Die Gartenlaube (1879)/Heft 7
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No. 7. | 1879. | |
Illustrirtes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Wöchentlich 1½ bis 2 Bogen. Vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig. – In Heften à 50 Pfennig.
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Acht Tage nach der Abreise Erich’s erhielt Doris den ersten Brief, den ihr der Minister des Auswärtigen zusandte. Daraus entnahm sie die Mittheilung, daß sich der Aufenthalt ihres Mannes wohl verlängern würde. Der Brief war für sie und Liddy voll Herzenssonnenschein, bot aber nicht den geringsten Anhalt, um zu muthmaßen, wo Erich war und was er trieb. Was sie als eine Pflicht hätte ehren müssen, empfand sie als ein Unrecht von seiner Seite. Diesen Gedanken entzog sie der Besuch der Geheimräthin, welche eine Conversation von Allem und Jedem anfing, unruhig und hastig, wie es sonst nicht ihre Art war, von Gegenstand zu Gegenstand springend. Mit ihrer Tochter begann sie, und ging nach einigen Worten über die theure Zeit, über aufgerissene Straßencanäle und die jüngste Hundesperre auf den nächsten Geheimrathsball und die letzte entsetzliche Mordthat über, worauf sie endlich bei dem Namen Lideman anlangte.
„In seinem Namen komme ich eigentlich. Sie wissen, liebe, reizende Frau, selbst am besten, daß Ihr gegenseitiger Verkehr etwas in’s Stocken gerathen ist, und der Präsident hat zu viel Tact – Sie verstehen mich – jetzt, wo Ihr Mann nicht hier ist, bei Ihnen zu erscheinen; man muß vor der Welt ungeheuer vorsichtig sein, und wenn etwas Böses dabei wäre, würde ich mich mit der Angelegenheit gar nicht befassen, aber – kurzum, wir haben nächstens eine Soirée champêtre.“
„Was hat aber die Soirée mit dem Präsidenten zu thun?“ fragte Doris mehr naiv, als von irgend einem Verdachte befangen.
Die Geheimräthin umging die directe Antwort.
„Die Damen kommen alle, die wir geladen, und nur solche, die Sie kennen – es ist eine ziemlich große Gesellschaft; Speisen – alles auf Eis. Und Sie müssen auch kommen.“
„Das wird nicht gehen, meine verehrte Frau Geheimräthin. Mein Mann ist nicht hier – wenn er hörte, daß ich eine gesellschaftliche Verpflichtung übernommen, während er bisher so streng darauf gehalten, daß von unserer Seite alle früheren gesellschaftlichen Verbindungen aufgelöst wurden – ich muß bedauern.
„Nein, Sie dürfen nicht bedauern. Ich gehe einmal nicht von hier weg, ohne die Zusage von Ihnen zu haben. Das habe ich Lideman hoch und heilig versprechen müssen.“
„Was kann er für ein Interesse dabei haben?“ fragte Doris weiter.
„Dasselbe, was alle Welt an Ihnen nimmt, an einer jungen, schönen, lebenslustigen Frau, die auf das Piedestal der Gesellschaft, die in den vollen Strom des Lebens gehört, nicht hierher in diese alte Baracke. Verzeihen Sie mir den etwas drastischen Ausdruck.“
Wie hätte Doris dieser Sprache nicht Gehör schenken sollen! Sie hätte über Nacht müssen eine Andere geworden sein. So würde denn die Geheimräthin die Zusage ihres Erscheinens in der Gesellschaft sofort erhalten haben – da kam die Verführerin mit der Mittheilung heraus, daß die Gesellschaft im Garten des Präsidenten stattfinden sollte.
„Nicht in seinem Stadtgarten,“ schaltete die Geheimräthin ein, „sondern in dem vor dem Thore; er hat ihn uns zur Verfügung gestellt. Wir hatten kein passendes Local, und man will jetzt ja nur im Freien, nur bei Windlichtern soupiren – kurz und gut: Sie kommen!“
Eine innere Stimme, Gefühl der Pflicht, Warnung, Ahnung riethen Doris das Gegentheil. Sie hatte schon die Lippen geöffnet, um die Einladung abzuweisen, als Frau von Wandelt ihr das Wort abschnitt, indem sie ihr mit vielsagendem Lächeln in’s Ohr raunte:
„Vielleicht werden Sie etwas überrascht werden. Präsident Lideman – Else von Wandelt. Bindestrich drunter – fertig!“
War es Ueberraschung, war es verletzte Eitelkeit oder getäuschte Hoffnung – genug, Doris konnte bei dieser Ankündigung eine unangenehme Empfindung nicht unterdrücken. War sie mit Lideman auch durch keine innere Beziehung verbunden, wie sie wenigstens glaubte, so nahm sie doch die Nachricht nicht mit jener freien Unbefangenheit auf, wie es ihr, als Gattin ihres Mannes, nach Pflicht und Gewissen angestanden hätte, und ihre Ablehnung fiel so kurz und fast gereizt aus, daß jede Frau, welche feiner als Frau von Wandelt beobachtete, aufmerksam geworden wäre.
Die Geheimräthin war unglücklich über die Weigerung, das schwur sie im Weggehen mehrmals Doris zu, aber der Entschluß der jungen Frau war sichtlich nicht zu erschüttern.
Kaum war der Besuch fort, so wurde Doris unruhig. Ein Einfall, der ihr plötzlich gekommen, trug die Schuld. Wie wenn der Glaube an die Verlobung nur wieder eine jener Illusionen war, mit denen sich die Geheimräthin durch das ganze Leben getragen hatte, diese Frau, in welcher die Lebhaftigkeit des Empfindens stets dem blos Gewünschten die Gestalt der vollendeten Thatsache lieh? Wie käme der Präsident dazu, so lebhaft ihre Gegenwart zu wünschen, wenn er wirklich sein Herzensglück an der Seite Else’s zu finden hoffte?
Eine Stunde später stand sie vor dem großen Toilettenspiegel [110] ihres Schlafzimmers. Eine Erscheinung schaute ihr daraus entgegen, die ihr selbst fast fremdartig erschien. Die elegante, in den Schultern so volle, um die Taille so graziöse Figur war in eine Atlasrobe eingespannt. Auf dem weichen, glänzenden, chocoladefarbenen Stoffe liefen die hochgestickten Guirlanden aus Apfelblüthen in Windungen hin, in denen sich die Formen ihres Körpers zeichneten. Und die Blüthen zitterten hin und her, als würden sie vom leisen Windhauche des Frühlings berührt – so erregt hob sich die Brust der jungen Frau, als sie ihr Bild von einstmals wieder zum ersten Male erblickte. Alle Lust und aller Reiz der Welt kehrten ihr mit diesem Schauen zurück.
„Des Leibes Schönheit ist der Götter Gabe,“ sagte eine Stimme hinter ihr.
Es war die Regina’s. Unhörbar war diese eingetreten, oder vielmehr Doris war so sehr in ihr eigenes Bild versunken, daß sie das Erscheinen der Freundin nicht wahrgenommen hatte. Alles Blut goß sich ihr über’s Gesicht, als sie sich umdrehte und Regina bewillkommte.
„Dir hätte nichts Günstigeres zu Theil werden können,“ lachte die Freundin, „als die Zurückgezogenheit hier draußen – fern von allem aufregenden Trouble des Gesellschaftstreibens und den damit verbundenen Intriguen, die sich dem Körper wie dem Gemüthe aufprägen. Die andern Frauen Deines Alters sind schon welke Blumen – Du blühst noch in frischer Pracht.“
Doris gestand offen, warum sie die Robe angelegt hatte, die sie von ihrem früheren Glanze noch zurückbehalten.
Regina schwebte das Wort schon auf den Lippen, das die Freundin von dem gefaßten Entschluß abbringen sollte. Da hielt sie inne – ein kurzer Kampf der Gedanken in ihr, und sie sprach die Warnung nicht aus. Doris stand vor ihr in aller Anmuthsfülle, die einem Weibe nur gegeben werden kann, und sie – sie hatte nur ihr Herz, das dem Körper keine äußere Schöne aufzustempeln vermochte, das Herz, unter dessen leidenschaftlichem Wogen sie so unendlich litt. Doris war im Begriffe, gegen das Verbot ihres Mannes zu handeln, an seinem Willen zu sündigen; sie stand vielleicht an einem Abgrunde, den sie, die Freundin, vor ihr sah, und sie riß sie nicht zurück, rief ihr selbst nicht einmal im entscheidenden Moment den Warnungsruf zu. Regina wußte selbst nicht, wie ihr geschah, aber von einer dämonischen Schadenfreude wurde sie erfaßt; sie drängte Doris fast hinab, war ja deren Fehltritt vielleicht ihr Glück!
Sie half Doris am Tage des Festes auch noch in den Wagen, der diese nach dem Landhause des Präsidenten brachte.
Das Landhaus des Präsidenten Lideman lag eine Viertelstunde vor der Stadt. Der Weg dahin führte durch Villen und Gartenanlagen. Dann machte er eine große Biegung von der Hauptstraße ab und mündete in einen Pfad, der etwas thalwärts führte. Plötzlich sah man sich vor einem großen Wasserspiegel. Grüne Waldesufer zogen sich rings um die fast unbewegte stahlblaue Fläche, auf der nur Schwäne und ab und zu das weiße Segel eines Bootes sichtbar wurden. Man hielt vor einem einstöckigen Landhause, dessen Inneres nur einen Raum, allerdings in der Ausdehnung eines großen Saales, hatte. Durch diesen ging man hinab in den Garten, der sich terrassenförmig nach dem Ufer des Sees hin erstreckte. Eine Allee hoher Rüstern, dazwischen seltene dunkle Fichtenarten – eine Pergola mit Schlinggewächsen, in einen Pavillon mündend, der auf einer Landzunge vom See umspült da stand; über das buntbemalte Balkenwerk hing Clematis in üppiger Wucherung herab, sodaß der Pavillon das Ansehen eines riesigen Busches bekam.
Der weibliche Instinct der jungen Frau hatte richtig geahnt. Von des Präsidenten Seite war durch nichts ein Anhalt geboten worden, welcher die Geheimräthin berechtigt hätte, eine Verlobung in so nahe und bestimmte Aussicht zu stellen, wie sie es Doris gegenüber gethan. Lideman war über alle Vorgänge im Rechting’schen Hause sehr gut unterrichtet – auch über die Abreise des Assessors. Wenige Tage darnach hatte er der Geheimräthin die Idee einer Abendgesellschaft in seinem „Berggarten“ unterschoben, und diese hatte sofort zugegriffen. Was konnte dieser Vorschlag nach ihrer Meinung Anderes bedeuten, als eine Verlobung? Naturen wie die Geheimräthin sind von ihren Gedanken derart befangen, daß sie weder links noch rechts schauen. Sonst hätte ihr doch die Frage aufstoßen müssen, warum Lideman so lebhaft und bestimmt auf der Einladung der Frau von Rechting bestand?
Else sah an diesem Abende auffallend niedergeschlagen aus.
„Ich muß Dir sagen, liebes Kind,“ bemerkte in einem Moment des Zusammentreffens die Mutter, in ihrem Anzuge die Schleifen und Garnituren mit geschäftiger Hand zurechtrichtend, „Du bist heute wieder einmal so unliebenswürdig, wie nur möglich.“
„Aber Mama, ich habe mich doch bemüht, nicht nur höflich, sondern auch artig zu sein.“
„Das nennt sie artig, wenn sie vor dem Bankpräsidenten immer wie Minchen vom Lande die Augen niederschlägt! Warum schlägst Du die Augen nicht offen zu ihm auf? Die sind doch das Schönste an Dir. Warum hast Du heute überhaupt keinen Glanz, nicht einmal einen feuchten Schmelz in Deinen Blicken?“
„Aber Mama, ich kann doch nicht, wenn die Natur es mir versagt hat.“
„Alles muß ein Mädchen können. Wofür bist Du jung? Freilich, Du bist ja leider in Allem Deinem Vater nachgeschlagen. Aber einem Manne, wie dem Präsidenten, giebt man zu jeder Tasse Thee das süßeste Lächeln; dem macht man ein Bischen deutliche Avancen –
„Verlange Alles von mir, Mama, nur das nicht! Ich kann nicht lächeln, wenn Thränen mir das Herz schwer machen.“
„Thränen! Wieso, mein Kind? Was brauchst Du zu weinen? Halten nicht ich und Dein Vater Dich wie ein liebes Kind? Was ist’s? So sprich doch!“
„Nichts, nichts! Dringe nicht in mich, liebe Mama!“ Und Else warf sich in die Arme ihrer Mutter.
„Ich meine es doch nur gut mit Dir, Elschen. Bedenke doch die Villa und die Equipage mit den Apfelschimmeln! Jetzt kannst Du die Rolle in der Gesellschaft übernehmen, die früher Frau von Rechting in unserem Kreise gespielt hat. Bedenke doch – er Präsident – Du Präsidentin und immer ein volles Portemonnaie in der Tasche! Und bis jetzt, wenn Du eine neue Balltoilette brauchtest, mußte ich mir das Herz absorgen, wie sie zu beschaffen wäre, ohne daß man sich in Schulden steckte –“
Um die Familienscene vollständig zu machen, kam in diesem Augenblicke auch Elschen’s Vater dazu, ein kleiner, magerer Herr mit dem Gesichte einer Spitzmaus. Unter der goldenen Brille schauten ein paar graue Aeuglein aus dem mageren, fast fahlen Gesichte; sie erhielten jetzt ihren Widerschein aus dem vollen Glase Ananasbowle, das er in der Hand hielt.
„Mutter, ich muß Dir sagen, ich amüsire mich außerordentlich. Na, auf Dein Wohl, Frau Geheimräthin!“
Er wollte trinken, sie aber zog ihm das Glas von den Lippen weg.
„Trinke nur nicht zu viel, Alterchen! Du weißt – Deine Zerstreutheit, Deine Gedächtnisschwäche – Wein ist Gift für Dich.“
„Aber das Gift schmeckt vorzüglich – und wenn ich denn vergiftet werden soll, dann am liebsten so. Auf Dein Wohl, Constanze!“
„Menagire Dich, Wandelt!“ sagte die Geheimräthin. „Es könnte heute der Fall eintreten, daß Du noch eine Rede halten müßtest. Und dazu gehört vollkommene geistige Concentration. Nimm Dich zusammen! Es wird wohl heute noch etwas werden mit dem Bankpräsidenten.“
Da hob der Geheimrath seine Brille hoch und schaute seine theure Hälfte überrascht an.
„Ich habe Dir doch schon eine Andeutung gemacht. Wofür giebt der Präsident die Gesellschaft? Fünfzig Personen – Thee – zwei Bowlen – Souper mit Sect – Musik drüben im Bosquet – Heimfahrt auf dem See und zum Schlusse zwanzig Raketen? Wozu? Es betrifft Else.“
Constanzens Gatte schob bei dieser Andeutung die Brille noch höher.
„Ja, ja – der Bankpräsident, Alterchen! Wofür hätte er heute diese Gesellschaft auch gegeben, als um –“
„Er – er wollte wirklich – der Postdirector?“
„So nimm Dich doch zusammen, Präsident, Bankpräsident ist er.“
„Das wäre ja reizend, Constanze – einen Schwiegersohn mit solchen Cigarren!“
[111] Während des ganzen Abends jedoch machte Lideman keine Miene, die Hoffnungen der Geheimräthin zu erfüllen. Er schien mit etwas ganz anderem beschäftigt. Seine Blicke gingen unruhig umher, suchend nach dem Eingange. Frau Constanze beschloß nach einigem Ueberlegen, der Sache mit einem kühnen Schlage ein Ende zu machen. Bisher war ihr der Präsident immer entschlüpft; kaum glaubte sie ihn für einen Moment erhascht zu haben, so war er auch schon wieder mit einer aalglatten Bewegung aus ihren Händen. Eben nahte er langsam dem Eingange in merklicher hochgespannter Erwartung – von der Straße her war das Geräusch eines Wagens vernommen worden – da trat plötzlich Frau von Wandelt hinter einem Baume hervor und zog ihn seitwärts dahin, wo eine grün behangene Laube ihr Zwiegespräch vor allen Lauschern beschützte.
„Ein köstliches, superbes Fest, das wir Ihnen zu verdanken haben,“ leitete sie das Gespräch ein. „Alle Welt amüsirt sich excellent, aber verzeihen Sie, Herr Präsident – alle Welt sucht nach der Bedeutung desselben.“
„Als ob ein Fest, bei dem man fröhlich ist, noch eine andere Bedeutung zu haben brauchte!“ Damit suchte er das drohende, auf ihn gerichtete Geschoß der Rede zu pariren.
„Jawohl – eine sehr geistreiche Bemerkung, wie man sie von einem Manne von Ihrer Bedeutung nicht anders erwarten konnte, aber – mein Mann raunte mir eben ein sehr ernstes Wort zu, das mich veranlaßt, über unser beiderseitiges Verhältniß zu sprechen.“
Die dunklen Augen des Präsidenten blickten immer erwartungsvoller nach dem Eingange des Gartens hin.
„Sie waren, Herr Präsident, bisher immer sehr zart, von einer musterhaften Zurückhaltung –“
„Entschuldigen Sie, gnädige Frau; neue Gäste –“
Er wollte gehen; sie hielt ihn zurück.
„Nein, die kann mein Mann empfangen. Hier weht unsere Flagge, und diese ist’s, unter der die Gäste segeln; haben Sie keine Sorge! Aber jede Zurückhaltung und Zartheit, Herr Präsident, muß einmal eine Grenze haben. Wenn Sie nur Vertrauen, wenn Sie nur Muth haben wollten!“
Die Sprecherin fühlte sich von einem jähen Blicke Lideman’s getroffen. Sie legte ihn wie ein plötzlich aufgegangenes Verständniß aus.
„Nun, wenn ich es Ihnen denn sagen muß. Es ist so – Sie werden geliebt.“
Im Nu hatte der Präsident ihre Hand erfaßt und drückte sie so fest, daß Frau Constanze sie eilig aus der Umklammerung zog. Ein überraschter Blick auf die Geheimräthin, dann ein Zurückweichen der Augen und dann wieder ein stilles Fragen dieser. Der Präsident spielte in einem Anfluge von Humor diese kleine Scene so meisterhaft, daß er nur der einzigen Worte mächtig schien:
„Sie glauben wirklich, gnädige Frau?“
Frau Constanze lächelte verschämt und deutete dann schnell mit dem Finger auf das Landhaus, von dem Else eben am Arme der Frau von Rechting daherkam. Ein Aufleuchten seiner Blicke – die Sonne seines Festes ging auf. So schön hatte er sie noch nicht gesehen. Mit einem leisen Senken ihrer langen seidenen Wimpern erwiderte Doris seinen Gruß nicht ganz unbefangen. Aber bald war diese Empfindung verflogen. Um ihre Lippen schwebte jenes feine Lächeln, welches alle Herzen einnahm, und scherzend äußerte sie zur Geheimräthin, daß sie fast nicht gewagt habe, einzutreten, daß ihr Fuß, dessen in braunen Atlas gehüllte Spitze unter dem Kleide hervorsah, fast zittere vor Scheu, aufzutreten. Jedenfalls war diese Scheu bald vorüber. Doris hatte sich von der Gesellschaft vergessen geglaubt, und diese drängte sich um die schöne, junge, elegante Frau, wie um eine neue Erscheinung, die plötzlich leuchtend aufgetaucht war. Von allen Seiten wurden ihr Glückwünsche zu ihrem Wiedererscheinen dargebracht, und Alt und Jung huldigte ihr, sodaß sie bald wieder wie von den Wogen der Triumphe früherer Tage sich getragen fühlte. Der abendliche Zauber, der auf der Landschaft lag, die Musik, die Menschen, die Freundlichkeiten und Huldigungen, mit denen man sie überschüttete, übten auf Doris eine Art narkotischer Wirkung.
Freilich trat ihr bald genug etwas nahe, was in diesen Rausch einige Ernüchterung brachte.
„Ich fürchte mich vor diesem Manne,“ hatte Doris einst zu ihrem Gatten gesagt, als Lideman’s Versuch, den Assessor in seine Unternehmungen zu ziehen, fehlgeschlagen war. Und an dieses Wort mußte sie unwillkürlich denken, indem sie merkte, wie es ihr schwieriger und schwieriger wurde, ein Alleinsein mit dem Präsidenten zu vermeiden. Dieser suchte offenbar auf jede Weise eine Gelegenheit zu erhaschen, um Doris einen Moment allein zu sprechen, und um so rücksichtsloser, je erfolgreicher sie sich ihm mit all der feinen Geschicklichkeit entwand, über die ein Weib in solchem Falle verfügt. Es waren viele Menschen da, und sie standen in Paaren und in Gruppen zusammen und bewegten vielfach ihre Zungen und Lippen. Was aber das interessanteste in diesem weiten Gesellschaftskreise war, das hörte, das sah, das ahnte Niemand – die Fragen und Bitten der Leidenschaft, die aus Lideman’s Augen redeten, und der stille Protest dagegen in dem Verhalten der jungen Frau. Das war ein Duo von Verlangen und Abweisen, von immer neu entflammtem Hoffen und erhöhtem Bangen, das aber von Niemand verstanden wurde, außer von den Beiden, die es zur Ausführung brachten. Dann aber wurde Doris plötzlich von einem Gefühl der Unbehaglichkeit übermannt. Es kam ihr der Gedanke an ihren Mann, an das Unerlaubte ihres Hierseins. Diese Stimmung drängte sie von den übrigen Gästen ab, und schon überlegte sie bei sich, ob es nicht besser wäre, still davon zu gehen – da horte sie Lideman’s Stimme hinter dem dichten Jasminbosquet, vor dem sie stand. Rasch trat sie bei Seite. Sie mußte sich in das Grüne hineindrängen, um nicht von ihm bemerkt zu werden. Nun kam er zum Vorschein, nicht allein, sondern in Gesellschaft eines jungen Mannes, den sie nicht kannte, der aber derselbe war, dessen Bekanntschaft ihr Mann bei jenem Zusammentreffen mit Rüchel gemacht hatte.
„Da ich Sie gerade treffe, Herr Lichtner, nur schnell einige Worte! Ich hatte schon längst gewünscht, Ihre Geschicklichkeit für mich in Anspruch zu nehmen –
„O bitte sehr, Herr Präsident!“
„Ich habe mehrere Unternehmungen in petto, ein großes Walzwerk, dann will ich ein paar neue Schachte und Stollen graben lassen. Dazu sollen Sie mir die nöthige Hülfe leisten. Sie sind mir als der rechte Mann empfohlen worden; vielleicht würde sich daraus eine dauernde Stellung ergeben. Aber es ist wohl nicht Ihre Absicht, ein festes Engagement anzunehmen?“
„Woraus wollen Sie das schließen, Herr Präsident?“
„Aus Ihrem Schweigen. Sie antworteten mir nicht.“
„Muß denn immer geredet werden, wenn sich einem eine freudige Aussicht eröffnet?“ sagte der junge Mann fast grob.
„Nun, dann freut es mich, mein lieber Herr Lichtner. Wollen wohl heirathen?“
Der Angeredete gab ein paar Laute von sich, die ebenso „Unsinn!“ wie „Ja, ja, und noch einmal ja!“ bedeuten konnten.
„Das war nicht anders zu erwarten, mein lieber Herr Lichtner, fuhr Lideman lächelnd fort. „Ein junger Mann wie Sie – mit lockigem Haar – erste Violine – Spohrspieler – elegische, träumerische Stimmung – lyrische Natur und manchmal sogar ein bischen derb –“
„Stimmt!“ sagte lachend der junge Mann. Und dann seufzte er.
„Ich nehme an, daß sie mehr als eine bloße Neigung für die Saison, eine Ausfüllung für eine Tanzkarte ist – Ihre Liebe.“
„Was denken Sie, Herr Präsident!“
„Hm – tiefe Neigung mit Hindernissen – natürlich, sonst würde sie ja doch nicht so tiefe Wurzeln geschlagen haben. – Aber zurück zu unserer Angelegenheit! Vorerst würde ich Ihnen kleinere Arbeiten auftragen – Sie sollen mir z. B. die Tracirung an Erdwerken, die ich zum Zwecke von großen Wasserbauten aufführen lasse, vom Originale copiren – und darum würde ich um Ihren Besuch bitten, wenn Sie einverstanden sind. Kommen Sie, wann Sie wollen! Für Sie bin ich jederzeit zu sprechen.“
Lichtner nickte nachlässig und war im Begriff, sich zu entfernen, da hielt Lideman ihn am Arme zurück und sagte:
„Sie merken wohl, daß ich eine Ahnung davon habe, in welcher Richtung Ihre stillen Herzenswünsche gehen; und da ich, wie Sie gleichfalls merken werden, Ihnen wohl will, so dürfen Sie schon einem Versprechen, daß ich für Befriedigung der schwiegerelterlichen Ansprüche an Sie sorgen werde, Glauben schenken. Was freilich Ihre reizende Auserwählte betrifft – so [112] müssen Sie selbst zusehen, wie Sie die Festung erobern. Aber wie ich Sie kenne, wird Ihnen das nicht schwer werden. Jeder Mann – beherzigen Sie das! ein Erfahrener spricht zu Ihnen – jeder Mann bekommt das Mädchen oder die Frau, welche er haben will, wenn er nur festen Willen hat. Der Wille eines Mannes ist etwas zauberhaft Bannendes. Hat ein Weib, wie sie auch in ihrem Herzen widerstreben möge, nur einmal den vibrirenden Ton der Leidenschaft gehört, kann sie sich des Mannes nicht mehr erwehren, der diesen Ton an ihr Ohr schlagen ließ – nie – nie mehr! – Also Sie kommen!“
Damit trennten sich Beide.
Lideman lachte im Gehen einmal vor sich hin. „Die gute Frau Geheimräthin fängt an gefährlich zu werden; man muß der Sache ein Ende machen.“ –
„Nie – nie mehr!“
Diese von Lideman fast nur hingehauchten Laute wurden von Doris wiederholt, als sie aus ihrem grünen Versteck hervortrat. Sie war von dem Eindruck des Gehörten wie gelähmt – die Worte enthüllten ihr plötzlich eine furchtbare Gefahr. Was bisher nur unbestimmtes Empfinden, bange Ahnung, sensitives Fürchten in ihr war, das war hier in einer Formel gegeben, mit wenigen Worten, scharf, schneidig: ein Wille, ein Gesetz, unter dessen Gewalt sie zusammenschauerte. Etwas zauberhaft Bannendes! Er hatte Recht. Sie machte die Erfahrung an sich selbst. Der Nachklang dieser Worte, die berauschenden Düfte rings um sie her, die Klänge der Musik, das Dunkeln und Dämmern des Abends und das mystische Spiel der Schatten – wie eine feine, das Bewußtsein einschläfernde, die Sinne umfächelnde und erregende Aetherkraft kam es über sie, deren betäubendem Einfluß sie zu erliegen drohte. Dazwischen aber rang sich die Reue durch, die Reue darüber, daß sie dem Willen Erich’s entgegengehandelt, und dieses Erheben der Gedanken auf den fernen Gatten hielt ihr die sinkende Willenskraft aufrecht. Doris war fest entschlossen, ganz unbemerkt die Gesellschaft zu verlassen. Der Augenblick schien günstig dazu: Niemand war in der Nähe, um ihr Weggehen zu bemerken. Ihre Schritte wandten sich dem Ausgange zu. Da plötzlich – stand sie vor Lideman.
Ein Blitz der freudigen Ueberraschung flog über sein Gesicht. Er faßte sich indeß rasch; er gab dem Vergnügen Ausdruck, das er darüber empfände, endlich fern von den Larven der Convenienz ein Wort mit ihr von Mund zu Munde sprechen zu können, wie es sonst gewesen wäre, in schöneren Zeiten, ein Wort – hier legte er die Hand auf’s Herz – nach dem er sich so lange gesehnt habe. Denn nun sei er leider aus ihrer Nähe verbannt, und er wisse auch, warum man sich von ihrer und ihres Gatten Seite kühler gegen den einstigen Freund des Hauses verhalten habe, den treuesten vielleicht, den das Haus Rechting besessen habe.
„Wenigstens den treuesten, den Sie, gnädigste Frau, besessen haben. Sie ahnen nicht, wie sehr ich Sie in der Sorge meines Herzens trage, wie ich mit Ihnen fühle, mit Ihnen leide.“
„Was giebt Ihnen ein Recht, Herr Präsident, Leiden bei mir vorauszusetzen? Habe ich Sie zum Vertrauten meiner Gedanken gemacht?“
„Leider nicht!“
„Oder ist über meine Lippen Ihnen gegenüber schon ein Laut der Klage gegangen?“
„Nein, dieses stolze Herz wird sich nie verrathen; aber es giebt eine ahnende Empfindung der Herzensvorgänge in Anderen, mit welchen uns die Sympathie verbindet: diese Eindämmung in ein Ihnen ganz fremdes Dasein macht Sie unglücklich.“
„Wo ist der Beweis dafür?“
Es war nur ein schwacher Laut, in dem sich diese Worte gaben, ein Laut, der ein halb willenloses Zugeständniß bedeutete.
„Wenn sich in Ihnen, Frau von Rechting, eine berechtigte Sehnsucht nach dem Einst regt, wird sie von der harten Strenge Ihres Gatten im Keime erstickt. Er sucht Sie von jeder gesellschaftlichen Berührung hermetisch abzuschließen; er verwehrt Ihnen, Ihre Jugend, Ihre Schönheit zu schmücken. Die Einförmigkeit, die Langeweile sind Ihre nunmehrigen Hausfreunde. Als ich damals Ihrem Herrn Gemahl jenes Anerbieten machte, das ihn in den Stand gesetzt hätte, Sie wieder mit allem gewohnten Reize des Lebens zu umgeben, wurde ich leider von Ihnen – von ihm verkannt. Ist’s nicht so? Sagen Sie doch ‚ja‘! Ich weiß –“
„Nun denn – ja! Ein Wort von Ihnen, um ganz offen zu sein, hat uns Beide befremdet, und wenn daraus eine Erkaltung unsererseits erfolgte –“
„So grausam gestraft zu werden für eine Bemerkung, welche der Uebermuth, die gesellschaftlich pointirte Redeweise unserer Zeit mir auf die Lippen gebracht haben, nicht mein Herz, noch weniger meine Gesinnung. – Aber die Entbehrung so manchen Genusses, der Ihnen zur Gewohnheit geworden war – das wäre noch das Leichteste. Verzeihen Sie, daß ich davon wie ein Freund zu Ihnen spreche! Ueber dem immerwährenden Ringen zwischen Neigung und äußerem Zwange, zwischen regem Verlangen und brüsker Verweigerung flieht eine schöne Illusion um die andere aus Ihrem Herzen, und die Liebe, die Sie bisher dem Gatten so treu bewahrt haben, sie beginnt zu reflectiren. Wo aber nicht mehr der frische, unmittelbare Zug des Herzens vorhanden, wo dieses in Erwägungen eintritt, da kommt etwas in’s Schwanken, das fest sein soll wie ein Fels inmitten brandender Strömungen – die Liebe – das fühle ich mit meinem Herzen so tief, und ich will Ihnen nicht sagen, warum –“
Mit einer hastigen Bewegung, mit einem jähen Aufblitzen ihrer Augen hatte Doris den Worten des Präsidenten Stillschweigen geboten und war von ihm zurückgetreten – denn wie mit seiner Rede, so war er auch mit seiner Gestalt ihr immer näher gekommen. Fest entschlossen, diese gefährliche Nähe zu meiden, wollte sie sich zuück in den schützenden Port der Gesellschaft flüchten, als die Geheimräthin zu Beiden trat. Sie war, den Präsidenten suchend, unbemerkt hinzugekommen und hatte die letzten Worte erhascht.
Nur selten ist es einem Revolutionär auf dem Gebiete der Forschung und des Geistes beschieden gewesen, einen so vollkommnen Sieg der von ihm in Umlauf gebrachten Ideen zu erleben, wie es dem Reformator der „Wissenschaft von der lebenden Natur“ vergönnt zu sein scheint. Copernicus erblickte erst auf seinem Sterbebette den Druck seines Werkes über die Revolutionen der himmlischen Sphären; Kepler rieb sich in Sorgen auf; Newton fand unter den ersten Geistern seiner Zeit mehr Widersacher als Freunde. An Widersachern hat es auch Darwin nicht gefehlt, aber die meisten entstammten solchen Kreisen, welche der eigentlichen Lebenswissenschaft oder Biologie fremd waren, während die wirklichen Forscher auf dem genannten Gebiete bereits seit zehn Jahren fast ausschließlich im Darwinischen Sinne und nunmehr erst mit wahrem Erfolge arbeiten. So haben denn auch seine Gegner nur zu seiner höheren Ehre beigetragen, und noch am Vorabende seines siebenzigsten Geburtstages haben sich einige rückständige Akademieen beeilt, den nie im Lehrfache thätig gewesenen Privatgelehrten in ihre Listen einzuschreiben.
Ueber die von Darwin begründete neue Weltanschauung ist den Lesern der „Gartenlaube“ bereits wiederholt berichtet worden – wir erinnern an die Artikel von Bock und Klotz in den Jahrgängen 1872 und 1873, denen auch ein Portrait des Jubilars beigefügt war. Ein ander Mal wird auf Einzelnes zurückzukommen sein; zur Feier des heutigen Tages aber möchten wir den Versuch machen, den ersten Ahnungen seiner weltbewegenden Ideen nachzuspüren. Den ersten Ahnungen! – ja, die lagen eigentlich schon in der Familie, denn wie der Schreiber dieser Zeilen an einem andern Orte ausführlich nachgewiesen hat[1], muß nicht Lamarck,
[113][114] wie gewöhnlich angenommen wird, sondern der Großvater Darwin’s auch als der Großvater der neuen Weltanschauung betrachtet werden. Erasmus Darwin (1731 bis 1802), als Arzt, wie als Dichter zu seiner Zeit hochgefeiert, legte nämlich in einem längern Lehrgedichte, „Der botanische Garten“ betitelt, welches in den Jahren 1781 bis 1790 vollendet wurde, die ersten wirklich begründeten Ahnungen davon dar, daß die heutige Lebewelt, wie unsere Erde selber, durch allmähliche Umänderung und Fortbildung unvollkommner Anfänge entstanden sei. Während Andere dergleichen nur aus philosophischen Gründen vermuthet hatten, wies er mit großem Scharfsinn auf das Vorhandensein unnützer, sogenannter rudimentärer Organe (vergl. „Gartenlaube“ 1875, S. 266) bei verschiedenen Pflanzen und Thieren hin, die ihm als Beweis erschienen, daß diese Wesen früher anders organisirt gewesen seien als jetzt. Nachdem er diese Ansichten in einem seit 1794 erschienenen größeren gelehrten Werke, der „Zoonomia“, weiter fortgebildet hatte, verarbeitete er sie zu einem erst ein Jahr nach seinem Tode (1803) erschienenen Lehrgedichte: „Der Tempel der Natur“, in dem man heute mit Verwunderung eine dichterische Vorausverkündigung der gesammten modernen Naturanschauung findet.
Der ältere Darwin war ein genauer Beobachter der Natur und besaß in hohem Grade die auf den Enkel vererbte geistige Eigenthümlichkeit, bei allen Naturdingen, die er in’s Auge faßte, zu fragen, wie es komme, daß sie seien, wie sie sind: weshalb die meisten Raupen grün seien? woher die Vögel und Fische meist dunklere Rücken und hellere Brüste hätten? warum meist nur die männlichen Thiere besondere Waffen besäßen? wozu die Pechnelke ihren Leimring unter den Blüthen gebrauche? etc. Die nähere Ursache dieser Eigenthümlichkeiten der Färbungen und Organbildungen wußte er überall mit oft großer Feinheit in dem Nutzen, welchen sie den Thieren und Pflanzen gewähren, aufzuspüren, die entferntere Ursache aber blieb ihm verborgen, und daher muß seine Weltanschauung eben nur wie eine dichterische Vorahnung, nicht als ein festes Lehrgebäude betrachtet werden. Eine ganz ähnliche Voraussicht finden wir bei dem deutschen Dichterfürsten Goethe, der zwar in weniger festen Umrissen, als sein englischer Zeitgenosse, aber der Richtung nach ebenso sicher und entschieden die Darwin’sche Weltanschauung voraussah und im Sehnen nach derselben seine höchste Befriedigung fand. Es ist eben die schöpferische Thätigkeit wahrer Dichter, welche sich im Aufbauen künftiger Welten und Weltanschauungen bewährt und ihnen als Propheten der moralischen Weltordnung oft so glückliche Treffer verleiht.
Wie man nicht selten Gaben anderer Art, z. B. musikalische und zeichnerische Talente, in den Familien forterben sieht, so scheint nun in unserem Falle das seltenere Beispiel einer Vererbung des eigenthümlichen Scharfsinns in der Beobachtungsgabe vom Großvater auf den Enkel eingetreten zu sein, der am 12. Februar 1809 dem Arzte Robert Darwin zu Shrewsbury geboren wurde. Aus seiner früheren Jugend wissen wir wenig mehr, als daß er ein großer Jagdliebhaber und Naturaliensammler war und in der Beobachtung des Naturlebens früh die liebste Unterhaltung fand. Er bezog 1825, wie früher auch der Großvater, die Universität Edinburg und 1827 das Christ-College zu Cambridge, schloß sich dort im Besonderen dem Botaniker Henslow an und erwarb, kaum zweiundzwanzig Jahre alt, den ersten akademischen Grad, dem im vergangenen Jahre in feierlicher Sitzung der Ehrendoctor gefolgt ist. Sehr wahrscheinlich würde ihn sein den gesammten Naturwissenschaften gewidmetes Studium auf die gewöhnliche Laufbahn eines Universitätslehrers geführt haben, wenn nicht Alexander von Humboldt’s Naturschilderungen aus fernen Zonen, die er mit Begeisterung las, den unbezwinglichen Wunsch in ihm erweckt hätten, das überreiche Naturleben der Tropen selbst zu schauen, die Natur in ihrer unentweihten Ursprünglichkeit zu belauschen.
Natürlich folgte er ohne Besinnen der ersten sich darbietenden Gelegenheit, diesen Drang zu befriedigen, und diese Gelegenheit war günstig genug. Im Jahre 1831 wurde nämlich der spätere Gouverneur von Neu-Seeland und Begründer der Wettertelegraphie Capitain Robert Fitzroy von der englischen Regierung zu hydrographischen Aufnahmen nach Südamerika und der Südsee entsandt und ihm auf seinen Wunsch, einen Naturforscher am Bord zu haben, der frisch vom College kommende junge Darwin beigegeben. Am 27. December 1831 trat Capitain Fitzroy mit seinem Stabe auf einer Brigg von zehn Kanonen, die prophetisch den Namen „Spurfinder“ (Beagle) erhalten hatte, jene nahezu fünfjährige wissenschaftliche Reise um die Welt an, welche so große Ergebnisse liefern sollte.
Es war wohl ein großes Glück für ihn und uns, daß der junge Darwin hinaus in die freie Natur kam und sie in ihrer Ursprünglichkeit, in ihrer großartigen Wildheit studiren durfte, denn ohne dies, so müssen wir befürchten, würde er nicht der Reformator der Biologie, das heißt der Wissenschaft vom Leben geworden sein. Gerade der Fleiß nämlich, mit dem er nun alle Gebiete der Natur studirte und überall in’s Einzelne ging, hätte ihn nothwendig von jener großartigen Richtung des Großvaters auf das Ganze abziehen und in die Bahnen des sogenannten „exacten“, das heißt strengen Studiums führen müssen, welches damals dictatorisch von der Lehre des großen Cuvier beherrscht wurde, daß alle Arten von Pflanzen- und Thiergeschlechtern sich unveränderlich in der Natur erhielten, wie sie vordem geschaffen worden seien. Das also war auch Darwin’s feste Ueberzeugung, als er auszog, die Natur in ihren Heimstätten zu belauschen, und wir können sicher sein, daß er damals, wenn auch mit Pietät vor dem Dichtergenie, so doch mit Kopfschütteln die Werke seines Großvaters gelesen haben wird.
Sein Tagebuch aus jener Zeit, welches er später unter dem Titel: „Reise eines Naturforschers um die Welt“ herausgab und welches hoch über die gewöhnliche Spreuliteratur der Reisenden hinausragt, enthält einzelne unverkennbar satirische Bemerkungen gegen Lamarck, seinen berühmten Vorgänger, der die Ideen seines Großvaters weiter ausgeführt hatte, und zahlreiche Anklänge an den Bibelglauben Cuvier’s. Don Carlos, wie die Spanier Südamerikas den jungen Naturforscher mit Vorliebe nannten, war mit einem Worte allem unbestimmten Theoretisiren abhold, und Alles, was er von den eigenen Forschungen hoffte, war, um seine eigenen Worte von damals zu gebrauchen: etwas dazu beizutragen, um „den großen, der Jetztzeit und der Vergangenheit gemeinsamen Plan zu enthüllen, nach welchem die organischen Wesen erschaffen worden sind.“
Aber die treue und hingebungsvolle Beobachtung der Natur führte ihn langsam und fast wider Willen zu dem Naturgemälde des Großvaters zurück. Wenn er, mit dem geologischen Hammer in der Hand, auf weiten Ausflügen in das Innere die Schichtenbildungen Südamerikas untersuchte – zum grenzenlosen Staunen der Einwohner, die in ihrer Bigotterie diese Bemühungen theils für närrisch, theils für gottlos hielten, „weil es zu wissen genüge, daß Gott die Berge so gemacht habe, wie sie dastehen“ – so konnte er bald nicht umhin, bei der Vergleichung der eingeschlossenen Thierreste mit den jetzigen Thieren des Landes auf besondere und andere Gedanken zu kommen, als eben diese Bergleute, die, mit vielen europäischen Gelehrten früherer Zeit, die Fossilien für in diesem steinernen Zustande „von der Natur geboren“ ansahen. Aus einer verhältnißmäßig sehr jungen Schicht, dem Pampasschlamm Patagoniens, grub er die Reste einer Anzahl ausgestorbener Thiere aus, die mit wenigen Ausnahmen noch jetzt in Nord- und Südamerika lebende Vertreter haben, aber nirgend sonstwo in der Welt. Sind auch die heute daselbst lebenden Gürtel- und Faulthiere nur Zwerge gegen die von Darwin ausgegrabenen Riesenthiere der jüngsten Vorzeit und nicht mehr völlig gleich gebaut, so sprang doch die enge Verwandtschaft unmittelbar in’s Auge. „Diese wunderbare Verwandtschaft zwischen den todten und lebenden Thieren eines und desselben Continents,“ schrieb er damals in sein Tagebuch, „wird unzweifelhaft noch später mehr Licht auf das Erscheinen organischer Wesen auf unserer Erde, sowie auf ihr Verschwinden von derselben werfen, als irgend eine andere Classe von Thatsachen.“
Was dieses Verschwinden und Verdrängtwerden von Thieren und Pflanzen durch andere oder durch widrige klimatische Verhältnisse betrifft, so konnte er an Ort und Stelle die besten Erfahrungen darüber sammeln. Noch war frisch in Aller Gedächtniß die große Dürre der Jahre 1827 bis 1833 mit ihren verhängnißvollen Folgen für das gesammte Thierleben. Man erzählte ihm, wie die dem Verhungern und Verdürsten nahen Rinder zu Tausenden in die Moräste und in den Paranafluß gestürzt und dort ertrunken seien, da sie aus Erschöpfung meist nicht mehr im Stande waren, die schlammigen Ufer wieder heraufzukriechen. Augenzeugen berichteten von dem Beieinanderliegen Tausender von [115] Cadavern in den Salzsümpfen, und daß der ganze Paranafluß mit faulenden Thierleichen erfüllt, sein Bett mit Knochenresten gepflastert worden sei. Die Wiederkehr solcher Naturereignisse erklärt nicht nur die massenhafte Aufschichtung ausgestorbener Thiere im Schlamme einzelner Oertlichkeiten, sondern auch die Frage, wodurch Thiere, die, wie die Pferde, noch in jüngster Vorzeit massenhaft über ganz Amerika dahinjagten, in ungünstigen Jahren völlig aussterben konnten, sodaß sie bei der Ankunft der Europäer unbekannt waren.
Zugleich gab eine Race des Rindes, deren Unterlippe weit vorgeschoben ist und die Oberlippe nicht berührt, dem Reisenden ein bedeutsames Beispiel, wie sich durch geringfügige Umstände in solchen Katastrophen eine Abart besser erhalten kann, als eine andere, denn diese sogenannte Niata-Race hätte sich während der Zeit der Dürre im Freien nicht erhalten können, da sie nicht so leicht, wie die übrigen Rinder-Racen Schößlinge von Bäumen und Schilf mit den Lippen erfassen und abrupfen kann. Merkwürdiger Weise findet man die Reste eines ohne Nachkommen ausgestorbenen Riesenthieres mit ähnlicher Lippenbildung, des Sivatheriums, in den Sivalikhügeln am Himalaya, und der Gedanke liegt nahe, daß ihm dieselbe Abnormität der Lippenbildung verhängnißvoll geworden sein mag.
Andererseits gab die große Veränderung, welche die Besiedlung Amerikas durch die Europäer im Naturleben seiner Länder hervorgebracht hat, dem Reisenden treffliche Anschauungsbeispiele von den Vorgängen, bei welchen Thiere und Pflanzen durch andere verdrängt und zum Aussterben gebracht werden. Die Heerden der Pferde, Rinder und Schafe haben nicht blos den Guanaco, den Hirsch und Strauß von weiten Flächen vertrieben, sondern auch das amerikanische Schwein oder Peccari ist hier und da von dem verwilderten Schweine der alten Welt aus dem Felde geschlagen worden, und viele Striche wurden von verwilderten Katzen und Hunden bevölkert. Ebenso hat die spanische Artischocke oder Cardone in Chile und anderen Ländern auf beiden Seiten der Anden Hunderte von Quadratmeilen mit Verdrängung der meisten einheimischen Pflanzen in undurchdringliche Distelverhaue verwandelt.
Mochten hier die ersten nebelhaften Umrisse der Ideen vom „Kampfe um’s Dasein“ in dem Geiste des Reisenden aufgetaucht sein, so erhielt sein immer noch ziemlich festgebliebener Glaube an die Beständigkeit der Arten den Todesstoß bei Gelegenheit der im Jahre 1835 stattfindenden Untersuchung der Galapagos oder Schildkröteninseln durch die Expedition des „Beagle“. Diese Gruppe vulcanischer Inseln, die aus fünf größeren und mehreren kleineren Eilanden besteht, besitzt nämlich, obgleich sie gegen neunhundert Kilometer von Amerika entfernt liegt, eine sich im Großen und Ganzen an die amerikanische Fauna und Flora anschließende Lebewelt. Betrachtete man dagegen die Thiere und Pflanzen im Einzelnen, so boten sie bei allem ihrem unleugbar amerikanischen Charakter ein durchaus eigenartiges Gepräge; sie erschienen eben als Eingeborene dieser Inselwelt. Die Naturforscher der älteren Schule würden sie als für die Schildkröteninseln speciell erschaffene Geschöpfe angesehen haben. Dabei war nun außer jenen amerikanischen Beziehungen noch ein zweiter Umstand auffallend. Obwohl nämlich alle diese Inseln nur höchstens fünfzig bis sechzig Kilometer von einander entfernt liegen und die meisten durch kleinere Eilande wie durch Zwischenstationen mit einander verbunden sind, hat beinahe jede ihre eigene Art aus den auf dem Archipel vorkommenden Pflanzen-, Vogel- und Reptilgattungen.
So giebt es da z. B. eine baumartige Schwester unserer Kornblume, welche dort mit einigen Verwandten den hauptsächlichsten Waldbestand bildet und nur auf diesen Inseln vorkommt, die Scalesia, aber jede der sechs bis acht Arten dieses Baumes wächst auf einer andern Insel; nur ausnahmsweise kommen zwei derselben auf einer Insel zugleich vor. Ebenso haben sieben dieser Inseln je ihre eigene, nirgends sonst in der Welt vorkommende Wolfsmilch-Art, aber unter sich sind diese sieben Arten allerdings näher verwandt, und ähnlich verhält es sich mit den diesen Inseln eigenthümlichen Finken, Spottdrosseln und selbst Schildkröten.
Hier drängte sich nun in der That beinahe mit Gewalt der Gedanke auf, daß diese Pflanzen und Thiere wohl in lange zurückliegender Zeit von der Westküste Amerikas bei irgend einer Gelegenheit eingewandert sein und dann auf jeder einzelnen Insel nach den besonderen dort herrschenden Lebensbedingungen etwas verschiedene Formen angenommen haben möchten. Nächst den Riesenschildkröten, die diesen Inseln ihren Namen gaben, ist jedoch die eigenthümlichste und lehrreichste Bewohnerin derselben eine mehrere Fuß lange dunkelgefärbte Eidechse, der Höckerkopf (Amblyrhynchus), ein Vetter der amerikanischen Leguane. Dieses ebenfalls sonst nirgends vorkommende Thiergeschlecht ist nun in zwei verschiedenen Arten vorhanden, von denen sich die eine der Ernährung von Landpflanzen, die andere – ein Unicum unter den Eidechsen! – der Ernährung von Meeresalgen angepaßt hat. Hierbei blieb nun in der That wohl kaum ein Zweifel übrig, daß diese beiden Arten aus derselben Grundform, und zwar wahrscheinlich eben durch die Gewöhnung an die verschiedene Lebensweise entstanden sein müßten.
Nach einem längeren Besuche Australiens und Polynesiens, wo er das lange vergebens umworbene Räthsel der von Korallenthieren erbauten Inseln löste, betrat Darwin am 2. October 1836 wieder den englischen Boden, tief erschüttert in seinem Vertrauen zu den Lehren der herrschenden biologischen Schule, und schrieb bald darauf (1839) eine vorläufige Skizze seiner neu gewonnenen Ansichten nieder, die er seinen Freunden, dem bekannten Geologen Lyell und dem Botaniker Hooker, zu lesen gab. Zunächst zwar nahm die Bearbeitung der reichen geologischen, botanischen und zoologischen Errungenschaften der Reise, bei der ihn die ersten Fachgelehrten seiner Zeit und des Landes unterstützten, seine Thätigkeit in Anspruch, aber sobald diese Arbeiten aufhörten ihn in London zu fesseln, zog er sich (1842) nach seinem Landsitz Down bei Bromley in der Grafschaft Kent zurück, um hier, durch geduldige Studien im Garten und auf dem Vieh- und Geflügelhofe, die auf dem heißen Boden der Galapagos-Inseln brennend gewordene Frage, ob die Arten unveränderlich oder veränderlich seien, festzustellen.
Seine Beobachtungen an verschiedenen Culturpflanzen und Hausthieren, besonders an den Tauben, brachten ihn bald genug zu der sicheren Ueberzeugung, daß die lebenden Wesen in hohem Grade zur Veränderung neigen, und daß ihre allmählichen Abänderungen in der Weise zur Artbildung führen, daß die irgendwo den herrschenden Lebensbedingungen am besten entsprechenden Formen in dem allgemeinen Verdrängungskampfe zuletzt allein übrig bleiben. Diese Voraussetzung, welche den Schwerpunkt der Darwin’schen Theorie bildet, ist, wie hier zu bemerken erlaubt sein mag, keine Hypothese, sondern ein einfacher Vernunftschluß, denn das, was sich seiner Umgebung nicht anzupassen vermag, kann natürlich nicht leben.
Darwin hätte in seiner bescheidenen Zurückhaltung wahrscheinlich noch lange sich mit Sammlung weiterer Thatsachen zur Unterstützung seiner Auffassung begnügt, wenn nicht der berühmte Reisende und Naturforscher Alfred Russel Wallace bei seinen Studien des Naturlebens im malayischen Archipel unabhängig zu genau derselben Ansicht gelangt wäre und eine Abhandlung darüber im Jahre 1858 an Darwin gesandt hätte, der sie Lyell zustellen sollte, wenn er sie des Druckes würdig erachte. Letzteres geschah, aber Lyen und Hooker veranlaßten Darwin, seine ihnen bekannte Skizze von 1839 mit abdrucken zu lassen. Diesen am 1. Juli 1858 veröffentlichten Aufsätzen folgte im November desselben Jahres Darwin’s grundlegendes Werk über den Ursprung der Arten, welches die dichterische Weltanschauung seines Großvaters durch eingehende und in einer große Reihe späterer Werke fortgesetzte Specialforschungen zu Ehren gebracht hat. Wir können hier die Wirkung, welche diese Geistesthaten auf die gesammten Naturwissenschaften geübt haben, nicht näher schildern; diese letzteren sind nach kaum zwanzig Jahren bereits von Darwin’schem Geiste durchsättigt, und es giebt kaum einen oder den anderen Specialforscher, der sich gegenwärtig noch diesem Einflusse zu entziehen vermöchte. Von nicht geringerer Bedeutung war der Schritt, mit welchem er den Menschen als Glied der Gesammtnatur zurückforderte und dadurch auch alle Culturwissenschaften in die gewaltige Geistesbewegung hineinzog. Dieser Umstand erregte natürlich in den Kreisen vieler Buchstabengläubigen das größte Aergerniß, aber schon jetzt beginnen verständige Geistliche einzusehen, daß gerade im Darwinismus die Keime der erhabensten Gottes- und Weltauffassung, die sich denken läßt, liegen. Auch sie dürfen daher in den Wunsch einstimmen, daß der Jubilar noch lange Jahre Freude an dem Aufblühen seines Werkes erlebe möge.
So lange die Welt besteht, sind es namentlich zwei Gefahren, von denen der Besitzende aller Länder seine Schätze bedroht sieht: das Feuer und der Diebstahl.
Was läßt sich gegen diese Gefahren thun? Der Kaufmann trauet mit Recht seinem einfachen Geldschranke nicht mehr; denn die Spitzbüberei steht heute im Flor ihrer Entwickelung. Zumal in der Metropole des europäischen Handels, in London, hat man böse Dinge erlebt: bei einer mir bekannten Firma wurden zweimal in kurzen Zwischenräumen Einbrüche verübt, die auf eine äußerst schlaue und gewandte Diebsbande schließen ließen. Die Attentäter lachten nicht nur der angebrachten Vorsichtsmaßregeln, der elektrischen Glocken, der Beleuchtung der Räume etc., sondern wählten auch noch zur That die Zeit gegen fünf bis sechs Uhr Morgens, wo die Straßen doch schon ein wenig Leben gewinnen. Und so sicher mußten sich die Patrone gefühlt haben, daß sie sich mit stoischster Ruhe und großer Sachkenntniß gerade die kostbarsten und theuersten Waaren aussuchten. Solchen Erfahrungen gegenüber mußte ein Mittel zu völliger Sicherstellung des Besitzes gefunden werden. Nun bedingen die englischen Geschäftsverhältnisse die Verbindung mit einer Bank, und da jede Zahlung, die nur die Höhe einiger Pfund Sterling erreicht, in einer Bankanweisung gemacht wird, so braucht er keinen großen Baarvorrath – die Bank ist seine Casse. Jede Bank besitzt ein sogenanntes Strongroom oder dieb- und feuersicheres Gewölbe, dessen Mitbenutzung sie ihren Kunden gestattet; der Kaufmann findet also hier einen sicheren Aufbewahrungsort seiner Werthpapiere, und den Mitgliedern der Stockbörse steht überdies noch die Benutzung der Gewölbe dieser Gesellschaft frei.
Wie kann jedoch der Privatmann, dem Geldschränke keinen Schutz, Banken keine Aufnahme gewähren, sein in Papieren angelegtes Capital schützen? Diese Frage wurde in Amerika Ende der sechziger Jahre gelöst. Man kam in Folge der sich stets mehrenden kühnen Einbrüche auf den Gedanken der Erbauung stark befestigter Gewölbe, die dem Einbruche Trotz zu bieten im Stande wären. Die Errichtung derselben war einem Einzelnen vermöge der Kostspieligkeit natürlich nicht möglich, für eine Genossenschaft konnte sie jedoch in Anbetracht des Nutzens keine sonderlichen Bedenken bieten.
Nachdem nun mehrere solcher Etablissements, wenn auch in nur geringer Ausdehnung, in’s Leben getreten, faßten im Jahre 1871 verschiedene bedeutende Londoner Finanzmänner den Plan, das Problem in größerem Maßstabe durchzuführen; sie traten zu einer Genossenschaft zusammen und lösten ihre Aufgabe musterhaft. Die „National Safe Deposit Company“ ist, was Umfang und Einrichtung betrifft, meines Wissens in Europa ohne Beispiel.
Bei Ausführung des Plans handelte es sich zuerst darum, einen geeigneten Platz für das Gebäude zu finden. Die hier zu erfüllenden Bedingungen erforderten erstens, daß das Gebäude im Mittelpunkte der Stadt liege, um den Zugang allen Theilen der Riesenstadt gleich nahe oder besser gleich weit zu halten, und zweitens sollte es durch einen möglichst freien Stand an und für sich schon Schutz gegen Feuer und Einbruch bieten. Ueber diese Punkte war man sich bald einig. Das schöne Gebäude erhebt sich in Queen-Victoria-Street, deren Nummer Eins dasselbe bildet, gegenüber dem Mansionhouse (Residenz des Lordmayors) in einer Entfernung von weniger als zwei Minuten von der „Bank von England“ und der „Royal Exchange“; es bildet ein spitzwinkliges Dreieck und wird auf seinen drei Seiten von Straßen begrenzt. Der Bau, aus grauem Sandstein (dieser hat sich am dauerhaftesten gegen Feuer bewährt) aufgeführt, bildet eine Zierde des an architektonischen Schönheiten nicht überreichen Londons, ist drei Stockwerke hoch und beherbergt in seinen oberirdischen Räumlichkeiten mehrere geschäftliche Institute, worunter die Bank von Neu-Seeland im Parterre zu nennen ist; der unterirdische Theil ist die Citadelle Mammons.
Diese Festung im Kleinen, wenn ich sie so nennen darf, erstreckt sich zu einer Tiefe von 45 Fuß unter dem Niveau des Straßenpflasters, bei einer Länge von 80 und einer Breite von 46 Fuß. Die äußeren Umfassungsmauern sind aus hartem Backstein mit Cement und hydraulischem Kalk hergestellt und von einer Durchschnittsdicke von 6 Fuß.
Innerhalb dieser Mauern befindet sich das Schatzgewölbe; dasselbe ist nochmals mit einer drei Fuß dicken Backsteinmauer umgeben, deren Außenseiten mit feuerfesten Steinen verkleidet sind. Obwohl ein solcher Wall wohl dem kühnsten Einbrecher zu widerstehen im Stande wäre, hielt man doch noch größere Verstärkung für angemessen, und brachte im Innern der Mauer eine circa drei Zoll dicke Eisenplatte in der vollen Ausdehnung der Wände an; diese widersteht nicht nur jeder Anbohrung, sondern ließ auch Versuche mit den schwersten Schmiedehämmern ohne den geringsten Erfolg.
Nachdem man so die Mauern in der stärksten und sichersten Weise vollendet hatte, erhob sich eine nicht minder bedeutende Frage, die bezüglich geeigneter Thüren. Wer wird wohl eine Bresche in die Mauern versuchen, dem der Zugang zur Festung viel leichter und bequemer durch das Thor möglich ist? Zu welcher Art von Eingängen sollte man sich entscheiden? Die bekannten Geldschrankthüren, an die man zuerst dachte, wären entschieden zu kostspielig gewesen, weßwegen man sich entschloß, die Thüren aus einzeln über einander gelegten Eisenplatten in einer Gesammtdicke von circa 12 Zoll herzustellen; das Gewicht jeder Thür beträgt 4000 Kilogramm. Das Nächste, was nun in’s Auge gefaßt werden mußte, war der Verschluß. Wieder kam man zuerst auf das verbesserte Geldschrankschloß, doch dieses erwies sich für die zu lösende Aufgabe zu complicirt; man mußte etwas Einfacheres, Handlicheres finden. Sämmtliche zweiunddreißig Thüren (ebenso viele Abtheilungen zählt die Schatzkammer) werden Morgens und Abends geräuschlos und sicher geöffnet und geschlossen durch die Arbeit einer hydraulischen Maschine. Ist die Kammer so verwahrt, so kann man derselben seine Schätze allerdings ruhig anvertrauen, denn der gewandteste, behendeste Einbrecher muß diesem eisernen Riesen gegenüber, der einen Widerstand von 128,000 Kilogramm spielend bewegt, unbedingt auf Erfolg verzichten.
Machen wir einen Rundgang durch das Gebäude.
Von der Straße führen uns einige Stufen abwärts, und wir treten zuerst in’s Bureau der Gesellschaft. Hier liegt das Mitgliederverzeichniß auf, ein großes Foliobuch, in das eines jeden neu hinzutretenden Miethers Name, Adresse, Alter und Signalement genau notirt werden, ebenso wie seine Parole, die er sich beliebig wählen kann.
Sollten die Beamten in irgend einem Zweifel über die Identität des Besuchers sein, so muß er ein strenges Examen über seinen Bucheintrag schon über sich ergehen lassen. Wehe dem Schwindler, der sich hier oder in irgend einem anderen Theile der Anstalt auf schlimmem Wege ertappen ließe! Abgesehen davon, daß immer einige Polizeibeamte im Hause anwesend sind, steht dasselbe auch noch in directer telegraphischer Verbindung mit der nächsten Polizeistation; in weniger als zehn Minuten wäre der Verdächtige besorgt und aufgehoben. Wieder steigen wir einige Stufen abwärts und kommen nun in eine Halle, an deren Wänden sich kleine Bureauzellen aneinander reihen, die, mit einem Pulte, Schreibmaterialien, Scheere etc. versehen, zur Benutzung der Miether bestimmt sind; hier kann jeder derselben seine Effecten und Werthe revidiren, die Coupons davon ablösen oder sonst damit vornehmen, was er Lust hat; in den Gewölben selbst ist nichts dergleichen erlaubt. Ein nett möblirtes Zimmer, ebenfalls für obige Zwecke, ist für das zarte Geschlecht reservirt.
In dieser Halle empfängt uns der Beschließer, dem wir folgen; da meine Cassette sich im oberen Stockwerke befindet, haben wir den Fahrstuhl, der nach unten führt, nicht nöthig zu benutzen; auch unten reiht sich, gerade wie in den Räumen, die wir jetzt betreten werden, Abtheilung an Abtheilung, Cassette an Cassette. Hier sagen wir dem Tageslichte Lebewohl, denn jedem Sonnenstrahl ist, als sei er der gefährlichste Dieb, der Eingang in’s Schatzhaus strengstens verwehrt.
Wir gelangen nun in einen Gang, in den die einzelnen Kammern ausmünden; diese sind den Tag über mit einer eisernen Gitterthür verwahrt und werden nur des Nachts mit den oben erwähnten schweren Thüren geschlossen. Mit Hülfe des Beschließers finden wir leicht die Kammer, die meine Habe birgt und welche mehr als drei Personen nicht zu gleicher Zeit betreten [117] dürfen. Hier steht eine Cassette neben der anderen, an die Wand an- oder vielmehr in die Wand eingefügt, in allen Größen je nach Bedürfniß. Die kleinsten umfassen ungefähr ein Fuß im Cubik. Jeder dieser Schränke hat ein verschiedenes Schloß (Geldschrankschloß), wozu nur ein Schlüsselexemplar vorhanden und im Besitze des Miethers ist. Da dies jedoch nicht als genügende Verwahrung gegen allenfallsigen Mißbrauch erschien, so ist noch ein weiterer, sehr sinnreicher Verschluß angebracht worden. Es ist dies ein Schloß, das sich neben dem Hauptschlosse befindet und das Schlüsselloch des letzteren mit einem Riegel vollständig deckt, sodaß ein Zugang dazu nicht möglich ist; hierzu führt den Schlüssel der Beschließer, ohne dessen Beisein das Eröffnen der Cassette überhaupt unmöglich ist.
In letztere ist eine Blechbüchse genau eingepaßt, in welche die zu bewahrenden Werthe gelegt werden. Wie schon früher erwähnt, darf die Büchse in dem Raum, in welchen wir uns jetzt befinden, nicht geöffnet werden, ich müßte mich daher, wollte ich ihren Inhalt inspiciren, mit derselben in eine Bureauzelle begeben.
Noch will ich erwähnen, daß, obwohl in den Zellen nichts als Stein und Eisen ist, man doch aus Furcht vor Feuersgefahr jede Beleuchtung innerhalb derselben verschmäht hat; an der Hinterwand befindet sich jedoch ein Spiegel, in dem ein auf dem Gange angebrachtes starkes Gaslicht reflectirt und so den Raum fast taghell erleuchtet.
Für Luft sorgt, da die Gewölbe gegen Draußen fast hermetisch verschlossen sind, eine stets arbeitende Dampfmaschine, und eine Dampfheizung verbreitet im Winter angenehme Wärme.
Obwohl vermöge aller genannten Maßregeln die Citadelle in der That genügend gesichert ist, so patrouilliren zum Ueberflusse noch beständig Wachposten vor ihr auf und ab, deren Wachsamkeit streng und unnachsichtlich durch eine sogenannte Wächteruhr controllirt wird.
Das ist die uneinnehmbare Festung Mammons, ein Institut menschlicher Klugheit und Vorsicht, wie es sich in so zweckdienlicher und vollendeter Weise kaum sonstwo auf dem Erdenrunde finden dürfte.
Eine Ferienreise nach Amerika! Ich erhielt die Einladung dazu von meinem Freunde William Burting, einem jungen Amerikaner, den ich im Jahre 1863 in Jena kennen gelernt hatte, wo ich mich "Studirens halber" aufhielt. Die Schweiz und Frankreich hatte ich besucht, Italien lief mir nicht davon - ein deutscher Student durfte sich schon einmal eine solche außerordentliche "Spritztour" erlauben. Kurzum, ich besann mich nicht lange; wenn ich Heidelberg vierzehn Tage vor Schluß des Semesters verließ, sechs Wochen Osterferien dazu rechnete und dann noch vierzehn Tage zugab, so hatte ich beinahe ein Vierteljahr Zeit; [118] da war eine solche Reise schon der Mühe werth. So packte ich denn meine Sachen – viel Abschied hatte ich nicht zu nehmen – reiste nach Hamburg, bestieg die „Cimbria“, Capitain B., und „nach einer schnellen Reise von zehn Tagen acht Stunden“ stieg ich wohlbehalten drüben an das Land, von meinem zuvor benachrichtigten Freunde auf das Herzlichste empfangen.
Viel zu schnell für uns Beide und gleichfalls viel zu schnell für mein Bestreben, Land und Leute kennen zu lernen, verstrichen uns die Wochen; William widmete mir fast seine ganze Zeit, und Hunderte von Meilen hatten wir mit einander zu Wasser und zu Lande zurückgelegt – noch vierzehn Tage und meine Zeit war um.
Da trat William eines Tages bei mir ein, aber nicht mit seiner sonstigen liebenswürdigen Gemüthlichkeit. Er schien verstimmt, sehr verstimmt; eine düstere Wolke lagerte auf seiner Stirn.
„Was hast Du, William?“ fragte ich und faßte seine Hand.
Er schüttelte ärgerlich den Kopf.
„Eine dumme Geschichte,“ meinte er, „mein Vater ist sehr schwer und auf eine geheimnißvolle Art betrogen worden.“
„Betrogen?“ sagte ich, „von wem?“
William blickte mich ernst an.
„Ja, wenn wir das wüßten!“
Ich sah fragend auf.
Er stützte die Faust auf den Tisch und starrte vor sich nieder.
„Es ist eine sehr böse Sache, die wir nicht einmal öffentlich verfolgen dürfen, weil wir sonst die Betrüger warnen. Ich weiß, Du wirst nicht davon sprechen, also höre: Seit acht Tagen sind mehrfach telegraphische Anweisungen zur Auszahlung großer Summen an unsere Filialen in Elmira und Buffalo ergangen, die von uns nicht ertheilt worden sind. Wegen der bedeutenden Höhe der Summen haben die Filialen einige Male telegraphisch bei uns angefragt, ob die Zahlen richtig seien. So wenig wir die Anweisungen erlassen, so wenig haben wir diese Anfragen erhalten, die Filialen haben aber gleichwohl telegraphische Antwort empfangen, daß die Summen richtig seien, und darauf hin haben sie das Geld dem, der es abgeholt und der sich genügend legitimirte, ausgezahlt. Heute Morgen bekommen wir einen Brief von unserm Geschäftsführer in Buffalo, dem die Sache doch auffällig geworden ist und der sich Instruction erbittet. Weiter wissen wir nichts, der Schaden aber beträgt fünfzigtausend Dollars.“
Ich fuhr empor. Das war ein echt amerikanisches Stückchen.
„Was gedenkst Du da zu thun?“ fragte ich. „Wäre es nicht am gerathensten, wenn die Behörde sofort benachrichtigt würde?“
Er schüttelte den Kopf.
„Das würde uns alles verderben. Wir haben bei uns nicht eine staatlich organisirte Polizei, wie sie bei Euch existirt, sondern unsere Polizeibehörden sind nur municipale Institute, deren Befugnisse nicht über ihren Bezirk hinausgehen. Eine einheitliche Leitung derselben fehlt gänzlich, und die Verbindung der einzelnen Behörden unter sich ist eine sehr ungenügende. Ein Policeman von New-York hat an einem anderen Orte keine Befugniß zur Ausübung seines Amtes. Es bleibt uns darum nichts übrig, als uns an die private detective agency von Allan Pinkerton zu wenden; wenn wir da nichts erreichen, so ist alles vergeblich.“
„Was ist das?“ fragte ich.
„Eine Privatpolizei, wenn Du so willst, welche eine große Anzahl geschickter Agenten, detectives oder geheimer Polizeimänner, in ihren Diensten hat, die durch Gewandtheit und scharfen Verstand ersetzen, was ihnen an öffentlicher Autorität abgeht. Diese Agenten leisten in Combination und Auffindung von Spuren ganz Unglaubliches und erzielen bessere Resultate, als oft die bestorganisirte Polizei. Die Verbindungen dieses Instituts reichen über die Vereinigten Staaten bis nach Canada und selbst nach England. Sie werden allerdings auch sehr gut bezahlt.“
„So bist Du auf dem Wege, das Institut aufzusuchen?“
„Das würde auffallen. Ich habe bereits mit meinem Vater gesprochen, und es ist Veranstaltung getroffen worden, daß heute Abend ein Agent uns besucht. Es ist mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß der Zugang unseres Hauses beobachtet wird, und der Eintritt eines Agenten würde sofort die Betrüger warnen. Es ist mir aus diesem Grunde sehr willkommen, daß ich mit Dir in den letzten Wochen viel gereist bin; es wird somit eine abermalige Reise nicht auffallen.“
„Du willst selbst mit dem Agenten reisen?“
„Ohne Zweifel, und ich bitte Dich dringend, mich begleiten zu wollen.“
Ich war natürlich sofort bereit, da ich mir etwas Besonderes versprach und nicht ahnte, daß ich von dieser Reise ein Andenken für Lebenszeit bekommen würde.
Am Abend erschien der Polizeiagent, Mr. Carpe, und wurde in das Zimmer des Hausherrn geführt in dem sich außer diesem noch William und ich befanden. Es war ein kleiner, unscheinbarer Mann mit ein paar grauen, ruhigen Augen, welche, wie ich später wahrnahm, für gewöhnlich beinahe nichtssagend und gleichgültig dreinschauten, die er aber beim Eintreten mit einer Schärfe auf mich gerichtet hielt, als ob er in einem Augenblicke mein ganzes Wesen durchschauen wollte. Es wurde der übliche Thee servirt, und Mr. Burting setzte ihm den Grund der Einladung auseinander. Ich verstand Englisch genug, um dem Gespräche folgen zu können.
Als Mr. Burting geendet, nickte der Kleine, der ruhig zugehört hatte, mit dem Kopfe und sagte fast leichthin:
„So ist es, Mr. Burting, ich weiß schon.“
„Wie, Sie wissen –?“ rief der Angeredete voll Staunen.
Der Agent lächelte ein wenig.
„Wozu wäre ich, was ich bin? – Uebrigens seien Sie unbesorgt! Es weiß sonst Niemand um die Sache.“
„Aber mein Gott, woher?“
„Genug, daß ich es weiß!“ wehrte Mr. Carpe leicht ab. „Ich war schon gestern unterrichtet. Unsere Verbindungen reichen weit.“
„Und was rathen Sie da, was zu thun sei?“
„Zunächst einige Fragen, Mr. Burting. Nach Buffalo benutzen Sie für Ihre Firma den Draht Nummer siebenzehn?“
Der alte Herr nickte.
„Und das zwar schon seit vier Jahren?“
„Jawohl.“
„Das ist – verzeihen Sie mir! – eine Unvorsichtigkeit. Sie hätten einmal wechseln sollen.“
Das Gespräch bewegte sich noch um einige nebensächliche Dinge, und der Mann erhob sich dann wieder.
„Ich gedenke spätestens übermorgen wieder hier zu sein. Unterdessen bitte ich Sie, gar nichts in dieser Angelegenheit thun zu wollen. Wir werden dann weiter darüber sprechen.“
Der Agent empfahl sich und wir blieben zurück.
Ich sah William an. Der kleine Mann mit den ausdruckslosen Augen und der trockenen Redeweise hatte mir gar kein Vertrauen eingeflößt. Zudem erschien er mir zur Durchführung einer möglicher Weise gefährlichen Expedition zu schwächlich und energielos. Ich konnte nicht umhin, diese meine Bedenken zu äußern. William schüttelte jedoch seine aschfarbenen Locken.
„Maske, lieber Freund,“ sagte er kurz; „diese Augen sind schärfer als die des Adlers, und in seinem kleinen Körper hat der Mann Sehnen von Stahl. Er ist einer der besten Agenten, und wenn es ihm nicht gelingt, dem Betruge auf die Spur zu kommen, so vermag es Keiner.“
Bereits am Mittag des dritten Tages kam er wieder. Er hatte sich die Depeschenbücher des Telegraphenamts in New-York sowie in Elmira und Buffalo vorlegen lassen und die betreffenden Beamten scharf inquirirt, aber nichts ordnungswidriges entdecken können. Sein Gesicht zeigte einen Anflug von Verstimmung.
„Haben Sie in den letzten vier Jahren einen Wechsel in Ihrem Comptoir-Personal gehabt?“ fragte er, nachdem er seinen Bericht beendet hatte.
„Vor etwa drei Vierteljahren haben wir einen Commis entlassen, da er nicht pünktlich genug in seinen Pflichten war,“ gab William an Stelle seines Vaters zur Antwort; „sonst ist das Personal dasselbe geblieben.“
Mr. Carpe sah auf. „Haben Sie wieder etwas von dem Manne gehört?“
„Nein.“
„Woher kam er, als er bei Ihnen eintrat?“
„Er war in der Fabrik mechanischer und chemischer Instrumente von Norton und Compagnie in Narrowsburgh gewesen.“
Der Agent blickte lebhafter.
„Und wie sind Sie mit ihm aus einander gekommen.“
Mr. Burting zuckte die Achseln. „Nicht zum Besten,“ sagte er kurz; „er hatte sich Versäumnisse zu Schulden kommen lassen, und ich machte ihm einen Gehaltsabzug.“
[119] Der Polizeimann nickte wieder. „Haben Sie Gelegenheit gehabt, seinen Charakter kennen zu lernen?“
„Leider, ja. Er war genußsüchtig und heißblütig.“
Mr. Carpe schien befriedigt. Sein vorher unzufriedenes Gesicht hatte sich außerordentlich erhellt.
„Es ist gut,“ sagte er ruhig, „ich denke, ich habe etwas gefunden. – Lassen Sie morgen,“ fuhr er fort, indem er Herrn Burting einige Papiere übergab, „diese Depeschen zu den dabei angegebenen Zeiten nach Elmira und Buffalo abgehen; nach den Antworten, welche ich den Filialen bereits vorgelegt habe, werde ich bald gefunden haben, an welcher Stelle ich angreifen muß. Im Uebrigen benutzen Sie von dieser Stunde an zu Ihren wirklichen Geschäftsdepeschen Nummer dreizehn! – Sie werden mich begleiten?“ wandte er sich an William.
William bejahte. „Dieser Herr hier,“ fügte er auf mich deutend hinzu, „wird auch mitreisen, und außerdem gedenke ich unseren schwarzen Tim mitzunehmen.“
„Gut,“ sagte der Agent. „Für einige Waffen bitte ich sorgen zu wollen,“ setzte er hinzu.
Mir klopfte das Herz. Wenn der Sicherheitsbeamte das Mitnehmen von Waffen auf der Linie des Erie-Railway empfahl, so mußte man auf eine ernste Wendung der Sache gefaßt sein. Wir bestiegen noch gegen Abend wohlbewaffnet den prachtvollen Pullmann and Wayner Car, einen jener Schlafwaggons, die gleich kleinen Zauberpalästen dem Reisenden alle nur erdenklichen Annehmlichkeiten bieten, und wachten, ohne von der riesigen Schnelligkeit eines amerikanischen Nachtschnellzugs in den weichen Kissen und dem sanftrollenden Wagen das Mindeste verspürt zu haben, früh in Buffalo auf.
Unser gleichgültig dreinschauender Polizeiagent schien seinen Feldzugsplan schon völlig geordnet zu haben, denn kaum waren wir angekommen, so wurden auch schon wieder Billets zur Heimfahrt gelöst, das Frühstück im Waggon eingenommen, und nun begann der Mann eine eigenthümliche, geschäftige Thätigkeit.
Auf den größeren Stationen, wie Attika, Portage, Hornellsville-Corning, stieg er aus, um nach wenigen Augenblicken wieder zu erscheinen und ruhig mit uns weiter zu fahren. Da wir uns nicht erklären konnten, was er in den wenigen Secunden des Aufenthalts Ersprießliches ausrichte könne, so erfüllte William den mir sicherlich auf dem Gesichte stehenden Wunsch und befragte den kleinen Mann darum, als wir gerade die Strecke von Elmira nach Waverly allein im Coupé dahinrollten.
Dieser blickte gleichmüthig auf.
„Ihr Papa läßt die von mir ihm übergebenen Depeschen zu den vorgeschriebenen Zeiten nach Buffalo und Elmira abgehen. Die Antworten darauf sind von mir Ihren Filialen schon bei meiner ersten Reise übergeben worden, und an jeder neuen Station bringt mir ein untergeordneter College die daselbst durchgegangene Depesche, aus der ich ersehe, ob sie durch falsche Hände gegangen ist. Bis jetzt ist keine verändert, und wir sind deshalb noch nicht zur Stelle.“
Mr. Carpe lehnte sich wieder zurück und rauchte gemüthlich seine Cigarre weiter. Ich maß den kleinen, unscheinbaren Mann mit verwunderten Blicken, erstaunt über die Sorgfalt, mit der er sein Werk vorbereitet hatte. Seine Anordnungen, seine Antworten geschahen alle mit solcher Präcision, er schien seiner Sache schon so gewiß zu sein, daß er auch nicht im mindesten irgend eine Unruhe verrieth.
Jenseits Waverly nähert sich der zwischen Susquehanna und Deposit die Eriebahn kreuzende östliche Arm des Susquehannaflusses mehrmals der Bahn, um sie dann in weiteren Bogen wieder zu verlassen. Der Agent, der sonst für nichts eine merkliche Theilnahme äußerte, schien hier geologische Studien machen zu wollen, denn seine grauen Augen begannen die Gegend höchst genau zu mustern und erglänzten in einer Regsamkeit, daß ich William Recht geben mußte, wenn er gesagt hatte, der Mann habe Augen, so scharf wie ein Adler. Dieselben waren überall und schienen Alles zu sehen.
Wir hatten mehrere Stationen wieder passirt und in Deposit war Mr. Carpe wieder ausgestiegen. Er verweilte diesmal etwas länger, und schon wurde das Zeichen zur Abfahrt gegeben, als er plötzlich an den Wagen geeilt kam und uns hastig zuwinkte, auszusteigen. Wir fuhren wie elektrisirt von unseren Sitzen empor; im nächsten Augenblick sauste der Zug ohne uns dahin, in der Richtung nach New-York. Die Blicke des Kleinen sprühten; er hatte offenbar eine Entdeckung gemacht.
„Wir sind am Ziele,“ sagte er leise und kurz; „die Depesche ist verändert; bis Susquehanna müssen wir zurückfahren.“
Dies geschah bereits in der nächsten Stunde, und der schweigsame Mann sprach während der Fahrt kein Wort mit uns, sondern musterte aufmerksam die beiden Seiten der Bahn. Als wir in Susquehanna anlangten, war der Tag im Sinken.
„Ruhen wir!“ sagte der Agent im gleichgültigsten Ton der Welt, „wir haben morgen einen scharfen Ritt vor uns.“
Es war noch sehr früh am andern Tage, als Mr. Carpe uns weckte. Die Sonne war noch nicht aufgegangen; es herrschte eine halbe Dämmerung.
„Wir müssen eilen,“ bemerkte er kurz, und bereits nach einer halben Stunde saßen wir in den Sätteln, und die[2] Pferde trabten munter in den frischen Morgen hinein.
Wir waren etwa zwei Stunden dahingeritten, der kleine Mann, wie ein Knabe auf dem hochbeinigen Rosse, immer voran, schweigend, die spähenden Augen bald rechts, bald links gewendet – da hielt er plötzlich an und ließ uns nachkommen.
„Hier müssen wir absteigen,“ sagte er einfach, und dabei war er bereits von seinem Pferde gesprungen und warf dem schwarzen Diener Tim die Zügel zu.
Wir sahen einander verblüfft an. Hier zwischen Feld und Wald, fern von allen menschlichen Wohnungen – was hatte das für einen Sinn? Mr. Carpe bemerkte es und lächelte.
„Kommen Sie nur, aber bitte ohne Geräusch. – Du,“ wandte er sich an den Neger, „folgst leise mit den Pferden unserer Spur, und wo ich einen Zweig abbreche, bindest Du die Thiere fest und wartest auf uns! Schnell, meine Herren!“
Das Stückchen nordwestdeutscher Tiefebene, welches in dem Herzogthume Oldenburg politisch zusammengefaßt ist, hat wenig Reste mittelalterlicher Baukunst von Bedeutung aufzuweisen, dafür aber in großer Zahl Denkmäler einer Baukunst, die weit über das Mittelalter zurückreicht: die Hünensteine und Hünenbetten.
Besonders reich an solchen Alterthümern ist die Umgegend von Wildeshausen, einem Städtchen, das für die Heimath Wittekind’s, des berühmten Sachsenherzogs, gilt, und das wohl zweifellos zu den Besitzungen seiner Familie gehört hat. Im Umfange weniger Stunden liegen hier über zwanzig Steinmäler und Hunderte von Todtenhügeln. Am meisten bekannt und aufgesucht sind von den Mälern die „Visbeker Braut“, der „Visbeker Bräutigam“ und der „Opfertisch“ von Engelmannsbeke. In der That verdienen sie diese Auszeichnung, weil sie die großartigsten, wenn auch nicht in allen Stücken besterhaltenen sind. Seit die Eisenbahn von Oldenburg nach Osnabrück eröffnet ist, läßt sich der Besuch von Oldenburg, Bremen, Leer, Osnabrück aus mit Bequemlichkeit in einem Tage ausführen. Von der Bahnstation Ahlhorn beträgt die zurückzulegende Wegstrecke kaum vier Stunden, und es bleibt für Beschauung und Ausruhen Zeit genug übrig. Der Ausflug bietet zugleich dem Reisenden, der vom Gebirge oder aus fruchtbaren Ebenen kommt, Gelegenheit, von der Haide ein genaueres und, wie ich glaube, angenehmeres Bild zu gewinnen, als er aus Erzählungen oder vom Bahnwagen aus sich geschaffen. Ich will versuchen, den Führer zu machen.
Auf der Chaussee, die von der Station Ahlhorn nach Wildeshausen führt, begeben wir uns zunächst zur Visbeker Braut. Fast geradlinig, in langgestreckten Schwellungen und Senkungen zieht sich die Straße zwischen Föhren und Birken [120] hin. Wenn der Ginster blüht, so ist’s bunt hier, denn die Erdwälle an beiden Seiten der Straße sind mit diesen Sandpflanzen wohl besetzt. Wenig Menschen und wenig Häuser sehen wir, und nur ein einziges Dorf wird von der Chaussee durchschnitten. Es ist das alte Dorf Ahlhorn mit ansehnlichen Häusern, weiten grünen Höfen und stolzen Eichen. Nach anderthalb Stunden erreichen wir die Colonie Steinlage, wo einige dreißig neue Ackerbauer die Haide in Ackerland zu verwandeln bemüht sind. Mühselig und kärglich ist ihr Leben und mancher, dem Ausdauer und Enthaltsamkeit oder vielleicht auch das Glück fehlt, geht elend zu Grunde. Aber der Boden ist zwar spröde, doch nicht ganz undankbar, und wo die Bewohner eines Hauses sich tapfer halten, können sie in zweiter oder dritter Generation auf ein weniger hartes und auskömmlicheres Leben rechnen.
Gleich hinter Steinlage – Ort der Steine bedeutet der Name – biegt rechts der Weg zur Visbeker Braut ab. Ein Wegweiser giebt uns die Sicherheit, daß wir nicht fehl gehen. In zehn Minuten stehen wir vor einem länglichen Viereck, das
die Forstverwaltung mit Wall und Graben aus der Haide herausgeschnitten und an beiden Langseiten mit Föhren und Birken bepflanzt hat. Auf dem Viereck liegt die Visbeker Braut. Geradlinig parallel ziehen sich zwei 80 Meter lange Reihen Steine, 7,4 Meter von einander entfernt, von Nordost nach Südwest, wo dieselben durch eine aus vier Blöcken bestehende Querreihe abgeschlossen werden. Die Reihen sind lückenhaft, und von den vorhandenen Steinen manche umgestürzt oder versunken; die nordwestliche Reihe hat noch 40 Steine, wozu 9 oder 10 fehlen mögen, die südwestliche deren 27. Die Steine stehen durchschnittlich 1,6 Meter von einander und schwanken in Bezug auf ihre Höhe zwischen 0,5 und 3 Meter; innerhalb der Reihen ist die Erde etwas höher als außerhalb. Ungefähr 17 Meter vom südwestlichen Ende findet sich im Innern eine Aushöhlung, in und an welcher 8 Steine einen unordentlichen Haufen bilden. Augenschein und Vergleichung mit anderen Denkmälern führen zu dem ziemlich sicheren Schlusse, daß hier ein Grabkeller sich befunden hat, wie wir ihn auf unserem Wege noch besser erhalten antreffen werden. Ob die Neugier müßiger Schäfer, die Habsucht von Schatzgräbern, der Steinbedarf eines bauenden Landmannes oder der Wissensdurst eifriger Alterthümler die Zerstörung bewirkt haben – wer weiß es?
Die Steine sind Granitblöcke, Findlinge oder erratische Steine, ihre Heimath Scandinavien, von wo sie schwimmende Eisfelder oder ungeheuere Gletscher über die ganze norddeutsche, ja alle nordeuropäischen Ebenen in zahlloser Menge verstreut haben. Kein gewachsener Fels ist bis jetzt in unserem Lande gefunden worden, aber die erratischen Blöcke ersetzen reiche Steinbrüche. Zu den Straßen und Chausseen, zu Kirchen- und Hausbauten, zu Einfriedigungen der Bauernhöfe sind seit undenklicher Zeit diese Steine verwendet worden, und noch ist der Schatz nicht erschöpft. Wie wir dieselben in den Denkmälern vor Augen haben, tragen sie keine Zeichen der Bearbeitung durch Werkzeuge an sich, wenn nicht etwa Jemand behufs der Sprengung durch Schießpulver ein Loch hineingebohrt hat. Dennoch zeigen manche so flache Seiten und erscheinen im Vergleich zur überwiegenden Mehrzahl so plattenförmig, daß man sich des Gedankens einer besondern Zurichtung nicht erwehren kann.
Enthalten wir uns vorläufig weiterer Fragen und Betrachtungen und suchen den Bräutigam unserer einsamen Braut! Derselbe liegt nach Westsüdwest, und eine breite Haide trennt uns von ihm. Man sieht ihn von der Braut aus nicht und täuscht sich, wenn man nicht Sonne oder Compaß stets zu Rathe zieht, leicht über die Richtung. Indeß ein menschenfreundlicher Forstmann hat mit einem Haidepfluge zwei neben einander laufende Furchen von Braut zu Bräutigam in den Boden geritzt, und haben wir diese Furchen einmal gefunden, so macht der Weg keine Sorge mehr.
Unser Gang ist nicht ohne Reiz. Die sanften Wellen des Bodens bewirken, daß man meist nichts als Haide sieht. Zeigt sich einmal in weiter Ferne ein Baum, ein Mensch oder selbst nur ein im Sande gebetteter Steinblock, so nehmen sie für das Auge, das keinen Maßstab in der Nähe findet, übertriebene Dimensionen an. Die kleine verkrüppelte Birke wird zu einem Riesenbaum, der Mensch zu einem Kirchthurm, und den Steinblock [121] ist man geneigt für ein Haus zu halten. Vom Kamm einer Bodenwelle aus verfolgt man links den Lauf eines Baches, der Engelmannsbeke, oder wie sie weiter abwärts heißt, der Aue. Tief in den Sand einschneidend, fließt der Bach bald zwischen steil abfallenden Ufern, bald in
einem schmalen Wiesenthale, und wo die Wiesen auch nur ein wenig sich verbreitern, hat der Mensch auf der Höhe sich angesiedelt, ein Haus gebaut und mit Föhren und Birken, auch wohl, wenn die Ansiedelung nicht ganz jung mehr ist, mit einigen Eichen und Obstbäumen umpflanzt. Rechts nach Norden hin gewinnt man einen Blick auf jene Colonisten, die sich längs der Chaussee muthigen Sinnes ein Heim gegründet, auf das Dorf Ahlhorn, das in dieser Ferne sich weniger durch seine versteckt liegenden Häuser als durch seine stattlichen Eichen als ein altes Sachsendorf ausweist.
Um uns herrscht tiefe Einsamkeit, aber die Einsamkeit ist nicht todt. Rothblühendes Haidekraut bedeckt in dichter Fülle den Boden. Eine einzige Art ist es, calluna vulgaris, die eine fast ausschließliche Alleinherrschaft
ausübt. Nur in den Vertiefungen, in denen das Wasser sich erhalten oder doch dem Boden dauernde Feuchtigkeit verliehen hat, machen die Glockenhaide (erica tetralix), das Fingerkraut und der reizende und neuerdings so viel beachtete Sonnenthau nebst allerlei Gräsern und Moosen ihr den Raum erfolgreich streitig. Um die Blüthen flattern tausend und aber tausend zierliche blaue Schmetterlinge, Argus genannt, und die Bienen suchen hier den letzten Honig, den das Jahr ihnen bietet, ehe sie ihre Winterquartiere beziehen. Kleine graue und grüne Grashüpfer springen in kurzen Sätzen um unsere Füße, und manchmal schwirrt oder richtiger schnarrt eine größere Heuschrecke mit leuchtend rothen Hinterflügeln aus dem Kraut in die Luft, um zehn Schritte weiter wieder hinabzufallen. Auf der Erde kriechen Spinnen und Käfer,
und mitunter huscht eine schlanke Eidechse durch die Haidebüschchen. Einen Vogel sieht und hört man nicht, es sei denn, daß eine Lerche von den Feldern des Dorfes her in fahrendem Sängerthum sich bis über die Haide verirrt oder ein Krähenpaar in hohem Fluge weit über unsere Häupter weg von einem Walde zum andern zieht. Kurz, ein reiches Thier- und Pflanzenleben, aber ein Kleinleben. Doch vergesse ich der Schafheerden nicht, der Heerden von Haidschnucken, die im nordwestlichen Deutschland ja fast mit Nothwendigkeit der Haide zur Staffage dienen. Nicht allzu häufig – denn der Bauer hier scheint seine Haide zu schonen – aber doch ein- oder zweimal treffen wir sie. Die kleinen weiß-, meist aber schwarzwolligen Thierchen knuspern mit Behagen das dürre Kraut und schieben sich in gedrängten Haufen langsam auf der Fläche hin. Der Schäfer folgt, emsig an einem Strumpfe strickend, eingehüllt in einen weißwollenen Mantel, der ihn nicht nur gegen Regen und Wind, sondern auch gegen die Sonne schützt. Natürlich fehlt auch der Hund nicht, ein schwarz- und weißgescheckter Spitz, der gegen jeden Fremden einen wahren Ingrimm hegt und kaum einen Steinwurf so übel nimmt, wie wenn man sein unaufhörliches Bellen durch Schmeichelworte zu beschwichtigen sucht.
Das Gehen durch die Haide ist mühsam. Oft stolpert der Fuß über dicke Haidebüschel, und der hochbeinige Hahnentritt, zu dem man sich zeitweilig entschließt, läßt sich nicht lange festhalten. Die Schuhsohlen werden so glatt, als wären sie polirt, sodaß der Tritt seine Sicherheit verliert. Doch lassen wir uns den Gang nicht verdrießen! Die eigenthümlichen Eindrücke unserer Umgebung wiegen die Mühen auf, und zur wirklichen Ermüdung läßt uns die Kürze des Weges nicht gelangen. Schon nach vierzig Minuten erreichen wir zwei aufgedeckte Grabkeller. Sie können, ja sie werden ähnlich so ausgesehen haben, wie unser größtes Bild den einen darstellt. Jetzt sehen wir, halb aus der Erde ragend, drei aus großen neben einander gestellten und mit der flachsten Seite nach innen gekehrten Granitblöcken zusammengesetzte Mauern, welche einen hohlen Raum einschließen und nur nach der einen westlichen Seite offen lassen. Oben auf den Mauern liegt ein flacher Deckstein, groß genug, um mehr als einem Dutzend Menschen Platz zum Stehen zu bieten. Die umherliegende Erde und die Gestalt des festen Bodens ergeben, daß die Kammer mit Erde bedeckt gewesen und das Ganze ein Todtenhügel ist. Erde hat ohne Zweifel auch den inneren Raum erfüllt. Von Erde bedeckt findet man in den Kellern oder Kammern dieser Todtenhügel gewöhnlich Urnen, mitunter nur eine, gewöhnlich mehrere, ja bis zu zwanzig und darüber. Aus Thon geformt, enthalten sie neben der eingedrungenen Erde Aschentheile und steinerne oder bronzene, selten aus anderen Metallen gefertigte Geräthe. Oefter noch liegen die Geräthe neben den Urnen. Die Beschaffenheit der Asche läßt keinen Zweifel übrig, daß dieselbe von Leichenverbrennungen herstammt. Skelete hat man fast nie gefunden; der Schädel in unserem Bilde ist decorative Zugabe des Zeichners. Die Geräthe sind ihrer Bestimmung nach noch zu einem großen Theile unbekannt, ihre Form mannigfach, und die Kunst, welche bei ihrer Anfertigung angewandt ist, steht auf sehr verschiedenen Stufen. Neben den rohesten Erzeugnissen einer ungeschulten Industrie werden dann und wann unverkennbar römische Arbeiten, und keineswegs immer der schlechtesten Art, gefunden. Grabkeller sind auch, soweit man hat feststellen können, die Steingewölbe, welche man in den großen Steinumzäunungen [122] zum Theil sieht, zum Theil mit Hülfe wohlbegründeter Schlüsse aus den Trümmern im Geiste wieder aufbaut, aber meist in größeren Dimensionen und gewaltigeren Eindrucks. Gewöhnlich werden die Steine, wenn ein Bauer einen Keller dieser Art aufgräbt, zu Chausseebauten verkauft oder in und bei dem Hause als Fundament, Einfassung, Trittsteine verwendet. Mitunter dient auch der Keller, wie er war, zum Kartoffelkeller oder als Schutz- und Aufbewahrungsort bei schlechtem Wetter für Mensch und Geräth.
Zehn Minuten weiter sind wir beim „Bräutigam“. Wiederum ist ein ziemlich großes Viereck mit Wällen und Gräben aus der Haide ausgesondert und mit Föhren bepflanzt, die hier kräftig genug gedeihen. Der Platz liegt auf einer Abdachung der Haide gegen die Engelmannsbeke und ist daher in weiterer Ferne nicht zu sehen. Außer dem „Bräutigam“ umschließt er noch drei oder vier Denkmale, die zum Theil mit moosüberwachsenem Sande bedeckt sind. Der „Bräutigam“ ist ein ähnliches Gebilde wie die „Braut“, nur größer; zwei gerade in einem Abstande von 7,5 Meter von Ost nach West neben einander hinlaufende Steinreihen von 103 bis 104 Meter Länge, an beiden Enden durch Querreihen größerer Steine geschlossen; innerhalb der Steinsetzung, 10 Meter vom westlichen Ende beginnend, liegen fünf große Steine neben einander, vermuthlich ebenfalls Reste eines Todtenkellers. Die Langreihen sind besser erhalten als bei der „Braut“, und es mögen nicht mehr als sieben oder acht Steine fehlen, reichlich fünfzig auf jeder Seite noch vorhanden sein. Unter den übrigen in demselben Gehege befaßten Mälern ist das größte nur 30 Meter lang, enthält aber mehr innerhalb der Steinsetzung belegene Blöcke, und diese lassen die ehemaligen Steinkammern noch deutlich erkennen. Gerade dieses Denkmal ist halb vom Sande verschüttet und ergiebt sich vielleicht, wenn aufgedeckt, als das besterhaltene in dieser Gegend. Die übrigen sind unbedeutender, und nur der eine bietet ein Beispiel eines nicht zerstörten Kellers, wo sogar neben einander vier Decksteine, jeder auf drei Trägern, angetroffen werden.
Auf der anderen Seite des Baches, fünf Minuten vom „Bräutigam“ entfernt, neben dem Bauernhofe Engelmann, treffen wir endlich den „Opfertisch“. Auf acht starken, im Viereck stehenden Trägern ruht eine Platte von 4,14 Meter Länge, 3 Meter Breite und 0,85 Meter Dicke. Wie ein daneben liegendes Bruchstück beweist, hat die Länge ursprünglich reichlich 5 Meter betragen. Unmittelbar daran liegen weitere acht Träger, auf welchen ein noch größerer Deckstein gelegen hat, der aber vor längerer Zeit gesprengt und zu einem Hausbau verwendet worden ist. Unter der Platte hat man eine Urne mit Asche und Knochen gefunden. Dieser „Opfertisch“ liegt sehr malerisch von fünf Eichen beschattet und umwachsen von Brombeeren und wilden Blumen; auf der einen Seite dehnt sich die braune Haide; auf der anderen liegt, von jungem Holze eingefaßt, ein grünes Ackerfeld.
Das sind die Mäler, zu denen uns der heutige Weg führt. Wollten wir den Gang nach Wildeshausen und etwas darüber hinaus ausdehnen, so würden wir ihrer noch eine Menge finden, namentlich auch solche, wo die Steinkammern noch vorhanden sind, darunter eins mit sieben großen Decksteinen neben einander bei dem Dorfe Kleinenkneten. Allein der Charakter dieser Reste aus alter Zeit bleibt doch immer im Wesentlichen derselbe: Steinkammern von verschiedener Größe, umgeben von Steinsetzungen, bald der eine Theil großartiger oder besser erhalten, bald der andere. Auch der Eindruck, den der Beschauer empfängt, bleibt der nämliche. Die mächtigen Blöcke, in langen Reihen aufgestellt oder in einfachster Weise so auf einander gelegt, daß sie einen hohlen Raum umschließen, mögen den Regeln künstlerischer Schönheit wenig entsprechen, aber sie erwecken den Gedanken an gewaltige Kräfte, die hier aufgeboten sind. Die rohe Form der Steine, die Ungleichheit in den Maßen, der ungefüge Aufbau, dann auch die Einsamkeit und Abgeschiedenheit der Lage, das Schweigen rings umher, das Alles steht im schärfsten Gegensatze zu einer lebendig bewegten, am Schönen und Heiteren sich erfreuenden Menschenwelt, aber nichts könnte auch besser das Ausscheiden aus dieser Menschenwelt und die Rückkehr zur Natur, des Staubes zum Staube, den Eingang zur Todtenwelt ausdrücken. Eine tief melancholische Stimmung schlummert in diesen Gebilden, und mag die Sonne die bemoosten Blöcke mit ihren Strahlen vergolden oder der Mond im Kampf mit den Wolken seine weißen Lichter auf sie werfen – mit sinnendem, ernstem Schweigen wird der Beschauer zuerst sie betrachten.
Zuerst – ja. Aber dann regen sich in der vorwitzigen Menschenseele Fragen über Fragen, Fragen nach dem wo? wie? wann? warum? und wie sie sonst heißen mögen, Fragen, auf die leider nur sehr ungenügende Antwort gegeben werden kann.
Hünensteine und Hünengräber nennt das Volk diese Steingruppen und denkt dabei an ein Riesengeschlecht, das hier seine Todten begraben und ihm zu Ehren die Steine gehäuft habe. Und ist es in humoristischer Stimmung, so läßt es die Steine Bälle sein, welche in fröhlichem Spiele die Riesen von einer Haidehöhe zur andern sich zuwarfen. Wer anders könnte auch, sagte mir ein alter Forstwärter, diese Hunderte von Centnern wiegenden Blöcke fortbewegt haben? Und der gute Mann wohnte mitten unter Bauern, die ihren Hof mit ähnlichen, ja zum Theil mit denselben Steinen eingezäunt haben, die ihre Vorfahren zu den Denkmälern zusammen geschleppt hatten! Riesenvölker kennt eben nur die Sage, nicht die Geschichte.
Die aus großen Steinen, namentlich Granitfindlingen zusammengesetzten Denkmäler sind weit verbreitet. In Vorderindien, im Norden des schwarzen Meeres, im nördlichen Rußland, rund um die Ostsee und die Nordsee, in Irland, in fast ganz Frankreich, an den spanischen und portugiesischen Küsten, in Nordafrika und einzeln in Italien und Griechenland kommen sie vor, aber mit wenigen Ausnahmen nur in der Nähe des Meeres. Weil neben Scandinavien und Deutschland vorzugsweise Irland und Wales und die nordwestlichen Küsten Frankreichs reich an Denkmälern sind, haben sich keltische Benennungen für dieselben in der Wissenschaft fast schon das Bürgerrecht errungen. So nennt man die Steinbauten Dolmen, die Einzelsteine, mögen sie nun vereinzelt oder in Gruppen stehen, Menhirs. Bei aller Mannigfaltigkeit in den Formen glauben einige Forscher doch die Denkmäler auf ein einziges Volk zurückführen zu müssen, etwa ein indogermanisches Volk, das vor dem Beginn der Geschichte aus dem Osten ausgewandert und nach Europa gezogen sei, wo es sich an den Meeren ausgebreitet und endlich durch später folgende keltische und germanische Völker seinen Untergang gefunden habe. Ich vermag jenen weitgreifenden Combinationen nicht zu folgen und meine, daß die Steinbauten und Gruppen wie die Todtenhügel, mit welchen die Haiden Norddeutschlands bedeckt sind, unseren nächsten Vorfahren, den heidnischen Deutschen, ihren Ursprung verdanken. Die Funde, die man hier und in Scandinavien gemacht, und vieles, was die schriftliche Ueberlieferung des Nordens uns erhalten hat, lassen mir dies als das Glaubwürdigste erscheinen.
Daß die Steindenkmäler Grabstätten sind, wird nicht bezweifelt. Wie die Todtenhügel einzelnen Familien der Freien, so mögen die Steinmäler den Edeln, die großen den allervornehmsten Edeln, welche aus ihrer Mitte die Herzöge und, wo es Könige gab, Könige lieferten, zur letzten Ruhestätte und zum ergreifenden Denkmal gedient haben. Die Steinsetzungen mögen selbst dabei, je nach[3] ihren Formen, bestimmt gewesen sein, gewisse Gedanken zu versinnlichen. Vielleicht auch haben die Denkmäler noch anderen Zwecken als dem bloßen Gedächtniß der Todten gedient. Ist nicht die breite Platte, welche die Urnen deckt, ein bequemer Opfertisch? Sind nicht die Steinsetzungen bei Gerichts- und Volksversammlungen zu Sitzen für die Richter, die Priester und die Edeln wie geschaffen? Viele sagen Ja; ich komme über ein Nein nicht hinaus. Man müßte schon, wozu wir doch keinen Anlaß haben, unsere Vorfahren für Riesen halten, und selbst für solche bleibt eine Sitzordnung, welche etwa 110 Plätze auf zwei Reihen von 103 Meter Länge vertheilt, eine möglichst ungünstige. Es mag ja sein, daß irgendwie an diesen Stätten Priester und Volk zur Uebung gottesdienstlicher Bräuche, zur Anrufung der Götter in Noth und Gefahr, zur Darbringung des Dankes nach erfochtenem Siege, zur Weihung der Jugend sich vereinigt haben, aber bewiesen ist von allem diesem nichts.
Von unserem Visbeker Brautpaar hat der Volksmund noch eine besondere Deutung. Ein Mädchen aus dem benachbarten Großenkneten sollte von ihren Eltern gezwungen werden, eines reichen Bauern Sohn zu Visbek zu heirathen, während sie ihr Herz einem anderen schöneren und besseren, aber leider armen Jüngling zugewandt hatte. All ihr Bitten und Flehen blieb unerhört, und der Hochzeitstag ward angesetzt. Als nun die Braut mit ihrem Brautgefolge zur Trauung nach Visbek zog [123] und den Thurm der Visbeker Kirche erblickte, da betete sie, daß der liebe Gott sie in Stein verwandeln möge, damit sie nicht zu der verhaßten Ehe gezwungen würde. Und Gott war gnädiger als die Eltern. Sowohl die Braut mit ihrem Gefolge, als der Bräutigam, der ihr mit den Seinigen über Engelmannsbeke entgegenkam, stehen in Stein verwandelt da.
Die Sage von Bräuten und Hochzeitszügen, die in Stein verwandelt sind, kommt auch anderwärts vor. Wenn drei Steingruppen, welche reichlich 5½ Kilometer nordöstlich von der Visbeker Braut, bei dem Dorfe Glane liegen, die Glaner Braut heißen, so mag das nur eine Entlehnung von dem bekannteren Visbeker Denkmale sein. Aber Name und Sage werden auch aus Holstein, aus der Mark und selbst aus England berichtet. Der Forschung ist die Wiederholung das Zeichen uralter Ueberlieferung von wohl mythologischem Ursprunge.
Jenes ist eine Deutung, wie sie in der Spinnstube leben mag; eine andere hat der alt-ansässige Bauer. Kaiser Karl und Herzog Wittekind – so erzählte mir ein solcher – haben in der Haide bei Visbek und Engelmannsbeke blutige Schlachten geschlagen. Die Sachsen errangen den Sieg und begruben die Todten, und über den Gräbern der vornehmsten Feldobersten, der fränkischen sowohl wie der ihrigen, errichteten sie aus den zerstreut auf der Haide liegenden Steinen große Denkmäler. Gar viel wußte der Bauer von den Fürsten und ihren Feldzügen zu erzählen, und ich merkte bald, daß er wohlbewußt Gelesenes mit Anderem vermischte. Woher er dieses Andere hatte, vermochte ich nicht zu erforschen; er wich mir aus. In der Haide, sagte er, habe er ein mit alter Schrift bedrucktes Blatt gefunden, darauf habe es gestanden. Ob nicht die Haide selbst das Blatt, und die Denkmäler die alte Schrift gewesen sind?
Blätter und Blüthen.
Eine Erinnerung an Herder. An einem Augusttage des Jahres 1757 saß auf einem dicht mit Gesträuch bewachsenen Hügel, der nur wenige Schritte von dem kleinen ostpreußischen Städtchen Mohrungen entfernt war, ein bleicher, schwächlicher Knabe von ungefähr zwölf Jahren. Sinnend schaute er mit seinen blauen Augen, von denen leider das eine durch eine Thränenfistel entstellt war, in die Ferne, als suche er etwas am äußersten Saume des Horizontes. Zu seinen Füßen saß im weichen Grase ein liebliches, etwa zwei Jahre jüngeres Mädchen, das sich mit dem Flechten eines Kranzes beschäftigte.
Der Knabe war Johann Gottfried Herder, und das Mädchen, welches den Namen Röschen führte, die Tochter des Tuchmachers B… aus Mohrungen. Beide Kinder waren sich außerordentlich zugethan, und hatten, da die Wohnungen ihrer Eltern in derselben Straße lagen, in früher Jugend fast täglich mit einander gespielt; jetzt fand der zur Schwermuth hinneigende Knabe wenig Gefallen mehr am Spiel. Seine Wißbegierde war lebhaft erwacht, und oft sah man ihn, besonders aber im Sommer an den Sonntagnachmittagen, mit einem Buche in der Tasche zum Thore des Städtchens hinauswandern. Gewöhnlich war der kleine mit Buschwerk bewachsene Hügel sein Ziel; hier legte er sich in das grüne Gras, zog sein Buch hervor und las nicht selten so lange, bis es dunkel wurde. Meistens fand sich auch Röschen hier ein, und dann las ihr wohl der Knabe laut vor; aber damit war es sofort aus, sobald sie unaufmerksam wurde oder gar einschlief. Er machte in einem solchen Falle entweder das Buch zu und sah schweigend in die Ferne, oder er las still für sich weiter, und ihre dringenden Bitten, doch wieder laut zu lesen, blieben gewöhnlich ohne Erfolg. Sie holte dann Blumen und Laub und flocht zu seinen Füßen Kränze für uhr Lockenköpfchen.
Sie mochten Beide eine halbe Stunde schweigend gesessen haben, da sprang der Knabe plötzlich auf und rief: „Röschen, ein Kosak! Er jagt gerade auf uns los.“
Wir müssen uns erinnern, daß die Geschichte im Anfang des siebenjährigen Krieges spielt, als der größte Theil Ostpreußens von den Russen in Besitz genommen war. Der preußische General Lehwaldt hatte bei Jägerndorf der Uebermacht unterliegen müssen, und nun drängten sich die russischen Heeresmassen bis an die Weichsel. Voran streiften die Kosaken auf ihren flüchtigen Rossen durch das Land und begingen furchtbare Gräuelthaten. Alt und Jung zitterte vor dieser wilden Horde, die selbst die Kinder in der Wiege nicht verschonte.
Kaum hatte Herder das Wort „Kosak“ ausgesprochen, so stand Röschen auch schon auf den Füßen und fragte ängstlich: „Wo, wo?“
Herder deutete mit dem Finger auf einen etwa tausend Schritt entfernten Reiter, der in sausendem Galopp auf den Hügel zusprengte. Eiligst ergriffen Beide die Flucht; in ihrer Angst wandten sie sich aber nicht nach der nur etwa fünfhundert Schritte entfernten Stadt, sondern schlugen die Richtung nach einem etwas weiter entfernten Walde ein. Kaum befanden sie sich auf der ebenen Ackerfläche, da bemerkte sie der Kosak, der vermuthlich vom Hügel aus das Terrain recognosciren wollte. Er hält sein Roß an, wirft es aber schon im nächsten Augenblicke herum und setzt den Kindern in wildem Galopp über die Stoppelfelder nach. Schon fällt er die Lanze, um das Mädchen, welches hinter dem rascheren Knaben etwas zurückgeblieben ist, niederzustechen; schon kreischt Röschen in Todesangst laut auf: da in diesem entscheidenden Momente entreißt der Wind der Fliehenden das rothe Halstuch, und flatternd steigt es dicht vor den Augen des Kosakenpferdes in die Luft. Das Thier wird scheu, macht einen kurzen, kräftigen Seitensprung, wirft seinen Reiter in eine Ackerfurche und rennt in wilden Sätzen über die abgemähten Felder. Wüthend erhebt sich der Kosak und schüttelt seine gequetschten Gliedmaßen. Auf einen gellenden Pfiff kommt jedoch das flüchtige Pferd wieder herbei; es erhält einige Knutenhiebe für seine Unart, und dann besteigt es der Kosak wieder, um seine Jagd auf’s Neue zu beginnen. Als er aber im Sattel sitzt, hat Röschen eben den Saum des Waldes erreicht und verschwindet im Dickicht, wo der Knabe sie bereits erwartet. Kaum bemerkt dieser, daß der Kosak ihre Verfolgung wieder aufnimmt, so ergreift er Röschen bei der Hand und flieht weiter in den Wald. Das Mädchen fängt an laut zu weinen.
„Still, Röschen, still!“ flüstert Gottfried, „der Kosak hört dich.“
Augenblicklich unterdrückt das Mädchen ihre Klagelaute und überläßt sich willig der Leitung des Knaben. Noch etwa dreihundert Schritte fliehen sie. Da vernehmen sie ein Rascheln und Knacken in den Zweigen, und schließen daraus, daß der Kosak auch schon im Walde ist. Röschen will wieder weinen, aber der Knabe beruhigt sie nochmals.
„Still, still!“ sagt er, „wir verstecken uns in der hohlen Linde, die in der Nähe steht.“
Schnell zieht er das Mädchen mit sich fort; das Knacken und Rascheln kommt näher und immer näher, die Linde ist schon ganz nahe: da stolpert Röschen über einen Erdhaufen und verletzt sich am Fuße. Der Knabe aber reißt sie schnell empor und trägt sie mit aller Anstrengung seiner Kräfte nach dem noch etwa fünf Schritt entfernten Baum. Eiligst schlüpfen die Kinder hinein, und kaum verbirgt sie der hohle Stamm, da bricht der Kosak aus dem Dickicht hervor und jagt an der Linde vorüber. Die Kinder waren gerettet.
Erst bei einbrechender Dunkelheit wagten es die Beiden, ihren Zufluchtsort zu verlassen und sich auf den Heimweg zu machen. Jedes Geräusch vermeidend, schlichen sie sich zum Walde hinaus; denn sie fürchteten, ihr wilder Verfolger sei noch immer in der Nähe und lauere auf sie. Unangefochten indeß kamen sie der Stadt immer näher; schon befanden sie sich auf der Brücke, die nur wenige Schritte vom Thor entfernt war – da vernahmen sie plötzlich rauhe, fremde Stimmen und den Hufschlag von galoppirenden Pferden.
„Das sind Kosaken,“ ruft der Knabe.
Zitternd bleibt Röschen stehen, ihr Begleiter aber ergreift sie und zieht sie schnell unter die Brücke. Im nächsten Augenblick sprengen vierzig bis fünfzig Kosaken, die in der Stadt geplündert hatten und sich jetzt zum Hauptcorps begaben, über den Köpfen der Kinder dahin.
Als der Knabe nicht mehr den Hufschlag der Pferde vernahm, wagte er sich mit Röschen wieder auf die Landstraße und war in wenigen Minuten in der Stadt, wo er noch Alles in größter Aufregung fand.
So endete dieses Jugendabenteuer Herder’s.
In Bezug auf das Verhältniß Herder’s zu Röschen, die im Jahre 1798 starb und deren Nachkommen jetzt in Ostpreußen leben, bemerke ich noch, daß Röschen wahrscheinlich der Gegenstand von Herder’s erster Liebe war. Daß zwischen Beiden wenigstens ein inniges Freundschaftsverhältniß bestand, geht aus einem Briefe Herder’s hervor, den er 1762 von Königsberg, woselbst er sich mit seinem Gönner, dem russischen Regimentsarzte Schwarzerloch aufhielt, an Röschen schrieb und der von ihren Nachkommen noch gegenwärtig wie ein Heiligthum aufbewahrt wird. Es heißt darin:
„Mein liebes Röschen! Seit acht Tagen bin ich in Königsberg. Schwarzerloch führt mich überall umher, und ich habe in dieser kurzen Zeit so viel Großes und Schönes gesehen, daß ich nicht begreife, wie sich das Alles in eine Stadt zusammendrängen kann. Ich würde mich aber über diese Herrlichkeiten weit mehr freuen, wenn ich sie Dir auch zeigen könnte…“
Röschen heiratete im Jahre 1767, als Herder Lehrer an der Domschule in Riga war, einen Tuchmacher in Mohrungen. Leider gehörte diese Ehe zu den nicht glücklichen; der Mann war ein Wüstling und brachte seine Familie fast bis an den Bettelstab. Herder hat die arme Frau und ihre Familie unterstützt. So schickte er im Jahre 1791 von Weimar aus, als sich Röschen’s Tochter verheirathete, dreißig Thaler zum Hochzeitsgeschenk, und wiederum sendete er dreißig Thaler, als sich Röschen’s Sohn in Mohrungen als Meister niederließ.
Mondscheinleute. Die vorstehende Bezeichnung hat mit der von den Romantikern so viel besungenen „mondbeglänzten Zaubernacht, die den Sinn gefangen hält“, gar nichts zu thun, noch deutet sie auf eine „wunderbare Märchenwelt“ hin, die „in alter Pracht“ heraufsteigt, sie bezieht sich vielmehr auf einem sehr realen Vorgang. Es giebt nämlich in einigen Südstaaten der nordamerikanischen Union, vorzugsweise in Georgien, Leute, die unter dem Namen „Mondscheinleute“ (moonshiners) sich mit einer seltenen Zähigkeit gegen bestehende staatliche Vorschriften auflehnen und ihre vom Gesetze verbotene Beschäftigung mit den Waffen in der Hand fortsetzen. Die Beschäftigung dieser eigenthümlichen Sorte von Leuten ist aber das Branntweinbrennen. Die Sache hängt, kurz erzählt, folgendermaßen zusammen.
Durch den Bürgerkrieg, den die südlichen Sklavenhalter vor etwa achtzehn Jahren über die Union heraufbeschworen, wurde bekanntlich [124] den Vereinigten Staaten eine ganz enorme Schuldenlast aufgebürdet, zu deren Abtragung sich bald genug schwere und drückende Steuern notwendig machten. Eine der einträglichsten Steuern uber war diejenige, welche die Branntweinbrennereien, mochten dieselben groß oder klein sein, traf. Nun gab und giebt es noch in den wilden Wald- und Bergdistricten der Staaten Georgien, Nord- und Süd-Carolina, Kentucky und Tennessee sehr viele kleine Farmer, die, abgeschlossen von den civilisirteren Gegenden ein verhältnißmäßig äußerst einsames Leben führen. Eisenbahnen, Kanäle und schiffbare Flüsse findet man in den genannten Districten wenig oder gar nicht. Die Einwohner sind, wenige Ausnahmen abgerechnet, Ackerbauer, die vorzugsweise Heu und Mais produciren, da das Klima den Anbau von Tabak und Baumwolle nicht gestattet. Mit dem Heu füttern sie ihr Vieh, von dem sie einen Theil nach den größeren Städten treiben und daselbst um einen geringen Preis verkaufen; aus dem von ihnen gebauten Mais aber, den sie mit ihren Familienmitgliedern nicht verzehren, bereiten sie seit undenklicher Zeit Branntwein, denn die Quantität des nicht für den Hausgebrauch und zur Saat nötigen Mais ist so unbedeutend, daß es sich wegen der hohen Transportkosten kaum lohnt, den Ueberschuß auf den Markt zu bringen. Die zur Fabrikation des Whiskey oder sonstiger Spirituosen nothwendigen Destillirgeräthschaften sind in der Regel klein und werden von den erwähnten Farmern ohne große Schwierigkeit nach wenig besuchten, von reißenden Bergflüssen durchströmten Gegenden gebracht, wohin sich die Steuerbeamten der Union nur selten verirren.
Wenn Letztere indeß diese Verstecke dennoch ausgekundschaftet haben und die betreffende Steuer einziehen wollen, so flüchten die Branntwein brennenden Farmer, denen der Volksmund wegen des von ihnen im Geheimen und mit Umgehung des Gesetzes betriebenen Geschäfts den Beinamen „Mondscheinleute“ gegeben hat, mit ihrem Destillirapparate in die wildzerklüfteten Felsschluchten, wo es an schwer zugänglichen Zufluchtsorten nicht fehlt. Folgen ihnen aber die Vertreter des Gesetzes auch bis in diese letzten Schlupfwinkel, so entspinnt sich nur zu häufig ein blutiger Kampf, der oft in ein förmliches Gefecht ausartet, da die „Mondscheinleute“ wohl bewaffnet sind, nach Tausenden zählen und fest zu einander stehen. So lange das Branntweinsteuergesetz in den Vereinigten Staaten existirte, sind Conflicte dieser Art vorgekommen; in der jüngsten Zeit wiederholen sich dieselben in einer wahrhaft beunruhigenden Weise, und fast gewinnt es den Anschein, als ob die Unionsregierung sich bald gezwungen sehen wird, mit entsprechender Militärmacht dem Unwesen zu steuern.
Es ist in der That ein hartes, eigenwilliges und noch dazu leider sehr unwissendes Geschlecht, dieses Bergvolk in den genannten Südstaaten der Union, rauh und unzugänglich, wie die Bergzüge, die es bewohnt. Es führt nicht allein den Pflug, sondern weiß auch die Büchse meisterlich zu gebrauchen, und seine Wälder bergen nicht nur ungefährliches Wild, sondern auch Raubthiere böser Art. Während des Bürgerkrieges sympathisirte es im Ganzen mit dem freien Norden, seit Einführung der Branntweinsteuer aber, in der es nichts Anderes als eine drückende und tyrannische Gewaltmaßregel erblickt, ist diese Sympathie geschwunden. Man wähnt sich von der Union schwer gemißhandelt und hält sich daher zu revolutionärem Widerstande für berechtigt. Sowohl der Expräsident Grant, wie dessen Amtsnachfolger Rutherford B. Hayes haben den „Mondscheinleuten“ Amnestie versprochen, sobald sie vor Gericht erscheinen, ihre Schuld bekennen und Besserung versprechen würden. Einmal kamen auch mehr als sechshundert dieser Gesetzübertreter nach der Stadt Atlanta in Georgien und gelobten sich zu bessern. Aber sobald die Maisernte vorüber war, nahm das gesetzwidrige Branntweinbrennen wieder seinen Anfang. Unter solchen Umständen ist auf eine dauernde Besserung der „Mondscheinleute“ wohl nicht zu hoffen, bis die Unionsregierung mit starker Hand dem Gesetze Achtung verschafft, oder die Steuer fällt.
Der Stolz der Familie. (Zu dem Bilde S. 113.) Es ist eine
noch wenig bemerkte culturgeschichtliche Beobachtung, daß sich das jeweilige
Verhältniß der Völker zu den Fürsten immer auch in dem Verhältniß
der Kinder zu ihren Eltern wiederspiegelt. Die letzte Hälfte des
vorigen Jahrhunderts, in welcher der patriarchalisch-absolutistische Geist
auf den Thronen den Höhepunkt seines Selbstbewußtseins erreichte, in
welcher die Anrede „Er“ für den Niedrigerstehenden die größtmögliche
Erweiterung der Kluft zwischen ihm und dem Höherstehenden bezeichnete,
– diese letzte Hälfte des vorigen Jahrhunderts ist zugleich durch die
tiefste Unterordnung der Kinder unter die Autorität der Eltern und das
höchste Autoritätsbewußtsein der letztern bezeichnet. Das war die Zeit,
da die Kinder den Eltern die Hand küßten und dieselben mit „Sie“ anredeten
selbst bis in die untersten Stände hinab, die Zeit, in welcher es
für ein strafwürdiges Vergehen galt, wenn die Kinder etwas besser wissen
zu wollen, klüger zu sein sich erdreisteten als ihre Eltern. Aus jener
Zeit ist die bekannte Formel für eine strafende Abweisung solcher Ueberhebung
auf uns gekommen. „Das Ei will klüger sein als die Henne.“
Die demokratische Umwandlung des folgenden halben Jahrhunderts hat auch die Eltern den Kindern wieder genähert, die äußeren Zeichen unterwürfiger Devotion sind geschwunden, und wenn bei uns auch nicht, wie in dem eingefleischt republikanischen Amerika, die Jugend sich des Besitzes ihrer Freiheit bis zu dem Grade erfreut, daß sie zur Verteidigung ihres Willens über Revolver verfügt, so ist ihr doch nicht nur nicht verwehrt, klüger zu werden als die Eltern – im Gegenteil, der Wettkampf der entfesselten Kräfte hat es zum Ziel elterlicher Sehnsucht gemacht, von seiten der Kinder ein Maß an Kenntnissen und Bildung errungen zu sehen, welches jenen zu erreichen verwehrt war. Zu keiner Zeit hat die Schule eine solche Bedeutung gehabt, eine solche Förderung erfahren, und zu keiner Zeit haben die Eltern mit der nämlichen Aengstlichkeit die Leistungen ihrer Kinder verfolgt, wie jetzt. Welch ein Kummer, wenn der Sohn zu den unfähigen, welcher Stolz, wenn er zu den besten gehört!
Unser Künstler hat dieser letzteren Empfindung den sprechendsten Ausdruck gegeben. Wohlgefälliger, breiter, behäbiger kann dieser Stolz auf das jugendlich aufgehende Familienlicht, welches da voll feiner Lesefertigkeit vor dem großelterlichen Besuch Zeugniß ablegt, sich nicht geben, als in Haltung und Miene des glücklichen Vaters, verklärter seine Bewunderung des kleinen Hausgötzen nicht ausdrücken als im Antlitz der Großmutter, und wenn man das, was dem würdigen Alten auf den Lippen schwebt, mit zwei Worten sagen wollte, die wir ebenso gut zur Unterschrift unseres Bildes hätten wählen können, so würden diese zwei Worte lauten: „Ein Teufelsjunge!“
Darwin.
(Zum 12. Februar 1879.)
Wie es die kühnsten Bergesriesen wagen,
Hoch über andere emporzustreben,
So seh’ ich in der Menschheit Geistesleben
Titanisch hoch ob Vielen Darwin ragen.
Die auf dem Götterbild zu Saïs lagen,
Die Schleier wagte er emporzuheben,
Und nieder sank er nicht vor ihm mit Beben:
Er hat der Wahrheit Anblick stolz ertragen.
Die Muth’gen rief er zu des Tempels Stufen
Und kündete, was er geschaut, verweg’ner
Als Hutten sein: „Ich hab’s gewagt!“ gerufen.
Des Aberglaubens Dunkel ist gelichtet,
Und damit hat des Wunders größter Gegner
Das größte Wunder aller Zeit verrichtet.
Der Storch als Lastthier. In Nr. 42 des vorigen und in Nr. 5
des laufenden Jahrgangs der „Gartenlaube“ ist der schönen Volkserzählung
gedacht worden, daß der Storch und andere große Wandervögel
kleinere Singvögel, die keine besonderen Flugvirtuosen sind, auf
den Rücken nähmen und in das Land ihrer Sehnsucht trügen. Es wäre
eine allerliebste Geschichte, besonders wenn man annehmen könnte, daß
der Storch die Last willig auf sich nähme, um sich durch die Lieder
seines Passagiers die Zeit bei dem Fluge über weite Wasser- und Landwüsten
vertreiben zu lassen. Möglich, daß dieser Geschichte etwas Wahrheit
zu Grunde liegt, vorläufig mag darauf hingewiesen werden, daß
man sie sehr vorsichtig aufzunehmen hat, einmal, weil sie in die Kategorie
der Storchsagen gehört, und dann auch, weil sie an anderen Orten und
mit Nebenumständen erzählt wird, welche deutlich auf eine Naturdichtung
hinweisen. Schon der ältere Darwin kannte diese Geschichte und theilte
sie in seiner 1794 erschienenen Zoonomia, ohne sie zu glauben und nur
zum Vergnügen der Leser mit. „Gmelin“, erzählt er, „beobachtete in
der Nachbarschaft voll Krasnojarsk (in Sibirien) zwischen verschiedenen
anderen wandernden Wasservögeln eine große Menge Rallen, welche,
wenn sie verfolgt wurden, niemals aufstoben, sondern durch schnelles
Laufen zu entkommen suchten. Wir sprachen davon wie diese Vögel,
welche nicht fliegen, im Winter nach anderen Himmelsstrichen gelangen
könntest, und sowohl die Tataren als die Assanier berichteten uns, daß
sie wohl wüßten, daß die Vögel nicht allein in andere Länder ziehen
könnten, sondern daß, wenn die Störche im Herbste zögen jeder derselben
eine Ralle auf seinen Rücken nähme und sie so in wärmere Klimate
trüge.“ Man sieht, die Störche bekämen viel Gepäck, wenn sie alle
schlechten Flieger huckepack nehmen sollten, und wenn sie sich auch allenfalls
den leichten und kurzweiligen Sänger gefallen lassen könnten,
dürften sie sich die vielleicht doppelt so schwere Ralle wohl verbitten.
Auch haben die Rallen, Wachtelkönige und alle Sumpfhühner, die ebenso
gut laufen wie schwimmen können, keinen genügenden Vorwand, sich geduldigen
Lastthieren aufzudrängeln, die am Ende mit sich selber zu tun
haben. Wahrscheinlich wandern diese Thiere des Nachts und zu Fuße,
und die Sage ist eben nur dadurch entstanden daß man sie nicht oft
fliegen sieht und doch ihre Wanderungen wahrnimmt. Auch mag der
schwarze Saum der Storchflügel aus der Ferne die Täuschung begünstigen,
als ob beim Auffliegen ein dunkles Thier auf den weißen Rücken steige
und beim Niederlassen davon herabgleite, in der Höhe wird man den
Reiter schwerlich jemals wahrnehmen. Diese Erwägungen widerlegen die
hübsche Geschichte nicht, aber sie mahnen zur Vorsicht.
Kinderverkauf! – Zu welchen Opfern fähig, oder – wie hartherzig
die Noth machen kann, dafür spricht ebenso ergreifend wie empörend ein
„Aufruf an mildtätige Menschen“, der uns zur Veröffentlichung eingesandt
wurde. Wir können nicht umhin, ihn als ein Zeichen der Zeit
abzudrucken, keineswegs im Sinne der Einsender. Er lautet:
„Eine durch die Ungunst der Zeitverhältnisse sehr gedrückte Familie beabsichtigt nach Amerika auszuwandern, und da ihr die Mittel gänzlich fehlen, wäre sie gern erbötig, zwei von ihren fünf Kindern, im Alter von vier bis zwölf Jahren, an rechtschaffene kinderlose Eheleute gegen einmalige Abfindung an Kindesstatt abzutreten zur Bezahlung der Ueberfahrtskosten.“ (!)
P. B. in R. Zur Entzifferung unleserlicher Manuscripte fehlt uns jede Zeit. Möge man alle uns zugedachten Beiträge so deutlich wie möglich schreiben!