafte Leitung des Transports[WS 5],seine Besonnenheit und sein rasches und sicheres Eingreifen in Momenten der größten Gefahr nur eine Stimme des Lobes herrscht.

Die Aufstellung, Enthüllung und Weihe des Denkmals auf der Höhe des Osterbichels, eines Hügels am Fuß des Sonnenbergs, eine Viertelstunde von Oberammergau, fand am 15. Oktober statt. Dort ragt nun das herrliche Kunstwerk in einer Gesammthöhe von 40 Fuß, prachtvoll in seiner blendenden Helle sich vom dunklen Waldhintergrund abhebend, als ein Schmuck der Gegend empor.

Wie manches Bäuerlein, dem die Dampfkraft nur durch Schilderungen von der Kanzel herab als Erfindung des Teufels und des Fortschrittes bekannt war, mag den Kopf geschüttelt haben, als unter Rauch und Feuerspeien und unheimlichem Stöhnen das fortschrittliche Ungeheuer nun gar unsern Herrgott hinter sich herschleppte! Ein biederer Gebirgsbewohner, dem vor lauter Staunen die Pfeife ausgegangen war, äußerte, in Betrachtung des riesigen Lastwagens mit dem Christus versunken: „Hätt’ i’ aa’ nit g’moant, daß dar Duifel gar a so schwaar woar.“ Das Gelächter der Umstehenden ließ ihn seinen Mißgriff einsehen, und er machte sich schleunigst auf den Heimweg.

Ernst schauten die schneebeglänzten Häupter der Zugspitze und des Wettersteingebirges auf das ungewohnte Schauspiel; die Wipfel der Riesentannen, Buchen und Ahornbäume am Ettalerberge aber, welche sonst nur gewohnt waren, fromme Pilgerzüge und schwerbelastete Fracht- und Holzfuhrwerke unter sich hinziehen zu sehen, flüsterten leise von einer kommenden besseren Zeit, wo das schnaubende Dampfroß auch in die stillen Thäler der alten Grafschaft Werdenfels Verkehr und Wohlstand und – wohl auch etwas mehr Licht bringen werde. Möge diese Zeit nicht mehr allzu fern sein!
Michael Sachs.

[779]
Helene.
Tagebuchblätter aus dem russischen Salonleben.
(Schluß.)


Ein Ausruf, halb Schreck, halb Schmerz verrathend, entfuhr den Lippen meines Gastes; mehr einem Marmorbilde ähnlich als einem lebenden Menschen, stand er vor mir, einem Marmorbilde, aus dem nur die Augen sprühend, anklagend, finster zu mir herüberblickten.

„Hören Sie mich an!“ sprach er gepreßt in einem Tone unterdrückter Heftigkeit, der ihm, wie ich wußte, so gar nicht eigenthümlich war. „Sie müssen mich anhören, Helene. Und erst nachdem Sie Alles wissen, fahren Sie fort in diesem Tone vernichtenden Spottes – wenn Sie dazu im Stande sind!“

Hätte er mich nur nicht so gar anklagend und traurig angesehen jetzt! Ich fühlte, daß meine Kraft mich zu verlassen drohte. Setzen wir uns vor allen Dingen!“ sagte ich und ließ mich in den nächsten Sessel gleiten, da meine zitternden Füße mir entschieden den Dienst versagten.

Hirschfeldt hatte sich abgewendet. Aber schon nach wenigen Augenblicken senkte sein Blick sich warm und leuchtend auf mich nieder. „Verzeihen Sie mir!“ nahm er auf’s Neue das Wort, und mein Herz erbebte unter dem milden Zauber seiner Stimme. „Verzeihen Sie meine ungeduldige Hast! Ich weiß ja, daß Sie mich nicht lieben, nicht lieben können, aber lassen Sie mir nur ein Fünkchen Hoffnung, daß Sie es vielleicht eines Tages noch lernen werden, und vor allen Dingen, glauben Sie an mich! Strafen Sie mich nicht dadurch, daß Sie meine früheren leichtsinnigen Worte heute gegen mich in’s Gericht rufen! Blicken Sie nicht mit unerbittlicher Gedächtnißschärfe zurück auf die Irrthümer meiner Vergangenheit! Ich kenne sie; ich beschönige keinen derselben; ich sage einfach: verzeihen Sie und haben Sie die Geduld, meine Beichte anzuhören!“

Fragend und bittend zugleich ruhte sein Blick auf mir, und langsam erhob ich die Hand, die ich diesmal ohne weiteres Zögern in die seinige legte. Er beugte sich nieder auf meine Hand und streifte sie leicht mit den Lippen.

Ich zuckte unter dieser Berührung zusammen, aber ich machte einen schwachen Versuch zu lächeln und deutete nochmals auf den Sessel an meiner Seite. Hirschfeldt beachtete den Wink ebenso wenig wie vorhin. Immer die Augen fest auf mich gerichtet, begann er wieder:

„Sie wissen, daß ich Wéra liebte, bevor mich das Schicksal mit Ihnen zusammen führte. Ich glaubte sie mindestens mit allen Kräften meiner Seele zu lieben, und urtheilen Sie selber, Helene, ob es möglich ist, einem so lieblichen, hingebenden Geschöpfe, wie es Wéra Adrianoff ist, freien Herzens gegenüber zu stehen, ohne den Zauber ihrer Persönlichkeit auf sich wirken zu lassen! Bei Gott, es ist nie etwas aufrichtiger meines Herzens Meinung und mein Wille gewesen, als jeden Tag bereitwillig Kraft und Leben daran zu setzen, um mir Wéra’s Besitz zu erringen.

Da kamen Sie, Helene, eine ganz Andere, als alle jungen Mädchen, die ich bisher gekannt. Die Anmuth Ihres Wesens, Ihr Geist – o, bitte: unterbrechen Sie mich nicht! Gewähren Sie mir nur diesmal im Leben die Wohlthat, mich bis an’s Ende ruhig anzuhören! Ihr Geist, die ruhige Würde Ihres Benehmens fesselten mich täglich mehr, ohne daß ich mir dessen bewußt war. Sie erschlossen mir einen neuen Ideenkreis. Sie führten höhere Ziele vor mein Auge; ja, Helene, es ist die reine Wahrheit: Sie wandelten mich um zu einem anderen Menschen, der allmählich anfing, ziemlich gering über den Hirschfeldt früherer Tage zu denken. Ich glaubte mit Ihnen allein durch Achtung, Vertrauen und Freundschaft verbunden zu sein und begriff nicht, weshalb ich mitunter damals neben Wéra, die nur im Stande war, sich mit ihrer Liebe zu beschäftigen, Langeweile empfand. Ich gerieth in eine unglückliche, zerfahrene Stimmung, in der ich mich selber nicht mehr verstand. Was ich früher ersehnt und erstrebt, verblaßte zu meinem Schrecken von Tage zu Tage mehr in meiner Phantasie. Meine Gedanken schweiften in andere Bahnen; da kam die letzte, entsetzliche Katastrophe, Wéra’s Krankheit. Mein Interesse für sie erstarkte wieder an der Angst für ihr Leben. Ich nannte mich bereits in Verzweiflung ihren Mörder; ich glaubte für meine Liebe zu zittern und that es im Grunde doch nur für das Leben der Unglücklichen. Erst Constantin war es, der mich an jenem verhängnißvollen Morgen aus allen Zweifeln riß, aber auch in meiner Seele einen Sturm anfachte, an den ich noch heute mit Schaudern zurückdenke. Empört und erbittert, daß Wéra mich aufgeben konnte, fühlte ich dennoch klar und deutlich, daß sie noch ferner an mich zu fesseln, auch wenn ich die Macht dazu besessen, ein Verbrechen sein würde, denn, jetzt wußte ich es, ich liebte sie nicht mehr. Ich hatte unter tausend Qualen den großen Irrthum meines Lebens erkannt und konnte nur noch den einen Wunsch hegen, daß sie Glück und Vergessen finden möge, denn ich war nicht mehr im Stande, ihr Alles für Alles zu bieten: für das Opfer ihrer Existenz ein ungetheiltes Herz. Sie begreifen, daß ich trotzdem meinerseits Wéra niemals aufgegeben hätte, aber sie selber ersparte mir den schweren Kampf zwischen Herz und Ehre, indem sie mich ihren Standesinteressen opferte.“

„Wie ungerecht Sie sind!“ fiel ich ihm hier rasch in’s Wort. „Fräulein Adrianoff opferte nicht Sie ihren Standesinteressen, sondern sich selber ihrer Familie. Es war gekränkte Eigenliebe – es war der unverbesserliche Egoist, der soeben wieder aus Ihnen redete.“

Eine dunkelrothe Blutwelle flog hastig über das sonst so bleiche Antlitz meines Freundes, und doch blitzte es dabei wie ein Freudenstrahl in seinen Augen auf. „Gut!“ sagte er, „schelten Sie mich! Halten Sie mir unerbittlich meine Sünden vor! Darin erkenne ich einen Ton Ihres früheren Wesens wieder, anstatt der abscheulichen, höflichen Kälte, mit der Sie mich vorhin behandelten. Ich danke Ihnen dafür, und wie immer, ist das Recht auch diesmal auf Ihrer Seite. Ich lasse den Beweggründen, welche Fräulein Adrianoff leiteten, in meinem Herzen volle Gerechtigkeit widerfahren, aber verlangen Sie nicht, daß ich gerade heute noch darüber reden soll! Die Minuten sind zu kostbar für mich. Erst als ich damals Woronesch verlassen hatte, als ich das Geschehene aus der Ferne mit ruhigem Blute zu überdenken vermochte, wurde es in mir wieder still. Meine Seele fühlte sich urplötzlich wie von einem Bann erlöst. Es kam wie eine Befreiung, wie eine unendliche Erleichterung über mich, und ich wußte wieder, was ich wollte, was ich erstrebte – ganz klar wußte ich es; Muth, Zuversicht und am Ende die Hoffnung erwachten wieder in mir, aber Ihnen das Alles zu schreiben, Helene, wäre mir unmöglich gewesen. Auge in Auge mußte ich Ihnen eines Tages sagen, was in mir vorging, wenn ich auf Verständniß Ihrerseits hoffen wollte. Erst meinen Lebensplan feststellen, und dann mit Ihnen reden, das war meine Absicht und jetzt, da ich, kaum nach Moskau zurückgekehrt, Sie schon hier finde, segne ich diesen Zufall. Helene, da sehen Sie mich nun vor sich ganz, wie ich bin. Ihnen gegenüber wenigstens blieb keine Falte meines Innern verborgen. Ist es denn nicht möglich, daß Sie ein wenig Theilnahme für mich hegen? Sie haben mir einst gesagt, von dem Manne, dem Sie Ihre Liebe zuwenden könnten, verlangen Sie ein ganzes ungetheiltes Herz. Nun wohl, jeder Schlag des meinigen gehört Ihnen ganz, unwiderruflich und für immer. Was aus mir werden soll, wenn Sie es mit all seiner warmen Liebe von sich stoßen, das weiß ich nicht und schaudere, es zu denken.“

Ich hatte meinen Kopf in die Hand gestützt, ohne Hirschfeldt anzublicken, aber ich hörte auf seine Worte, wie auf die Töne einer fernen, lieblichen Musik, denen zu lauschen ich niemals ermüdet wäre. War denn nicht dies Alles ein himmlisch schöner Traum, der nach wenigen Minuten schon wieder in Nichts zerrinnen mußte?

Mein ungestümer Bewerber sorgte freilich dafür, daß ich an der Wirklichkeit dessen, was ich erlebte, nicht zweifeln konnte. „Ein Wort nur der Ermuthigung verlange ich heute von Ihnen,“ fuhr er fort, „das Versprechen, daß Sie mich nicht ganz von sich weisen, daß Sie es wenigstens versuchen wollen, mich kennen zu lernen, wie ich jetzt, wie ich durch Sie geworden bin.“

[780] „Ich verlasse dieses Land sehr bald,“ sagte ich leise. „Der Brief hier nimmt die Nachricht mit nach Köln, daß ich in wenigen Wochen dort bei meinem Bruder sein werde.“

Hirschfeldt stieß als Erwiderung einen Ausruf nicht etwa der Enttäuschung, sondern fast freudiger Ueberraschung aus. „Jetzt verzweifle ich noch nicht an des Himmels Gunst gegen mich,“ rief er blitzenden Auges. „Sie wissen doch, daß es stets mein Wunsch war, zur vollständigen Beendigung meiner Studien ein oder zwei Jahre nach Paris zu gehen. Heute gerade wollte ich Ihnen mittheilen, daß ich definitiv diesen Entschluß gefaßt habe, und –“ einigermaßen zögernd fügte er hinzu: „und nun, indem ich ihn ausführe, kann ich Sie in Köln wiedersehen.“

Ich weiß nicht – sprach mein beredtes Schweigen? verriethen sich meine Blicke – – –?

„Helene!!“ So weich, so zitternd ausgesprochen hatte ich noch nie meinen Namen gehört, und plötzlich, mit der Schnelle des Gedankens, lag er zu meinen Füßen. „Nur um ein gutes, ein ermuthigendes Wort flehe ich Sie an,“ bat er.

„Stehen Sie auf!“ sagte ich zum Tode erschrocken, denn mit entsetzlicher Deutlichkeit hatte ich trotz aller Aufregung gehört, wie draußen an der Rampe ein Wagen vorfuhr, und ein flüchtiger Blick auf die Uhr belehrte mich, daß Bambergers in jeder Minute heimkehren mußten. „Stehen Sie auf! Ich will es durchaus.“

„Ist das Ihre Antwort auf all mein Flehen? Ihre letzte, Ihre einzige Antwort?“

„Holen – ja, holen Sie sich eine Andere in Köln!“ stieß ich rasch hervor. Mit einem hellen Jubelrufe sprang Hirschfeldt empor, und es war die höchste Zeit, denn unmittelbar darauf öffnete sich die Flügelthür, und Frau Bamberger trat freundlich grüßend herein.

Sie blickte auf mich, die ich trotz der verzweifeltsten Anstrengungen mich von meiner Verwirrung noch nicht wieder erholen konnte, und dann auf den unerwarteten Gast ihres Hauses, der ihr mit einem so glückstrahlenden Gesichte entgegentrat, daß sie über diese auffallende Weise, sich bei ihr einzuführen, vielleicht noch erstaunter war, auch ließ sie ihre Blicke mit einem ganz seltsamen Ausdrucke von ihm wieder zu mir herübergleiten, bis ich mich endlich insoweit von dem gehabten Schreck erholt hatte, daß ich ihr ‚meinen Freund, den Capellmeister Hirschfeldt‘ vorstellen konnte, ‚den ich früher in Berlin und später in Woronesch gekannt, und mit dem ich häufig musicirt habe.‘

Hirschfeldt’s Sicherheit im geselligen Verkehr kam ihm in der augenblicklich etwas zweifelhaften Situation wieder so gut zu statten, daß er Frau Bamberger in kürzester Frist ersichtlich dadurch gewann. Aus der anfangs nicht wenig peinlichen Scene entwickelte sich allmählich eine angenehm belebte Unterhaltung, die schließlich damit endete, daß die Dame des Hauses unseren Gast zum Diner einlud, welche Einladung er mit fast kindlicher Freudigkeit annahm.

Welch ein Tag war dies! Ein Festtag in jeder Beziehung. Hätte ich mir wohl jemals träumen lassen, daß meinem Leben ein solcher beschieden sei, der, wirklich ein Ostertag, in meinem noch jüngst so resignirten Herzen die neuen, frischen Blüthen der Hoffnung, der Liebe und des Glückes wieder erstehen ließ?

Alexis war so hinreißend liebenswürdig diesen ganzen, glücklichen Tag hindurch, beinahe ausgelassen; er spielte so entzückend, daß er die ganze Familie Bamberger förmlich bezauberte.

Wie werde ich kämpfen, wie mich zusammennehmen müssen, wenn es ihm nicht doch noch gelingen soll, in der nächsten Zeit, während ich noch hier bin und während welcher er uns oft besuchen wird, einen gründlichen Blick in mein Herz zu thun! Das soll er entschieden nicht. Ich will ihm nun einmal den Sieg so leicht nicht machen.

„Bilden Sie sich nicht ein,“ sagte ich ihm gestern, „daß mich jemals etwas bewegen wird, in dieses barbarische Land zurückzukehren, wenn ich erst deutsche Luft wieder athme!“

Er schaute mich mit einem ganz zuversichtlichen, glücklich lachenden Ausdruck in seinen schwarzen Augen an und erwiderte einfach: „Wo Sie sind, Helene, wo der Himmel blau ist und wo Musik gemacht wird, da ist mein Vaterland.“




Das Tagebuch Helenen’s bricht hier plötzlich ab, doch läßt sich vielleicht Beziehung zu demselben in einer gegen das Ende der sechsziger Jahre in einer vielgelesenen deutschen Zeitschrift veröffentlichten Feuilleton-Correspondenz finden, deren Passus über Musik folgendermaßen lautet:

„Was die Pflege der schönen Künste bei uns (es ist von einer bedeutenderen mittelrheinischen Stadt die Rede) betrifft, so hat wenigstens die Musik einen glänzenden Aufschwung genommen, seit vor einigen Jahren der Concertmeister H. für die Leitung der philharmonischen Concerte und des Theater-Orchesters gewonnen wurde. H. ist ein noch junger Mann, wie man sagt ein Russe, welcher Behauptung sein etwas fremdländisches Aeußere keineswegs widerspricht. Wie dem aber auch sei, alle wahren Musikfreunde werden nur mit Befriedigung auf seine Berufung hierher zurückblicken, da die gründlichen Studien und die geniale Auffassung, verbunden mit dem regsten Eifer des jungen Meisters, seinen Einfluß nach jeder Seite hin, eben sowohl was die Auswahl der aufzuführenden Musikstücke, wie deren Ausführung anbetrifft, bisher zu einem segenbringenden und die Kunst fördernden gemacht haben. Ohne Zweifel wird die Zukunft des begabten und liebenswürdigen Künstlers, der selbst bereits die musikalische Welt mit mehreren höchst ansprechenden, ungewöhnliches Talent verrathenden Compositionen beschenkt hat, noch eine bedeutende sein. Wir mögen uns freuen, ihn jetzt noch den Unseren zu nennen, zumal die Anwesenheit des Concertmeisters H. in unserer Stadt, auch was die geselligen Beziehungen derselben anbetrifft, keineswegs bedeutungslos ist, da seine Gattin, selbst eine begabte Pianistin und zugleich eine feingebildete deutsche Dame, es versteht, mit Anmuth und Tact in seinem Hause die Honneurs zu machen und alle Diejenigen in ihrer glücklichen Häuslichkeit um sich zu versammeln, denen höhere Bildung und geistige Interessen Lebensbedürfniß sind.“

Um dieselbe Zeit etwa, in der wir Gelegenheit hatten, diese Notiz zu lesen, durchlief alle europäischen Zeitungen die erschütternde Nachricht, daß in Nizza ein junger Dalmatier, der hoffnungsvolle Sohn einer vornehmen Familie, von einem Russen im Duell erschossen worden sei. Ursache des unglücklichen Zweikampfes sollte eine bildschöne russische Dame gewesen sein, eine junge Madame L., die, wie unschwer zwischen den Zeilen zu lesen war, durch Liebesintriguen mancherlei Art ihren Kummer über eine unbefriedigende Ehe zu betäuben suchte. Arme Wéra!

E. Tegtmeyer.




Blätter und Blüthen.

Noch einmal der Springbrunnen. Den vielen Einsendern von Anfragen in Betreff des in Nr. 40 unseres Blattes mitgetheilten Zimmerspringbrunnen-Projectes diene vorläufig zur Antwort, daß der Erfinder dieser Fontaine sich wegen baldigster Herstellung derselben in größerer Anzahl und zur Erzielung eines möglichst billigen Preises mit einem Mechaniker in Verbindung gesetzt hat. Es ist die Absicht, den Apparat in drei verschiedenen Größen und jede derselben in mindestens drei von einander abweichenden Formen und Ausstattungen (in einer einfachen, einer eleganteren und einer sehr eleganten) herzustellen. Es sind bereits die zum Engros-Bezuge der einzelnen Theile desselben nöthigen Einleitungen getroffen worden, so daß die Zusammensetzung und Regulirung des Springbrunnens voraussichtlich bald wird geschehen können. Preis- und Bezugsmittheilungen werden demnächst durch ein besonderes Circular denjenigen Fragestellern, welche ihren Namen genannt haben, zugehen.




Bitte. Der Unterzeichnete, welcher mit der Abfassung einer Schrift: „Ueber das Geistesleben der Thiere“ beschäftigt ist, erlaubt sich hiermit an alle Herren Thierbesitzer, Thierzüchter, Thierwärter, Thierärzte, Jäger und Thierfreunde die ergebenste Bitte zu richten, sie möchten ihm zum Behufe der Benutzung in jener Schrift gefällige Mittheilung von gut verbürgten und (wo möglich) selbstbeobachteten Beispielen oder Thatsachen machen, welche für die Ueberlegungskraft und das Denkvermögen, sowie für das Gemüthsleben der Thiere sprechen – und zwar unter gefälliger Angabe des Namens und Wohnorts der Herren Beobachter. Einer im Interesse der Sache hoffentlich recht vielfachen Erfüllung seiner Bitte sieht – im Voraus dankend und um Entschuldigung dafür bittend, daß er nicht jede einzelne Zuschrift zu beantworten im Stande sein wird – entgegen
Dr. Ludwig Büchner in Darmstadt.




Kleiner Briefkasten.

Einsender von „Bruckberg“. Geben Sie uns gefälligst Ihre Adresse an!

Jurist und F. W. in Leipzig. Ungeeignet. Verfügen Sie gütigst über das Manuscript!

M. St. in R. Einen Bericht über das Stein-Denkmal finden Sie in dem Beiblatt der Gartenlaube „Deutsche Blätter“ Nr. 45.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. Oberforstmeister von Wedel, ein Jugendgespiele des Herzogs, bekannt durch seinen trockenen Witz und seine tollen Einfälle.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Monsdorf
  2. Vorlage: Verehreren
  3. Vorlage: aufregungungsreichen
  4. Vorlage: nicht bildlich
  5. Vorlage: Tranports