Die Gartenlaube (1889)/Heft 15

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1889
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[241]

No. 15.   1889.
      Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.

Wöchentlich 2 bis 2½ Bogen. – In Wochennummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pfennig oder jährlich in 14 Heften à 50 Pf. oder 28 Halbheften à 25 Pf.


Nicht im Geleise.

Roman von Ida Boy-Ed.
(Fortsetzung.)


Marbod hatte erwartet, eine schöne Frau zu sehen. In dem Glanze des Glücks, der jetzt auf ihren Zügen lag, erschien die Baronin Offingen ihm mehr als das. Ihr Haar, ihre Augen, ja selbst die Farben und Züge des Gesichtes glichen denselben Einzelheiten bei ihrem Knaben. Ihr lächelnder Mund war von berückender Schönheit. Temperament und Güte sprachen aus den charakteristischen Linien, mit denen frühe Lebenserfahrungen ihr Antlitz gezeichnet hatten.

Wie sie und Alfred so nebeneinander standen, schien es, als müsse die Natur sie von jeher für einander bestimmt haben.

Marbod war ein wenig befangen und wußte nicht, ob er das erste Wort zu sprechen oder zu erwarten habe. Doch jetzt ging Gerda geradeswegs auf ihn zu, gab ihm die Hand und sagte:

„Ich kenne Sie. Ich bin sehr glücklich, daß Sie gerade jetzt an Alfreds Seite sind. Versuchen Sie, auch mich kennen zu lernen und liebzugewinnen.“

Noch mehr als die herzliche Klangfärbung in ihren Worten nahm ihm der edle Freimuth ihres Blickes das Gefühl, als sei er hier nicht am Platze.

„Dazu bedürfte es nicht erst des Versuches,“ sprach er ebenso herzlich, „Sie sind mir von dieser Stunde an eins mit Alfred, und ihn liebe ich, wie man nur einen Freund lieben kann.“

„Und nicht wahr, Kinder,“ fragte das alte Fräulein aus ihrer Sofaecke heraus, während ihre magern Fingerchen ein Flacon mit Riechsalz zu ihrer Nase führten, „jetzt ist Euer Entschluß ein fester und endgültiger? Ich bin wirklich den fortwährenden Aufregungen nicht gewachsen. Ihr werdet nicht morgen wieder sagen, daß es doch nicht geht?“

Auf Gerdas Angesicht erschien eine flammende Gluth. Sie streckte Alfred beide Hände hin und rief:

„Nein, tausendmal nein! Wie könnten wir ohne einander leben! Wir werden mit heißem Bemühen versuchen, uns ineinander zu fügen.“

Und sie sahen sich an, fest, gewaltig, das ganze Leben ihrer Seelen in verheißende Blicke zusammengefaßt.

„So war es ein hartes Ringen, ehe Ihr Euch einander ergabt?“ fragte Marbod.

Gerda schloß die Augen. Ein Schatten unaussprechlicher Qual verdunkelte plötzlich alle Glücksstrahlen auf ihrem Gesicht.

Sie neigte nur bejahend das Haupt.

Alfred zog sie tröstend an sich.

„Warst Du allein der gequälte Mensch?“ fragte er heiß. Sie schienen die Anwesenden zu vergessen.

Die Tante winkte Marbod zu sich heran und flüsterte:

„Nicht alle Menschen, die nicht ohne einander leben können, verstehen es, mit einander zu leben.“

Von dieser Aeußerung fühlte Marbod sich fast


Ein Ostergeheimniß.      Nach einer Zeichnung von Th. Brauer.

[242] noch mehr betroffen als von den Schlüssen, die er aus den eben gewechselten Reden gezogen. Er kannte seinen Freund und wußte, daß das Glück, welches dieser einem Weibe zu geben vermochte, nur ein unruhvolles sein könnte.

Jetzt hörte man die Flurglocke und mehrere Stimmen, die draußen lachten und sprachen.

„Heute kommen noch Menschen?“ fragte Alfred heftig.

„Das weißt Du doch, es ist mein Dienstag!“ sagte Gerda; „auch ich bin wenig gestimmt, jetzt Gäste zu haben.“

„Du hättest absagen können oder mir erst morgen unser Glück durch Sascha verkünden lassen sollen,“ antwortete er, während zwischen seinen Brauen eine tiefe Falte erschien.

„Mein Gott, ich wußte doch heute morgen noch nicht, daß … daß Du mir jene Zeilen senden würdest! Du schreibst mir: ‚Ich ertrage diesen Zustand nicht mehr!‘ Und ich ende ihn, ohne zu bedenken, was die nächste Stunde uns für Zwang auferlegt. Willst Du mir deshalb grollen?“ fragte sie. Es war kein Vorwurf, aber eine stolze Abwehr in ihrem Ton.

Er ging hastig auf und ab.

„Wer kommt denn?“

„Nur vier oder fünf Menschen. Die Gräfin Mollin, die nie ausbleibt, dann Doktor Bendel, den ich gebeten habe, um ihn mit unserem kleinen Prasch bekannt zu machen. Du weißt doch, daß Prasch sein Buch in diesen Tagen herausgiebt. Und außerdem noch die Mara und Direktor Damberg.“

Alfred biß sich auf die Lippen.

„Diesen Menschen, vor dem ich Dich gewarnt habe!“ sagte er mit mühsam unterdrücktem Zorn.

„Bitte,“ schmeichelte Gerda mit bestrickender Liebenswürdigkeit, indem sie ihm die Wange streichelte, als wäre er ein Kind, „nicht gleich böse sein! Meine arme kleine Mara wird immer von Damberg so herunter gemacht, dem guten Ding schnürt’s schon die Kehle zu, wenn sie weiß, er sitzt im Parkett, und da habe ich ihn mir eingeladen, Du kannst Dir wohl denken, weshalb. Du wirst sehen, bei Maras nächster Rolle wird er sie für eine große Sängerin erklären.“

„Du bist für alle zart besorgt, nur nicht für mich,“ sagte er noch. Dann erschien von den besprochenen Gästen die Gräfin Mollin mit der Sängerin und Herrn von Prasch zusammen. Gerda begrüßte sie mit einer vollkommen heiteren Stirn, stellte Doktor Marbod Steinweber vor und lachte und plauderte so unbefangen, als wenn keineswegs vor wenigen Minuten die heftigsten Erregungen durch ihre Seele gezogen wären.

Alfred, den man um sein blasses Aussehen befragte, sagte, daß er Kopfweh habe, und zog sich mit Sascha in eine Zimmerecke zurück. Da saßen sie auf einem kleinen Sofa; der Knabe hatte sich aus einer Vase eine Handvoll Wasserrosen genommen und bog nun mit seinen Fingerchen die dunklen Hülsen von den wachsweißen, halberschlossenen Blüthen. Dabei hatte er sein dunkles Haupt gegen Alfreds ihn umschlingenden Arm gelegt. Sie plauderten leise zusammen. Eine Fächerpalme, die ihre Blätter von hinten herüberstreckte, warf einen Schatten auf Alfreds Gesicht.

Die Gräfin Mollin besah sich die Gruppe durch ihre langstielige Lorgnette und sagte zu Mara:

„Wie für einen Maler posirt. Wenn Gerda und Haumond sich wirklich vermählen sollten, das Kind dürfte kein Glückshinderniß werden. Diese Liebe ist wahrhaft rührend.“

Die Mara schüttelte das schwarzhaarige Haupt, und über ihr braunes, unregelmäßiges und temperamentvolles Gesicht, in dem zwei schwarzbraune Augen brannten, ging ein spöttisches Lächeln.

„Die – sich heirathen?“ sagte sie, die zarten Schultern zuckend, „nie im Leben! Einen Haumond sich zu erhalten, dazu gehört mehr Selbstüberwindung, als Gerda besitzt.“

Die Gräfin Mollin, eine übermäßig üppige Dame, deren kluges Gesicht und knabenhaft kurz abgeschnittenes Haar ihr, der Vierzigjährigen, ein fast keckes Aeußere gaben, sah, immer durch ihre langstielige Lorgnette, der Mara gerade ins Gesicht.

„Sie trauten sich diese Selbstüberwindung zu?“ fragte sie.

Es war in Gerdas Salon ein offenes Geheimniß, daß Alfred von Haumond, ehe er Gerda gekannt, die Mara stark ausgezeichnet habe und daß diese ihn noch liebe.

Unterdessen setzte Herr von Prasch, ein kleiner, sehr zierlich gewachsener Mann mit einem niedlichen Gesicht, in dem, wie vom Friseur angeklebt, ein dunkles Schnurr- und ein Kinnbärtchen saß, während er sein Haar wie ein preußischer Lieutenant trug – unterdessen setzte Herr von Prasch Gerda und Marbod den Inhalt seines Buches auseinander. Es handelte sich um eine psychologische Zergliederung Wagnerscher Frauengestalten.

Jetzt erschienen auch Doktor Bendel, ein schöner und eleganter Mann semitischer Abstammung, die seine Züge auch nicht verleugneten, und Direktor Damberg, ein ältlicher, rundlicher Herr, in dessen röthliches Gesicht graue Haarsträhne fielen und dessen helle Augen über Brillengläser hinweg, suchend halb und halb zerstreut, fortsahen. Seine Bewegungen waren hastig und unsicher, während Doktor Bendel sich mit vollkommener Sicherheit, die an Gleichgültigkeit streifte, benahm.

Bendel kannte den Namen Marbod Steinweber, freute sich, einen so talentvollen Kollegen jetzt hier zu haben, und erbat sich sogleich die Mitarbeiterschaft für sein Blatt. Damberg flüsterte darauf Prasch zu, daß dies eine Höflichkeitslüge sei, denn Bendel, dies wisse jedermann, erkenne nur einen Schriftsteller an, nämlich den Moritz Bendel.

Herr von Prasch sagte zu Bendel, daß er sich freue, dem berühmten und eminenten Kenner Wagners vorgestellt zu sein, und kam sogleich auf sein Buch. Bendel versprach etwas zurückhaltend, es zu besprechen, wenn es ihm gefiele, und zu schweigen, wenn es ihm nicht gefiele, und auch dies Schweigen sei eigentlich ein unerlaubtes Zugeständniß an den Schützling der Baronin Offingen. Prasch war gewiß, daß Bendel entzückt sein werde, und sprach viel und mit Enthusiasmus vom „Meister“.

Hierüber sagte Bendel nachher zur Gräfin: „Ein kleines Gefäß für eine so große Begeisterung!“

Gerda machte mittlerweile zwischen der Mara und Damberg die Diplomatin. Sie sprach bevormundend und eindringlich für die Freundin.

„Mara ist zu klug, um nicht den Nutzen der abfälligen Bemerkungen einzusehen, die sie andrerseits natürlich schmerzen. Wir sind uns seit langem einig, daß sie nur noch von Ihnen das lernen kann, was ihr fehlt. Deshalb bitte ich Sie: Mara soll die Carmen übernehmen, studieren Sie sie ihr ein.“

„Aber meine Damen, meine Zeit ist so durch meine Musikschule und meine Berichterstatterpflichten ausgefüllt, daß ich kaum weiß …“ sagte Damberg nachdenklich.

„Seien wir doch ungenirt! In Geschästssachen liebe ich das. Und Stunden geben ist doch einmal Ihr Beruf, lieber Direktor. Mara verlangt ja keine Gefälligkeit von Ihnen, sondern eine Leistung, die man bezahlt. Wir wissen, Sie nehmen zwanzig Mark für die Stunde. Mit Vergnügen wird Mara zehn oder fünfzehn Stunden nehmen. Sie schlagen ein?“

„Es ist freilich verlockend, mein Fräulein, Ihrem eminenten Talent die letzte Feile zu geben und Ihnen weiter zu helfen auf der Bahn des Ruhms, wo Ihrer das höchste Ziel harrt. Also ja denn!“ sagte der dicke Mann, indem er behaglich nachrechnete, daß es sich doch gelohnt habe, herzukommen.

Gerda und die Mara sahen sich an. Ein Blick, mit dem sie sich darüber verständigten, daß die Sängerin ein oder zweimal der Form halber hingehen, aber gewiß nicht seine Unterweisungen, die als stimmmörderisch bekannt waren, befolgen werde.

Damberg bat die Mara jetzt, etwas zu singen, er werde sich ein Vergnügen daraus machen, sie zu begleiten. Darauf begaben sie sich an den Flügel, der inmitten des letzten Zimmers aufgestellt war, und die Sängerin begann das Lied Mignons von Thomas: „Kennst Du das Land?“

Marbod fühlte sich von dem raschen Durcheinander von verschiedenen Gesprächsstoffen, deren keiner gründlich erörtert, sondern nur gestreift wurde, wie betäubt. Er ging in das erste Zimmer und setzte sich dort auf einen Stuhl am Fenster, den Ellbogen auf das Fensterbrett, den Kopf in die Hand gestützt. Er fühlte den brennenden Wunsch, sich mit der Frau auszusprechen, die sich heute seinem Freunde anverlobt hatte, und wußte, daß sie, die ihm noch ganz fremd war, ihm doch mehr Aufschlüsse über sich, Alfred und ihre Liebe geben werde, als er von ihm zu erwarten hatte.

Als hätte sie sein Verlangen getheilt, kam sie mit leisen, leichten Schritten gegangen und stand vor ihm an den dunklen Falten der Fenstervorhänge. An ihrem weißen Wollkleide trug sie einen Strauß dunkler, ananasduftiger Kalykanthusblüthen, ihr Haar war schmucklos; er sah jetzt noch mehr als vorhin, wie [243] schön, ja fast bezwingend ihre Züge und ihre Erscheinung waren. Mit ihren ernsten Augen sah sie ihn an.

„Sagen Sie mir, was Sie denken!“ befahl sie einfach.

„Ich denke,“ antwortete er, ihr fest in die Augen sehend, „ob es in der That nicht möglich war, Alfred heute abend diese Menschen zu ersparen.“

„Nein!“ sagte sie traurig. „Er weiß, daß ich für Dienstag abend stets einige Bekannte einzuladen pflege. Und vor anderthalb Stunden bekam ich jenen Rohrpostbrief, in welchem die Worte standen: ‚Ende diesen Zustand, ich ertrage ihn nicht mehr!‘ In solch kurzer Frist kann man nicht geschehene Einladungen rückgängig machen, ohne zu gewärtigen, daß den einen oder andern die Absage nicht mehr daheim trifft.“

Marbod erinnerte sich, daß Alfred auf dem Wege zum Zoologischen Garten plötzlich, aus brütendem Sinnen auffahrend, in ein Postbureau getreten war mit den Worten. „Ich habe eine Zeile zu schreiben.“

„Dann wäre es besser gewesen, ihm sein Glück erst zu verkünden, wenn die andern Gäste gegangen,“ sagte Marbod, „denn er leidet.“

„Wie – ich hätte, das erlösende Wort auf stummen Lippen zurückhaltend, viele Stunden seine Gegenwart ertragen sollen? Nein, ich muß alles, was meine Seele bewegt, gleich aussprechen, oder ich leide, wie bei Gewitterluft,“ sagte sie.

Sie hatte eine merkwürdige Art zu sprechen; ruhig und maßvoll im Zeitmaß, aber etwas gedrückt im Ton, so daß jede Rede bei ihr als Aeußerung gewaltsam beherrschter Leidenschaft erschien.

Marbod fühlte auch, daß von ihr ein Zauber ausging, den er hätte einen wehmuthsvollen nennen mögen, und doch konnte er sich nicht erklären, woher ihr dieser kam.

„Aber ich habe ihm das Kind gelassen,“ sprach sie weiter, da er schwieg; „er liebt es, und seine Gegenwart macht ihn zufrieden. Sonst ist dies eine Stunde, wo Sascha schon schlummert.“

„Ich wußte nicht, daß Alfred so kinderlieb ist.“

„Vielleicht ist er es mit Auswahl. Meinen Knaben betet er an, er liebt mich oft nur um seinetwillen – o ja, in Stunden! Ich fühle es. Ein geheimnißvolles Band schlingt sich um die beiden. Wenn Sascha fiebert, wird ihm wohl, sobald Alfreds Hand auf seinem Haupte liegt. Das beglückt und quält mich zugleich. Alfred wird eines Tages beklagen, daß der Knabe nicht sein Sohn ist,“ sagte sie.

„Auf einen Todten, den er nicht kannte, auf eine Vergangenheit, an die er kein Recht hatte, kann er nie eifersüchtig sein,“ sprach Marbod bestimmt.

„Das fürchte ich nicht. Ich liebte meinen ersten Gatten von Herzen und war zufrieden, glücklich mit ihm. Das weiß Alfred, und auch, daß es langer Zeit bedurfte, ehe diese Wunde, die der Tod geschlagen, heilte. Vielleicht verstehen Sie mit der Zeit, wie ich es meine,“ sagte sie langsam.

Marbod seufzte. Und seine Gedankenfolge mit einer lauten Bemerkung abschließend, sagte er vor sich hin:

„Es giebt in der Liebe keine äußeren, es giebt nur innere Hindernisse. Euer Leben scheint ein glatter Weg zu sein, auf dem Ihr ohne Schwierigkeiten zu einander gelangen könnt, und Ihr selbst thürmt Euch tausend Steine des Anstoßes in den Weg.“

Gerda sah ihn groß an.

„Aber wir lieben uns,“ sprach sie nach einer Pause, „wir werden uns besiegen.“

Ihm erzitterte das Herz. In den einfachen Worten lag eine Gewalt des Ausdrucks, vor der er erschrak.

Sie schwiegen beide lange. Aus den andern Räumen klang Lachen, und jetzt fing die Mara wieder an zu singen. „So laßt uns das Leben genießen.“

Doktor Bendel erschien im Zimmer.

„Pardon, wenn ich eine konfidentielle Unterhaltung störe. Aber Donizetti singen hören ist schon so schlimm, daß ich ihn nicht noch singen sehen will – die Mara glaubt sich dabei zu bacchantisch sein sollenden Gesten verpflichtet,“ sagte er heiter. „Ueberdies singt sie das Trinklied in jeder Gesellschaft. Das werden Sie bald bemerken, lieber Doktor.“

„Ich werde dazu kaum Gelegenheit haben.“

„Wie, so fremd, oder so einsiedlerisch?“

„So fremd. Außer Alfred kenne ich nur den Assessor Ravenswann,“ sagte Marbod.

„Den im Finanzministerium?“ fragte Doktor Bendel; „er soll ein Mensch ohne eigene Gedanken, mit eiserner Arbeitskraft, hochmüthig gegen die Untergebenen, devot gegen die Vorgesetzten sein. Er kann es noch zu hohen Amtswürden bringen, bei den Fähigkeiten.“

„Er und seine Frau sind Leute, die, wenn man von der großen Zeitordnung im Planetensystem spricht, gleich auf den richtigen Gang ihrer Taschenuhren zu sprechen kommen,“ sagte Gerda mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit.

„Also alles in allem Menschen,“ schloß Marbod, „die nicht selbst erleben, sondern bloß, was andere erleben, glossieren. Da freilich werde ich mich nach mehr und vielseitigeren Beziehungen umschauen.“

Jetzt erschien Alfred im Zimmer, auf seinem Arm den schlaftrunkenen Knaben.

„Es ist bald zehn Uhr,“ sagte er; seine Stimme klang fast tonlos wie die jemandes, der sich bei zu vielem Sprechen ermüdet hat. „Es hieße die Unvernunft auf die Spitze treiben, das arme Kind noch länger hier zu halten. Sie gestatten, daß ich es in sein Stübchen bringe.“

„Aber beeilen Sie sich! Wir werden gleich zu Tisch gehen,“ rief Gerda ihm nach.

An der Thür zögerte Alfred. Er sah die Geliebte an, durchdringend und ernst. Sie ging auf ihn zu, wie es Marbod schien mit unsicherem Schritt. Dann knieete sie vor ihrem Knaben nieder. Sie umarmte das schon halb schlafende Kind und gab ihm einen langen Kuß auf die Stirn. Dabei suchte ihr Auge das des Mannes.

Und dann ging er mit dem Kinde.

Man wartete noch einige Minuten auf ihn, nachdem der Diener schon gemeldet hatte, daß man zu Tisch gehen könne. Gerda war so unruhig, daß sie sich kaum beherrschen konnte, fürchtete aber auffällig zu werden, wenn sie selbst ging, nach Alfred zu sehen.

Sie bat Marbod, ihn zu rufen.

Dieser ließ sich vom Diener das Zimmer des Knaben zeigen und trat dann in ein Kabinett, in welchem ein mattes, grüngedämpftes Licht schwamm. Eine Thür gähnte auf in einen dunklen Raum, der vermuthlich Gerdas Zimmer war. In dem Kabinett befand sich außer dem Kindertischchen und einem Spielzeugschrank nur ein von Spitzen und grüner Seide umhangenes Bett. Und dort schlummerte im wohligen Schatten der schöne Knabe.

Marbod beugte sich lauschend über ihn, um zu hören, ob er wirklich schlafe, oder Auskunft geben könne, wo Alfred geblieben sei. Da bemerkte er auf der seidenen Decke einen Zettel, nahm ihn und las, an das Nachtschränkchen, auf dem die Lampe brannte, herantretend.

„Ich bin fortgegangen. Ich ertrug es nicht.“

Er kehrte in die Wohnräume zurück. Gerda erwartete ihn schon an der Thür und nahm mit bebenden Fingern den Zettel.

Und dann beobachtete er, wie mit Sekundenschnelle die tiefe Erregung in ihrem Gesicht einer stolzen Fassung Platz machte. Ihr Auge blitzte und ihr Mund konnte den Gästen freundliche Worte sagen. –

Als Marbod in dieser Nacht in sein Hotel zurückkehrte, beherrschte in seiner Erinnerung alle wechselnden, einstürmenden Eindrücke des Tages die Gestalt dieser Frau. Und er dachte, seine tiefen Sorgen, die ihm um ihret- und Alfreds willen erwachten, niederkämpfend:

„Frauen, wie sie eine ist, fällt das Glück nicht fertig vom Himmel: sie bauen es sich aus den Lavasteinen der Selbstüberwindung auf.“




2.

Seit Stunden wachte Alfred. Eine immer wachsende Ungeduld bemächtigte sich seiner, aber er war wie jeder Mensch der Sklave seiner Hausordnung. Seinem Wunsch, aufzustehen und den Tag zu beginnen, konnte er nicht Folge geben. Alles im Hause schlief noch, die Wirthin, sein Diener, das Feuer auf dem Herde. Er hatte das Bedürfniß, etwas zu lesen und zu schreiben, irgend eine Arbeit zu versuchen, aber seine Zunge und seine Lippen brannten ihm trocken, er fühlte eine körperliche Schwäche und hatte, fast wie ein eigensinniger Kranker, das gierige Bedürfniß nach einem erquickenden Getränk. Das Wasser auf seinem Nachttischchen

[244]

Blutige Ostern im Jahre 1525.
Nach einer Zeichnung von G. A. Cloß.

[245] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [246] war schal, die Luft im Zimmer unerträglich heiß. Die Morgensonne prallte gegen die Persienne, deren Stäbchen wagerecht übereinander standen und ein grelles Licht durchließen.

Seitdem von der Straße her die ersten Töne des Tageslebens heraufschallten, stieg die Ungeduld in Alfreds Brust bis zum Zorn. Er begriff nicht, wie man bei dem schönen Sommerwetter im Bett bleiben könne, und vergaß, daß er sonst nie die Dienste seiner Wirthin vor acht oder gar neun Uhr in Anspruch nahm. Er beschloß, auf diese unerhörte Nachlässigkeit hin noch heute auszuziehen und auch seinen Diener zu entlassen, der um sieben Uhr noch schlief. Und zuletzt stand er doch auf. Fast zugleich bewegte sich drinnen im Wohnzimmer etwas. Also endlich ein Mensch, wahrscheinlich Fritz, der jetzt erst aufzuräumen begann.

„Fritz!“ rief er herrisch.

In der Thürspalte erschien die Gestalt eines jungen Burschen in rothweißer Morgenjacke und leinener Schürze. Der Mensch hatte dunkles Haar, welches so sorgfältig und zierlich geordnet war wie bei einem Friseurgehilfen; dazu ein kluges blasses Gesicht und sehr helle Augen mit einem merkwürdig sicheren, fast frechen Blick.

„Der Herr sind schon auf?“ fragte er verwundert.

Alfred, der seiner gereizten Morgenstimmung eine Erleichterung hatte verschaffen wollen und Fritzen ein Donnerwetter zugedacht hatte, bei dem auch die aufgesummten Unterlassungssünden der ganzen vorigen Woche mitpoltern sollten, fühlte sich beim Anblick dieses gekämmtem Hauptes, dieses frechen Blickes und dieser grünweiß karrirten Krawatte, die ein wahrscheinlich unechter Amethyst schmückte, augenblicklich entwaffnet. Er stritt sich nie mit Leuten, die unter ihm standen, und er fühlte, daß es ein Streit, kein einseitiges Schelten geworden wäre. Fritz war ja im Recht, sich zu wundern.

„Frisches Wasser! Die Morgenpost! Dann schnell Thee!“ sagte er kurz.

Fritz zuckte, als er hinausging, ein wenig die Achseln. Was das nun sollte! Sonst war er gewohnt, bei seinem Thee zunächst die Morgenpost durchzugehen, wenngleich er den politischen Standpunkt seines Herrn gründlich verachtete und auch die kleinen novellistischen Arbeiten desselben, die stets mit vollem Namen gezeichnet waren, scharf und abfällig kritisirte. Als er den Briefkasten entleerte, in welchen just eben der Postbote die Morgenpost gesteckt – man hörte noch seinen stapfenden Tritt die zweite Treppe empor – hatte er wenigstens die Entschädigung, sich boshaft über die kleine Sammlung von Zeitungen, Couverts, Karten freuen zu können. Erstens war eine Zurücksendung von einer Redaktion dabei; Fritz kannte das genau, er hatte an dieselbe Adresse, die als Absenderin obenauf gedruckt stand, vor vier Wochen ein ebensolches eingeschriebenes Couvert zur Post getragen. Zweitens fehlte zwischen den Briefen eine gewisse Handschrift und ein gewisses Couvert mit G. O. und der Freiherrnkrone. Fritz hatte längst beobachtet, daß solche Briefe fast täglich kamen und von seinem Herrn mit zitternden Fingern aufgerissen wurden.

Mit seinem kältesten Gesicht trug er die Postsachen zu seinem Herrn hinein, der gerade vor dem Spiegel stand und sich eine weiße Batistkrawatte zurechtknüpfte. Und richtig, Alfred riß die Stücke auseinander, warf sie auf den nahen Tisch, eins nach dem andern, und endlich das letzte.

Er versuchte, sich ruhig weiter anzukleiden. Wann hätte Gerda denn noch schreiben sollen? Sie müßte schon gerade in der Nacht nach dem Fortgang der Gäste noch jemand zum Hauptpostamt geschickt haben, wenn sie es hätte ermöglichen wollen, ihm heute morgen einen Gruß zukommen zu lassen. Und warum that sie nicht so? Um einem geliebten Menschen ein beruhigendes Wort zu sagen, durfte keine Stunde zu spät, kein Weg zu weit sein.

Aber vielleicht fühlte Gerda gar nicht, daß er der Beruhigung bedurfte, vielleicht nahm sie es für Launenhaftigkeit, daß er gestern gegangen, und grollte ihm. Das war’s ja überhaupt: für die feinen Bewegungen in seinem Seelenleben fehlte ihr das Verständniß, oder der Wille zum Verstehen. Sie forderte von ihm, er solle immer klar, gefaßt, beherrscht sein wie sie. Sie wollte ihn verändern, erziehen, anstatt die Eigenart seines Wesens hinzunehmen als etwas Unabänderliches.

Aber in der Liebe zwischen einem Mann und einem Weibe ist es das Naturgesetz, daß das Weib im Mann aufgeht.

So grübelte Alfred, saß in seiner Sofaecke und genoß gewohnheitsmäßig seinen Thee, ohne zu bemerken, daß das Wasser zu diesem nicht gekocht hatte, daß die Eier zu hart und das Fleisch trocken war. Er vergaß auch die Postsachen, die verstreut zwischen den Frühstücksgeräthen lagen. Fritz hatte sie nicht zusammengerafft, sondern mit einer gewissen Impertinenz für jedes Stück Geschirr eine freie Stelle ausgesucht.

Die Uhr schlug eben acht.

„Noch kann ich nicht zu ihr, noch nicht, um sie zu fragen, ob sie denn gestern abend meine Qualen nicht begriff,“ murmelte er, auf die Uhr sehend.

Fritz, der gerade an dem Schreibtisch, auf welchem die Uhr stand, unnöthig lange Staub wischte, weil dort eine neue Photographie der Baronin lag mit einer Widmung, die er nicht gleich lesen und verstehen konnte – Fritz drehte sich um.

„Sagten der Herr etwas?“

„Sind Sie noch immer da? Ich will allein sein,“ sagte Alfred auffahrend. Er war sich der Gegenwart des Menschen nicht bewußt gewesen.

„Sehr wohl,“ antwortete Fritz kühl. In einem Punkt berührte er sich mit seinem Herrn, wie dieser sich nicht mit Untergebenen stritt, ärgerte er sich nie über Vorgesetzte, aber er rechnete immer mit ihnen ab, über jede Ungerechtigkeit, Härte oder gezeigte Ungeduld.

Die Gelegenheit dazu kam schon eine Viertelstunde später.

An der Etagenthür klingelte es schüchtern. Fritz, der mit der Wirthin auf dem besten Fuße stand, ging aus Gefälligkeit, um zu öffnen, denn er stand gerade mit Frau Meyns in ein Gespräch vertieft auf dem Korridor.

„Ich will zu ihm,“ sagte der kleine Knabe, der vor der Glasthür gewartet hatte und einen großen Rosenstrauß in der Hand hielt.

„Zu ‚ihm‘?“ lachte Fritz spöttisch und sah sich den Jungen an. Die feine Gestalt in dem weißen Matrosenanzug mit blauem Kragen schien ihm nicht unbekannt. Richtig, das war der kleine Sohn der Baronin Offingen.

„Wenn Du mit ‚ihm‘ Herrn von Haumond meinst, mein Junge, so kannst Du nicht zu ihm, denn er will allein sein,“ sagte Fritz.

Die übergroßen, glanzvollen Augen des Kindes bekamen einen Thränenschimmer.

„Aber ich will ihm diese Rosen von Mama bringen,“ rief es weinerlich.

Fritz griff mit frechen Händen nach dem Strauß, da der Kleine diesen aber festhielt, so kniff er wenigstens eine halberschlossene dunkle Rose heraus. Er befestigte sie in dem Knopfloch seiner Jacke – vor Kindern genirte er sich nie, sie mochten so hochgeboren sein, wie sie wollten, sie waren für ihn noch keine Menschen, denn sie hatten noch kein Geld – und sagte wohlwollend:

„Gieb mir das Bouquet, ich trag’s nachher hinein.“

„Wenn er auch allein sein will, ich darf doch zu ihm,“ rief Sascha, während die ersten Thränen der Angst über seine zarten Wangen rannen.

„Hilft nichts. Er hat’s mal gesagt. Gieb mir die Blumen!“ sagte Fritz mit beginnender Ungeduld. Er wußte ganz genau, daß sein Herr über den Besuch des Kindes gejubelt haben würde.

„Nein, ich gebe sie nicht,“ rief der Kleine heftig und machte kehrt. Er hielt sich auf der fremden und mit glatten Hanfmatten belegten Treppe vorsichtig am Geländer fest, seine kleine heiße Hand glitt auf dem kühlen Mahagoniholz entlang.

Unten im Flur des Hauses ging seine Mutter auf dem bunten Fliesenfußboden hin und her. Als sie ihren Knaben mit den Blumen und allein zurückkommen sah, wurden ihr vor Schreck Hände und Füße schwer.

So hatte er den lieben kleinen Sendboten gar nicht empfangen? So zürnte er? Mein Gott, warum denn so beharrlich und so grundlos? Er mußte doch begreifen, daß sie gestern ebenso gelitten wie er. Aber das war das Fürchterliche in seinem Wesen, diese Art und Weise, von der geliebten Frau blind oft Unmögliches zu verlangen und zu grollen, wenn sie nicht gewähren konnte.

Sascha weinte an dem Gewand seiner Mutter. Sie zitterte heftig. In ihre Wangen stieg brennendes Roth. So hatte sie [247] sich gedemüthigt! Ihr leidenschaftliches Herz hatte sie getrieben, ihm am frühen Morgen, an sein Bett, wie sie seinen sonstigen Gewohnheiten nach glauben mußte, den Liebling mit den beredtesten Blumen zu senden. Und er hatte den Gruß ihrer heißen Liebe verschmäht!“

„Was – was sagte er?“ fragte sie fast lallend. Der Knabe erzählte, daß er von Fritz abgewiesen worden und daß Fritz überhaupt gar nicht erst zu ihm hinein gegangen sei.

In Gerdas Herzen kehrte augenblicklich ein jubelnder Muth zurück. Sie lachte, während in ihren Wimpern noch die Thräne des Schmerzes hing.

„So geh’ noch einmal! Sage dem Fritz, daß ich unten warte und daß er sich Unannehmlichkeiten aussetze, wenn er Dich nicht einlasse. Ihm aber sagst Du nichts davon, daß ich hier bin. Wenn Du in zehn Minuten nicht wiederkommst, bin ich um elf Uhr mit Tantchen im Wagen vor der Thür. Hast Du das verstanden?“

„Ja, Mama – so lange darf ich dann bei ihm bleiben,“ jubelte das Kind und kletterte schon wieder hurtig die Treppe empor.

Oben zuckte Monsieur Fritz mit philosophischem Gleichmuth die Achseln, als das Kind zum zweiten Male vor ihm stand. Die Drohungen des Knaben, daß Mama böse werde, wenn man ihn nicht einließe, berührten ihn nicht im mindesten. Er schob den Kleinen vor sich her bis an die Stubenthür, öffnete diese und zeigte ihm mit einer nachdrücklichen Handbewegung, daß er nur da hinein gehen möge.

Alfred hatte seinen schmerzenden Kopf gegen die Rückwand des Sofas gelegt und die Augen mit der Hand bedeckt. Jede Erregung schmerzlicher Art wirkte körperlich auf ihn zurück. Das Geräusch an der Thür schreckte ihn auf, unwillig erhob er das Haupt.

Da sah er das Kind der Geliebten auf sich zueilen. „Junge!“ schrie er entzückt auf. Schon knieete er vor dem Knaben nieder und umschlang ihn innig mit beiden Armen, während dieser den Strauß vorsichtig und stets in ausgestreckter Hand hielt.

„Mama schickt Dich?“ fragte Alfred, das zarte Gesichtchen wieder und wieder küssend.

„Ja, und bis Elf soll ich bei Dir bleiben, dann wird Mama mit Tantchen im Wagen unten warten,“ sagte Sascha, sich loslösend. Seine Augen gingen im Zimmer umher.

Während Alfred in dankbar seligen Gedanken schwelgte, fragte das lebhafte Kind:

„Wer ist der Mann mit den vielen Ordenssternen? Dein Papa? Der ist auch todt, nicht wahr, wie meiner? Aber ich habe nun wieder einen. Und wer ist die weiße Frau ohne Arme? Und die in der andern Ecke mit der Schale und der Kanne? Ist das Dein Schreibtisch? O, da ist ja meine Mama, einmal, zweimal, dreimal, Mama im Winterhut und Mama im Ballkleid und Mama in ihrem Hauskleid. Den Plüschsessel kenne ich, den hat Mama gestickt. Und was ist in der Schachtel?“

„Du Schlingel,“ sagte Alfred zärtlich, „die Schachtel hast Du zuerst gesehen und fragst zuletzt danach. Lauf hin und öffne sie. Ich hätte sie Dir heute mitgebracht.“

Das Kind fragte vergnügt:

„Rothe Husaren?“

Eine Schachtel voll solcher hatte er sich vorgestern gewünscht. Alfred nickte.

Sascha trug die Schachtel vom Schreibtisch an den Frühstückstisch und begann auszupacken. Ihm gegenüber saß Alfred und bereitete ihm ein Schinkenbrötchen. Dabei sprachen sie immerfort zusammen.

In das Herz des Mannes war Sonnenhelle eingezogen. Künftig sollte es keine einsamen Stunden voll selbstquälerischer Zweifelsgedanken mehr für ihn geben. Dieses schöne, heitere, lernbegierige Kind sollte immer in seiner Nähe weilen und dazu das Weib, das über alles geliebte Weib. Seine zweck- und ziellosen Tage hatten einen Inhalt: er konnte diese junge Seele zum Verständniß des Lebens führen. Das Glücksgefühl in seiner Brust ward so mächtig, daß sich seine Augen feuchteten.

„Du Papa – ich sage schon immer Papa, nicht wahr?“

Alfred mußte sich gewaltsam fassen, um seine Rührung zu bemeistern. „Also was wolltest Du den Papa fragen?“ sagte er lächelnd.

„Warum Du alle die Briefe auf dem Tisch noch nicht gelesen hast. Ich möchte gern die Freimarken haben.“

„Es sind ja lauter gewöhnliche,“ meinte Alfred, die Briefe zusammensuchend.

„Das schadet nichts. Mama hat mir gezeigt, wie man aus Zehn- und Fünfpfennigmarken schöne Sterne kleben kann.“

Dem Liebling zu Gefallen öffnete Alfred einen Brief nach dem andern. Er sah jeder Handschrift den Absender und wahrscheinlichen Inhalt an und fühlte keine Neigung zum Lesen. Aber das Unbekannte übt immer auf die Neugier einen Reiz. Er sah da eine fremde Schrift von weiblicher Hand und allerlei Postbemerkungen auf dem Couvert, welche bekundeten, daß der Brief nach Baden-Baden gerichtet gewesen war und ihm nach Berlin nachgegangen sei.

Ihn überkam immer ein Unbehagen bei Zuschriften von unbekannter Seite. Wie erstaunte er aber, als er, das Briefblatt aus dem Couvert ziehend, demselben beigefügt, auf vergilbtem Papier, einige Zeilen von der Hand seines Vaters vorfand!

Sein Unbehagen stieg zur zitternden Erregung. Das Geheimnißvolle, was ihm da entgegentrat, war ihm entsetzlich. Er haßte alles, was nach theatermäßiger Verwicklung aussah, und wenn man seine Antheilnahme verscherzen wollte, brauchte man nur mit dramatisch gefärbtem Vortrag zu reden. Je mehr er selbst die Beute der widersprechendsten und entgegengesetztesten Erregungen sein konnte, um so mehr liebte er bei andern einfache Gefaßtheit.

Seine Aufmerksamkeit erwecken zu wollen, für welche Angelegenheit auch immer, durch ein altes geschriebenes Wort seines vor vier Jahren verstorbenen Vaters, däuchte ihn überspannt, wenn nicht gar verdächtig. Daher las er auch ziemlich ungerührt das Folgende: „Wenn Du, meine theure Freundin, eines Tages eines männlichen Rathes bedürfen solltest, wende Dich an meinen Sohn. Er wird Dir und Deiner Tochter beistehen, wenn Du ihn in meinem Namen um etwas bittest. Sage ihm dann, daß ich Dich geliebt habe, aber daß unüberwindliche Hindernisse zwischen uns standen, aber sage ihm nicht …“

Hier brach das Blatt, welches offenbar von einer Briefseite abgeschnitten war, ab, und Alfred fühlte übrigens auch nicht die mindeste Neugier, weder auf das, was ihm nicht gesagt werden sollte, noch auf das, was die Briefschreiberin von ihm wollte.

Seine Seele war so stark und ausschließlich mit sich und Gerda beschäftigt, daß er jede Angelegenheit, die sich herandrängte, als unbescheidene Störung empfand. Indeß las er seines Vaters Zeilen noch einige Male durch und seine heiße Liebe für Gerda gab ihm doch zuletzt ein immer wachsendes Verständniß für den Roman, den sein Vater offenbar erlebt hatte.

Alfreds Mutter war bei seiner Geburt gestorben. Daß sein Vater sich nicht wieder vermählt hatte, war für ihn eine Thatsache, über die er eigentlich nicht viel nachgedacht; zuweilen, wenn seine Gedanken durch die Frage irgend eines Dritten doch darauf gedrängt wurden, hatte er einfach mit der Pietät des Sohnes für die Frau, die ihn geboren, angenommen, daß sein Vater die früh verlorene Gattin lebenslänglich betrauert habe.

Und nun erfuhr er, daß sein Vater doch wieder geliebt und gewünscht hatte, aber hoffnungslos. O, er wußte, wie die Hoffnungslosigkeit wehthut! In all den Monaten des bitteren Kampfes, da er oft daran verzweifelte, sich jemals mit der geliebten Frau verständigen zu können, da hatte er sie kennen gelernt, diese Todestraurigkeit. Er erinnerte sich nun auch, daß sein Vater oft sorgenvoll und eigentlich immer freudlos erschienen war. Eine unglückliche Liebe hatte also die ganze zweite Lebenshälfte des Verstorbenen verschattet!

Für erwachsene Menschen, welche selbst schon die Leidenschaft kennen, hat es etwas ungemein Peinvolles, ihren Eltern, welche für ihre Vorstellung immer auf dem hohen Ufer der unberührten Tugend zu stehen schienen, im Strome der ungeregelten Herzenswünsche zu begegnen. Sein Vater hatte eine Frau geliebt, die an einen andern vermählt war, und diese Frau wandte sich nun an ihn, an Alfred, um Rath, vielleicht gar um Hilfe.

Mit finsterem Gesicht nahm er nun endlich auch ihre Zeilen in die Hand und seine Stirn entrunzelte sich keineswegs, als er las:

„Hochverehrter Herr! Die beifolgenden Worte von Ihres Vaters Hand führen mich bei Ihnen beredter ein, als alle meine Erzählungen von Leid und Noth vermöchten. Mein Gatte, welcher zur Zeit, da Ihr theurer Vater starb, noch lebte, hat meine Tochter und mich vollkommen mittellos in der Welt zurückgelassen. Seine Familie hat, aus der Erkenntniß heraus, daß er durch frevelhafte Wirthschaft mein großes Vermögen aufrieb, bis jetzt für mich und [248] mein Kind gesorgt; die Sorgen, der Gram, langjährige Kränklichkeit setzen meinen Tagen das erwünschte Ziel. Gründe der heiligsten und ernstesten Art, wie ich Sie dringend bitte zu glauben, verbieten es mir, für mein Kind noch über meinen Tod hinaus die Fürsorge der Familie meines verstorbenen Gatten anzunehmen. In Ihre Hand wünschte ich die gerichtliche Vormundschaft und damit das Recht, für das Fortkommen meiner Tochter zu sorgen, legen zu dürfen. Ich bin überzeugt, daß Sie mir dies nicht abschlagen können, wenn Sie mich nur erst gehört haben.

Wir lebten bisher das Nomadenleben, wie es Menschen führen, die an allen möglichen Heilstationen die Gesundheit oder den Tod suchen und beides nicht finden. Nunmehr siedeln wir Ihretwegen nach Baden über, denn ich denke mir, daß Sie, wie Ihr Vater sonst pflegte, Ihre Sommertage in Ihrem dortigen Heim verleben.

Eine Wohnung haben wir schon im voraus gemiethet, so bescheiden, wie sie meinen Mitteln angemessen ist. Ich bitte Sie, hierin keine Klage zu sehen und auch in keiner Weise den Versuch zu machen, mir ein weniger beschränktes Leben zu ermöglichen. Für mich will ich nichts. Für meine Tochter freilich viel, aber das will ich in Uebereinstimmung mit Ihrem Vater.

Ich erwarte eine Nachricht, wann Sie uns aufzusuchen gedenken, und schreibe Ihnen dann ein Wort, ob meine Kräfte mir gestatten, Sie zu sehen.

Josephe Thomas.“     

(Fortsetzung folgt.)




Der Hausfriedensbruch.

Unkenntniß des Gesetzes schützt vor Strafe nicht,“ so heißt ein in der Rechtspflege geltender Grundsatz. So nothwendig derselbe ist, weil ohne ihn das Gesetz selbst häufig seine Wirkung versagte, so hat er doch schon oft auch zu der Härte geführt, daß Menschen zu Strafe verurtheilt werden mußten wegen Handlungen, von deren Strafbarkeit sie keine Kenntniß hatten.

Freilich sind die meisten strafbaren Handlungen ihrem Wesen nach auch dem gemeinen Mann bekannt. Ein jeder weiß, wenn auch nicht mit juristischer, so doch wenigstens mit einer für das praktische Leben genügenden Bestimmtheit, was Mord, Körperverletzung, Meineid, Diebstahl, Beleidigung, Fahnenflucht ist. Ein jeder hat das Wesen solcher Vergehen, sei es im Religionsunterrichte, sei es im täglichen Leben, sei es auch beim Militärdienste oder in anderen besonderen Lebenslagen, genügend kennen gelernt. Auch sagt ihm bei den meisten Vergehen schon das natürliche Gefühl, daß sie etwas Unerlaubtes und Strafbares sind.

Aber es giebt auch strafbare Handlungen, über deren Wesen sehr unbestimmte und falsche Vorstellungen im Volke, selbst bei gebildeten Leuten herrschen. Eine solche strafbare Handlung ist z. B. der Hausfriedensbruch (§ 123 des deutschen Reichsstrafgesetzbuchs).

„Was ist Hausfriedensbruch?“ wird sich mancher schon gefragt haben. Der Name erklärt die Sache wenig und kann sogar zu Mißdeutungen Anlaß geben.

Der § 123 sagt: „Wer in die Wohnung, in die Geschäftsräume oder in das befriedete Besitzthum eines anderen oder in abgeschlossene Räume, welche zum öffentlichen Dienst bestimmt sind, widerrechtlich eindringt, oder wer, wenn er ohne Befugniß darin verweilt, auf die Aufforderung des Berechtigten sich nicht entfernt, wird wegen Hausfriedensbruches mit Gefängniß bis zu drei Monaten oder mit Geldstrafe bis zu dreihundert Mark bestraft.

Die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein.

Ist die Handlung von einer mit Waffen versehenen Person oder von mehreren gemeinschaftlich begangen worden, so tritt Gefängnißstrafe von einer Woche bis zu einem Jahre ein.“

Es sind nach diesem Paragraphen also vier Arten von Räumlichkeiten mit dem „Hausrecht“ ausgestattet: 1. die Wohnung, 2. die Geschäftsräume, 3. alles „befriedete Besitzthum“, 4. abgeschlossene, zum öffentlichen Dienste bestimmte Räume.

Vor allem ist also die Wohnung geschützt. Diese braucht durchaus kein Haus zu sein, wie man aus der Bezeichuung „Hausfriedensbruch“ schließen könnte. Sie kann eine Bretterhütte, ein Stall, ja eine Höhle sein, wofern nur diese Räume jemand zur Wohnung, d. h. zum beständigen Aufenthalte dienen. Auch gehört nicht zum Begriff der Wohnung die Unbeweglichkeit. Das Schiff, die Wagen und Buden der Marktkrämer, der Karren, in welchem der Schäfer zu schlafen pflegt, sind, wenn auch bewegliche Gegenstände, doch Wohnungen im Sinne des Gesetzes, und das unberechtigte Eindringen in dieselben ist daher Hausfriedensbruch.

Es ist auch nicht nothwendig, daß die Wohnung das Eigenthum des Bewohners sei. Der Paragraph schützt nicht das Eigenthum, sondern das „Hausrecht“, der Hausfriedensbruch befindet sich im Strafgesetzbuche daher nicht unter den Vergehen gegen das Eigenthum, sondern unter denen gegen die öffentliche Ordnung. Die Wohnung des Miethers ist daher auch befriedet. Selbst der Eigenthümer darf in dieselbe nicht ohne weiteres eindringen. Auch der Begriff „Geschäftsräume“ ist im weitesten Sinne zu nehmen. Geschäftsräume sind nicht allein der ständige Ladenraum und das Comptoir, sondern auch die bewegliche Bude, das Kirmeßzelt, das Karussell, selbst der durch ein Seil oder durch Pfähle abgeschlossene oder sonst in erkennbarer Weise abgegrenzte Raum, in welchem etwa ein Seilkünstler seine Geschäfte treibt. Geschäftsraum ist auch die Steinhauerhütte in Steinbrüchen, wo Geschäfte abgeschlossen werden. Ja, wie das Reichsgericht entschieden hat, selbst der Karren des Bauern wird, wenn dieser von demselben aus auf dem Markte seine landwirthschaftlichen Erzeugnisse verkauft oder anbietet, dadurch aus einem einfachen Beförderungsmittel in einen „Geschäftsraum“ verwandelt, und jeder Landmann, Metzger, Bäcker etc. genießt daher für sein Fuhrwerk das Hausrecht, wenn und solange er dasselbe etwa durch Ausrufen oder stillschweigend durch Ausbieten der in demselben befindlichen Waaren zum „Geschäftsraum“ erhebt.

Mit dem Ausdrucke „befriedetes Besitzthum“ meint der Paragraph den Hofraum, den Garten, den Vorplatz, den Hausflur und die Gebäulichkeiten, die zu einem Hause gehören, häuslichen Zwecken dienen und so naturgemäß eines besonderen Schutzes bedürfen. Daß ein Grundstück diesen Zwecken dient, kann es nicht nur durch eine Umzäunung, sondern auch durch die bloße Lage, die Benutzung, die Bewirthschaftung verrathen.

Nachdem nun der Paragraph alles „befriedete Besitzthum“ mit Hausrecht versehen hat, ist die Benennung der vierten Art von Räumlichkeiten, die „abgeschlossenen Räume, welche zum öffentlichen Dienste bestimmt sind“, im Grunde genommen überflüssig. Denn diese, wie Schulen, Kirchen, Postgebäude, Bahnsteige und auch wohl die Wartesäle der Bahnhöfe, sind doch auch „befriedetes Besitzthum“. Wenn daher diese Worte des Paragraphen überhaupt einer Deutung fähig sind, so wäre es die, daß, wenn einmal ein Stück Feld oder ein öffentlicher Platz, eine Straße etc., also Gebiete, die sonst nicht mit Hausrecht versehen sind, etwa bei Militärappellen u. dergl. abgesperrt werden, die Nichtachtung dieser Absperrung als Hausfriedensbruch zu betrachten sein solle. Doch hat das Gesetz dies wohl nicht sagen, es hat vielmehr wahrscheinlich nur eine besondere Art des „befriedeten Besitzthums“ oder der „Geschäftsräume“ noch einmal besonders hervorheben wollen.

Was ist nun „Eindringen“? Das Eindringen erfordert durchaus keine Gewalt gegen Personen oder Sachen. Man braucht, um „einzudringen“, weder die ihr Hausrecht vertheidigenden Personen zurückzudrängen, noch etwa eine Thür zu erbrechen oder aufzustoßen. Wer vielmehr gegen den erklärten Willen des Berechtigten dessen befriedetes Besitzthum betritt, der „dringt ein“. Der Bettler, der trotz meines besonderen mündlichen oder auf einem sichtbaren Plakate niedergeschriebenen ihm bekannten Verbotes mein Haus betritt, macht sich des Hausfriedensbruches schuldig, wenn ihm auch niemand persönlich den Eingang durch Gewalt wehrt, und wenn auch alle Thüren des Hauses offen stehen. Es genügt der Wille, das Hausrecht nicht zu achten. Auch ist es gleichgültig, wie weit er eindringt, das „Betreten“ des befriedeten Besitzthums genügt. Er braucht daher z. B. nur trotz meines Verbotes auf der Schwelle stehen zu bleiben, um sich des Hausfriedensbruches schuldig zu machen.

Das Eindringen muß nun ein „widerrechtliches“ sein.

Die Erklärung der Widerrechtlichkeit ist die Hauptschwierigkeit des Paragraphen. Ob jemand ein Recht habe, die Wohnung

[249]

Ein Napolitaner.
Nach einem Gemälde von J. Casado del Alisal.
Photographie im Kunstverlage von B. Schlesinger in Stuttgart (J. Laurent & Co. in Madrid).

eines anderen auch gegen dessen Willen zu betreten, kann der Nichtjurist oft schwer beurtheilen, weil ihm die Bestimmungen der Gesetze, welche dieses Recht betreffen, nicht geläufig sind. Unter ganz besonderen Umständen wird allerdings der Richter so urtheilen können: „Das Eindringen des Angeklagten war objektiv widerrechtlich, aber es hat dem Thäter subjektiv das Bewußtsein dieser Widerrechtlichkeit (der dolus des Hausfriedensbruchs) gefehlt, und er ist deshalb freizusprechen.“ Aber in der Regel wird dieses mangelnde Bewußtsein nicht schlechterdings und allein daraus hergeleitet werden können, daß der Thäter sich in Unkenntniß über die einschlagenden Gesetze befunden habe.

Einige Andeutungen zur Erklärung des Begriffs der Widerrechtlichkeit des Eindringens mögen daher, wenn sie auch nicht alle Fälle erschöpfen, doch am Platze sein.

Vorab ist zu bemerken, daß der Zweck des Eindringens kein widerrechtlicher zu sein braucht. Nicht nur, wer in ein Haus eindringt, um die Bewohner zu mißhandeln oder zu beleidigen, oder um Sachen zu beschädigen oder zu stehlen, sondern auch der Vermiether, der ein wirkliches Pfandrecht an Möbeln des Miethers ausüben oder der die Wohnung einem Nachmiether zeigen will, ferner derjenige, welcher einen Besuch machen oder einen Schuldner mahnen will u. dergl., dringt, wenn ihm der Eintritt verwehrt wird, widerrechtlich ein, obgleich sein Zweck ein an und für sich erlaubter ist. Man hat bei den höchsten Gerichten sogar gesagt: „Das Hausrecht ist ein so unverletzliches und weitgehendes Recht, daß gegen den Willen des Berechtigten nur die Obrigkeit in Vollziehung ihres Amtes eindringen darf also z. B. der Gerichtsvollzieher zur Vornahme einer Pfändung oder zur Ausweisung des Miethers kraft eines vollstreckbaren Titels oder das Gericht oder die Polizei zur Vornahme einer gesetzmäßigen Haussuchung oder zur Ergreifung eines Verbrechers u. dergl.“ Also jeder Privatmann soll, wenn ihm der Inhaber eines befriedeten Besitzthums den Eintritt ohne Grund verwehrt, klagen müssen. Die Unterscheidungen, welche die Gerichte in solchen Fällen machen, sind nicht immer für jeden verständlich. Daher ist nach dem Grundsatze: „Vorsicht ist die Mutter der Weisheit“ die Hilfe des Richters oder des Gerichtsvollziehers der Selbsthilfe vorzuziehen. [250] Letztere bleibt für den Vermiether, dem der Miether den Eintritt in die Wohnung verwehrt, selbst dann etwas Gewagtes, wenn er sich im Miethvertrage das Recht vorbehalten hat, die Miethsräume zu bestimmten Zwecken zu betreten.

Als ein interessanter Fall sei hier noch der erwähnt, wo das Eindringen in eine Wohnung zum Zwecke der Löschung eines Brandes geschieht. Dasselbe wird als nicht widerrechtlich angesehen, auch wenn der Inhaber, der etwa selbst den Brand angelegt haben mag, den Hilfsbereiten zum Weggehen auffordert; denn bei solchen gemeingefährlichen Unglücksfällen wie Brand und Wassersnoth ist ein jeder Staatsbürger zur Hilfeleistung verpflichtet und daher auch berechtigt. Ein jeder ist bei Brandunglück Feuerwehrmann, und solange ein solcher wirklich sich in seinem Berufe befindet, muß ihm gegenüber, wenn die Gefahr nicht anders bekämpft werden kann, die Rücksicht auf Privatrechte weichen.

Im allgemeinen aber halte man fest: widerrechtlich kann ein Eindringen auch dann sein, wenn das Verbot des Inhabers der Räumlichkeit, diese zu betreten, gänzlich unberechtigt ist. Es ist eben die unerlaubte Selbsthilfe, welche das Eindringen zu einem widerrechtlichen macht.

Was heißen ferner die Worte: „Wer, wenn er ohne Befugniß darin verweilt, sich auf die Aufforderung des Berechtigten nicht entfernt“?

Man kann eine Wohnung rechtmäßigerweise betreten haben, das Verweilen in derselben kann aber in der Folge zu einem unberechtigten werden.

Der Gerichtsvollzieher oder ein anderer Beamter, der in rechtmäßiger Ausübung seines Amtes ein Haus betritt, hat, wenn seine amtliche Thätigkeit beendet ist, auf ferneres Verweilen keinen Anspruch. Der Privatmann, der mit der Erlaubniß des Inhabers eine Wohnung betreten hat, muß sich gleichfalls auf dessen Geheiß entfernen. Das fernere Verweilen ist also in diesen Fällen „unbefugt“.

Daher ist auch die weit verbreitete Ansicht falsch, als sei eine dreimalige Aufforderung an den Verweilenden, sich zu entfernen, erforderlich, es genügt vielmehr eine einmalige Aufforderung. Freilich ist schon so entschieden worden: „Wer mit der Erlaubniß des Inhabers verweilt, verweilt ‚befugt‘, und es muß daher die erste Aufforderung an ihn ergehen, um sein Verweilen zu einem unbefugten zu machen, und die zweite Aufforderung ist dann erst die, von welcher der Paragraph spricht.“

Andere aber urtheilen strenger und richtiger: „Ein jeder, der in einem Lokale nur geduldet wird, verweilt ‚unbefugt‘ in demselben, denn unbefugt heißt so viel als ‚nur geduldet‘, ohne einen auch gegen den Inhaber wirksamen Anspruch.“

Falsch ist auch die volksthümliche Auffassung, als müsse die Aufforderung ausdrücklich, oder gar mit bestimmten Worten geschehen. Sie kann vielmehr in jeder erkennbaren Weise, sei es durch beliebige Worte, sei es auch durch Handlungen, gültig ergehen. Das aber ist nothwendig, daß sie ernsthaft gemeint und als ernsthaft erkennbar sei. Wenn der Aufgeforderte sie nicht für ernst hält, so zeigt er durch sein Verweilen auch nicht die Absicht, das Hausrecht zu verletzen; aber er wird oft Mühe haben, das Gericht zu überzeugen, daß er die Aufforderung wirklich für Scherz gehalten hat, wenn nicht besondere Umstände für ihn sprechen. –

Wir sagten eben, unbefugt ist jedes nur geduldete Verweilen; daher ist das Verweilen des Dienstboten noch kein unbefugtes, wenn er plötzlich, ohne daß er durch grobe Vergehen u. dgl. Anlaß dazu gegeben hat, ohne Kündigung aus dem Hause gewiesen wird; denn er wird nicht bloß im Hause geduldet, sondern hat einen Anspruch darauf, während der gesetzlichen Kündigungsfrist, wie sie die Gesindeordnung vorschreibt, im Hause zu bleiben, falls eben nicht Thatsachen vorliegen, bei welchen nach der Gesindeordnung eine sofortige Entlassung ohne Kündigungsfrist erlaubt ist, oder falls er nicht auf die Einhaltung dieser Frist selbst verzichtet hat.

Wer ist nun berechtigt, eine solche Aufforderung zu erlassen?

Berechtigt ist vor allem nur der wirkliche und gesetzlich als solcher betrachtete Inhaber der Wohnung etc., und er ist es nur demjenigen gegenüber, der dieselbe rechtlich nicht innehat.

Wenn also der Miether nach Ablauf des Miethvertrages die Wohnung trotz der Aufforderung des Vermiethers nicht verläßt, so macht er sich noch keines Hausfriedensbruches schuldig, denn der Vermiether ist ja noch nicht wieder im Besitze der Wohnung, sondern will sich noch erst in den Besitz derselben setzen, der Miether aber kann, wenn er nicht freiwillig geht, erst durch den Gerichtsvollzieher aus dem Besitze gesetzt werden. –

Die Frage, wer unbefugt verweilt und wer zur Aufforderung berechtigt ist, kommt auch in dem Falle in Betracht, wenn ein Wirth einem Verein, einer geschlossenen Gesellschaft, einer Religionsgesellschaft, einer Theatertruppe, einer Hochzeitsgesellschaft, einem Gemeinderath etc. sein Lokal für eine gewisse Zeit allein und ausschließlich überläßt. Dritten gegenüber ist der Vorstand dieses Vereins etc. natürlich berechtigt, die Aufforderung, sich zu entfernen, zu erlassen. Ob er aber auch den Wirth oder die von demselben zum Verweilen in dem überlassenen Raum Ermächtigten hinaus weisen kann, hängt von dem Vertrage ab. Meistens liefert der Wirth Heizung, Beleuchtung, Speisen und Getränke, meist behält er ja auch eine Verantwortlichkeit für das, was in dem Lokale vorgeht, selten wird er sich des Aufsichtsrechts in demselben vollständig begeben, und so kann er es auch betreten, jedenfalls zu den angegebenen Zwecken. Möglich aber ist es auch, wie z. B. bei der Ueberlassung an eine Religionsgesellschaft zum Zwecke religiöser Uebung oder an einen Gemeinderath, daß er sich des Lokals für eine bestimmte Zeit ganz begiebt, und dann steht er allerdings zu dem Inhaber desselben in demselben Verhältniß wie der Vermiether zum Miether. Solche Verhältnisse lassen sich, wenn auch nach allgemeinen Grundsätzen, so doch nur nach den Umständen des Falles entscheiden, die zu mannigfaltig sind, als daß sie im voraus erschöpft werden könnten.

Nicht aber der Inhaber allein für seine Person, sondern auch in seiner Abwesenheit ein jeder, der von ihm beauftragt ist oder im Interesse der öffentlichen Ordnung als beauftragt gelten muß, wie die Ehefrau, die erwachsenen oder handlungsfähigen Kinder, das Gesinde und sonstiges Personal, ist berechtigt, dritte, die unbefugt verweilen, zur Entfernung aufzufordern. Auch der Beamte übt und wahrt in seiner Amtsstube das Hausrecht desjenigen, der ihn angestellt hat.

Nun bleibt noch zu erklären, was es heißt, „sich entfernen“.

Es ist klar, ein verzögertes Entfernen ist noch kein Nichtentfernen. Es mag vorkommen, daß ein zum Gehen Aufgeforderter nachträglich sich entschuldigen, um Verzeihung bitten oder daß er ein Mißverständniß aufklären will, welches die Aufforderung veranlaßt hat. Wenn das wirklich der Fall ist, so mag es sein, daß er durch sein Verweilen nicht das Hausrecht verletzen, daß er vielmehr der Aufforderung Folge leisten will, wenn er sich auch langsam oder erst nach einiger Zeit entfernt. Aber vorsichtiger ist es jedenfalls, sofort zu gehen, denn der Richter mißt nicht allen Entschuldigungen des Angeklagten Glauben bei.

Unrichtig ist auch die Meinung, ein zum Verlassen des Lokals vom Wirthe aufgeforderter Gast dürfe das Bestellte und Erhaltene erst verzehren, bis er sich zu entfernen braucht. Er könnte das Verzehren so langsam betreiben, daß das Hausrecht eines Wirths dadurch vereitelt würde. Der Gast muß sofort gehen und kann höchstens vom Wirthe die Nachlieferung und Aushändigung des Bezahlten verlangen. Endlich sei noch bemerkt, daß der Gast durchaus keinen Anlaß zu der Aufforderung gegeben zu haben braucht. Das Hausrecht des Wirths oder sonstigen Inhabers eines öffentlichen Lokales geht so weit, daß er jeden aus der Gaststube weisen kann. Doch glaube man nur nicht, daß der Wirth das Recht habe, den Gast ungestraft zu beleidigen. Er darf alles, was zur Wahrung seines Hausrechts nöthig ist, aber auch nur dieses thun. Eine Aufforderung also, die in beleidigender Weise oder ohne triftigen Grund an einen anständigen Gast erginge, könnte den Wirth wegen Beleidigung strafbarer machen als den Gast, der dieser Aufforderung nicht Folge leistet.

Wir haben nun den Paragraphen Wort für Wort erklärt. Man muß aber bei der Erklärung eines Gesetzes auch den Sinn und den Zweck desselben im ganzen ins Auge fassen.

Der Zweck des § 123 ist nun der, das Hausrecht zu schützen. Erst wenn man sich diesen Zweck klar macht und sich nicht blind an den Wortlaut hält, kann man ihn auf alle Fälle richtig anwenden.

Wenn z. B. ein Wirth seine Gäste bei Eintritt der Polizeistunde auffordert, das Lokal zu verlassen, so machen sich diese durch Nichtbeachtung dieser Aufforderung noch nicht eines Hausfriedensbruches schuldig; denn der Wirth macht ja noch nicht von seinem Hausrechte Gebrauch, sondern erfüllt nur, vielleicht sogar [251] ungern, eine ihm obliegende polizeiliche Pflicht. Allerdings kann ein Wirth eine solche Aufforderung in Ausübung seines Hausrechts erlassen, wenn ihm z. B. die späten Gäste unbequem sind, oder er wirklich das Lokal zu schließen wünscht. Wenn er diese Absicht, von seinem Hausrechte Gebrauch zu machen, in erkennbarer Weise, etwa durch den Ernst der Aufforderung oder in anderer Weise, kundgiebt, so begehen die trotzdem verbleibenden Gäste, wenn sie diese Absicht erkannt haben, allerdings einen Hausfriedensbruch. Im anderen Falle, wenn der Wirth bloß seiner Pflicht nachkommen wollte, sind die Gäste nur nach § 365, I des Strafgesetzbuches strafbar, und zwar heißt ihre That alsdann „Verweilen über Polizeistunde“ und wird mit höchstens 15 Mark Geldstrafe belegt.

Wie der § 123 weiter sagt, gehört der Hausfriedensbruch zu den „Antragsvergehen“, das heißt die Verfolgung dessen, der den Hausfrieden gebrochen, tritt nur ein auf Antrag desjenigen, dessen Hausfrieden gebrochen wurde. Der einmal gestellte Antrag kann nicht zurückgenommen werden. Man stelle ihn daher nur nach reiflicher Ueberlegung, denn gerade solche unwiderrufliche Anträge haben schon manchen, der „vorgethan und nachbedacht“ gereut. Auch kann der Strafantrag nicht getheilt werden. Ist er gegen einen Thäter gestellt, so verfolgt die Staatsanwaltschaft von Amts wegen, auch gegen den Willen des Antragstellers, alle Theilnehmer an der That, also auch etwa mit in die Sache verwickelte Freunde und Verwandte des Antragstellers, die zu verfolgen vielleicht gar nicht in dessen Absicht lag.

Der Hausfriedensbruch, den wir bisher besprochen haben, ist der sogenannte „einfache Hausfriedensbruch“. Geschieht er unter erschwerenden Umständen, so heißt er „qualifizierter Hausfriedensbruch“. So bedroht der Schluß des § 123 den Hausfriedensbruch, der von einer mit Waffen versehenen Person oder von mehreren gemeinschaftlich begangen ist, mit Gefängniß von einer Woche bis zu einem Jahre, ohne daß auf einfache Geldstrafe erkannt werden kann, der § 124 in dem Falle, daß sich eine Menschenmenge öffentlich zusammenrottet und in der Absicht, Gewaltthätigkeiten gegen Personen oder Sachen zu begehen, in befriedete Räume eindringt, einen jeden, der an diesen Handlungen theilnimmt, mit Gefängniß von einem Monate bis zu zwei Jahren, endlich der § 342 den Hausfriedensbruch, den ein Beamter im Dienste begeht, mit Gefängniß bis zu einem Jahre oder Geldstrafe bis zu 900 Mark.

Bei allen diesen schweren Arten des Hausfriedensbruches ist kein Antrag erforderlich, der Staatsanwalt verfolgt die That von Amts wegen.

Nun noch eine Schlußbetrachtung:

Das Hausrecht ist ein altes, heiliges, seit undenklicher Zeit im Volksbewußtsein lebendes Recht. Das alte deutsche Recht kannte noch einen besonderen Kirchen- und Burgfrieden, dessen Verletzung es härter ahndete als die des einfachen Hausfriedens. Die Störung religiöser Andacht wird auch jetzt noch besonders bestraft, den Burgfrieden aber kennen wir nicht mehr. Hütte und Burg genießen jetzt denselben Schutz gemäß dem alten Wort: „Mein Heim ist mein Schloß.“

Wie heilig aber der alte Germane, gastfreundlich und keusch, trotz seiner sonstigen Neigung zu Fehde und Gewalt, das Hausrecht hielt, sehen wir daran, daß seine alten Rechte andere Verbrechen, wie Todtschlag, Diebstahl, Ehebruch, härter bestraften, wenn sie im eigenen Hause des Verletzten geschehen waren. In schöner Weise sagt ein altes nordisches Recht, das „Gulathing“:

„Das ist auch eine unsühnbare That, wenn jemand einen Mann innerhalb seiner Pfähle erschlägt, oder des Hofes draußen, oder innerhalb des Zaunes, welcher Feld und Anger umgiebt, neben seinem Hause – außer wenn er es thut, um sich zu wehren.“ Justus.




Der erste Ausgang.

(Zu dem Bilde S. 253.)

So lang’ lag unser Kind zu Bett,
Den Kopf so heiß und schwer;
Und wenn’s nicht gefolgt dem Doktor hätt’,
Dann lebte es wohl nicht mehr.
Dann wär’s ein Engel im Himmel hoch
Und hätt’ uns gelassen allein –
Und wir wollten’s doch herzen und küssen noch
Und mit ihm fröhlich sein!

So lang’ lag draußen der weiße Schnee,
Da gab es nicht Weg noch Bahn,
Da schrie vor Hunger im Wald das Reh,
Und der Frühling wollte nicht nahn!
Unser Kind, das hat verschlafen die Zeit,
Und die Mutter hat sie verwacht –
Nun trag’ ich’s ja aus, nun wandern wir beid’
In die blühende Frühlingspracht.

Und siehst Du Masliebchen und Veilchen auch?
Und die Leberblumen blau?
Und drüben zwischen dem Gras und Lauch
Die Himmelsschlüssel in Thau?
Sie schlossen nicht auf die Himmelsthür,
Es war nicht an der Zeit –
Sie ließen mein blondes Englein mir
Und meine Seligkeit.

Und hörst Du droben des Schwälbchens Laut,
Das am Haus die Jungen geatzt?
Die Nachtigall ist wieder die Braut,
Und der Star am Kasten schmatzt.
Sie flogen so weit ins fremde Land
Und fanden zurück mit Müh’ – –
Und hätte es Gott nicht abgewandt,
So flogst Du viel weiter als sie!

Mein Englein matt, ich halte Dich fest –
Die Welt ist so wunderschön!
Wenn Osterhäslein baut sein Nest:
Was gilt’s, dann kannst Du gehn?
Dann holst Du mir seine Eier stolz
Und die Veilchen vom Gartengang,
Und springst mit dem Eichhorn im grünen Holz,
Wie einst Dein Füßchen sprang.  Victor Blüthgen.




Lore von Tollen.

Roman von W. Heimburg.
(Fortsetzung.)


Nun war Käthe das Glück geworden, das heiß ersehnte Glück! Wunderlich, in diesem Moment fühlte sie weiter nichts als eine seltsame Müdigkeit. Sie stieß die Bücher, die sie sich heimlich aus der Leihbibliothek geholt, zurück – sie hatte jetzt ein Stück Wirklichkeit erlebt, das schönste in einem Mädchenleben; war es wirklich so schön, als es beschrieben wird? Käthe wußte es nicht zu sagen. Sie gähnte auf einmal und nach kaum einer Viertelstunde lag sie im Bett und schlief. – – – –

Ihm ward es nicht so gut. Er suchte, zurückgekommen, die Mutter auf. Sie saß bei der Lampe mit einer Bekannten, der Frau Bürgermeisterin, die etwas „zum Lichten“ gekommen war, wie die abendlichen Besuche der Damen, denen daheim die Zeit zu lang wurde, hierorts genannt werden, denn die Westenberger Hausväter pflegten nach dem Abendessen in das Stammlokal zu gehen. Artigkeitshalber nahm Ernst Platz und hörte die große Neuigkeit mit an, daß zum ersten April jene sehnsüchtig erwarteten Schwadronen eines Ulanenregiments einziehen würden, die Westenberg zur Garnison zu erheben bestimmt waren. „Und denken Sie, liebste Frau Schönberg, die Beckersche Villa kauft die Stadt; da hinter dem Hause errichten sie Kasernen, nächst der Straße wird das Terrain zu Bauplätzen verwerthet, und die Villa selbst, – da miethet der Kommandeur die erste Etage, und die andere einer von den verheiratheten Rittmeistern.“

[252] „Na denn man to,“ sagte lakonisch die Pastorin. „Ja, dann wird’s vorbei sein mit der Stille hier draußen,“ sprach die hübsche rundliche Frau weiter, der die Freude über die Mehrbedeutung ihrer getreuen Stadt aus den Augen leuchtete, „und welche Vortheile bringt es doch! Ein ganz anderes Leben, einen ganz anderen Handel!“

„Das ist sehr richtig,“ gab der Doktor zu.

„Es mag ja wohl sein,“ pflichtete die Mutter bei, die unruhig den Sohn betrachtete. Was scheerten sie Handel und Wandel, Soldaten und Kasernen? Sie sah, daß ihren Jungen etwas drückte, und konnte ihn nicht fragen –.

Endlich ging die Frau Bürgermeisterin, und als die Pastorin von der Gartenthüre zurückkehrte, bis wohin sie respektvoll den Gast begleitet – Ernst hatte sich schon vorher verabschiedet und war nach oben gegangen – da keuchte auch sie die Treppe hinauf und drang in sein Zimmer ein.

Er hatte die Lampe nicht angezündet, aber es war dennoch hell; das Mondlicht quoll blendend durch die Fenster und legte sich in breiten silbernen Streifen auf die weißen Dielen. Er saß im Sofa und rührte sich nicht.

Sie kam herüber und nahm neben ihm Platz.

„Ernst, mit Dir ist’s nicht richtig, es hat was mit der Käthe gegeben?“

„Ja!“

„Hat sie Dir was Schlimmes von der Lore erzählt? Hat es Dir wehgethan? Glaub doch nicht alles, was die Leute sagen; denk doch endlich nicht mehr an die alte Geschichte!“

„Nein, Mutter, es ist anders – ich habe mich mit Käthe verlobt!“

Es war heraus. Er sprang auf und begann im Zimmer auf und ab zu gehen.

Die alte Frau war sprachlos.

„Mutter, so rede doch,“ bat er endlich gepreßt, „Du hast die Kleine doch gern, denk ich?“

„Gern? Ich hab auch die Nachtigall gern, die im Garten singt, aber – –“

Er antwortete nicht.

„Aber fangen wollen hab’ ich sie niemals,“ setzte sie hinzu. Und sie stand ebenfalls auf. „Ist alles complet zwischen Euch beiden?“ fragte sie.

„Ja, Mutter!“

„Dann kann ich das Reden sparen. Gott behüt Dich, Ernst, und schenke Dir Glück!“

Sie griff nach seiner Hand und drückte sie, dann blieb auch er allein. Aber ihn floh der Schlaf. Er sah Käthes wunderbare heiße Augen vor sich und die Leidenschaft, die ihm daraus entgegengesprüht war. Es dünkte ihm schwül und heiß in dem Raum, und er riß das Fenster auf. Drüben schimmerte hinter den kahlen Bäumen das verlassene weiße Haus, in dem Lore zuletzt gewohnt! Merkwürdig, daß das Herz immer noch wehthat bei einer plötzlichen Erinnerung an sie, die ihm so schnöde die Treue gebrochen. Was würde Lore sagen zu seinem Bund mit Käthe? Nichts vermuthlich! Sie ging in Italien am Arm des Onkels und half die Zahl jener Damen vermehren, die, nachdem sie Schiffbruch in der Ehe gelitten haben, einen so ungeheuer interessanten Nimbus um sich verbreiten. Ach, so jung, so schön, und schon so unglücklich! Er war vielleicht der einzige in ganz Westenberg, der sich nicht wunderte, daß die Eheleute sich trennen wollten. Lore war trotz allem eine zu aristokratische Natur, um es neben dieser Rohheit auszuhalten – das hatte so kommen müssen! Aber daß sie überhaupt den Versuch hierzu gewagt, das erfüllte ihn immer wieder mit Staunen, ja mit Grauen vor den Abgründen eines Frauenherzens. – – Aber was, um alles in der Welt, wollte er noch von Lore? Er, der Bräutigam der Schwester!

Ein Gefühl von Rührung überkam ihn beim Gedanken an Käthe. „Sie ist ein Kind, ein vertrauensvolles Kind, die Kleine,“ sagte er, „sie soll glücklich werden!“




Auf dem Monte Pincio! Und die Abendsonne überstrahlt Rom! Sie nimmt anders Abschied von dieser Stadt als von irgend einer anderen! Nirgends scheint sie sich so schwer zu trennen, hat sie eine solche intensive Goldfarbe. Selbst die Luft erscheint mit Millionen Goldstäubchen erfüllt, und hinter Sankt Peters Riesenkuppel flammt eine Strahlenkrone auf, leuchtend, majestätisch, unsagbar großartig – und umschließt das ewige Rom dort unten wie mit einem Glorienschein. Hundertfältiger Glockenklang zittert durch die Luft; ein weicher Wind kommt herüber von den Bergen und spielt in dem üppigen Laub der Bäume. Und in diesen immergrünen Gängen Tausende von Menschen. Die Menge schiebt und drängt sich, hier blitzende Augen in stolzen römischen Gesichtern, dort das leuchtende Blond einer schönen Engländerin, der rosige Teint einer deutschen Frau. Bunte schimmernde Gewänder, elegante Equipagen; dazwischen die scharlachrothe Livree der Königin. Dort lange bunte Züge junger Priester in grünen, blauen, rothen Gewändern. – Jetzt hebt die Musik an und mischt sich in das Glockengeläute, in das Rauschen der silbernen Wasserstrahlen, in das Schwatzen und Lachen der Menschen, die in allen Zungen der civilisirten Welt reden; und dort drüben, grell sich abhebend vom gelblichen Abendhimmel der ernste Pinienhain der Villa Borghese.

In einem der einsamen Mittelwege geht ein alter Herr in hellem Frühlingsanzug, die Trauerbinde um den Arm; an seiner Seite eine schlanke jugendliche Frauengestalt in einfachem Promenadekostüm, aber in tiefer Trauer. Auf ihren Wangen liegt das feine Roth der Gesundheit, und wenn sie auch just nicht übermüthig fröhlich ist die Art, mit der sie vorwärts schaut in die funkelnde Pracht dieses Frühlingsabends – es liegt doch in diesen Blicken der tiefen Augen eine innige stille Freude über die Schönheit rings um sie her.

„Onkel, wie schwer wird uns der Abschied werden!“ sagte sie eben. –

„Ja, Lorchen, das soll wohl sein, aber wir kommen wieder.“

Sie lachte plötzlich hell und fröhlich. „O, Onkel, ich? Wie sagtest Du doch früher immer – pauvrette!“

„Hm, Lore, Du wolltest ja nicht, daß ich von Deinem nun bald ci-devant Gemahl etwas für Dich herausschlagen sollte!“

Sie sah ihn lächelnd an. „Ja, Du wärst der Richtige gewesen, Onkel, es herauszuschlagen, und ich die Rechte, es anzunehmen.“

„Hast recht, mein Deern!“

„Wie immer, Onkel,“ neckte sie, „und nun bitte, sprich nichts mehr davon; sieh doch, wie wundervoll! Ich sage Dir, Onkel, das Herz wird täglich gesunder, wenn man so etwas schauen darf.“ Und sie wies auf das Bild, das sich vor ihnen ausbreitete – Rom, im Goldflimmer des Abends.

Sie nahm seinen Arm und ging schweigend weiter. Hin und wieder flog ein stolzer Blick von ihm zu ihr, wenn bewundernde Augen die schöne Begleiterin streiften. Gemächlich wanderten sie an der französischen Akademie vorüber und hinunter zu der Piazza del Popolo und schlenderten den Corso entlang. Lore träumte mit offenen Augen; der gute alte Onkel wich dabei in ihren Gedanken einem andern, der ihr der Liebste war auf der Welt.

Das wäre ein Glück ohnegleichen, auf dem Meer dieser Schönheit zu segeln mit ihm, sich belehren zu lassen von ihm, miteinander zu schwärmen, zu genießen – allein mit ihm in dieser wundervollen Fremde, wo kein Mensch sie kannte!

Sie erschrak förmlich, als der General jetzt fragte. „Ob wir Briefe vorfinden?“ Und er kniff ein kleines freches gluthäugiges Ding in die Ohrläppchen, das, ihn verfolgend und unermüdlich seine Veilchensträuße anbietend, jetzt eins davon in seine Rocktasche experimentirt hatte und nun mit zeternder Stimme das Geld dafür verlangte.

„Gottloses Gesindel!“ schalt er, warf ein großes Kupferstück in das Körbchen des Kindes und bot dann Lore den Strauß.

„Ob wir wohl Briefe haben?“ wiederholte er.

„Ich hoffe es, Onkel, hoffe es sehr, von Mama fehlt mir seit acht Tagen jede Nachricht, und ich habe immer Angst, sie könnte krank geworden sein.“

„Wäre kein Wunder! Aber Du darfst nicht daran denken, Kind. Uebrigens der Dachs, die Käthe, muß ihr Examen machen in diesen Tagen; wenn sie durchkommt, schenke ich ihr etwas. He, Lore, willst Du auch fahren, es ist noch weit bis daheim und Deine Füßchen sind sicher so müde wie meine großen Spreekähne.“

Er winkte einer Droschke und sie fuhren durch die belebten Straßen heim.

[253]

Der erste Ausgang.
Nach einer Zeichnung von Herm. Vogel.

[254] In dem kleinen Wohnzimmer, das von der Wirthin stolz „Salotto“ genannt wurde, hatte Gemma, das zwar dunkeläugige, aber keineswegs schöne römische Haustöchterlein, Feuer angezündet gegen die rasch hereinbrechende Abendkühle. Auf dem gedeckten Tisch brannte eine Lampe und das Flämmchen unter der Theemaschine. Lore legte Jacke und Hut ab, und der General zog die unterwegs erstandene Zeitung aus der Tasche, und sich behaglich auf eine Art Sofa setzend, fragte er:

„Weißt Du auch, Lore, daß ich gar nicht mehr ohne Dich reisen will? – Herrgott, wie ist das gemüthlich! Mitten in Rom ein deutscher Theetisch!“

Sie blickte ihn freundlich an, nahm ihm gegenüber Platz und den köstlichen Lattuga mit noch köstlicherem Oel mischend, erwiderte sie neckend.

„Wenn Du es willst, ich bin dabei!“

„Ja, Du würdest Dich bedanken,“ lachte er, „nein, nein, keine Versprechungen, Lore, Du würdest wortbrüchig.“

Der lächelnde Ausdruck blieb auf ihrem Gesicht. Sie fühlte sich heute so frei, so leicht wie der aus dem Käfig entflohene Vogel, wie die Blume, die der erste Sonnenstrahl trifft nach langen Regentagen, wie nur ein junges Menschenherz sich fühlen kann, das leise eine köstliche Hoffnung umschmeichelt nach schwerer Leidenszeit.

Als der alte Herr nach Tisch sein Zimmer aufgesucht hatte, trat sie auf den winzigen Balkon hinaus, der wie ein Schwalbennest über dem kleinen Hof hing. Und willenlos kamen die süßen Träume wieder über sie beim Rauschen des Brunnens dort unten! Weit, weit fort von Rom, im fernen Deuftschland, weilten die Gedanken; sie sah es so deutlich, das Haus mit den hellen Giebelfensterchen. Und er würde ihr verzeihen, er würde es, wenn sie ihm alles erzählte, was sie damals von ihm getrennt. Sie wußte es so genau, ganz genau. Er konnte sie nicht vergessen, wie sie ihn nicht, denn ihre Liebe war zu echt, zu wahr! Ach, Zukunft, was bringst du?

Gemmas tiefe Stimme rief sie zurück in die Gegenwart. Sie habe es ganz vergessen, entschuldigte sie sich, für die Signora wäre so ein Brief gekommen und hier sei er, und ob die Signora vielleicht schon schlafen gehe. Sie, die Gemma, möchte es wissen, denn sie wolle ins Theater, – sie habe ein Billet bekommen von dem Inglese im unteren Stock – und wenn die Signora nichts mehr wünsche heute abend, so –“

„Freilich, gehen Sie!“ antwortete Lore freundlich und trat mit dem Brief zur Lampe.

Das Mädchen nahm rasch das Geschirr ab und betrachtete verstohlen das schöne Gesicht der blonden Dame, die den Brief sinnend in der Hand hielt, und meinte, es sei wohl eine Botschaft von dem fernen „sposo“. – Schade, daß sie sobald schon reisen wollte, die alte „eccellenza“, es waren so ruhige bescheidene Miether, nicht halb so anspruchsvoll wie die Inglesi da unten. Sie verließ das Zimmer mit einem freundlichen „felice notte“.

Lore verschloß die Thür hinter ihr, dann kam sie zum Tisch zurück, kauerte sich auf das Sosa und erbrach den Brief.

Mit einemmale setzte sie sich kerzengerade zurück, todtenblaß war sie geworden. So verharrte sie eine ganze Weile unbeweglich, die Augen ins Leere gerichtet, die Hände auf dem Schoß ineinander gekrallt.

Der Brief lag auf dem Tisch, wenige flüchtige Zeilen standen auf dem Blatt.

Ein Krampf schien Lores Gesicht zu verziehen. Das Lächeln von vorhin lag noch um den Mund, aber damit im Widerspruch standen die schneeweißen Lippen und die Augen, die förmlich zurückgesunken schienen in diesem Moment. Sie erhob sich endlich so schwerfällig wie eine alte Frau, schlich in ihr kleines Kämmerchen und schloß die Thüre hinter sich zu. Die Lampe in dem verlassenen Zimmer flackerte im kühlen Nachtwind, der vom Balkon hereinströmte. Er bewegte die Decke des Tischchens und wehte das Briefblatt herunter, das Briefblatt, das die Nachricht von Käthes Verlobung gebracht, es flatterte bis zu der Thür hinüber, hinter der Lore verschwunden war, als wolle es auch hier eindringen mit dieser Botschaft.

Todtenstille war es. Nur einmal klang es wie Schmerzenslaut aus dem Nebengemach. –

„Alle Wetter, Deern, wie siehst Du aus?“ fragte der General erschreckt am andern Tage, als er zur gewohnten Stunde in den Salotto trat.

Sie sah an ihm vorüber, gab ihm die Hand und erkundigte sich nach seiner Nachtruhe.

„Das wäre – wenn Du das Fieber bekämst! Um alles in der Welt – die Gemma soll den Doktor rufen –“

„Ich danke Dir, Onkel, ich bin ganz gesund.“

„Na, na,“ brummte mißtrauisch der alte Herr; „ich bitte Dich, mach Dich nicht stärker als Du bist, und geh mir nicht etwa krank mit auf die Heimreise.“

„Bis dahin werde ich ganz frisch sein, Onkel.“

„Ja, mein Schatz, wir können aber bald abreisen.“ Der alte Herr lächelte heimlich und zog einen Brief aus der Tasche. „Schau, der lag gestern abend auf dem Tischchen neben meinem Bett. Da hast Du die Bestätigung der Scheidungsakte; Du bist frei, Lorchen!“

Sie nickte leise.

„Es ist gut, Onkel,“ sagte sie müde, „ich danke Dir auch vielmals, Du hast so viel Mühe gehabt.“

Was sollte sie denn noch mit ihrer Freiheit?

Der General ward roth. Er ärgerte sich über diese Gleichgültigkeit. Sie hatte es ja gestern noch kaum erwarten können, bis sie die Bestätigung bekam, daß sie aus den Banden der verhaßten Ehe erlöst sei.

„Wir reisen also nächster Tage,“ brummte er, „ich habe hier ohnehin länger gesessen, als ich wollte. Am Sonnabend gehen wir, dann bin ich über acht Tage in Berlin, just so, daß ich zur ersten Kegelpartie in meinen Klub komme.“

Lore goß ihm Thee ein. „Wie Du willst, Onkel; also reisen wir!“

„Wenn ich nur wüßte, Lore, was Dir fehlt!“

„Mir?“ Sie lachte kurz auf und warf den Kopf zurück. „Was mir fehlt? O Du großer Gott! Wohin sollen wir heute gehen, Onkel?“

„Noch einmal auf den Palatino und ins Kolosseum, wenn Du willst.“

„Sicher!“

Sie trank ihren Thee in kleinen Schlückchen und zerbröckelte das Weißbrot mit den Fingern.

„Aber freust Du Dich denn gar nicht, daß der verdammte Trödel vorüber ist?“ fragte er endlich.

„O ungeheuer, Onkel, und ich wollte Dir nur noch erzählen,“ fuhr sie fort und stand auf, um die Balkonthür zu öffnen, „Käthe hat sich verlobt.“

Dem alten Herrn blieb der Mund offen. „Die Krott? Heiliger Pankratius, mit wem denn?“ stotterte er endlich.

Lore zupfte an den billigen weißen Vorhängen vor der Thür, die in Unordnung schienen. „Doktor Schönberg heißt er; er ist Lehrer am Gymnasium in Westenberg,“ klang es zurück.

„Was ist es denn für einer? Kennst Du ihn?“

„Ja – er – er ist wie alle andern, Onkel.“

„Hm.“

Sie wandte sich um; sie sah fast so entstellt aus wie gestern abend, als sie die Nachricht bekam.

„Na, denn man zu,“ sagte der General, der eifrig in seinem Thee rührte, „hoffentlich hat er etwas Vermögen.“

„Nein“ berichtete Lore.

„Scheint Tollensche Familieneigenthümlichkeit zu sein, dies aufs Gerathewohl Verloben und Verheirathen“ brummte er; „erst wenn sie dann beinahe ertrunken sind, lassen sie den Brunnen zudecken, und dann ist es zu spät.“

Sie hatte den alten Herrn noch nicht so verdrießlich sprechen hören; sie fühlte, der Tadel galt ihr, derentwegen er sich so geplagt hatte; aber es that ihr nicht weh heute, es war ja alles so gleichgültig. Sie machte sich zum Ausgehen fertig und schritt dann mit ihm durch die von einer köstlichen Morgensonne durchflutheten menschenwimmelnden Straßen.

Sie traten endlich in das gewaltige Rund des Kolosseums. Unterwegs hatte keines ein Wort geredet; das war noch nie vorgekommen. Jetzt trennten sie sich; – der alte Herr stieg, von einem Aufseher begleitet, die Treppen hinauf, um noch einmal die Aussicht zu genießen von dieser Höhe. Sie ging unten in der Arena an der Sonnenseite entlang, den Kopf gesenkt, und als sich ihr ein bequemes Plätzchen auf einem der Travertinquadern, die dort umherlagen, bot, setzte sie sich und starrte das uralte Gemäuer an, das sich in gewaltiger Ellipse dehnte. Niemand war [255] hier in der frühen Stunde, eine imponirende Einsamkeit umgab sie. Nur ein Zug schreiender Vögel flog am tiefblauen Himmel hoch da droben, und vor ihr stiegen die Sitzreihen empor, von denen einstens Hunderttausende herniederschauten. Hier unten waren, zum Vergnügen dieser Hunderttausende, zahllose Menschen und Thiere auf entsetzliche Weise hingemordet worden. Sie empfand auch heute wieder staunendes Grauen gegenüber dieser Vergangenheit, und sie fühlte sich so klein, so winzig klein in dieser Welt, nicht größer als ein Sandkorn, das der Wind aufwirbelte. Was war sie mit ihrem Schmerz, mit ihrem kleinen einfachen Menschengeschick? Passirt doch jedem einmal Aehnliches, vielleicht Schlimmeres! – Sie würde leben, ihre Tage leben, und sie würde vergehen, wie Millionen vor ihr vergingen im Strom der Zeit. Und sie wollte auch leben. Wie? nun, das war ihre Sache!

Ihr Kopf hob sich stolz empor; es war ihr wunderbar zu Muthe, als hätte sie starken Wein getrunken, der ihre Nerven angespannt, und der sie doch krank dabei gemacht. Sie fühlte Muth in sich der Zukunft gegenüber und zitterte doch vor der schrecklichen Einöde, die diese Zukunft war.

„Avanti!“ sagte sie laut und stand auf.

Der General dort oben, der wie ein Pünktchen erschien, winkte mit dem Taschentuch. Sie erwiderte seinen Gruß und ging langsam dem Ausgang zu, ihn erwartend.

„Avanti!“ sagte auch er, als er zu ihr trat mit sichtlich besserer Laune, und bot ihr den Arm.

„Ich gehe schon allein,“ erwiderte sie, „muß mich daran gewöhnen, Onkel!“ und ihre Stimme klang hart.

Als sie am andern Morgen die Koffer packte, kam der General mit einem Brief herein. „Na, bei Euch scheint’s epidemisch geworden,“ sagte er und legte eine Tüte feiner Bonbons vor Lore hin, „da ist auch Rudolfs Verlobungskarte; hast Du keine Nachrichten?“

„Ja!“ erwiderte sie und zeigte auf den uneröffneten Brief, der dort lag, „von Mama.“

„Noch nicht gelesen?“

„Nein, Onkel!“

„Na, was sagst Du denn dazu, Deine Mama ist ja auf einmal schön heraus? Und hat natürlich Moos, dieser Maikater oder Katze, oder wie sie heißt, die künftige Frau von Tollen.“

Lore nickte. „Hoffentlich!“

„Da werdet Ihr ja bald allein sein, Du und Deine Mutter, Lorchen.“

„Ja!“ erwiderte sie tonlos.

„Willst Du denn nicht lesen, Kind?“

„Nachher, Onkel; ich möchte nur erst fertig sein, weißt Du.“

„Hör’, Lorchen, Du hast mir doch den dummen Schnack da nicht übelgenommen gestern, daß ich da sagte, Ihr heirathet aufs Gerathewohl? Ich hab es nicht bös gemeint; ich dachte nur, die Käthe – aber nimm es nicht übel, Kind – die passe nicht recht für einen armen Lehrer; verstehst Du mich? Das Mädel kommt mir so wild und so – so – na, mit einem Wort – ich kann sie mir besser auf dem Pferde vorstellen als hinterm Küchenherd oder in der Kinderstube. Ja, wenn Du das wärst, Lorchen, dann hätte ich –“

Sie sah ihn an mit einem Blick, wie ein verwundetes Reh ihn haben mag.

Er hielt betroffen inne und nahm ihren Kopf zwischen beide Hände. „Ich wollte Dich wirklich nicht kränken, meine alte Deern! Es ist ja auch richtig, Lore, ehe der Wildfang Lehrerin wird, lieber einen soliden Mann. Na, es wird sich alles historisch entwickeln, gelt?“

Und er streichelte das blasse Gesichtchen.

Sie nickte freundlich und fuhr in ihrer Beschäftigung fort; dann nahm sie den Brief der Mutter mit in ihr Kämmerchen, und da blieb sie lange. Der General schlief indessen. Er wachte erst auf, als Gemma den Tisch decken wollte; dann kam auch Lore.

„Was schreibt die Mutter?“ fragte er.

Sie wurde roth.

„Mama läßt grüßen,“ log sie. Sie hatte noch nicht den Muth gefunden, den Brief zu lesen.

(Fortsetzung folgt.)




Die Bewohner unserer westafrikanischen Kolonien.

Von Hugo Zöller. Mit Abbildungen nach Photographien des Verfassers.
Vier Völkergruppen. – Das Fetischwesen der Togoleute. – Die Heimathsliebe der Kruneger. – Die Trommelsprache der Dualla. – Kriegskanoes, die unsere Dampfer an Schnelligkeit übertreffen. – Fahrzeuge, die man gleich Regenschirmen unter den Arm nimmt. – Die angeblich menschenfressenden Binnenlandsbewohner des Kamerungebiets.

Wer den westafrikanischen Kolonieen des Deutschen Reiches einen Besuch abstattet, wird mit vier großen Völkergruppen in Berührung kommen, nämlich erstens den zum Stamm der Eweneger gehörigen Togoleuten, zweitens mit den die Küste des Kamerunlandes bewohnenden Sippen, die ich unter dem Gesammtnamen „Kamerunvolk“ zusammenfassen möchte, drittens mit den Fan oder Binnenlandsbewohnern des südlichen Kamerungebiets und viertens mit den allenthalben in Westafrika als Arbeiter und Gehilfen des weißen Mannes dienenden, bekanntlich aus Liberia stammenden und nach abgelaufenem Vertrage auch stets wieder zur Heimath zurückkehrenden Krunegern. Allen Individuen dieser vier Völkergruppen sind die bekannten körperlichen Merkmale der Negerrasse, nämlich schwarzbraune Hautfarbe und wolliges Haar, gemeinsam, aber in Bezug auf geistige Anlage, Charakter und Kulturstufe zeigen sich die allergrößten Verschiedenheiten.

Bei den Togonegern, die ein verhältnißmäßig friedfertiges und in materieller Beziehung zu ziemlich hoher Kulturstufe emporgestiegenes Naturvolk darstellen, ist dem Verfasser dieses Aufsatzes nichts so sehr aufgefallen, wie ihr an griechisch-römische und altägyptische Ueberlieferungen erinnerndes Religionssystem. Tritt man in ihre trotz alles phantastischen Aufputzes durchaus nicht ohne einen gewissen Geschmack angelegten Tempel, beispielsweise in denjenigen des Kriegs- und Sternschnuppengottes oder in denjenigen der Liebesgöttin, so weht uns bei aller Bizarrerie, die nun einmal der Negernatur anhaftet, ein gewisser Hauch des klassischen Heidenthums entgegen, wie wir ihn seit unserer Gymnasialzeit und dem Studium griechisch-orientalischer Mythologie nicht mehr empfunden haben. Freilich sind die in diesen architektonisch ganz interessanten Tempeln stehenden und, milde ausgedrückt, doch recht fratzenhaften Statuen aus rothem Thon alles andere eher denn Seitenstücke zum Zeus von Otrikoli oder zur milonischen Venus. Und ebensowenig können die über und über mit weißglänzenden Kaurimuscheln behängten Fetischweiber – die scheußlichsten Hexen, die man sich nur vorzustellen vermag – wenn sie in langer Prozession über die schmutzigen Straßen von Be oder Porto Seguro ziehen, mit dem ehrwürdigen Institut der römischen Vestalinnen verglichen werden. Aber an das alte Aegypten erinnert die in verschiedenen Gegenden sehr verschiedenen Thiergattungen gezollte göttliche Verehrung, die sie vor Verfolgung schützt und ihnen ein verhältnißmäßig bequemes Leben bereitet. Während im Togoland Kühe, Leoparden und die Krokodile einzelner Lagunentheile als gotterfüllte Wesen angesehen werden, baut man bei Groß-Povo und in Dahome den nicht giftigen Schlangen förmliche Tempel und betrachtet die Bachstelzen als Verkörperungen einer besonders mächtigen und einflußreichen Gottheit.

Die Kruneger, die sich durch viele Charaktervorzüge und namentlich auch durch ihren größeren Fleiß vor den Bewohnern des Togo- und des Kamerunlandes auszeichnen, stehen dennoch und trotz ihrer recht guten Anlagen in aller und jeder Beziehung auf einer sehr viel niedrigeren Kulturstufe. Der hervorragendste Zug ihres kindlichen und auf das Materielle gerichteten, aber jeder Bösartigkeit entbehrenden Charakters ist eine Heimathsliebe, wie sie im gleichen Grade kaum bei irgend einem europäischen Volke zu finden sein dürfte. Tritt man in eine der zu jeder Faktorei gehörigen Krukasernen, so findet man stets und unweigerlich ein und dieselben Wandmalereien, nämlich rohe und kindische Abbildungen großer und kleiner Dampfschiffe, sowie für jeden Insassen eine Art von Kalender, der durch täglich hinzugefügte und schließlich zu Mondmonaten zusammengereihte Striche anzeigt, wie weit das Jahr, auf das sich der Krumann verdungen hat, [256] bereits vorgeschritten ist. Und wehe dem armen Kaufmann, der sich, vielleicht weil die von Liberia erwartete neue Sendung ausgeblieben ist, auch nur ein paar Tage lang über die vertragsmäßige Zeit hinaus auf die Dienste solcher nach der Heimath verlangenden Kruleute angewiesen sieht! Er hat es alsdann mit gedanken- und überlegungslosen Leuten zu thun, deren Seele in einem anderen Lande lebt und die ihm in wenigen Stunden mehr Aerger bereiten werden als sonst wohl in Monaten.

Während man die Bewohner des Togolandes zu den sogenannten echten Negern rechnet, gehören die Dualla, die Bakwiri, Bambuku, Banoko, Bapuko, Kumbe und alle sonstigen die Küste bewohnenden Stämme der deutschen Kolonie Kamerun zur großen und weitverbreiteten Rasse der Bantuneger. Da es für diese aufgezählten Stämme, die sich trotz der nahen Verwandtschaft der von ihnen gesprochenen Dialekte ihrer Zusammengehörigkeit kaum bewußt sind, bisher keinen Sammelnamen gab, so hat der Verfasser dieses Aufsatzes den Vorschlag gemacht, sie mit dem gemeinsamen Namen „Kamerunvolk“ zu bezeichnen. Eine vollständige Schilderung der in mancher Hinsicht sehr lehrreichen Sitten und Gebräuche dieses Volkes kann in dem knappen Rahmen eines einzelnen Aufsatzes kaum versucht werden. Anstatt abgerissene Notizen zu geben, dürfte es eher angebracht sein, die beiden hervorragendsten Kulturleistungen des Kamerunvolkes, nämlich die Ausbildung eines ausgiebigen Signalwesens (Trommelsprache) und den Bau höchst eigenartiger See- und Flußfahrzeuge, etwas näher zu besprechen.

Batanganeger mit ihren Kanoes.

Einige Stämme des Kamerunvolkes, und zwar in erster Linie die Dualla, haben es in Bezug auf Lautsignale weiter gebracht als irgend eine europäische Nation. Vermittelst verschiedenartiger, namentlich auch langer und kurzer Trommellaute können sie sich auf weite Entfernungen alle möglichen Nachrichten mittheilen. Bisweilen hört man ganze Nächte hindurch dieses Trommeln von Ort zu Ort und von Landschaft zu Landschaft herüberschallen. Die Signale gleichen nicht etwa den bei unserem Militär üblichen, sondern wir haben es hier mit einer vollkommen ausgebildeten Sprache zu thun, vermittelst deren man nicht nur einige der Zahl nach sehr beschränkte Befehle, sondern alles und jedes mittheilen kann. Häufig, wenn ich mit eingeborenen Begleitern aus dem unteren Kamerungebiet landeinwärts reiste, war es mir angenehm, durch ihre Kenntniß der Trommelsprache zu erfahren, womit man sich in den umliegenden Ortschaften beschäftigte und was man etwa gegen uns im Schilde führte. Bald hieß es, der und der habe seinen Bruder zum Abendessen eingeladen, bald theilte ein König seinem Volke mit, daß er sehr böse sei, weil ich ihn beim Vorübermarsch nicht besucht und ihm keine Geschenke gegeben habe, bald wurde jemand beauftragt, Palmwein zu holen, oder es erging auch wohl der Befehl, sich auf einen etwaigen feindlichen Ueberfall vorzubereiten. Die Trommelsprache muß gleich jeder anderen Sprache erlernt werden und es giebt recht begabte und hochstehende Neger, wie z. B. Jim Equalla von Dido-Stadt, die ihrer nicht mächtig sind. Auf Dualla heißt Wasser „Madiba“, aber in der Trommelsprache heißt es, soweit mein Gehör zum Verständniß ausreichte, „To–ku–lo–o–ku.“ Da das Instrument, dessen man sich zur Trommelsprache bedient – ein ausgehöhlter Holzklotz –, bloß wenige, allerdings sehr modifizierbare Töne besitzt, so müssen die Worte der Trommelsprache natürlich sehr lang werden. Obwohl die Trommelsprache im großen und ganzen innerhalb jenes Gebiets, wo sie überhaupt bekannt ist, die nämliche zu sein scheint, so giebt es doch gewisse örtliche Verschiedenheiten, die ich nicht in der Ebene, wohl aber im Gebirge angetroffen habe, und die es mit sich bringen, daß sich hier bloß gewisse Gruppen von Dörfern unter einander verständigen können. Von keinem anderen Volke der Welt weiß man, daß es ein ähnliches Verständigungsmittel erfunden hätte. Zwar kennt man auch am Kongo Hornsignale, durch die sich gar mancherlei mittheilen läßt, aber soviel bekannt, ist auf der ganzen Erde einzig und allein im Kamerunland das Signalwesen zu einer vollkommenen Sprache ausgebildet worden. Und das Seltsamste ist, daß diese Sprache nicht bloß getrommelt, sondern auch, wie ich bereits oben mit dem Worte „To–ku–lo–o–ku“ andeutete, gesprochen, beziehentlich mit dem Munde nachgeahmt werden kann. Wenn die eingeborenen Händler sich in Gegenwart von Europäern, die des Dualla-Idioms mächtig sind, unter einander verständigen wollen, so ahmen sie die Trommelsprache nach. Jedenfalls gehört ein außerordentlich feines Gefühl dazu, um diese Sprache verstehen zu können.

Eine zweite nicht ganz so große, aber doch auch recht achtungswerthe Kulturleistung des Kamerunvolkes ist der Bau von höchst originellen und ganz vortrefflich ihrem Zwecke dienenden See- und Flußfahrzeugen, zu denen es meines Wissens in Europa kein Gegenstück giebt. Wenn man in Europa von den Festen und den kriegerischen Aufzügen der Neger liest, so stellen wohl die meisten Leute sich vor, daß dieselben sowohl barbarisch als auch kindisch sein müßten. Beides ist durchaus nicht in allen Fällen zutreffend. Ich entsinne mich, daß, als einmal Admiral Knorr die hervorragendsten Häuptlinge der Dualla zu einem großen Palaver berufen hatte, die vielen Dutzend mit je 50 bis 60 Ruderern und Flintenträgern bemannten Kriegskanoes, die damals im Kamerunfluß herumfuhren, sich zu einem Gesammtbilde gruppirten, wie man es sich gar nicht bunter, mannigfaltiger, großartiger und wirkungsvoller hätte vorstellen können. In der That gewährt schon jedes einzelne der 20 bis 30 Meter langen, aber ganz schmalen Kriegskanoes mit der starken wohlgeschulten Bemannung und dem bunten, aber durchaus nicht geschmacklosen Aufputz einen imponirenden Eindruck. Gewöhnlich steht hoch aufgerichtet der Führer mit Gewehr und Kriegshelm in der Mitte, während seine Leute, die je nach Bedarf Ruderer oder Schützen sind, ihre herzförmig geschnitzten Riemen mit einer Gleichförmigkeit und Geschicklichkeit ins Wasser tauchen, die selbst den Gigmannschaften europäischer Admiralsschiffe zur Ehre gereichen würde. Bei irgend einem feierlichen Anlaß ist der Vordertheil dieser Kriegskanoes mit hübsch geschnitzten, viele Menschen- oder Thierfiguren enthaltenden und buntbemalten Bootaufsätzen geschmückt. Niemals werde ich den malerischen Anblick vergessen, als von mehreren mit der Geschwindigkeit eines Rennpferdes dahinschießenden Kriegskanoes aus Schüsse und Trommelwirbel das Nahen Manga Bells verkündeten. Umgeben von mehreren ehrfurchtsvoll zu ihm aufblickenden Flintenträgern, war der mit Kriegshelm, Hüftentuch, Wamms, Offiziersäbel und Revolver ausgestattete Königssohn eine stattliche Erscheinung.

Die kleinen Könige und Häuptlinge des Kamerunlandes haben häufig genug Kriege unter einander geführt, bei denen ihren Kriegskanoes wenn nicht die größte, so doch jedenfalls eine sehr große Rolle zufiel. Obwohl die Neger nicht gerade sehr viel Schneidigkeit zeigen und kühne Ueberfälle ihrer Natur nur wenig entsprechen, so wäre es den deutschfeindlichen Joßleuten doch einmal nahezu geglückt, durch die pfeilartige Geschwindigkeit ihrer Kriegskanoes den gänzlich wehrlosen Woermannschen Dampfer „Dualla“ zu überholen und zu überrumpeln. Denn gute und gut geführte Kriegskanoes übertreffen an Schnelligkeit alle besten bisher in Westafrika existirenden Flußdampfer. Die Bewaffnung der Kamerunneger besteht nur noch selten aus Lanzen, sondern meistens aus Steinschloßflinten oder Hinterladern und aus kurzen Schwertern, beziehentlich langen Messern. Die Waffen werden sehr schlecht gehalten und alle Snidergewehre, die ich sah, waren unglaublich schmutzig und verrostet. Die Kriegshelme gleichen [257] in der Form dem früheren bayerischen Raupenhelm. Sie haben bisweilen zum Schutz von Ohren und Schläfen bestimmte viereckige Klappen, wie sie sich in der gleichen Form und zum gleichen Zweck auch bei den altgriechischen Helmen vorfinden. Ueberzogen sind die Negerhelme meistens mit schwarzem Affenfell. Von einer Vergiftung der Waffen ist mir niemals etwas zu Ohren gekommen; man liebt es dagegen, mit gehacktem Blei zu schießen.

Ein Mpangwe- oder F[a]nneger.

Wendet man sich vom nördlichen zum südlichen Kamerungebiet, so findet man nicht minder seltsame, obwohl ganz anders geartete Fahrzeuge. Die Batangaleute sind berühmt wegen ihrer ebenso winzigen wie hübsch gearbeiteten Kanoes, welche den bekannten Grönländer Booten ihren Ruhm, auf unserer Erde die kleinsten von uns Menschen benutzten Fahrzeuge zu sein, mit Erfolg streitig machen dürften. Diese Batangakanoes, die bei 2 bis 3 Meter Länge höchstens 30 cm breit sind und von denen unsere Abbildung auf S. 256 eine Anschauung giebt, besitzen so dünne Wandungen, daß die schwersten, die ich sah, 7 bis 8, die leichtesten dagegen bloß 4 kg wogen. Sobald die Insassen an Land kommen oder an Bord eines Dampfers steigen, pflegen sie und zwar wohl ein wenig in der Absicht, damit zu renommiren, ihre Boote gleich Regenschirmen unter den Arm zu nehmen, was natürlich höchst komisch aussieht und ihnen bisweilen, wenn sich gerade Fremde an Bord der Dampfer befinden, ein kleines Geschenk einträgt. Mit diesen Miniaturschiffchen bewältigen die Batanganeger jede noch so tosende Brandung, vor welcher der kühnste europäische Kapitän zurückschrecken würde. Da nicht Platz genug vorhanden ist, um in diesen Booten zu sitzen, so setzen sie sich auf dieselben, indem sie an jeder Seite ein Bein ins Wasser hängen lassen, und gewähren in dieser Stellung einen Anblick, als ob sie auf Seepferden die Wogen hinauf und hinunter glitten. Es sieht ebenso eigenartig wie hübsch aus, wenn jeden Morgen mit gleicher Pünktlichkeit gegen 7 Uhr eine ganze Flotte dieser Kanoemänner zum Fischfang hinauszieht. An jener durch Felsblöcke bezeichneten Grenze, über welche die Haifische nicht hinaus gelangen, angeln sie dann, aber mit unverhältnißmäßig geringem Erfolg, nach kleinen, sehr wohlschmeckenden Fischchen. Auch im Batangalande sah ich lange buntbemalte Kanoes, die aber kein eigenes Machwerk, sondern von Kamerun aus hierher gebracht sind.

Eine Hütte der Fanneger.

Der vierte Volksstamm, mit dem man in unseren westafrikanischen Besitzungen in Berührung kommt, sind die Mpangwes, die sich selbst Fan, Fam, Pamfan, Famfan, Pangwe oder Mpangwe nennen – lauter Wörter, die mit einem starken Nasallaut ausgesprochen werden. Von Osten her aus dem Innern kommend und unaufhaltsam nach Westen und Nordwesten vordrängend, haben sie an einigen Punkten der französischen Kolonie Gabun bereits die Küste erreicht, während sie in den deutschen Besitzungen von Kamerun und zwar einstweilen mit dem Lokundjefluß als Nordgrenze hinter den mit dem Duallavolk verwandten Küstenstämmen sitzen und bloß als neugierige Besucher oder auch als Lastträger zur Küste herunterkommen. Die unaufhaltsame und keine Zwischenpausen kennende Vorwärtsbewegung der Fan geht, da sie im vollsten Sinne des Wortes eine Art von Kolonisation ist, sehr langsam von statten und dürfte auch, da die Fan sich kaum sehr viel lästiger erweisen werden als die durch ihr Handelsmonopol verderbten Küstenvölker, keine besonders schlimmen Folgen nach sich ziehen. Die Sprache der Fan, die, wie man aus gewissen Anzeichen schließen will, mit den von Schweinfurth beschriebenen Niamniam verwandt sein dürften, ist von derjenigen der Dualla und anderer Küstenvölker gänzlich verschieden. Sie stehen bei allen Küstenvölkern in dem Rufe, Menschenfresser zu sein, wie man ihnen überhaupt allerlei wilde und barbarische Gelüste andichtet. Ich habe niemals einen Volksstamm gesehen, dessen Individuen in so ausgiebiger Weise wie die Mpangwes mit Schmucksachen behängt gewesen wären. Auf das, was wir Kleidung nennen, legen sie wenig Werth und tragen die unsaubersten Hüftentücher, die ich in Westafrika gesehen habe. Aber eine um so größere Sorgfalt wird der künstlichen Frisur des Haars, dem Aufputz mit Messingringen, Perlschnüren und ähnlichem zugewandt. Im folgenden will ich versuchen, die Toilette eines mit freundlichem Gesicht und guter Figur ausgestatteten jungen Mädchens zu beschreiben: Quer über dem Kopf von der Stirne bis zum Nacken zwei zu einer harten Masse zusammengeleimte, etwa 1½ Zoll hohe Haarflechten, zwischen denen die Kopfhaut glatt rasirt ist. Zu beiden Seiten und bis zu den Ohren herunterreichend einige Dutzend parallel laufender, aber ganz feiner Flechten. An den Ohren und hinten im Nacken baumelt etwa ein halbes Hundert winzig kleiner Zöpfchen herunter. Hoch über der Stirn umschließen diesen Haarputz diademartig drei Ketten blauer Perlen. Etwas weiter abwärts überdecken die Stirne: erstens ein dünnes Geflecht aus frischem grünen Gras und zweitens eine Anzahl aus Fäden aufgereihter weißer Porzellanknöpfe. Außerdem hängen noch von der Stirne abwärts drei je 1½ Fuß lange Schnüre rother Perlen über Augen, Nase und Mund herunter. Den Hals umschließen fünf zusammen etwa 9 Pfund wiegende Messinghalsbänder ohne Charnier, die also, wenn man sie abnehmen will, auseinander gebogen werden müssen. Ueber der Brust hängen ein in Leopardenfell eingenähtes Amulett und zwei Reihen größerer Perlen. Ein wenig oberhalb des kurzen, zerrissenen und schmutzigen Hüftentuches wird die Taille ebenfalls wieder von einigen Perlschnüren umschlossen. Den rechten Oberarm umspannt ein sehr schwerer Messingring, den man in gleicher Form über jedem der beiden Fußgelenke wiederfindet. An beiden Unterarmen befinden sich oberhalb des Handgelenks je zwei leichtere Messingreifen. Am linken Oberarm ist durch etwa ein Dutzend schmaler Messingringe, deren innerste am engsten sind, eine derartige Einpressung erzeugt worden, daß der Arm dort weniger dick ist als am Handgelenk. Dieselbe Sitte habe ich sonst bloß noch bei den Bubis von Fernando Po gesehen, allerdings mit dem Unterschied, daß man dort zum Einpressen des linken Oberarms Leder und nicht Messing verwendet. Schließlich wäre noch zu erwähnen, daß sich vom linken Ohr eine dünne Schnur rother und blauer Perlen durch die inwendig durchbohrte Nase hindurch zum rechten Ohr hinüberzieht. Man wird zugestehen müssen, daß diese Toilette, ohne dem [258] Körper ausreichenden Schutz zu verleihen, nicht gerade einfach genannt werden kann. Einige Frauen, die wir am Munifluß sahen, waren ähnlich den Fetischweibern des Togolandes über und über mit Kaurimuscheln behängt. Andere hatten wegen der Trauer um einen kürzlich verstorbenen Häuptling ihren Körper mit gelbgrüner Erde beschmiert, was ihren Gestalten etwas Unheimliches und beinahe Gespensterhaftes verlieh. Die Männer trugen, ausgenommen einige Stutzer, die sich mit den Fellen junger Leoparden und wilder Katzen geschmückt hatten, sämmtlich bloß Hüftentücher. Einige hatten ihren Kopf nach Art der Muhammedaner rasirt, andere hatten sich eine regelrechte Tonsur und wieder andere hatten sich eine Frisur im Stile der Pompadour zugelegt. Lanzen, Bogen und Pfeile habe ich nicht gesehen, wohingegen man fast niemals einen erwachsenen Mpangwemann trifft, der nicht sein geladenes Gewehr in der Hand hielte. Ihre kurzen, nach Art der altrömischen geformten Schwerter tragen die Mpangwes ebenso wie die meisten übrigen Neger entweder an einer kurzen, über den Oberarm gestreiften Schnur oder an einem schärpenartigen Riemen; in beiden Fällen hängt die Klinge nicht etwa an der Hüfte, sondern an der linken Seite der Brust. Als besondere Sehenswürdigkeit zeigte man uns einen blitzartig gewundenen, mit einer Schnur zum Umhängen versehenen Messingstab, welcher denjenigen, der ihn trage, unverwundbar mache. Derjenige Vertreter der Mpangwe, welchen unsere Abbildung zeigt, trägt eine offenbar nur für friedliche Zwecke bestimmte Ausrüstung, Stab, Messer und Trinkflasche.

Trotz der Fremdartigkeit des Aufputzes findet man viele freundliche und bisweilen sogar hübsche Gesichter, die zu den landläufigen Erzählungen von der Wildheit der Fan einen schreienden Gegensatz bilden. Die jungen Mädchen haben bisweilen überaus milde Gesichtszüge, mit denen ihr schüchternes und doch wieder zutrauliches Wesen vollkommen im Einklang steht. Wie überall in Westafrika, so sind auch hier die älteren Frauen von wahrhaft erschreckender Häßlichkeit. Ein besonderes Interesse zeigten die Leute, wie ich das auch anderwärts in Westafrika beobachtet habe, für Farbe und Beschaffenheit unseres Haars. Unsere Frage, ob sie uns nicht einen von ihnen (die Fan stehen in dem Rufe, Menschenfresser zu sein) zum verspeisen geben wollten, erregte außerordentliche Heiterkeit. Scherzend erwiderten sie, sie hätten nichts dagegen, wenn wir ihnen zum Entgelt den Kapitän unseres Dampfers, der gemäß seiner Körperfülle einen guten Bissen abzugeben versprach, ausliefern wollten. Scheu waren die Leute durchaus nicht. Namentlich die Männer kamen sofort zu uns, um uns die Hand zu schütteln. Die Weiber und Mädchen kicherten dagegen und zeigten eine gewisse kokette Furcht, wie man das häufig bei Negerinnen zu finden pflegt. Unsere untere Abbildung auf S. 257 läßt uns einen Blick in das Innere einer Fanhütte thun, vor welcher, nicht ohne Gefühl seiner Würde, der Hausherr seinen Sitz eingenommen hat.

Die Fan besitzen genau dieselben aus einem cylinderförmigen inwendig ausgehöhlten Stück Holz bestehenden Trommeln, wie sie zu der hochentwickelten Signalsprache der Dualla verwandt werden. Aber die Trommelsprache selbst, deren Gebiet sich von Kamerun aus in südlicher Richtung bloß bis Malimba erstreckt, ist den Fan völlig unbekannt.

Unzweifelhaft sind die Fan nicht bloß das mächtigste und zahlreichste Volk in dieser ganzen Gegend, sondern auch an Kriegstüchtigkeit und persönlichem Muth den Küstenstämmen weit überlegen. In politischer Hinsicht werden sie aber voraussichtlich schon deshalb nicht gefährlich werden, weil die einzelnen Stämme stets unter sich in Fehde liegen. Die Fan verdrängen wohl andere Negerstämme, aber bloß um in deren Rolle einzutreten, nicht um mächtigere Staatswesen zu gründen, als es die früheren gewesen waren.




Der Spuk von Resau.

Es war im November vorigen Jahres, da geschah es, daß in dem kleinen, nur wenige Häuser umfassenden Orte Resau in der Mark die Schweine des ehrsamen Büdners Böttcher, während er mit seiner Frau das Abendbrot verzehrte und sein etwa 15jähriger Dienstknecht Karl Wolter ab und zu ging, plötzlich aus dem Stalle entliefen, trotzdem der Stall von dem Besitzer selbst vorher eigenhändig zugebunden worden war; desgleichen die acht folgenden Abende, ohne daß es dem Betroffenen gelungen wäre, diese höchst auffallende Erscheinung klar zu legen, welche erst aufhörte, als ein solides Schloß an Stelle des Strickes die Stallthür verwahrte.

Das war aber nur das Vorspiel; es kam noch besser. Am 13. November abends, als die Böttcherschen Eheleute und ihr Dienstknecht Wolter sich eben zur Ruhe begeben und das Licht ausgelöscht hatten, da begann es plötzlich in dem an das Böttchersche Wohngelaß anschließenden Alkoven an der Wand, an der das Bett der Frau und das des Karl Wolter stand, heftig zu klopfen. Erschreckt machte der Büdner, dessen Bett in dem Wohngelaß stand, Licht und untersuchte, was da geklopft, fand aber nichts; da es ihm unheimlich geworden war, so sandte er den Wolter hinüber zu dem jenseit des Flurs wohnenden Gemeindevorsteher Neumann, um denselben zum Zeugen für das räthselhafte Klopfen zu gewinnen; Wolter verläßt das Zimmer – das Klopfen geht weiter!

Neumann erscheint und Wolter legt sich wieder in sein Bett – da, richtig klopft es auch wieder an der Wand, an der das Bett des Wolter steht. „Was ist denn das?“ ruft der energische Ortsvorsteher, und als wäre dem Klopfgeist das Machtwort der weltlichen Obrigkeit in die Glieder gefahren, hält er alsobald inne mit seiner Thätigkeit, um sie erst nach einiger Zeit wieder aufzunehmen.

Am nächsten Tage wurde die Sache noch ärger. Erstlich trafen verschiedene Steine die Fenster und Fensterladen des Gemeindevorstehers, nicht ohne daß der Dienstknecht Wolter in der Gegend, aus der die Steine kamen, irgend eine unverfängliche Hantierung hatte. Des Abends aber – die Frau Böttcher und Wolter lagen bereits in ihren Betten und eben schickte sich auch der Mann an, in das seinige zu schlüpfen – schwapp, da flogen die Pantoffeln des Karl Wolter, die vor dessen Bett gestanden hatten, von unsichtbarer Hand geworfen gegen den Kachelofen im Zimmer; die Kleidungsstücke des Wolter, ursprünglich auf einem Stuhl, sahen sich plötzlich auf das Bett der Frau geschleudert, Kartoffeln, Kohlrüben und ein Schinkenknochen sausten durch die Luft, zuletzt auch noch ein Stiefelknecht. Abermals ward alles abgesucht, sogar unter die Betten und unter das Sofa stöberte Böttcher mit einem großen Besen, aber niemand wollte sich finden, der die sonst so harmlosen Gegenstände geschleudert haben konnte; denn der Dienstknecht Wolter lag ja in seinem Bette und war ein „guter Junge“ und außerdem verwandt mit der Frau, ihr Großneffe, und seine Mutter war im Hause aufgewachsen. So blieb denn den unglücklichen Bauersleuten nichts übrig, als zähneklappernd ins Bett zu kriechen und die Decke über den Kopf zu ziehen.

Nun kam der 15. November und da ging es schon in der Frühe an mit dem Fliegen von Kartoffeln, Kohlrüben, Schinkenknochen etc., so daß der geängstigte Büdner schließlich auf den Rath des Neumann die Mutter des Karl Wolter nach Bliesendorf zu dem Pastor Müller schickte, damit er komme und nach der Sache sehe. Pastor Müller, dem die Frau Wolter die Schrecknisse der vergangenen Tage genau berichtete, machte sich alsbald auf nach Resau und – nun müssen wir ihn selbst erzählen lassen:

„Kaum hatte ich die Wohnstube der Böttcherschen Eheleute betreten, als ich einen Knall hörte, der aus einem Milchregal kam, das sich zu meiner Linken befand. Ich fragte Böttcher, woher der Knall komme, und erhielt die Antwort, das sei nichts Neues, in jener Gegend klopfe es häufig, ohne daß man den Klopfer bemerken könne. Ich setzte mich zwischen Bett und Fenster auf einen Stuhl, die Böttcherschen Eheleute standen an meiner Seite, Wolter mir schräg gegenüber an dem Ofen. Ich hielt meine Augen auf das Milchregal gerichtet und sah, daß die Milch in einer Satte (Napf) aufschlug, als ob ein harter Gegenstand hineingeworfen würde. Ich ließ Böttcher nachsehen, was es war, und es stellte sich heraus, daß eine Kartoffel in die Satte geworfen worden war. Gleich darauf flog eine Kartoffel gegen meinen linken Oberarm. Jetzt wurde mir die Sache bedenklich, und da die Böttcherschen Eheleute sehr unglücklich waren, so griff ich zum Gesangbuch und tröstete sie aus demselben. Da fühlte ich plötzlich eine leise sanfte Berührung in meinem Nacken, ich wandte mich um, und da machte ich zwei Wahrnehmungen, die mich aufs höchste in Bestürzung und Verwunderung setzen mußten. Die Berührung kam von einer eisernen Pfanne her, die kurz vorher vor mir auf dem Ofengesims gestanden hatte. Die Pfanne schwebte frei in der Luft, sie muß, während ich ins Gesangbuch blickte, über meinen Kopf hinweggeschwebt sein. Sie schwebte langsam an meiner linken Körperseite vorbei und legte sich leise, aber doch hörbar, auf den Fußboden zu meinen Füßen nieder. Gleichzeitig sah ich, daß ein Blechmaß frei in der Luft neben dem vor mir stehenden Böttcher schwebte, und ebenso sah ich, daß plötzlich ein Blechtrichter auf dem Fußboden lag, der ohne äußere Ursache eine halbkreisförmige Bewegung machte. Währenddem sausten immer noch Kartoffeln durch die Luft, ich stand auf, und während ich mit Böttcher sprach, hielt ich meinen Schlapphut, um mich gegen das Getroffenwerden zu schützen, gegen meine linke Gesichtshälfte. Plötzlich fühlte ich einen ziemlich starken Schlag gegen den linken Unterkiefer, dessen Wucht durch den vorgehaltenen Hut gemildert worden war. Neben mir fiel ein Schinkenknochen, das Wurfinstrument, zur Erde. ‚Wo hat der Knochen gelegen?‘ fragte ich Böttcher und erhielt die Antwort: ‚In jenem Spinde‘. Ich war starr. ‚Gegen diese Mächte können wir nicht kämpfen, da bleibt uns nur übrig, zu beten,‘ sagte ich zu den Anwesenden, und dann betete ich mit ihnen.“

Soweit der Pastor Müller über den Hergang. Er will während desselben die Bewegungen des Karl Wolter stets im Auge gehabt haben, traut diesem überhaupt derartige „Tollheiten“ gar nicht zu; die Vorsichtsmaßregel hat er übrigens nicht angewendet, einmal alle anwesenden Personen sammt dem Karl Wolter auf Wurfweite vom Hause wegzuschicken und dann den Spuk zu beobachten.

Wir können die Erzählung damit schließen und haben nur noch hinzuzufügen, daß verschiedene andere Zeugen mehr oder minder deutlich den Karl Wolter über Wurfbewegungen ertappten, daß dieser nachgewiesenermaßen [259] eine besondere Geschicklichkeit im Werfen besaß, und daß der ganze Spuk, der noch eine Zeit lang fortdauerte, zu Ende war, als man den Karl Wolter in Verhaft genommen hatte.

Wenn irgendwo, so liegt es hier auf der Hand, daß man es mit einem ganz gewöhnlichen Bubenstreich zu thun hat, zu dessen Erklärung es nur der Voraussetzung einer gehörigen Portion Schlauheit und Gewandtheit nebst etwas Draht, Bindfaden und Roßhaaren auf seiten des Uebelthäters, nimmermehr aber der Zuhilfenahme von außerirdischen Kräften bedarf. Wunderbar ist an diesem ganzen Vorfalle nur das eine, daß selbst ein Mann von wissenschaftlicher Bildung sich von den Taschenspielerkünsten des halbwüchsigen Burschen so verblüffen ließ, daß er allen Ernstes sich zu einer Aenderung seiner langgewohnten Anschauungen und Ueberzeugungen entschließen zu müssen glaubte. Freilich, die Schinkenknochen und Bratpfannen des märkischen Bauernburschen sind nicht allein schuld an dieser Sinnesänderung. Es haben hierzu allerlei Schriften mitgewirkt, welche der Herr Pastor Müller in seiner Noth über das Räthsel von Resau zu Rathe zog, und unter diesen Bekehrungsschriften entdeckten wir mit Erstaunen auch die „Gartenlaube“.

Nun, wenn die „Gartenlaube“ in einem Stück ein gutes Gewissen hat, so ist es darin, daß sie niemals in den 36 Jahren ihres Bestehens dem Aberglauben in irgend einer Form Nahrung gegeben oder Vorschub geleistet hat, daß es vielmehr stets und überall ihr Bestreben gewesen ist, Wahn und Aberglauben auf Schritt und Tritt zu verfolgen, ihm mit der Fackel der Wissenschaft ins Gesicht zu leuchten und die natürliche Erklärung des gesunden Menschenverstandes an die Stelle übersinnlicher Deuteleien zu setzen. Wir könnten das mit einer ganzen Liste von Aufsätzen und kurzen Notizen in dem Blatte belegen, führen aber heute nur beispielsweise den Artikel des eben verstorbenen Ludwig Walesrode in Nr. 32 und 33 des Jahrgangs 1863 an, in welchem die wunderbare Geistermusik im Festungsgefängniß zu Graudenz ihre natürliche Erklärung findet. Und noch im Jahre 1887 kam ein Aufsatz über „Spiritisten und Taschenspieler“ zu dem Ergebniß: „In Gegenwart der Polizei erscheinen weder Geister noch Teufel!“

Und trotzdem hat die „Gartenlaube“ ein Stück von dem Geisterglauben des Herrn Pastors auf ihrer Rechnung!? Wir baten nun natürlich den Herrn Pastor, uns die Stelle in unserem Blatte namhaft zu machen, die seine Ueberzeugung in der angedeuteten Richtung beeinflußt habe, und siehe da, er berief sich in seiner Antwort auf einen Artikel von Friedrich Gerstäcker in Nr. 24 des Jahrgangs 1871 über „gespenstiges Steinwerfen“ auf der Insel Java. Wir waren nicht wenig über diese Mittheilung erstaunt und schlugen den alten Jahrgang nach, um uns den betreffenden Artikel noch einmal anzusehen. Der bekannte Romanschriftsteller und Reisende beginnt denselben mit der Bemerkung:

„Es ist eine merkwürdige Thatsache, daß die meisten Menschen, selbst die Gebildetsten der verschiedenen Nationen nicht ausgenommen, abergläubisch sind“ u. s. w. Er kommt dann auf das Steinwerfen zu sprechen, welches, wie er in früheren Jahren gehört zu haben sich erinnert, an mehreren Orten in unserem Vaterlande vorgekommen sein soll, und sagt dann wörtlich: „Umsomehr war ich erstaunt, als ich in Java der nämlichen Sage begegnete.“ Und endlich erzählt er in seiner bekannten spannenden, mit dem Reiz des Geheimnißvollen kunstreich spielenden Art verschiedene räthselhafte Geschichten, wonach Mitte der dreißiger Jahre das Haus des holländischen Assistent-Residenten von Kessinger in Sumadang von „gespenstigem“ Sirih-(Betel-)Spucken und Steinwerfen heimgesucht, auch einige ähnliche Begebnisse in anderen Theilen der Insel Java festgestellt wurden. Gerstäcker selbst überließ das Urtheil dem Leser, er wäre ja wohl auch außer stande gewesen, selbst Nachforschungen an Ort und Stelle vorzunehmen. Was aber that die Redaktion der „Gartenlaube“? In einer dem Artikel Gerstäckers beigefügten Fußnote sagt sie: „Obiger interessante Artikel Gerstäckers wurde von uns um so lieber zum Abdruck gebracht, als wir dadurch dem großen Leserkreis unseres Blattes Gelegenheit bieten möchten, ihre Erfahrungen zur Aufklärung ähnlicher scheinbar mysteriöser Vorfälle beizutragen.“

Was heißt das anders, als daß die „Gartenlaube“ auch diese Vorfälle auf der Insel Java für nur scheinbar mysteriöse hält und von ihren Lesern gehalten wissen möchte? Daß sie die ganze Intelligenz ihres gesammten großen Leserkreises gleichsam mobil machen will gegen die Verwendung solcher „scheinbar mysteriöser“ Vorfälle zu Zwecken des Aberglaubens und der Flunkerei? Daß sie dem Artikel Gerstäckers nur darum ihre Spalten öffnete, um an ihm zu zeigen, welche scheinbar jeder menschlichen Erkenntniß spottende Formen ein solches „mysteriöses“ Ereigniß annehmen kann? Und trotzdem?! Wahrhaftig, es gehört zum mindesten ein merkwürdiges Geschick im Mißverstehen eines klar ausgedrückten Sinnes dazu, wenn man obigen Artikel sammt seiner Fußnote zu Ende liest und dann noch hingeht und sagt: „Die ‚Gartenlaube‘ hat mich mit zu dem Glauben an Spuk bekehrt.“ –

Der Fall von Resau hat das Ende genommen, das ihm gebührte. Die Gerichte haben darüber erkannt und ihm die Namen gegeben, die allein am Platze sind: „Sachbeschädigung“ und „Grober Unfug“. Wir möchten dem höchstens noch eines hinzusetzen: dieser „Spuk“ ist eine recht betrübende Erscheinung am Ende unseres neunzehnten Jahrhunderts!




Blätter und Blüthen.

Blutige Ostern. (Zu dem Bilde S. 244 und 245.) Blutige Ostern darf man mit Recht die Auferstehungsfeier des Jahres 1525 nennen, denn das hohe Fest der Christenheit fiel damals mitten in die Greuel des großen Bauernkrieges, welcher Schwaben und Oesterreich, Franken und Thüringen verwüstete. Die Anzahl der Burgen und Dörfer, die im Verlaufe desselben eingeäschert wurden, läßt sich nicht feststellen; die Zahl der Todten allein wird auf 50 000 angegeben, und dabei fielen die meisten der Opfer nicht in offener Schlacht, sondern in heimlichen Ueberfällen.

Aus all dem Elend jenes Krieges ragt namentlich eine That hervor: der Fall von Weinsberg und die Hinrichtung des Grafen Ludwig von Helfenstein. Es war um die Mitte April, gerade in der Osterzeit, als ein Haufen aufrührerischer Bauern, von einem früheren Schenkwirth Georg Metzler und dem Bauernhetzer Jäcklein Rohrbach geführt, vor Weinsberg erschien und die Burg nahm. Siebzig Adlige unter der Führung des Grafen von Helfenstein fielen in die Hände der Aufständischen; einige von ihnen wurden bereits in dem Weinsberger Thurm erstochen und auf die Straße hinabgestürzt, die übrigen, vor allem aber der Graf selbst, zum Tode durch Spießruthenlaufen verdammt.

Besser als es unsere Feder vermöchte, giebt das ergreifende Bild des talentvollen Malers G. A. Cloß die blutige Vollziehung jenes Urtheils wieder. Das „Recht der langen Spieße“ war eine harte Strafe, die namentlich unter den Landsknechten üblich war und nach festgesetzten Regeln unter Trommelklang vollzogen zu werden pflegte. Die kriegerischen Bauern, deren Scharen sich auch alte Landsknechte beigesellt hatten, versuchten hier wohl, das hohe Kriegsgericht nachzuahmen. Aber dem wilden ungeregelten Haufen fehlt die Mannszucht, dem Hinrichtungsakt fehlt das versöhnende Moment der Beichte, die der Verurtheilte sonst ablegen durfte. Es fehlt ihm auch der ergreifende Schluß des Spießruthenlaufens, von dem wir in „Frundsbergs Kriegsbuch“ lesen: „– wenn der arme Mensch verschieden ist, so knieet man nieder und thut ein Gebett, darnach macht man ein Ordnung, und ziehen drey mal umb den Körper, und die Schützen schießen drey mal ab, im Namen des heiligen Geists, Dreifaltigkeit, und ziehen darnach wiederumb, und machen ein Beschluß Ring.“[WS 1]

Einen derartigen, wenn auch harten, aber doch nicht unwürdigen Soldatentod erleidet keineswegs der unglückliche Graf von Helfenstein. Unter den höhnischen Klängen des voranziehenden Pfeifers wird er vielmehr zu Tode gemartert, und seine Qual wird noch vermehrt durch den Anblick seines unmündigen Kindes, das auf einem Bauernwagen gefahren wird, und seiner Frau, die, eine natürliche Tochter des Kaisers Maximilian I., vor dem Bauernhetzer Jäcklein Rohrbach knieet und ihn um das Leben ihres Mannes anfleht – umsonst! denn der Unmensch antwortet: „Und wenn Du mir eine Tonne Goldes bietest, Dein Mann muß sterben!“

Das Abstoßende der Scene wird noch durch die Gegenwart einer Megäre erhöht. Dort (links auf unserem Bilde) steht sie mit grinsendem Ausdruck in den wilden Zügen – „die schwarze Hofmännin von Böckingen“, von welcher die Geschichtschreiber berichten, daß sie sich hohnlachend auf den zu Tode gemarterten Helfenstein geworfen und ihm das Messer in die Eingeweide gestoßen. – –

Die Weinsberger Tragödie bildet nur eine Scene aus den Greueln des Bauernkrieges, zur vollständigen Illustration desselben genügt sie nicht. Man müßte ihr etwa die neunundfünfzig Bauern von Kissingen, welchen der Markgraf Kasimir von Brandenburg-Kulmbach die Augen ausstechen ließ, gegenüberstellen, um klar zu legen, daß jener Bürgerkrieg auf beiden Seiten mit unerhörter Grausamkeit geführt wurde. Und wenn wir ferner auf die Ursachen des Bauernkriegs näher eingehen, so werden wir gewiß den Aufrührern mildernde Umstände zuerkennen.

Das 16. Jahrhundert fing für den Bauern nicht besonders segensreich an. Schon gegen das Ende des 15. Jahrhunderts war der frühere Wohlstand des Bauern untergraben, und in dem untergehenden Reich wurde er immer mehr jedes Schutzes beraubt und der Willkür der Ritter und Herren preisgegeben. In jener Zeit, wo Kirche und Staat die schwersten Schäden aufzuweisen hatten, schossen überall neue Ideen empor. Auf den Höhen der Gesellschaft erblühten Künste und Wissenschaften, erhob sich der freiere Lufthauch der Reformation; in den Tiefen des Volkes aber gährte es nicht minder, und in ihnen keimte, durch „Prophezeiungen“ aller Art genährt, der Gedanke einer neuen socialen Ordnung.

Der „arme Mann“, der sich unter dem Zeichen des „Bundschuh“ in geheime Gesellschaften zusammenscharte, plante nicht ausschließlich Raub und Mord. Wohl gab es in den Reihen der Bauern ruchlose Verführer, die nur Verwüstung und Plünderung im Auge hatten; es gab aber auch Führer unter ihnen, denen wir unsere Achtung nicht versagen können. In ihren „zwölf Artikeln“ und dem „Reichsverfassungsentwurfe“ forderten die Aufständischen manches, was unmöglich und unbillig war; wenn sie aber Beibehaltung des Kaisers, Gemeinsamkeit von Münze, Maß und Gewicht, Aufstellung eines Reichskammergerichtes aus sechs Edelleuten, sechs Bürgern und vier Bauern, Beschränkung des römischen Rechts, Freizügigkeit u. dergl. fordern, so müssen wir in ihnen zum Theil Vorkämpfer der neuen Zeit anerkennen.

Ostergeheimniß. (Zu dem Bilde auf S. 241.) Junges Leben keimt und knospet in Feld und Wald, aus Hecken und Büschen tönt jubelndes Vogelgezwitscher, und Krokus und Schneeglöckchen grüßen in Blüthenpracht den Frühling. Ein Zauber webt in der Natur: das Geheimniß der Verjüngung aus Wintersnacht zum Sonnenglanz des Lenzes. Und der Lenz erfüllt mit seinem Zauber auch das Kind, das sein Sehnen und Wünschen dem „Osterhasen“ vertraut. Es denkt der Ostereier und der Wahl der schönsten und buntesten für die Mutter. Das sagt es geheimnißvoll dem zutraulichen Spielgefährten, dem schnell die Rolle des Osterhäschens zugetheilt ist, ins Ohr und sein Wünschen ist sein Ostergeheimniß – die süße Frucht der köstlichen Liebe, die mit dem Winter nicht erstirbt, aber mit jedem Frühling sich verjüngt und vertieft. **

[260] Ein Napolitaner. (Zu dem Bilde S. 249.) Aus der Stadt Neapel, aus ihrer nächsten Umgebung, etwa Portici, Sorrent oder Amalfi, stammt er eigentlich nicht. Wenn wir aber ein wenig über die Berge südwärts wandern, in die Landschaft des lukanischen Apennin hinein, da kommen wir in das Land Basilikata und das ist die Heimath dieses Trovatore. Ja, ich stehe nicht an, als Vaterstadt unseres Mandolinisten ohne weiteres Viggiano zu nennen.

Wer in Italien, sei es in der Lombardei, sei es am Fuße des Vesuv oder Aetna, den Namen Viggiano vernimmt, der lächelt, hebt seine Hand und schnalzt mit den Fingern im Takt, denn der Name Viggiano bedeutet Musik. Fragen wir einen Italiener nach seinem Geburtsort und er nennt uns Viggiano, so sind wir auch zu der weitern Frage berechtigt: „Welches Instrument spielen Sie?“ Wer in Italien als wandernder Musikant vor den Häusern spielt, ist fast ausnahmslos ein Viggianese, und wenn es je einem Litterarhistoriker einfallen sollte, nach der Heimath des Goetheschen Harfners zu forschen, so ist er auf der rechten Spur, wenn er dessen Wiege in Viggiano sucht.

Das Musiknest Viggiano liegt im Gebirge im Kreis Potenza, und seine 7000 Einwohner sind wie die alttestamentlichen Sänger berühmt durch zweierlei Künste. Waren diese Hirten und Harfner, so sind jene vortreffliche Vangatori d. h. Erdarbeiter (von welcher Arbeit auch dem Burschen im Bilde noch etwas anhaftet) und geborene Musikanten.

Man erzählt, daß man einem Zigeuner-Neugeborenen (auch von den Czechen wird das erzählt) einen Kreuzer, eine Fiedel und einen Strick in die Nähe der greifenden Händchen legt. Greift das Büblein nach dem Kreuzer, so wird er ein Bettler, nach dem Strick – ein Spitzbube; ein Musikant aber wird er, wenn er die Fiedel ergreift. Der kleine Viggianese hätte die Wahl zwischen Hacke und Harfe, oder er nimmt beides, er wird sich immer ehrlich durch die Welt schlagen. Ja mehr als das, oft schlägt er dabei ein ganz anständiges Kapital heraus und kommt, nachdem er seine rauhe Fellkleidung abgestreift, als angesehener Mann im modernsten Gewand wieder heim und baut sich ein stattliches Haus, hängt die Harfe an die Wand und fängt einen Handel mit dem Auslande an.

Wieviel reizende Geschichten hört man in Viggiano erzählen an den langen Winterabenden, wenn das Feuer im Kamin prasselt und der Schnee auf den Bergen der Basilikata alte Erinnerungen an die einst durchwanderten Mitternachtsländer und die Nordlandsmenschen wachruft! Diese Geschichten sind es, die das junge Volk bewegen, die Hacke in die Ecke zu stellen und lieber mit dem tönenden Saiteninstrument das Glück immer und immer wieder auf den Gassen des Auslandes zu suchen. Hübsche Jungen sind es zumeist, die da hinausziehen, und so finden sie überall Anklang. Freilich läuft es nicht bei allen glatt ab. Viele von den armen Burschen verschlingt die Straße, viele stehen als Sklaven im Dienste gemeiner vaterländischer Spekulanten, die sie anwerben, kaufen, sie ausbeuten und dann im Elend verkommen lassen. Viele sind oft froh genug, wenn sie nach Jahr und Tag sich wieder heimgefunden haben und als verlorene Söhne die verrostete Hacke hervorsuchen können.

Der junge Napolitaner, wie er hier vor uns steht, von Blumen und Blättern, von lustigen Rebenranken umflochten, ist, wie ihn der Maler, der Dichter, wie ihn ein romantisches Gemüth auffaßt, ein Stück italienischer Poesie; aber das Bild hat auch seine Kehrseite und die ist eitel Prosa.

Woldemar Kaden.

Ein Riesenwalfisch. (Mit Abbildung.) Es ist eine bekannte Thatsache, daß alle Wale mehr oder minder regelmäßige Wanderungen antreten, zuweilen weit von der gewohnten Straße abweichen und sich in Buchten, ja in Flußmündungen verirren, wo sie dann stranden oder aber gefangen werden. In der Erinnerung steht noch ein junger Finnwal, der, vermuthlich hinter Heringsschwärmen herziehend, im Frühjahr 1874 sich in die Ostsee verirrte. Er trieb dort mehrere Monate sein Wesen und erschreckte hier und da die Fischer, bis er am 23. August zu seinem Unheile auf der Danziger Reede anlangte und den Mannschaften dreier Kriegsschiffe, welche dort gerade vor Anker lagen, das seltene Vergnügen einer Waljagd gewährte. Fünfundsiebzig Gewehrkugeln hatten die Weichtheile des Kopfes bis auf den Schädel durchbohrt, ohne in diesen einzudringen und das Thier zu tödten; erst der Degenstich eines Offiziers, welcher eine Schlagader durchschnitt, führte seine Verblutung herbei. Fischer des benachbarten Dorfes Heubude fanden ihn am andern Morgen, zogen ihn mit den vereinten Kräften aller Pferde und Männer der Ortschaft an das Land und stellten ihn gegen Entgelt den alsbald zu Tausenden herbeiströmenden Danzigern zur Schau.

Eine ähnliche Schaustellung wurde in jüngster Zeit das Los eines mächtigen Finnwales, den dänische Fischer nach stürmischer See im Kattegat an der jütländischen Küste gestrandet fanden. Aber der Vorzug, das Thier zu sehen, blieb nicht auf die Bewohner einiger umliegender Ortschaften beschränkt; die vorgeschrittene Wissenschaft ermöglichte die „Einbalsamirung“ des Ungethüms, und so präparirt, konnte dasselbe sogar eine Reise nach der deutschen Reichshauptstadt antreten, wo es Wochen hindurch Tausende von Neugierigen anzog.

Der in Berlin ausgestellte Riesenwalfisch.
Nach einer Zeichnung von Eugen Hilpert.

Unser Bild zeigt den Wal, wie er auf starkem Gerüste unter freiem Himmel in Berlin Aufstellung fand. Er liegt seitwärts auf dem Rücken, den Oberkiefer mit über 300 Barten (Fischbein) nach unten, den mächtigen Unterkiefer nach oben gerichtet. Die Stellen, wo die sehr kleinen Augen und Ohren zu suchen sind, waren durch besondere Täfelchen angedeutet; da die Augen bekanntlich nicht viel größer sind als die eines Ochsen, und die Weite der Ohröffnung kaum mehr als einen Centimeter beträgt, würde auch der Laie beide ohne die genaue Bezeichnung wohl schwerlich entdeckt haben.

Die Länge des Thieres beträgt 20 Meter, die Höhe nicht ganz 5 Meter, das Gewicht nach Entfernung der 12 000 Pfund wiegenden Eingeweide noch rund 61 000 Pfund. Die Schwanzflossen wurden bei dem Schiffstransport abgehauen, da sie über Deck ins Wasser hingen und die Fahrtrichtung beeinflußten; später wurden sie dann, wie unser Bild erkennen läßt, wieder angefügt. Auch der Transport auf zwei Eisenbahnwagen bot noch einige Schwierigkeiten, ungleich größere aber die Fortschaffung des Ungeheuers von der Eisenbahn nach dem Ausstellungsplatz in Berlin, wozu nicht weniger als 16 Pferde erforderlich waren.

Der Wal ist von der dänischen Regierung um 4000 Kronen für die naturwissenschaftlichen Sammlungen in Kopenhagen erworben und deshalb nur vorübergehend in Berlin aufgestellt worden; unter den vielen Aufsehen erregenden „Gästen“ der deutschen Reichshauptstadt ist er aber wohl sicher einer der „merkwürdigsten“. **

Lockvogel. (Zu unserer Kunstbeilage.) Auch in der Heimath der zwei jungen Menschenkinder, die unser Ostergruß den Lesern zeigt, im Hochgebirge, beginnt der Frühling sich durchzuringen. Wohl sind die Riesenhäupter der Berge, die nördlichen Hänge noch tief herunter eingeschneit, aber an den südlichen Halden, welche die Sonne mit ihren Strahlen erreichen kann, ist die weiße Decke zurückgewichen, saftiges Grün leuchtet um das graufeuchte Gestein und das braune Gebälk der Sennhütte. Der Bursche, der hinüberwandert nach dem anderen Thale, wo der Bau der neuen Straße viele Hände beschäftigt, hat seinen Weg über die Alm genommen, wo er ein Mädchen weiß, dessen Bild ihm den langen Winter über nicht aus der Seele gewichen. Die erwachende Natur, die Aussicht auf längere Trennung hat ihm Muth gemacht zu kühnerem Liebeswerben. Er hat seine kleine Flöte mitgebracht, auf der er allerlei Liedchen zu pfeifen und die Stimmen der Vögel täuschend nachzuahmen versteht, und sinnend, den blonden Kopf auf die Linke gestützt, lauscht die Sennerin den lockenden, schmeichelnden Tönen, die der Mann dem kunstlosen Instrument entquellen läßt. Und über kurz, da wird es wieder Herbst sein im Lande, da wird er zurückkommen, den Lohn seiner Arbeit in der Tasche; sie aber wird gern mit ihm hinabziehen in das heimathliche Thal, die Seine zu werden und ihm ein Stückchen Osterluft und Frühlingssonne hinüberzuretten in die düstere Oede des Winters. S.


Inhalt: Nicht im Geleise. Roman von Ida Boy-Ed (Fortsetzung). S. 241. – Der Hausfriedensbruch. Von Justus. S. 218. – Der erste Ausgang. Gedicht von Victor Blüthgen. S. 251. Mit Abbildung S. 253. – Loren von Tollen. Roman von W. Heimburg (Fortsetzung). S. 251. – Die Bewohner unserer westafrikanischen Kolonien. Von Hugo Zöller. S. 255. Mit Abbildungen S. 256 und 257. – Der Spuk von Resau. S. 258. – Blätter und Blüthen: Blutige Ostern. S. 259. Mit Abbildung S. 244 und 245. – Ostergeheimniß. S. 259. Mit Abbildung. S. 241. – Ein Napolitaner. Von Woldemar Kaden. S. 260. Mit Abbildung. S. 249. – Ein Riesenwalfisch. Mit Abbildung. S. 260. – Lockvogel. (Kunstbeilage.) S. 260.


manicula Hierzu die Kunstbeilage: „Lockvogel“, Ostergruß der Gartenlaube an ihre Leser.

Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Leonhart Fronsperger: Kriegßbuch / erster Theil, Frankfurt 1596, fol. XIIIv BSB