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Die Gartenlaube (1890)/Heft 15

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1890
Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[453]

Halbheft 15.   1890.
      Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahrgang 1890.      Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf. alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.


Ein Mann.

Roman von Hermann Heiberg.
1.

In seinem schönen Haus am Schwanenweg in Kiel saß der Kaufmann John Ericius und sah die eingegangene Morgenpost durch. Der Gehilfe, der sie ihm überbracht hatte, stand an der Thür, seiner Befehle harrend. Er mußte die Briefe, nachdem der Geschäftsherr sie eröffnet, gelesen und mit den ihm nothwendig scheinenden Bemerkungen versehen hatte, in das am Hafen gelegene Comptoir der Firma bringen, wo sie die weitere, geschäftsmäßige Erledigung fanden. So geschah es jeden Tag. Nur die kritzelnde Feder des Alten unterbrach die lautlose Stille. Etwas Athembeschwerendes durchwehte den Raum, gefördert durch die schweren Möbel und dichten Vorhänge, die übergroße Ordnung und die gleichsam starrköpfige Gediegenheit aller vorhandenen Gegenstände.

In dem breiten Gesicht des Schreibenden mit dem runden, eigensinnigen Kinn und den kalten, den Dingen auf den Grund gehenden Augen war nur der Verstand ausgeprägt. In dieser Stunde war er der ausschließliche Herrscher, dem sich alles, was etwa von weicheren Gemüthsregungen in der Brust des Mannes schlummern mochte, bedingungslos unterordnete.

Vogel im Hanfsamen.0 Nach einem Gemälde von O. Beggrow-Hartmann.
Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.

[454] John Ericius war der reichste Mann in Kiel, wohl einer der reichsten im ganzen Norden. Sein Vermögen konnte sich mit dem der Millionäre messen, die in Hamburg ihre Privatpaläste an der Alster und Elbe besaßen. Er war auch Mitglied des Magistrats, Vorsitzender einer großen Anzahl von Vereinen und machte ein großes und vielbeneidetes Haus.

Aber so liebenswürdig er als Wirth sein konnte, so kurz und bündig zeigte er sich im Geschäftsverkehr.

„Ich will das und das von Dir, dafür bezahle ich Dich. Thust Du dagegen Deine Pflicht, so giebt’s zwar keine artigen Mienen und kein Lob, aber Du hast die Anwartschaft, bei mir vorwärts zu kommen. Bist Du aber eine taube Nuß, so werfe ich Dich einfach weg!“ So lauteten seine Grundsätze.

„Hier, Ratlef!“ rief an dem heutigen Tage Herr Ericius, erhob das starrköpfige Haupt mit den strengen Zügen, schob die durchgesehenen Briefe in die Mappe und hielt sie dem eilfertig sich nähernden jungen Mann hin. „Wenn Herr Richard Tromholt heut vormittag ins Comptoir kommt, lasse ich ihn bitten, sich sofort hierher zu begeben. Es war verabredet, daß ich um elf Uhr im Bureau am Hafen sein sollte, und daß wir uns dort sprechen wollten. Ich wünsche ihn aber hier zu empfangen. Verstanden?“

Der Gehilfe entfernte sich, und John Ericius vertiefte sich wieder in seine Geschäfte, die seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch zu nehmen schienen.

Er hatte sich vor nunmehr zwanzig Jahren mit einer Dame aus altem Adelsgeschlecht verheirathet, die ihn, den älteren Mann, nicht nur um seines schon damals bedeutenden Vermögens willen, sondern aus wirklicher Neigung den vielen andern Bewerbern, die ihre eigenartige Schönheit anlockte, vorgezogen hatte, und noch heute in ihrem vierzigsten Jahr war Frau Susanne Ericius, geborene Gräfin von Tolk, eine Erscheinung, deren Anblick Männerherzen in eine unruhige Bewegung zu versetzen imstande war.

Von den beiden Töchtern, die dieser Ehe entsproßten, war die ältere, Susanne, äußerlich das verjüngte Ebenbild der Mutter, die jüngere, Dina, noch ein halbes Kind, in dem sich Schönheit und Anmuth knospend zu regen begannen.

Der vielbeschäftigte Kaufmann hatte für die Erziehung seiner Kinder wenig Zeit übrig, ja er, der kurz und gemessen in seinen Geschäftsräumen schaltete, vor dessen Strenge die Angestellten zitterten, war im häuslichen Verkehr von einer gewissen Schwäche gegen die Wünsche und Launen seiner Kinder, deren Erziehung im übrigen von der Mutter musterhaft geleitet wurde, nicht ganz freizusprechen. Insbesondere kam diese Nachgiebigkeit Susannen gegenüber in einer für die Entwickelung dieses außerordentlich selbständig angelegten Charakters nicht vortheilhaften Weise zur Geltung. Aber eben die Eigenschaften, die sie von ihm selbst geerbt hatte, und denen er so große Erfolge verdankte, machten sie zu seinem Liebling, den zu verwöhnen ihm eine förmliche Erholung war. Es gab keinen Wunsch, den er ihr nicht erfüllte, keine Absonderlichkeit, die er an ihr nicht entschuldigte, sogar gut fand, und die männliche Entschiedenheit ihres Wesens, weder durch bittere Erfahrungen noch durch die reifere Ueberlegung des Alters gelenkt und gebändigt, neigte nur zu sehr zum Außergewöhnlichen; ein Ueberschuß von Kraftgefühl, dem der enge Kreis von anregender Geselligkeit und häuslicher Beschäftigung lange nicht genügte, machte sich in allerlei Vergnügungen nach Männerart, in Reiten, Fahren, Segeln und Jagen Luft. Besonders den letzteren Sport betrieb Susanne mit Leidenschaft.

Ein Stündchen nach Ratlefs Entfernung meldete der Diener den Ingenieur Herrn Richard Tromholt.

„Ah, Sie! Schon da? Ganz gut! Bitte!“ stieß John Ericius ohne besondere Höflichkeitsbezeigungen kurz heraus und wies, fast ein wenig herablassend den Kopf neigend, auf einen Stuhl. Aber ehe noch Richard Tromholt, ein junger Mann von vornehmer Haltung und ernsten, gescheiten Gesichtszügen, seiner artigen, wenn auch etwas steifen Verbeugung irgend was hinzufügen konnte, fuhr John Ericius fort:

„Ich bat Sie, hierher zu kommen, Herr Tromholt, da ich wegen einer unerwarteten geschäftlichen Veranlassung in einer Stunde verreisen muß und mir die Zeit durch das Hin und Her zu sehr verkürzen würde. Ich bleibe mehrere Tage, vielleicht eine Woche fort, möchte aber nicht, daß Sie Ihre Abreise verschieben. Ich denke, wir sind ja auch mit allem so weit in Ordnung. Es würden nur noch zwei Punkte zu erörtern sein: die Länge der Zeit, zu der wir uns gegenseitig verpflichten wollen, und die Gewinnbetheiligung, die Ihnen nach Ihrem Schreiben“ – hier suchte John Ericius etwas hastig in den Papieren herum, die auf dem Tische lagen, und überflog das bald gefundene Schriftstück – „nicht hoch genug erscheint. Ich will Ihnen einen Vorschlag machen, – oder halt – lesen wir noch einmal den Anstellungsvertrag durch! – Also Paragraph eins –“

Bei der geschäftlichen Verhandlung, die nun zwischen den beiden begann, handelte es sich um einen weitläufigen Gutsbesitz, den Herr Ericius seit längerer Zeit an den Grenzen Nordschleswigs erworben hatte, und dessen Leitung zum Zweck einer großartigeren Ausbeutung er dem ihm von den verschiedensten Seiten empfohlenen Mann anzuvertrauen gesonnen war.

Zu dem Besitz, der den Gesammtnamen „Limforden“ führte, gehörten außer dem gleichnamigen Hauptgute das von großen Torfmooren umgebene Vorwerk „Trollheide“, ferner verschiedene Seen und ein ausgedehntes Waldgebiet. Auf Trollheide war die Torfstecherei fabrikmäßig in größtem Stil geplant. Die Seen sollten nach einem neuen System trocken gelegt und in den Forsten Holzschneidereien eingerichtet werden, alles nach den Vorschlägen des Herrn Richard Tromholt und den von ihm ausgearbeiteten Plänen. Auch sollte dieser mit dem Titel eines Direktors die Oberleitung der ganzen unter dem Namen „Ericiussche Werke in Limforden“ ins Handelsregister eingetragenen Anlage übernehmen.

Das alles war längst besprochen und führte zu keinen weiteren Erörterungen. Anders war es mit den Gehaltsbedingungen und dem Gewinnantheil des neuen Direktors, worüber sich, da die beiden Herren doch etwas verschiedene Standpunkte vertraten, eine längere und von seiten des Herrn Ericius etwas schroff und heftig geführte Verhandlung entspann. Die Ruhe und Festigkeit, mit welcher der junge Ingenieur seine Sache vertrat, ohne sich durch die oft beinahe verletzende Schroffheit des Kaufmanns im geringsten beirren zu lassen, machten nicht weniger Eindruck auf Ericius als die umfassenden geschäftlichen Kenntnisse, die er bei der Begründung seiner Ansprüche an den Tag legte.

„Das ist mein Mann,“ dachte Ericius vergnügt bei sich, allein es war nicht seine Art, so rasch nachzugeben und seine Zufriedenheit merken zu lassen. Immer wieder suchte er die Gründe Tromholts zu bekämpfen und zu erschüttern, endlich jedoch mußte er sich überzeugen, daß er in ihm seinen Mann gefunden habe. Man stand eben im Begriff, eine vollständige Einigung zu erzielen, als die Verhandlungen plötzlich unterbrochen wurden.

Die Thür zu dem Geschäftszimmer wurde stürmisch geöffnet, und auf die herrische Frage des Kaufmanns: „Wer stört uns? Ich bin für niemand zu sprechen!“ antwortete eine fröhlich unbefangene Stimme: „Ich, Papa, ich!“ und ins Zimmer trat hastigen Schrittes, und ohne sich um das Verbot zu kümmern, Fräulein Susanne Ericius. Eine Jagdflinte in der Hand, das Haar in Unordnung, die Wangen geröthet und die Augen blitzend, war sie eine packende Erscheinung und weckte in Richard Tromholt ein unruhig heißes, ihm bisher unbekanntes Gefühl von Interesse und Bewunderung. Eine leichte Röthe überflog auch Susannens schönes Gesicht bei dem Anblick des Fremden, aber in demselben Augenblick – war es Verlegenheit oder Achtlosigkeit – entglitt die Flinte ihrer Hand. Rasch sprang Tromholt hinzu, um die Waffe mit den Händen aufzufangen – jedoch im Nu entlud sich durch einen nicht aufgeklärten Zufall der noch im Lauf steckende Schuß und traf Tromholt, der sich unter einem schier wahnsinnigen Schmerzensschrei nach den Augen griff, ins Angesicht. Markerschütternde Töne drangen durch das Haus und vermischten sich mit den Lauten des Schreckens aus dem Munde Susannens und ihres entsetzt emporschnellenden Vaters.




2.

Die Abendsonne durchglühte die Heide, über die zwei Personen, ein Mann und eine Frau, langsam dahinschritten. Der Horizont brannte in einem düster rothen Licht, das von der gegen den Abendschatten kämpfenden Helle des früh am Himmel aufgestiegenen Mondes in seltsam ergreifender Schönheit abstach. Mit seinem metallischen Glanze durchleuchtete er die Gegend, soweit das Auge reichte: die Felder, Moore, Wiesen und endlos langen [455] Heidestrecken, die, gleichsam in stummer Schwermuth versunken, dalagen.

Nun zog eine Schar Krähen durch die Luft gen Westen, um bald hinter einem mit langen, kahlen Stämmen emporstrebenden Walde zu verschwinden. Eine traumhafte Stille ringsum, bis plötzlich auf einer neben dem Heidewege liegenden, von Knicken einsam und dunkel eingeschlossenen Wiese ein kohlschwarzer Hund ein lautes Gebell erhob und wie toll einem unsichtbaren Gegenstande nachjagte. Und dann ein lauter, die Abendruhe unheimlich unterbrechender schriller Pfiff. Das Thier hielt in seinem Lauf inne, spitzte die Ohren und verharrte unschlüssig.

„Pfeife noch einmal, Richard!“ ließ sich die Stimme einer Frau vernehmen.

Der Mann an ihrer Seite that, wie sie wünschte. Der Hund aber setzte sich, statt dem Rufe zu folgen, von neuem in Bewegung und verschwand wie ein immer kleiner werdender dunkler Schatten in der Gegend des Gehöftes, zu dem auch die beiden Spaziergänger, Richard Tromholt und seine Schwester, ihre Schritte lenkten.

Ueber dem Abhang einer hell beleuchteten Wiese erhoben sich auf weißsandigem Grunde schlankgewachsene, düstere Tannen, die wie drohende Wächter vor der hinter dem Gehöft nach Westen sich ausdehnenden, endlosen Torfheide emporragten, und etwas weiter zur Linken – ein Vorwurf für einen Maler – spielte eben das Mondlicht auf einer Moorlache mit stahlweißen, unbewegten Lichtern.

Nach einer viertelstündigen Wanderung gelangten die Fußgänger an einen allmählich aufsteigenden Weg. Als sie die Höhe erreicht hatten, hemmte nichts mehr die weite Fernsicht. Sie blieben, unwillkürlich gebannt von dem Eindruck, der sich ihnen bot, stehen und ließen die Augen umherschweifen.

Vor ihnen ein Thalgrund, zur Linken endlose Flächen, die mit Hunderttausenden dem Boden abgewonnener Torfabschnitte bedeckt waren. Durch diese Moorflächen zogen sich zahllose, mit Wasser angefüllte Gräben und von dem Monde beschienene, kleine, glitzernde Seen, die sich von der schwarzen Erdfarbe schroff abzeichneten. Einzelnes verkümmertes Gesträuch tauchte hier und dort auf; daneben aber, und so weit das Auge reichte, sah man nur mit Heidekraut besetzten, noch der Bearbeitung wartenden Moorgrund.

Im Thal zur Rechten lag, umgeben von beackerten, grauen, braunen und violett schimmernden Aeckern und vom Herbst noch wenig berührten Wiesen, der Gutshof Trollheide, dessen weiß angestrichenes Hauptgebäude unter schwarzen Tannen, dunklen Buchen und Eichen geisterhaft hervorschaute.

In meilenweitem Umkreise nach Nord, Süd, Ost und West war’s neben einigen Bauernkaten die einzige menschliche Ansiedelung.

Weit ab von der großen, belebten Welt befand sich dieses zu Limforden gehörige Gütchen mit seinen Moorstrichen, und Monate konnten vergehen, bevor einmal ein fremder Mensch in die Gegend kam. Das Hauptgut Limforden lag fast eine halbe Tagereise entfernt von Trollheide und war dagegen von einer strotzenden Fruchtbarkeit. Herrliche Wiesen, Aecker, Waldungen und Seen wechselten miteinander ab, und die Austrocknung dieser letzteren hatte Richard Tromholt vor nun fast drei Jahren auf Grund seines Vertrages mit Ericius in Angriff genommen.

Seit sechs Wochen befand sich der Direktor auf Trollheide, um nach dem Rechten zu sehen und für die unter Aufsicht eines bewährten Beamten stehenden Torfstecharbeiten neue zweckmäßige Anordnungen zu treffen.

Der Direktor nahm seinen Aufenthalt das Jahr über theils hier, theils auf Limforden. Vom frühen Morgen bis zum späten Abend war er unausgesetzt thätig und hatte während der drei Jahre nicht ein einziges Mal den Ort seines Schaffens länger als auf wenige Tage verlassen. Nie wichen Ernst, Ruhe und Besonnenheit von ihm, obgleich fast kein Tag verging, an dem nicht unter den nach vielen Hunderten zählenden Arbeitern eine Widerwärtigkeit zu schlichten war.

Arbeit, nur Arbeit! Und nach der Arbeit ein einsames Ausruhen bis zum wiederbeginnenden Tageslicht.

Wohl mancher wäre in dieser freudelosen, fast jeder geistigen Anregung entbehrenden Abgeschiedenheit zum schwermüthigen Grübler geworden, aber Tromholt besaß einen Willen, der alles überwand.

Nicht einmal seine Schwester Bianca von Gunar hatte er gerufen. Sie aber war gekommen, weil sie fühlte, daß er nur aus Rücksicht eine Einladung an sie unterlassen habe. 00

Endlich gelangten die Geschwister durch ein weitgeöffnetes, eisernes Gitterthor auf den Gutshof. Der Weg dahin führte durch Wiesen, der Hof war umgeben von einem reichen, kunstvoll gearbeiteten Gitter, und bevor man an das unter den hohen Parkbäumen hervorlugende Herrenhaus gelangte, schritt man durch zierlich gehaltene Gartenanlagen und ging vorüber an den weitläufigen Wirthschaftsgebäuden und Arbeitshäusern.

Das Gutsgebäude glich einem englischen Landhaus; gefällige, helle Farben und nette Ausschmückung verliehen ihm einen vornehmen Anstrich.

Die Geschwister begaben sich in das Haus. Bevor sie sich aber im Speisegemach zum Abendessen niederließen, traten sie noch einmal aus dem Gartenzimmer und warfen einen Blick in den Park.

Vor ihnen lag thalabwärts ein breiter, weit sich hinziehender Rasen, der von alten, mächtigen Tannen wie von hohen, dunklen Wänden umschlossen war.

Am Ausgang des Parks aber breitete sich eine große, vom Abendthau benetzte Wiese aus, die, vom Monde beschienen, wie eine silberglitzernde Eisfläche neben dem Schwarz der Fichten erschien.

Das einfache Mahl, zu welchem Tromholt und seine Schwester sich hierauf niedersetzten, verlief wortlos. Nachdem es beendet war, und der Diener die Speisen abgetragen hatte, lehnte sich Bianca, eine große, schlankgewachsene Frau von kaum achtundzwanzig Jahren mit einer eigenthümlich bleichen, aber keineswegs ungesunden Gesichtsfarbe und großen, schwarzen Augen, in ihren Sessel zurück und schaute stumm auf ihren Bruder. Er hatte es sich in seinem zur Seite gerückten Stuhl bequem gemacht und saß, nachdenklich und langsam den Rauch einer Cigarre von sich stoßend, da.

Richard Tromholt besaß eine gewaltige Erscheinung, seine Haltung war vornehm, die breite Brust verrieth ungewöhnliche Kraft, und das Auge blickte ernst und milde zugleich aus dem dunklen Gesicht. Freilich nur das eine; das andere hatte er damals durch die Unvorsichtigkeit von Susanne Ericius verloren.

Er war der einzige Sohn eines Hamburger Staatsbeamten. Sein Vater hatte in der Hansastadt den Posten eines Syndikus innegehabt, war aber schon im fünfzigsten Jahre gestorben. Auch seine Mutter, eine geborene Venezuelanerin, hatte Tromholt, der ursprünglich Kaufmann gewesen und dann sich für die Ingenieurwissenschaft entschieden hatte, früh verloren.

Seine Schwester Bianca war späterhin zu Verwandten nach Thüringen gegangen, hatte dort ihren Gatten, den Major von Gunar, kennengelernt, war aber schon nach fünfjähriger Ehe Witwe geworden. –

Es blieb lange still in dem Gemach. Endlich brach Bianca das Schweigen und sagte:

„Wie alt bist Du eigentlich, Richard?“

„Neunundzwanzig Jahre.“

„Schon neunundzwanzig? Da müßtest Du eigentlich ans Heirathen denken.“

Tromholt schüttelte den Kopf. „Bei den Zielen, die ich mir gesteckt habe, kann ich daran nicht denken.“

„Wie Du redest! Willst Du hier denn Dein Lebenlang vereinsamen? Wie denkst Du eigentlich über Deine Zukunft? Schon gestern fragte ich Dich, und Du gabst mir keine Antwort.“

„Ich will zehn Jahre hier bleiben,“ erwiderte Tromholt, die Worte langsam betonend. „Drei davon sind verflossen. Dann muß ich so viel verdient haben, daß ich mein eigener Herr, daß ich unabhängig bin. und dann – dann –“

„Dann?“

„Ach, was weiß ich!“ stieß Richard ein wenig rauh heraus.

„Mein Richard!“ mahnte Bianca mit milder Güte und einem unbeschreiblich herzlichen Ausdruck in den Zügen.

Nun hob er den düster gesenkten Blick, und ihre Augen trafen sich mit einem Strahl inniger Zuneigung.

„Du sagtest, Bianca? Verzeih, ich war mit meinen Gedanken abwesend.“ –

„Ja, Richard! Es ist etwas, das Dich drückt! Willst Du Dich mir nicht anvertrauen?“

[456]

Photographie von Franz Hanfstaengl Kunstverlag A.-G. in München.
Lustige Leut’.
Nach einem Gemälde von E. Rau.

[457] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [458] Tromholt bewegte den Kopf wie ein Mensch, der sich lange nach einer Aussprache gesehnt hat.

„Gut denn! Höre!“ sagte er.

Bianca setzte sich aufrecht in ihrem Stuhl und winkte dem Diener Ole, der eben die Fensterladen geschlossen und das Feuer im Kamin geschürt hatte, sich zu entfernen. „So, lieber Richard, nun sind wir ganz ungestört.“

„Du weißt – als damals das Unglück geschehen war,“ – hob Richard Tromholt an, – „bestand der alte Ericius darauf, daß ich in seinem Hause bleiben und dort gepflegt werden sollte. Es blieb auch wohl zunächst nichts anderes übrig; aber auch meine späteren Einwendungen scheiterten an seinem Widerspruch und noch mehr an dem seiner Tochter Susanne, die ich bei jener traurigen Gelegenheit zum ersten Male gesehen hatte. Eine liebevollere Pflege, als sie mir dort im Hause wurde, hätte mir selbst von Dir nicht werden können.

Susanne selbst sah ich nur selten, obwohl sie sich täglich nach meinem Befinden erkundigen ließ. Wenn sie persönlich bei mir erschien, so geschah es nur auf ganz kurze Zeit, immer in großer Toilette. Sie sagte dann etwa folgendes: ,Wie geht’s Ihnen, mein lieber Herr Tromholt? Ich bitte jeden Tag den Himmel, daß er Sie gesund machen möge! Besser? O, das macht mich sehr glücklich. Ich will mich Ihnen heute zeigen. Finden Sie, daß mir diese Robe gut steht? Ich denke mir, daß Sie einen besonders guten Geschmack besitzen. Daß Sie gut, sehr gut sind und schlechten, unvorsichtigen Menschen nichts nachtragen, habe ich ja genügend erfahren. Und daß ich Sie nicht so oft besuche, wie ich gerne möchte, daran ist meine Mutter schuld. Sie findet, daß es sich nicht paßt. Sie wissen doch, Herr Tromholt, daß wir in einer Welt leben, in der das Natürliche, Vernünftige stets in der Aschenbrödelecke stehen muß.’

Diese Ungezwungenheit und dieser Freimuth der Sprache machten einen großen Eindruck auf mich, wenn ich auch sonst Susanne Ericius zu den Oberflächlichen zählen zu müssen glaubte, bis – bis” Tromholt brach ab.

„Nun, Richard?“ knüpfte Bianca nach einer kurzen Pause rücksichtsvollen Schweigens an.

„Wenige Tage bevor ich von dem Arzte entlassen werden sollte, trat sie wiederum eines Mittags in mein Zimmer und sagte: ,Ich höre von dem Doktor, Herr Tromholt, daß Ihre Reise unmittelbar bevorsteht. Da drängt es mich, Ihnen noch einmal zu sagen, wie mich das Geschehene schmerzt, und nochmals von Ihnen zu hören, daß Sie mir meine Unvorsichtigkeit nicht nachtragen.‘

‚Sie wissen es doch, mein Fräulein. Habe ich Ihnen je auch nur durch eine Miene einen Vorwurf gemacht –‘ Sie unterbrach mich.

,Nein, Sie suchten mich sogar zu trösten! Sie vertauschten in Ihrem Edelmuth die Rollen; kein Mensch konnte großmüthiger handeln. Und da dem so ist, wollte ich Ihnen erklären, daß mir kein Gegendienst, kein Opfer für Sie zu groß ist. Vermag ich irgend etwas für Sie zu thun, so sagen Sie es mir! Keinen Augenblick werde ich zaudern, selbst dem höchsten Anspruch nach Umfang meiner Kräfte gerecht zu werden.‘

Ich kann Dir nicht sagen, was da in meinem Herzen vorging, welche Wünsche in meiner Brust aufstiegen, aber ich bezwang mich und sagte nach kurzem Zögern:

,Sicher sind Sie sich der Tragweite Ihres Angebots nicht bewußt, mein Fräulein! Wenn ich Sie wirklich beim Wort hielte?‘

‚Sie zweifeln?‘ rief das schöne Mädchen stürmisch und mit leuchtenden Augen. ,Ich bitte, stellen Sie mich auf die Probe!‘

Diese Worte, der Ausdruck, mit dem sie gesprochen wurden, vollendeten die Täuschung, der ich mich in diesem Augenblick hingab, und drängten mich zu einem Entschluß.

,Wohlan!‘ rief ich und griff nach ihrer Rechten ,Werden Sie mein Weib!‘

Aber kaum hatte ich gesprochen, als Susanne Ericius, wie von einem Schlage berührt, den Kopf zurückwarf und ihre großen Augen mit einem Ausdruck höchsten Schreckens auf mich richtete.

Auch rang sie vergeblich nach Worten. Ich sah, sie liebte mich nicht, aber in ihrem Inneren ging ein gewaltiger Kampf vor sich. Ich senkte den Kopf und sagte:

‚Ihr Schweigen, Ihr Staunen ist Antwort genug. Richard Tromholt giebt Ihnen Ihr Wort zurück; verzeihen Sie ihm, daß er so zu Ihnen zu sprechen wagte!‘

Nun aber richtete sie sich empor. In ihr Gesicht trat ein Ausdruck edler Entschlossenheit, den ich nie vergessen werde, und mit ausdrucksvoller Betonung sagte sie: ‚Ich schwöre hier, daß ich Ihr Weib werden will, wenn Sie Ihren Wunsch wiederholen. Ich werde Sie lieben lernen, denn ich achte wohl niemand höher auf der Welt als Sie. Aus Achtung entsteht Liebe, sie ist der Urgrund des höchsten menschlichen Gefühls. Nun entscheiden Sie, Herr Richard Tromholt!‘

Ich sah, wie sie vor der Entscheidung bebte, aber ich sah auch, daß es ihr heiliger Ernst war mit ihren Worten. Und da - da -“

„Und da?” drängte Bianca, als ihr Bruder den Kopf sinken ließ und schwieg.

„Nun ja, Du weißt ja, was ich entgegnen mußte. Ich erwiderte: ,Ich verzichte, Susanne Ericius. Es sei denn, daß Sie eines Tages zu mir kommen und mir sagen: Ja, jetzt liebe ich Dich!‘ Und weiter: ‚Ich selbst werde nie eine andere lieben, Sie aber sind frei.‘

Sie erwiderte nichts, sondern ließ sich langsam in einen Stuhl gleiten und bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

In diesem Augenblick öffnete sich die Thür, und ihre Schwester Dina trat ein.

Dieser Zwischenfall trennte uns. Am Nachmittag desselben Tages erhielt ich von Susanne einen Brief. Es standen nur die Worte darin:

,Innigen Dank, mein edler, unvergleichlicher Freund! Verzeihen Sie, daß ich Ihnen nun auch noch diesen großen Schmerz bereitete. S. E.‘

Das war das Ende!“ schloß Tromholt.

„Und Du liebst sie, liebst sie noch und hast nie wieder von ihr gehört?“ fragte Bianca, tief erregt von ihres Bruders Erzählung.

Tromholt beantwortete nur den letzten Theil der Frage. „Doch,“ sagte er, „heute.“

„Heute? – Und was?“

„Dieses hier,“ entgegnete Tromholt mit gepreßter Stimme, indem er aus der Seitentasche seines Rocks einen Brief hervorzog und ihr hinreichte. „Lies!“

Sie griff eifrig nach dem Gebotenen und entfaltete es.

„Die Verlobung unserer ältesten Tochter Susanne mit dem kaiserlichen Lieutenant zur See, Herrn Grafen Leo von Utzlar, beehren wir uns hierdurch anzuzeigen.

John Ericius und Frau,
geb. Gräfin von Tolk.«

„A – h!“ rief Bianca langgezogen.

Tromholt aber bedeckte das Gesicht mit den Händen. Ein leiser Ton entrang sich seiner Brust, während sich die Hand seiner Schwester in zärtlicher Theilnahme auf sein Haupt legte.

*               *
*

In der Nacht nach dieser Unterredung wurde Richard Tromholt durch einen Lärm auf dem Gutshofe geweckt. Rasch sprang er aus dem Bett, kleidete sich nothdürftig an, öffnete vorsichtig die Fenster seines nach dem Hof liegenden Schlafgemaches und spähte hinaus.

In demselben Augenblicke floh eine weibliche Gestalt bis an die Mauer des Hauses und suchte sich hier in dem Dunkel zu verstecken. Als sie aber den vorgebeugten Körper des Direktors bemerkte, tastete sie zitternd nach seiner Hand und flüsterte: „Um Gotteswillen, schützen Sie mich, Herr!“

„Was ist?“ forschte Tromholt leise und hielt die dargebotene Rechte fest.

„Peter Jeppe – der Däne – er ist betrunken und zerrte mich auf dem Flur an sich. – Wir saßen noch spät beim Spinnen, und dann wollte ich ins Wirthschaftsgebäude hinübergehen. – Ich lief von ihm fort, – er hinter mir her, packte mich. Ich riß mich los und schrie. Nun fiel er – ich weiß nicht, ob er liegen geblieben ist. – Ich fürchte mich. O Herr! Lassen Sie mich ins Herrenhaus oder geleiten Sie mich zurück!“

{PRZU}} [459] „Ja, bleibe hier stehen, rühre Dich nicht. Ich komme mit einer Laterne – gleich – und führe Dich.“

Nach diesen Worten trat Richard rasch zurück, und das bebende Mädchen schob sich in das Dunkel einer nahestehenden Kastanie.

Als Tromholt bald darauf aus dem Hause heraustrat, sah er Peter Jeppe, einen starken Menschen mit rothen Haaren, der sich bereits wiederholt durch seine Rohheiten bemerkbar gemacht hatte, an der Mauer entlang schleichen.

Mit raschen Schritten war Richard an seiner Seite, und im nächsten Augenblick saß seine nervige Hand dem Burschen im Nacken.

„Elender, bist Du schon wieder betrunken und stellst den Mädchen nach? Ich will Dich lehren, Ruhe halten. – Komm nur hervor, Grete, er soll Dir nichts anhaben.“

Damit stieß Tromholt den plötzlich Ernüchterten, der sich zähneknirschend unter seiner Faust duckte, vor sich her, bis sie eines der Arbeitshäuser erreicht hatten. Hier zog er die Glocke, und bald darauf erschien der Aufseher mit erschrockener Miene in der Thür.

„Hier! Sperren Sie den Menschen in sein Zimmer ein!“ befahl Tromholt. „Morgen früh um acht Uhr soll er ins Comptoir kommen, da werde ich das Weitere bestimmen.“

Der Mann nickte, und Peter Jeppe folgte, einen drohenden Blick auf Grete werfend, dem Aufseher ins Haus. Richard aber brachte das noch vor Furcht zitternde Geschöpf nach dem Frauengebäude. Nach Art dieser Leute nickte sie nur leicht, bog sich knicksend herab und verschwand, ohne ein Wort zu sagen.

Eben wollte auch Richard sein Lager wieder aufsuchen, als abermals ein lauter Lärm ihn nach dem jüngst verlassenen Arbeiterhaus zurückführte. Er sah schon von fern Peter Jeppe und den Aufseher in einem wilden Handgemenge. Der letztere wehrte sich wie verzweifelt, aber der rothe Däne war ihm über und bearbeitete ihn mit den Fäusten. Als jedoch Richard hinzusprang und ihn fassen wollte, ließ er sein Opfer plötzlich los und entfloh. Am Staket wandte er sich noch einmal um und schrie mit heiserer Stimme:

„Paßt auf! Wenn Euch der rothe Hahn auf dem Dache sitzt, wißt Ihr, wer’s gewesen ist!“

Inzwischen hatte sich der Aufseher, Clas Oelschläger, wieder erhoben und war hinkend und sich das Blut von der Stirne wischend, auf seinen Herrn zugetreten.

„Er überfiel mich im Flur,“ hub er, bevor noch Richard fragen konnte, an, „preßte mich gegen die Wand und drohte, mich zu tödten, wenn ich ihn einsperre. Als ich auf Ihren Befehl verwies, packte er mich um den Leib, warf mich auf die Erde und nahm dann Reißaus. Nun eilte ich ihm nach und faßte ihn an der Kehle. Er aber gewann die Oberhand, stieß mich vor die Brust und – –“

„Ja, ja, ich sah, Clas!“ unterbrach Richard des Keuchenden Rede und legte die Hand besänftigend auf seine Schultern. „Hoffentlich hat er Dir nichts zerschlagen. Leg Dich nieder! Morgen sprechen wir weiter. Wir werden überlegen, wie wir ihn unschädlich machen. Es soll gleich in der Frühe einer zum Hardesvogt nach Limforden, damit die Gendarmerie benachrichtigt wird.“ –

Als sich Richard und Bianca am folgenden Morgen beim Frühstück zusammenfanden, forschte Frau von Gunar ängstlich nach den Vorgängen der Nacht und gab, als ihr Bruder berichtete, ihrer Besorgniß Ausdruck. Tromholt aber schüttelte leichthin den Kopf.

„Ach, das ist nichts. Die da drohen, sind nicht zu fürchten,“ entgegnete er. „Auch wird ihm schon morgen die Landpolizei auf den Fersen sein. Für die Nacht werde ich Wächter ausstellen, auch die Hunde sollen losgemacht werden – – Aber was ist das?“ unterbrach er seine Rede, als sein Blick auf die Aufschrift eines Briefs fiel, den ihm der eintretende Diener überreichte. Der Inhalt des Schreibens lautete:

„Herrn Direktor Richard Tromholt,

Trollheide.

Ich beabsichtige, am fünften mit meiner ganzen Familie für die Dauer von vierzehn Tagen in Limforden einzutreffen, möchte Sie daher ersuchen, Ihre Inspektion in Trollheide zu unterbrechen und an diesem Tage zurück zu sein. In meiner Begleitung wird sich meine Frau, meine Tochter Susanne und Graf Utzlar, mein künftiger Schwiegersohn, befinden. Hauptsächtich wegen des letzteren habe ich mich zu der Reise entschlossen. Näheres darüber mündlich.

Hochachtend
John Ericius.“

Richard verharrte lange unbeweglich bevor er das Wort nahm. „Nun hatte ich mir ein so herrliches Zusammenleben mit Dir ausgemalt, Bianca,“ stieß er endlich heraus und erhob den Blick zu seiner ihn gespannt beobachtenden Schwester. „Jetzt ist auch diese Hoffnung zerstört!“

„Was ist denn? Was ist, mein lieber Richard?“ drängte Bianca.

„Hier! Lies!“ entgegnete der Mann und schob seiner Schwester das Schreiben hinüber. Ein Ausruf der Befremdung drang auch aus ihrem Munde: „Was hat das zu bedeuten, Richard? Wie rätselhaft ist der Schluß! Und – wie peinlich für Dich, mit – ihr – ihr zusammenzutreffen! Findest Du es zart, daß sie dieser Reise zugestimmt hat?“

„Viele Fragen auf einmal,“ murmelte Tromholt etwas schroff. Aber dann gleich wieder liebenswürdig einlenkend, fuhr er fort: „Ja, räthselhaft, und nichts konnte mir ungelegener kommen. Was Du aber von Susanne gesagt hast, – einmal müssen wir uns doch wieder gegenübertreten, früher oder später. Auch ist eine lange Zeit vergangen seit damals – fast drei Jahre, da verwischt sich manches – –.“

Tromholt sprach nicht weiter, er erhob sich, trat ans Fenster und schaute mit zerstreuten Blicken hinaus ins Freie.

Ein Stündchen später wanderte Richard durch das Gut, sah in die Arbeitshäuser, hörte die Berichte der Beamten und ritt nachher in Begleitung seiner Schwester auf die Torfmoore.

Hundertunddreißig Arbeiter waren hier beschäftigt. Maschinen stampften. Eben wurden riesige Flußkähne beladen, die stromabwärts bis ans Meer fuhren, wo ihr Inhalt von Dampfschiffen weiter befördert wurde.

Die Beinkeider hoch aufgestreift, standen die Leute meistens im Wasser und arbeiteten; an vielen Orten ließ sich die Schicht wie Lehm abgraben, und es war erstaunlich, mit welcher Schnelligkeit die Geübteren mit den scharfen Spaten vorwärts kamen. Die Dampfmaschinen pumpten das Wasser da, wo es bei der Arbeit hinderte, aus den Tümpeln und Lachen, und in Oefen, die wie große Ziegelbrennereien aussahen, wurden die Torfstücke zu Hunderttausenden getrocknet. Heideland, – Torfmoor, soweit man zu sehen vermochte. Kein Strauch, kein Baum! Ein Todtenlager! Aber darauf thätige Menschen, die aus den erstarrten Gebilden doch wieder das Material zogen, um prasselnde Flammen zu wecken. Mit vielen Arbeitern sprach Richard Tromholt. Sein Gedächtniß war erstaunlich, seine Güte und Fürsorge für jeden dieselbe.

Bevor die Geschwister ihren Weg zurücknahmen, trat ein alter Mann mit einem langen, stark gekräuselten Bart und Haaren, die ihm unter der haubenartigen Mütze bis auf die Schultern herabfielen, auf Richard Tromholt zu und sagte. „Erlauben Sie, Herr Direktor, daß ich morgen mit dem Frachtboot nach Mückern fahre? Sie wissen, meine Tochter Ingeborg hält Hochzeit. Ich kehre übermorgen mit dem leeren Kahn, den Jonas Pries führt, zurück.“

Richard besann sich einen Augenblick, dann entgegnete er:

„Ja, natürlich, Peter Elbe! Und wenn’s Euch recht ist, wollen wir zusammen fahren. Ich möchte das Fest mitfeiern.“

„Wie? Sie wollen? Welche Ehre, Herr Direktor!“

„Ja, und auch meine Schwester wird, wenn Ihr’s erlaubt, sich anschließen,“ ergänzte Tromholt, den Dank abwehrend, und nickte dem Alten freundlich zu. „Sorgt, daß alles hübsch glatt ist, wenn wir einsteigen. Punkt neun Uhr fahren wir ab. Nicht wahr, dann geht das Boot?“

„Jawohl, jawohl, Herr Direktor!“ rief der Alte, dessen Gesicht strahlte, den sich entfernenden Geschwistern nach.

Als sie zurückritten, sagte Richard zu Bianca: „Es ist Dir doch recht, daß wir den kleinen Ausflug machen? Du wirst Freude an der schönen Stromfahrt haben. Drei kleine Stunden sind wir unterwegs, Mückern liegt an einer tief in das Land einschneidenden Bucht der Nordsee. Es ist ein reizendes, keines Städtchen, und die Familie des Bräutigams und die Freunde des Alten, der mein bester und zuverlässigster Beamter ist, werden Dir gefallen. Der Schwiegersohn ist Seemann, er fährt auf seinem eigenen Schiff. Die Tochter von Peter ist ein ungewöhnlich [460] hübsches Mädchen. Sie hat eine gute Erziehung genossen und war längere Zeit als Wirthschafterin hier auf dem Gute thätig. Wenn jemals ein weibliches Wesen mir neben Susanne Ericius hätte eine Neigung einflößen können, so wäre sie es gewesen.“ -

Am nächsten Morgen ritten die Geschwister an den kleinen Hafenplatz, wo Peter Elbe wartend dastand. Er hatte über seinen schwarzen, langen Festrock eine Seemannsjacke gezogen und half ihnen beim Einsteigen in das große Stromboot. Sie fuhren wohl eine Stunde durch die Heide. ohne daß sich außer einigen Wandervögeln etwas Lebendiges sehen ließ. Es lag ein blauverschwommener Nebel über der Landschaft, der, wie Richard erklärte, von dem Rauch eines meilenweit sich erstreckenden Heidebrandes herrühren mußte. Dem mit Schlinggewächsen und Moosen überwucherten Grund des Strombetts entstieg ein scharfer erdiger, aber nicht unangenehmer Duft, sobald sich die Ruder einmal tiefer einsenkten. Dann und wann begegneten sie leeren Fahrzeugen, die den Weg zu den Ericiusschen Werken zurücknahmen Die Ruderknechte, die blau und weiß gestreifte Hemden und, wie Peter Elbe, haubenartige Mützen auf dem Kopf trugen, grüßten ehrerbietig. Bisweilen rief Richard ein fragendes Wort hinüber, und die Antwort erfolgte in dem Plattdänisch, das jene sprachen.

Später ward das Bild der Landschaft freundlicher. Herbstschmetterlinge und Libellen schwebten über der Ebene, und die Sonne, die an Kraft gewonnen hatte, warf wundervolle Lichter über das weite Gefilde.

Endlich langten die Reisenden in Mückern an. An dem Hafen standen schwatzende Schiffsknechte, Arbeiter, alte Leute, Seevolk, meist in Hemdärmeln. Hier und dort ward ein Schiff ausgeladen, Ketten rasselten, der Pfiff einer Dampfpfeife ertönte, dunkler Rauch wälzte sich aus den Schornsteinen. Theer- und Seegeruch erfüllte die Luft; überall eilfertiges Leben. Mückern hatte lange Straßen mit schmucken, kleinen Häusern. In allen Fenstern standen Blumen, und fast vor jedem Haus befand sich eine Bank. Wohlhabenheit machte sich bemerkbar, wohin man sah, und große Sauberkeit erfreute das Auge.

Als Richard mit seiner Begleiterin das Haus des Kapitäns Larsen, des Bräutigams, erreicht hatte, wurden sie von diesem, seiner Braut und seiner Mutter, einer alten Frau, die eine Männermütze auf dem Kopf trug, aufs herzlichste empfangen. Der Bräutigam war ein starker, untersetzter Bursch, dem die Uniform eines Kapitäns nicht übel zu Gesicht stand. Seine wetterharten Züge hatten eine unverkennbare Aehnlichkeit mit denen seiner Mutter, doch fehlte ihnen der Ausdruck treuherziger Güte, der aus den dunklen Augen der Alten sprach und vereint mit dem silbergrauen Haar die Härten ihrer eigenartigen, fast männlichen Erscheinung angenehm ausglich.

Ein geradezu überraschendes Bild aber bot Peter Elbes Tochter, die schon seit geraumer Zeit hier bei der Alten wohnte. Bei ungewöhnlicher Größe und schlankem Wuchs entbehrte ihre Erscheinung doch nicht der Anmuth, und ihre Züge hatten einen überaus edlen Charakter. Sie schien indessen mit ihrem Herzen wenig bei der bevorstehenden Hochzeit zu sein und begegnete ihrem Bräutigam mit so gezwungener Freundlichkeit, daß es Bianca auffiel und sie ihren Bruder nicht ohne Besorgniß darauf aufmerksam machte.

Richard hatte sich eben den Danksagungen für ein reiches Geschenk, das er mitgebracht hatte, entwunden und gab seiner Freude über das zierliche Häuschen Ausdruck. Eine tadellose Sauberkeit herrschte in den kajütenartig niedrigen, aber hellen Zimmern. Bunte Tassen standen auf Schränken und Kommoden, deren glatte Flächen die blankgeputzten Messinggriffe wiederspiegelten, und von dem Braun der getäfelten Wände, des gebohnten Fußbodens und der alten, durch den Gebrauch dunkelblitzenden Möbel hoben sich die schneeweiß bemalten Paneele unter den blumenbesetzten Fensterbänken reizvoll ab.

Nachdem alle Platz genommen, ward ein reichliches Frühstück aufgetragen, zu dem die Männer einen hellen Branntwein tranken. Das Hauptmahl sollte erst später nach der kirchlichen Trauung im sogenannten „Schifferhaus“, einer öffentlichen Herberge, stattfinden.

„Es ist zu klein bei mir -“ erklärte die Alte, indem sie wohlgefällig mit der Hand über ihre braunseidene Schürze strich. „Und ich hab’ ja ein paar Schilling. Da kommt’s nicht drauf an.“

Nach einer kleinen Stunde, die in munterem Gespräch verfloß und namentlich durch Peter Elbes frohe Laune gewürzt ward, erhob sich die Braut, um sich anzukleiden, und auch der Kapitän entfernte sich für einige Zeit, nachdem er noch die Gäste in einen kleinen, schmucken, hinter dem Hause gelegenen Garten geleitet hatte. Während die Zurückbleibenen dort plaudernd auf- und abschritten, - etwa ein halbes Stündchen mochte verflossen sein, - kam das Hausmädchen in höchster Aufregung herbeigelaufen und fragte die Alte, ob sie nicht wisse, wo Fräulein Ingeborg sei.

Diese Frage erweckte zunächst keine Besorgnis; als aber das Mädchen wiederholte, die Braut sei Verschwunden, man suche sie vergebens im Haus und in der Nachbarschaft, da ergriff die Alte und ihre Gäste eine große Unruhe. Bianca wechselte mit ihrem Bruder einen überraschten und erschreckten Blick, und eben, als sie alle sich ins Haus begeben wollten, stürzte ihnen Larsen, bleich vor Erregung, mit einem Zettel in der Hand, entgegen. Ein Unbekannter, knirschte er, habe ihn soeben überbracht. Und mit bebender Stimme wiederholte den entsetzt aufhorchenden Gästen Larsen das Geschriebene, dass lautete:

„Ich habe Mückern verlassen. Ich kann Dir nicht angehören. Verfolge mich nicht, es wäre vergeblich!

J. E.“


3.

Richard und Bianca waren nach Trollheide zurückgekehrt. Der alte Peter hatte auf der Rückfahrt dagesessen wie ein Steinbild, unbeweglich und in sich gekehrt, und nur ab und zu mit trostlos finsterem Blick die Augen auf die öden, weiten Heideflächen gerichtet, an denen sie mit schnellem Ruderschlag vorüberfuhren.

Jedem Zuspruch war er ausgewichen. Es sei diese Verbindung sein Herzenswunsch gewesen, hatte er wimmernd hervorgestoßen. Nun sei alles todt. Was aus seiner Tochter werden solle, die allein in die Welt hinausgegangen sei? Vielleicht würde er sie nie wiedersehen! Und die Schande! Mit welchen Worten würden die Leute in Mückern in Zukunft von ihr reden!

So hatte es denn Richard aufgeben müssen, den Alten zu trösten, zumal er mit seinen eigenen Sorgen genug zu thun hatte.

Peter Jeppe war, wie ihm bei seiner Rückkehr berichtet wurde, von den Gendarmen zwar nicht eingefangen worden, doch hatten sie seine Spur in der Umgegend entdeckt und hofften, ihn demnächst dingfest zu machen. Dass beruhigte Richard zunächst, doch bestand er darauf, daß seine Schwester ihn begleite, als er zwei Tage später, dem Wunsch des Herrn Ericius, entsprechend, nach Limforden übersiedelte. Mancherlei Bedenken, die sich namentlich auf das Zusammenleben mit der Familie Ericius bezogen, hatten in Bianca den Wunsch rege gemacht, in Trollheide zu bleiben und dort die Rückkehr ihres Bruders abzuwarten Als ihr Richard jedoch erklärte, daß er in seinem eigenen Haus wohne und sie als sein Gast dort von den Ericius völlig unabhängig sei, gab sie ihren Widerstand nicht nur auf, sondern richtete sich auch, dem Wunsch ihres Bruders entsprechend, darauf ein, die ganze noch übrige Zeit ihres Besuchs auf dem herrlich gelegenen Hauptgut zuzubringen und nicht wieder nach Trollheide zurückzukehren.

Die Geschwister hatten, da der Herbst noch immer milde, fast sommerlich warm war, in einem offenen Wagen Platz genommen. Ein eigener Zauber war über der scheinbar so unveränderlichen und doch so wechselnde Bilder bietenden Landschaft ausgebreitet. Eine solch traumvergessene Stille lag über der weiten, von dem blauüberschleierten Horizont begrenzten Ebene, so wundervoll waren die Farben, ein so wunschloses Genügen schien die Erde und die auf ihr lebenden Geschöpfe zu durchdringen, und ein solcher Friede erfüllte zufolgedessen ihre Seele, daß in Bianca fast das Verlangen aufstieg, nie wieder in die große Stadt zurückzukehren, sondern in dem Umgange mit der Natur die künftige Daseinsbefriedigung zu suchen.

Am Spätnachmittag langten Richard und Bianca in Limforden an. Schon während der letzten Wegstunde hatte sich der Charakter des Landes allmählich verändert, überraschend jedoch trat ihnen dieser Wechsel erst jetzt, da sie die Grenze des Gutes erreicht hatten, entgegen. Eine von Ueppigkeit strotzende Natur löste die unfruchtbaren Flächen ab. Was Limforden so eigenartig schön machte, waren die überall von Buchen- und Eichenwald umgebenen ungewöhnlich großen Wiesenabschnitte. Die Gebüsche auf den sie einfriedigenden Wällen waren im Lauf der Jahrhunderte allmählich zu Bäumen herangewachsen, deren stolz und kraftvoll emporstrebende Stämme diese weitläufigen Flächen wie im Dienst der Ruhe und der Schönheit bestellte Wächter umstanden. Je näher sie dem Gutshof kamen, desto mehr wuchs Biancas Entzücken.

[461]

Helgoland.
Zeichnung von Franz Hein.

Deutscher Fels in deutschen Wogen,
Den die Brandung klagend schlug,
Deutscher Stamm, der, uns entfremdet,
Eine andre Fahne trug:

5
Wieder bist du neugewonnen,

Uns’rem Reiche angetraut,
Perle kaiserlicher Krone,
Helgoland, du Wogenbraut!

Als man einst dich uns entrissen,

10
Lag in Schmach Germania!

Heute steht die große Mutter
Wieder stark und glänzend da,
Sammelt die geraubten Kinder,
Doch nicht mit dem Schwert allein!

15
Auch in friedlichem Triumphe

Ziehn sie in die Heimath ein.

Franz Hein.

[462] Wie ein von der großen, geräuschvollen Welt abgeschiedener und noch in dem seligen Behagen des Friedens und ungetrübten Glückes ruhender Erdenfleck erschien diese Gegend dem Auge.

In imposanter Stattlichkeit erhob sich im Hintergrund eines großen, von weitläufigen Wirthschaftsgebäuden flankierten Hofs das aus grünen Parkanlagen auftauchende Herrenhaus, ein altes, schloßartiges Gebäude, einst der Stammsitz der gräflichen Familie Tolk, von der es Ericius seiner diesem Geschlecht zugehörigen Gattin zuliebe erworben hatte.

Das Haus des Direktors befand sich unter mächtigen Kastanienbäumen versteckt neben dem des Oberinspektors, eines Herrn von Alten, inmitten eines hübschen, kleinen Gartens.

Hunde bellten, neugierige Mädchen und Knechte erschienen in den Thoren der Scheunen und Ställe, vorübergehende Arbeiter zogen die Mützen, die eben zum Melken abfahrenden Dirnen, nebeneinander sitzend auf offenen Wagen, unter denen blankgeputzte Milcheimer schaukelten, grüßten mit kurzer Kopfneigung, und endlich hielt der Wagen vor dem Haus des Direktors. Ole, Tromholts Diener, sprang hinab, in der Thür erschien Marieken, die alte Wirthschafterin, und Richard führte seine Schwester in die für sie im ersten Stockwerk hergerichteten Gemächer.

Während sie sich’s dort bequem machte, suchte er seine eigene, im Erdgeschoß liegende Wohnung auf. Aber er glaubte seinem Auge nicht trauen zu sollen, als er beim Eintritt – Ingeborg, die Tochter von Peter Elbe, vor sich sah.

„Sie, Sie, Fräulein Ingeborg?“ rief er, seinem ungemessenen Erstaunen Ausdruck verleihend.

„Ja, ich! Verzeihung, Herr Direktor!“ erwiderte das schöne Mädchen, mit flehenden Augen zu ihm aufblickend, und wäre vor ihm ins Knie gesunken, hätte er sie nicht daran gehindert.

„Weiß jemand außer der Alten, daß Sie hier im Hause sind?“ fragte Richard, rasch die Sachlage überdenkend.

„Ich hoffe nicht!“ entgegnete Ingeborg. „Ich kam gestern nacht auf Umwegen hierher, weckte Marieken und sagte ihr alles.“

„Sie haben also nicht, wie angenommen wurde, das Dampfschiff benutzt?“

„Nein, Herr Direktor! Ich wünschte nur, Larsen von meiner Spur abzulenken.“

Einen Augenblick schwieg Richard Tromholt, dann sagte er, voll warmherziger Theilnahme in Ingeborgs Zügen forschend: „Sie lieben den Kapitän nicht?“

„Nein, ich hasse ihn!“ stieß das Mädchen hervor.

„Wäre es aber dann nicht richtiger gewesen, Sie hätten ihn und die Ihrigen von Ihrem Entschluß früher in Kenntniß gesetzt? Haben Sie nicht bedacht, welch furchtbaren Herzenskummer Sie Ihrem Vater durch Ihre Flucht bereiten würden?“

„Ach, – ja – mein Vater, mein guter, alter Vater!“ flüsterte Ingeborg, indem sie stöhnend das Haupt sinken ließ.

Ihr Schmerz that Richard weh, darum gelangte er, auf weitere Aufklärung verzichtend, zu einer schnellen Entscheidung.

„Jeden Augenblick,“ sagte er, sie beruhigend, „können meine Schwester, der Oberinspektor und andere Leute vom Gute hier eintreten. Wir wollen deshalb zunächst nur ins Auge fassen, was jetzt für Sie zu thun ist, und das Vergangene auf sich beruhen lassen. Ich werde für Sie eintreten, Ingeborg, auch wenn ich die Gründe Ihrer Handlungsweise nicht kenne. Wollen Sie sich ganz meiner Führung überlassen?“

Ihr stummer Blick sagte ihm, wie sie ihm für sein Vertrauen dankte, und wie sie’s erwidern wollte. Ja, mehr noch als Dank und Vertrauen sprach aus diesem Blick, etwas, das Richard nicht verstand oder nicht verstehen wollte.

„Wohlan,“ sagte er, „dann reisen Sie noch heute von hier fort, und zwar nach Hamburg, und begeben sich in das Haus meiner Schwester, der Frau von Gunar, die in einigen Wochen dahin zurückkehrt. Daß es Ihnen an nichts fehlen wird, dafür werde ich sorgen. Später werden wir weiter sehen. Vielleicht können Sie bei ihr bleiben, ich hoffe es. Sonst aber müssen wir uns nach einem Hause umschauen, in dem Sie Beschäftigung und Erwerb finden. Ist’s recht so, Fräulein Ingeborg?“

Ohne Antwort zu geben, beugte sich das Mädchen tief zu Tromholt herab und drückte die Lippen auf seine abwehrenden Hände.

„Noch eins zu meiner Beruhigung,“ fuhr er, sie sanft emporrichtend, fort: „Ist er schlecht, kein Ehrenmann, der Kapitän?“

„Falsch ist er und roh! Ich wußt’ es längst und wußte auch, daß ich nie die seine werden könne. Aber die Furcht vor seiner Rache, die Scham und die Sorge um meinen Vater, der ihm so zugethan war, lähmten mir den Muth, zu sprechen. Da vergaß ich alles andere und that, was Sie wissen.“

Die Erinnerung überstandener Qual machte Ingeborg, aufs neue erzittern. „Armes Kind!“ sagte Richard, indem er ihr mit der Hand über den Scheitel strich. „Aber nun gehen Sie zur alten Marieken, niemand sonst darf Sie hier sehen. Inzwischen spreche ich mit meiner Schwester, besorge alles Nöthige, und den Abend noch können Sie abreisen. Leben Sie wohl, vergessen Sie das Vergangene und blicken Sie vertrauensvoll in die Zukunft!“

Er drückte ihr die Hand, dann entfernte sie sich nach einem langen Blick auf Richard durch eine Hinterthür, während dieser zu seiner Schwester emporstieg. –

*               *
*

Bianca war, wie Richard auch nicht anders vorausgesetzt hatte, einverstanden, Ingeborg bei sich aufzunehmen. Die letztere hatte Limforden bereits verlassen, und Tromholt – es war gegen Mittag des folgenden Tages – bereitete sich vor, Herrn Ericius und dessen Familie zu empfangen.

Eine prächtig geschmückte Ehrenpforte war errichtet worden; allerlei sonstige Empfangseinrichtungen zu treffen, hatten sich die drei obersten Verwaltungsbeamten ebenfalls nicht nehmen lassen. Da zu Limforden ein großes Kirchdorf gehörte, so waren auch der Pastor, die Lehrer, die Schulkinder und viele Dorfbewohner erschienen und hatten am Thoreingang sich aufgestellt.

Aber als Richard kurz vor dem erwarteten Eintreffen der Herrschaften mit Bianca über den Hof schritt, kam ihm Alten, mit dem er in einem besonders vertraulichen Verhältniß stand, unter allen Anzeichen größter Bestürzung entgegen, hielt ein Papier in der Hand und zeigte dem durch seine Haltung beunruhigten Tromholt den Inhalt einer eben eingetroffenen Depesche:

„Gutsverwaltung Limforden. Mein Mann plötzlich verschieden. Reise vorläufig verschoben. Weiteres schriftlich.
Frau John Ericius.“ 

Diese Nachricht traf Richard wie ein vernichtender Schlag; für Minuten stand er wie gelähmt; das warf all’ seine Pläne übern Haufen. Was sollte nun aus dem begonnenen Werke werden? Was aus ihm selbst?

Am Nachmittag, nachdem die erste Bestürzung sich gelegt hatte und alle zu der Empfangsfeierlichkeit Herbeigeeilten zu ihren Beschäftigungen zurückgekehrt waren, wanderte Richard, um die quälenden Gedanken loszuwerden, mit seiner Schwester hinaus an die Seen, deren Trockenlegung nicht mehr fern war. Hunderte von Arbeitern waren auch hier beschäftigt. Die Dampfpumpen schöpften das Wasser aus und leiteten es in die Abzugskanäle, die ganze Gegend hallte wieder vom Lärm ihrer Thätigkeit. Auf dem Rückweg besuchten die Geschwister gleichzeitig die Holzschneidereien, die Richard als sein erstes, eigenstes Werk besonders am Herzen lagen. Auch hier herrschte ein unruhig bewegtes Leben. Das schnurrte und stöhnte und stampfte und pustete – die Musik der Arbeit!

Wie lange noch? dachte Richard. Ja, die Pflicht, die Arbeit, die waren’s, die ihn aufrecht gehalten hatten bei jeder Sorge und die das Weh in seiner Brust übertäubt hatten. Und nun, was nun? Bald würde es vielleicht still sein hier, todtenstill – hier und überall, nur nicht in seinem Herzen. –

Die schwermüthigsten Gedanken bewegten Tromholt, und Biancas liebevolles Zureden vermochte nicht, sie zu zerstreuen. Voll der trübsten Ahnungen kam er nach Haus. Er verbrachte eine schlaflose Nacht, und als er am nächsten Morgen unter den verschiedenen Schreiben, welche ihm die Post gebracht hatte, auch eines mit dem Poststempel „Kiel“ und den Schriftzügen der Frau Ericius auf der Adresse vorfand, glaubte er seine schlimmsten Besorgnisse erfüllt. Mit einer Art dumpfer Entsagung löste er das schwarze Trauersiegel und las den Inhalt:

Geehrter Herr Direktor Tromholt!

Nach Empfang dieser Zeilen bitte ich Sie, sofort abzureisen und auch diejenigen Herren, die meinem Mann das letzte Geleit geben wollen, zu bitten, unverzüglich aufzubrechen. Für Sie privatim und zunächst im engsten Vertrauen füge ich hinzu, daß [463] in dem Testament meines verstorbenen Gatten Bestimmungen getroffen sind, die von großer Bedeutung für Sie, aber auch für mich sind.

Darüber mich mit Ihnen bei Ihrer Hieherkunft persönlich ausführlicher zu besprechen, ist natürlich gleichzeitig mein Wunsch und verstärkt die Bitte, daß Sie meinem Rufe gütigst Folge leisten mögen. Ergebenst 
Susanne Ericius  
geb. Gräfin von Tolk." 

Noch während sich Richard mit seiner Schwester über den muthmaßlichen Inhalt der letzten Willensbestimmungen des verstorbenen Herrn Ericius unterhielt, ließ sich Herr von Alten, der Oberinspektor, bei ihnen melden.

Alten war ein unverheiratheter Mann von etwa fünfunddreißig Jahren mit einem großen, starkgebauten Kopf, einigen Schmarren über der Backe, forschenden, etwas Leuchtendes in sich bergenden Augen und einem kräftigen blonden Bart. In seinen Bewegungen lag Ruhe, aber er besaß einen sehr beweglichen Geist, der ihn verführte, häufig abfällige Urtheile über Personen und Verhältnisse zu fällen. Seine Laune und arbeitsthätige Unverdrossenheit waren sprichwörtlich. Immer sah man ihn mit seiner kurzen Pfeife zu Fuß oder zu Pferde unterwegs, und wie Richard Tromholt schien er einen gegen jeden Eindruck von außen gestählten Körper zu besitzen.

„Ich störe nicht, gnädigste Baronin? Und auch Sie nicht, lieber Tromholt? Ich wollte mich noch mit Ihnen wegen unserer Abreise besprechen, da ich ausgerechnet habe, daß wir gegebenen Falles schon am Spätnachmittage in Kiel eintreffen können. Ich lasse dann morgen früh um fünf Uhr anspannen." –

Richard war damit einverstanden. Während sie noch die Abfahrtszeit der Züge studirten, wurde er in einer häuslichen Angelegenheit von Marieken, der alten Haushälterin, abberufen, und Alten blieb allein mit Bianca. Eine leichte Verlegenheit beherrschte für die ersten Augenblicke beide, dann sagte Alten, von dem früheren Thema abspringend, gleichsam als ob es ihn dränge, einem Gedanken, der ihn lange beschäftigt hatte, endlich Ausdruck zu geben: „Sie glauben nicht, wie glücklich ich bin, daß Sie sich entschlossen haben, noch einige Wochen, hoffentlich“ – hier verneigte er sich lächelnd – „den Herbst und ein Stück des Winters in Limforden zu bleiben. Es ist trostlos, wenn man mit sich selbst ganz allein umgehen muß.“

„Ich sollte meinen, daß eine, wie ich höre, so ausgezeichnete Gesellschaft einen nie ermüden könnte. Das beweist eine unzufriedene Natur!“ scherzte Bianca und rückte sich bequem in ihrem Schaukelstuhl zurecht.

Alten schmunzelte, dann sagte er: „Sie irren, meine gnädige Baronin. Ich bin langweilig wie ein altes Theebrett, wenn ich mir selbst Besuche mache. Ich habe freilich Ihren vortrefflichen Herrn Bruder, aber er schließt sich doch auch bisweilen völlig ab und ist dann unnahbar, ganz abgesehen davon, daß ihn das Geschäft oft Wochen lang fern hält. Nein, nein! Es ist ein ungemessenes Glück, daß Sie unsere belebende Sonne werden wollen, jetzt, hoffentlich noch oft, vielleicht für immer! Das heißt, wer weiß, ob die Erben des seligen Herrn Ericius uns nicht sämmtlich das Ausweisungsdekret zustellen. Davor schützt uns auch die Anwesenheit der schönsten und liebenswürdigsten Frau nicht.“

Bianca lachte, aber sie wehrte ab; sie nahm solche Artigkeiten nicht ernsthaft.

„Im Gegentheil,“ erwiderte sie, „ich bin die Unterhaltungsbedürftige, und wenn ich mich entschließe, eine Zeit lang hier zu bleiben, so geschieht es in der selbstsüchtigen Erwartung, daß ich mich hier besser unterhalte als in Hamburg, meinem einsamen Witwensitz, und daß die Herren das Ihrige dazu beitragen, mich wieder lachen zu lehren.“

„Würde ich außerordentlich gern übernehmen!“ scherzte Alten. „Aber jetzt, jetzt, meine Gnädige, an dem Grabe des Herrn Ericius solche Gedanken auch nur fassen, ist einer frommen Seele unmöglich.“

„Aufrichtig, dieser Spott gefällt mir nicht!“ wandte Bianca kopfschüttelnd ein. „Herr Ericius war doch Ihr Vorgesetzter, ein tüchtiger Mann und –“

„Wohl, meine Gnädige, das letzte ist wahr! Aber bedingt das denn Liebe?“

„Nein, aber – Pietät, ein pietätvolles Gedächtniß. Ueber Todte soll man nur Gutes sagen.“

„Hm! – hm!“ stieß Alten heraus. „Wir wollen einmal ganz unbefangen sprechen, nicht als angelernte Kulturmenschen, die sich meistens etwas vorgaukeln, sondern als ehrliche Naturkinder. Der verstorbene Herr John Ericius war mir über die Maßen zuwider. Er ging einher und trat auf, als ob er über die Welt zu herrschen habe. Ich bin überzeugt, wenn der liebe Gott einmal zu uns herniederstiege, er würde bescheidener auftreten. Alle Menschen sah Herr Ericius eigentlich als seine Diener an, legte dabei im allgemeinen verzweifelt wenig Lebensart an den Tag und glaubte, wenn er zahle, zahle, zahle, seinen verdammten Mammon hinwerfe, daß er dann der beste und vortrefflichste unter den Sterblichen sei. Natürlich! Solche Art Menschen werden angestaunt und bewundert, weil die Welt sich nur allzugern beherrschen und knechten läßt, weil die Menschen meist ohne Spur von eigenem Rückgrat umherlaufen und deshalb vor Erstaunen darüber, daß andere ein solches besitzen, ehrerbietigst mit der Nase den Boden berühren.“

„Nun ja!“ warf Bianca ein. – „Das ist doch auch etwas. Sie gestehen selbst zu, daß der Verstorbene ein Rückgrat besaß, das heißt, daß er ein Mann war. Fordert das nicht zum Respekt heraus?“

„Diesen habe ich ihm nie verweigert, meine gnädige Baronin. Bitte, unterscheiden Sie wohl! Ich sagte nur, er sei mir zuwider gewesen und ich könne deshalb über seinen Tod keine Thränen vergießen, ich wolle nicht etwas heucheln, was nicht in mir sei. – Und ferner: ein Mann kann fest, gerecht, ernst, besonnen und weise sein, aber er braucht nicht zu verleugnen, daß er ein Mensch ist. Sehen Sie Ihren Bruder Richard an! Der ist ein Mann, das Ideal eines Mannes!“

Biancas Augen leuchteten. Es war ihr eigenster Gedanke, dem Alten mit diesem Urtheil über ihren Bruder Ausdruck verlieh; und ein Mann, eln starker, zielbewußter Mann war auch Alten bei all seiner zur Schau getragenen Weltverachtung.

Eben trat Tromholt wieder ins Gemach und das Gespräch ward unterbrochen. Aber Richards Mienen waren nicht heiter.

„Schon wieder eine Unglücksbotschaft,“ sagte er; „der rothe Jeppe spukt hier in der Gegend, und die Gendarmen können ihn nicht erwischen; es scheint, daß er irgendwo einen Schlupfwinkel gefunden hat. Nach Trollheide hat er einen Brandbrief geschickt, und am Ende führt er seine Drohung doch noch aus, wenn man ihm nicht scharf auf die Finger sieht. Vielleicht hat er’s gar auf Limforden abgesehen und sucht nur unsere Wachsamkeit zu täuschen und abzulenken. Ich weiß wirklich nicht, ob ich Dich hier lassen darf, Bianca, so allein, wenn wir nach Kiel reisen.“

„Oho, Richard!“ widersprach Bianca, „Du traust mir doch sehr wenig Muth zu!“

„Für alle Fälle könnte ich ja hier bleiben!“ warf Herr von Alten eifrig ein. „Unter den Leidtragenden bin ich zudem entbehrlich.“

„Nein, Alten, Sie müssen sich anschließen, das erfordert der Anstand und Ihr eigenes Interesse,“ entgegnete ihm Tromholt ernst. „Aber wir könnten – –“

„Etwa eine Leibgarde für mich errichten, Kanonen aufpflanzen und den großen Belagerungszustand über das Gut aussprechen?“ unterbrach ihn scherzend Bianca. „Nein, meine Herren, ich danke Ihnen für Ihre Besorgniß um mein Leben, aber ich bin groß genug, mich selbst zu schützen, und die schlechte Meinung, die Sie von meinem Muth zu haben scheinen, macht es mir geradezu zur Pflicht, Ihnen das Gegentheil zu beweisen. Reisen Sie glücklich und kehren Sie mit guten Nachrichten wieder, ich halte inzwischen den Platz – oder,“ fügte sie nach einer Pause nicht ohne einen leisen Anflug von Koketterie hinzu, „ich reise mit, um nie wiederzukommen.“

„Alles, nur das nicht!“ rief Alten in einem Ton, der zwischen Scherz und Ernst schwankte, „da fügen wir uns lieber Ihrem Willen!“

„Schön!“ stimmte jetzt auch Richard, seine Besorgnisse unterdrückend, zu. „Wir werden ja überdies kaum länger als zwei Tage ausbleiben.“

Dann entfernte er sich mit Alten, um insgeheim doch einige Vorkehrungen für Biancas Sicherheit zu treffen.

(Fortsetzung folgt.)




[464]
Helgoland.

Eine überraschende Kunde hat der 17. Juni 1890 dem deutschen Volke gebracht. An diesem Tage ward der zwischen der deutschen und der englischen Regierung vereinbarte Vertrag im Deutschen Reichsanzeiger veröffentlicht, der im Zusammenhang mit der Regelung jener mannigfach sich kreuzenden und stoßenden kolonialen Interessen auf dem Boden Ostafrikas die Abtretung der Insel Helgoland von England an Deutschland, vorbehältlich der Genehmigung des englischen Parlaments, ausspricht.

Es ist hier nicht der Ort, über das Verhältnis von Werthen und Gegenwerten, die in jenem Vertrage gegen einander ausgespielt werden, ein Urtheil zu fällen. Der Streit der Meinungen vorüber wird fortdauern, bis Thatsachen, greifbare Ergebnisse ihn zum Schweigen bringen. Es ist auch hier nicht der Ort, über das, was der deutsche Reichstag oder das englische Parlament dazu sagen wird, Betrachtungen anzustellen, umsoweniger, als das endgültige Ja oder Nein vielleicht schon gefallen ist, bis diese Blätter in die Hände unserer Leser gelangen. Denn wenn auch

Karte von Helgoland nach Prof. K. Giebel (1845) und Dr. Emil Lindemann (1888).

noch vor kurzem im englischen Unterhause ein mittelbarer Antrag auf Abtretung Helgolands an Deutschland den lebhaftesten Widerstand fand und mit großer Stimmenmehrheit abgelehnt wurde, so kann doch niemand wissen, in welcher Weise sich die Wirkung der neuen Vertragsbestimmungen auf die Gegner der Abtretung äußert.

Eines aber ist sicher: der Gedanke einer Erwerbung Helgolands für Deutschland wird überall im Reiche einen freudigen Widerhall finden; er wird begrüßt werden mit jener Genugtuung, welche der Heimfall eines verloren gegangenen Bruchteils an das uralte Stammland in jedem gesunden, aufwärts strebenden Volkstum erwecken muß; und wenn jene Erwerbung zur Thatsache werden sollte, so wird sie, obwohl auf ganz verschiedenem Wege errungen, doch im Geiste des Volkes sich jenen anderen Wiedereroberungen zur Seite stellen, welche die Aufrichtung eines mächtigen Deutschen Reiches gleichsam als deren handgreiflichster Ausdruck vor zwei Jahrzehnten begleiteten.

Denn ein uralt deutsches Stück Land ist der Fels von Helgoland! Es bedarf, um das zu erfahren, keines Hinaufsteigens in die Geschichte der vergangenen Jahrhunderte, keiner umständlichen Nachweise aus Akten und Chronikbüchern. Das schlägt von selbst an unser Ohr, wenn wir die Insel betreten und der Sprache der Eingeborenen lauschen. Mit wunderbarer Zähigkeit haben sie die Laute ihrer alten friesischen Mundart bewahrt, und die Kinder reden erst ihr helgoländisch Platt, ehe sie in der Schule und in der Kirche das neuzeitliche Hochdeutsch erlernen.

„Grön is det Lunn,
Road is de Kant,
Witt is de Sunn;
Deet is det Woapen
Van’t Hillige Lunn’.“

So lautet der alte Wahlspruch von Helgoland, den wir zugleich als Probe der Sprache hierhersetzen, und höchstens der Oberdeutsche, schwerlich aber der Niederdeutsche wird der Uebersetzung bedürfen :

„Grün ist das Land,
Roth ist die Kant,
Weiß ist der Sand;
Das ist das Wappen
Vom ,Heiligen Land‘.“

Nur etwa 64 km von der Elbmündung bei Cuxhaven und 87 km von der Mündung des Nordostseekanals bei Brunsbüttel liegt der meerumspülte und sagenumwobene Fels, senkrecht aus der See emporsteigend zu einer Höhe von 28 bis 56 Metern, ein braunrother Thonstein von harter Beschaffenheit, 1600 Meter in der Länge und an der breitesten Stelle 500 Meter messend, das sogenannte „Oberland“. Ihm vorgelagert ist an der südöstlichen Seite ein sandiges Vorland, das „Unterland“, und mit ihm zusammen besitzt die Insel einen Flächeninhalt von 0,59 qkm. Einst sollen Viehzucht und Kornbau wohl gediehen sein auf der Insel, aber heute sieht man nur Schafe auf den grünen Matten des Oberlandes grasen, und was an die Stelle der wogenden Kornfelder getreten ist, das verrät uns der Name der die ganze Insel von Nord nach Süd durchziehenden „Kartoffelallee“. Der Häringsfang bildete einst, vor 300 Jahren, den Haupterwerb des helgoländischen Fischers, aber die gewinnbringenden Fische nahmen, wie man glaubt, infolge veränderter Meeresströmungen, plötzlich andere Wege; es war ein furchtbarer Verlust für die Bewohner des Felseneilands, und es ist kein Wunder, daß die Sage in einem bösen Frevel die Ursache des tiefeinschneidenden Ereignisses suchte. „Nach der Einführung des Christenthums,“ so heißt es, „wurde ein kleines Götzenbild zum heiligen ,Tiets‘ umgetauft. Da es der Fischerei günstig war, so trug man es im Frühjahr in Prozession auf dem Oberlande umher bis auf einen Berg, der ,Tietsberg‘ genannt. Bei einer solchen Prozession erfrechten sich einige, das Bild zu prügeln, und seit jener Zeit kam nie wieder ein Häring nach der Insel, statt seiner erschien die Pest.“ – Die ihrer Haupteinnahmequelle beraubten Fischer suchten und fanden dann Verdienst als Lotsen und Seefahrer und später auch durch mancherlei anderen Fischfang (Schellfisch, Hummer, Austern). Dann brachte die Zeit der von Napoleon I. verhängten Kontinentalsperre und mit ihr ein blühender Schleichhandel vorübergehend großen Reichtum auf die für die Zwecke des letzteren so günstig gelegene Insel. Lotsenwesen, Fischerei und Schiffahrt wurden an den Nagel gehängt, denn es gab leichteren Gelderwerb. Aber die Kontinentalsperre nahm ein Ende, die reichen Geschäfte verließen die Insel, andere Verbindungen waren unterbrochen oder fehlten: die Helgoländer waren, nicht ohne eigene Schuld, in der bittersten Notlage. Da brachte ihnen ein unternehmender Landsmann, Jacob [465] Andresen Siemens, Hilfe – er war es, der Mitte der zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts die Insel zum Seebad erhob, und welche Bedeutung

Brandung an der Felsenwand auf Helgoland.

diese Gründung hat, ergiebt sich daraus, daß, ungerechnet die vorübergehend anwesenden Besucher, in den letzten Jahren stets zwischen acht und zehn tausend Menschen als Badegäste auf der Insel weilten. Für solche Blüthe aber findet man die Erklärung, wenn man erfährt, daß Helgoland im Spätherbst und Winteranfang eine höhere Durchschnittstemperatur besitzt als Bozen und Meran! Lange Jahre besaß das Seebad Helgoland allerdings auch eine Anziehungskraft weniger gesunder Art – eine Spielbank, die 1830 gegründet und erst 1877 wieder aufgehoben wurde.

Dies die wirthschaftliche Geschichte von Helgoland. Und die politische? Auch sie ist bald erzählt, wenigstens wenn wir uns an die wirklich beglaubigte Geschichte halten wollen. Um den Vorzug, schon von Tacitus als die Insel mit dem heiligen Hain der alten germanischen Erbgöttin Hertha genannt zu werden, muß sich Helgoland mit Rügen streiten; denn die Gelehrten sind noch nicht einig, welche von beiden der alte Römer im Auge gehabt habe.

Dann werfen die muthigen Fahrten der christlichen Glaubensboten auf den weltabgeschiedenen Fleck ein kurzes Streiflicht. Wir vernehmen von Kirchen, die gebaut und wieder zerstört wurden, wir hören vom Friesenkönig Ratbod, der auf der Insel vor Pipin von Heristal um das Jahr 700 Zuflucht findet. Vergebens bemüht sich der heilige Willibrord, den alten Helden zur Taufe zu bewegen; wie von dem Sachsen Wittukind, so erzählt auch von Ratbod die Sage, daß er, schon einen Fuß im Wasser, die Frage gethan habe, wohin denn seine Vorfahren gekommen seien. „In die Hölle!“ lautete der kurze Bescheid des Priesters. „Dann will auch ich nicht in den Himmel kommen!“ Sprach’s und starb ungetauft, und nach mehr als tausend Jahren fanden sie auf der Höhe des „Moderbergs“ an der Südspitze der Insel ein Grab mit dem Skelett eines Mannes, eine Bronzewaffe zur Linken und an jeder Seite einen goldenen Spiralring. Und es hieß, es sei das Grab Ratbods, des Friesenkönigs.


Im Mittelalter spielte Helgoland eine wichtige, wenn auch keineswegs rühmliche Rolle als ein Hauptseeräubernest. „Es ist ein Ort allen Schiffern ehrwürdig, besonders aber den Seeräubern,“ sagt schon der alte Adam von Bremen im 11. Jahrhundert, der uns die erste ausführlichere Schilderung der Insel giebt, und er knüpft die merkwürdige Behauptung daran: „Woher sie auch den Namen empfangen hat, daß sie Heiligland heißt!“ Das erinnert an den neapolitischen Banditen, der die Madonna um Gelingen für seinen nächsten Raubmord anflehte. Nun, die Seeräuber, unter denen der Störtebeker der berüchtigtste ist, fanden ihre Meisterin in der mächtigen Hansa, die Insel wurde wie das Küstenland von ihnen befreit, aber sie ging den Hansestädten in einem langwierigen Besitzstreit mit den Herzögen von Schleswig (Gottorp) wieder verloren. Die Herzöge von Gottorp verloren sie wieder (1714) an Dänemark, Dänemark wieder an England (1807), und vom Kieler Vertrage 1844 bis zum 17. Juni 1890 befand sich das vielumstrittene Eiland auch in völkerrechtlich anerkanntem Besitze des britischen Reichs. Albion sandte seine Gouverneure, benutzte die Insel auch einmal während des Krimkriegs als günstig gelegenen Werbeplatz (vergl. „Gartenlaube“ 1855) und beließ sie im übrigen, wie wir bereits gesehen haben, in ihrer alten Eigenart. Es verlangte von der heute etwa auf die Zahl von 2200 Seelen sich belaufenden Bewohnerschaft keine Soldaten, kein Geld, schoß vielmehr noch eine erkleckliche Summe von zuletzt 3300 Pfd. St. jährlich zu, und wenn der eine und der andere Helgoländer zu der britischen Marine sich anwerben ließ, so war das angeborene Lust und eigener freier Wille. [466]

Mit diesem Stillleben zwischen Badegästen und Schellfischfang dürfte es nun freilich, wenn die Insel dem Deutschen Reiche angegliedert wird, ein Ende haben. Aber ein anderer, ein schwererer Schatten schwebt über dem grün-roth-weißen Eiland. Eine dunkle Kunde will davon wissen, Helgoland habe einst mit Schleswig zusammengehangen. Und wenn es auch mit dem angeblichen früheren Zusammenhang der Insel mit dem heutigen Festland wenigstens in unserer Periode der Erdgeschichte nichts auf sich hat, jene merkwürdig ausgezackten, unterwühlten, zerfressenen Felsbildungen, diese Buchten, Thürme, Säulen, Thore an der Küste, wie deren unsere Abbildungen zeigen, reden eine bedenkliche Sprache.

Zwölfhundert Meter von der Ostspitze des Unterlandes entfernt liegt die Düne, auch sie war einst durch einen Steinwall mit der Insel verbunden. Der Wittklipp, ein weißer Gipsfelsen, schützte den Steindamm vor dem Anprall der Wogen. Aber da kam ein Nordweststurm und das Meer brach den Fels, den die Bewohner geschwächt hatten, weil sie die Gipsbrocken gut verkaufen konnten, und 9 Jahre später trat die verhängnißvollste Katastrophe ein, die Helgoland erlebt hat: am Weihnachtsabend 1720 durchbrachen die Fluthen auch den Steinwall und rissen die Düne auf ewig los vom Mutterlande. Wer steht dafür, daß nicht eines Tages ein anderer Sturm das Unterland begrabe, daß nicht die rastlose Nagearbeit der Wellen einst ihr Ziel finden werde, weil nichts mehr da ist, daran sie ihren scharfen Zahn üben könnten, und daß nicht einst über der Stätte, da vordem der rothe Fels zum Himmel ragte, die Fische des Meeres sicher sich tummeln werden, weil niemand mehr da ist, der sie beunruhige?

Die Frage ist leider nicht ganz unberechtigt. Man hat die Insel genau beobachtet wie einen Kranken, hat sie gemessen und wieder gemessen und den Fortschritt des Zerstörungswerkes in Formeln zu bringen versucht, und man hat ihr schließlich herausgerechnet, wie viele Jahre sie noch zu leben hat.[1]

Unsere Karte zeigt das Ergebnis dieser Messungen und Beobachtungen. Auf derselben bedeutet das schwarz Ausgefüllte die in 44 Jahren, 1845 bis 1889, untergegangenen Felstheile, das mit sich kreuzenden Strichen Gezeichnete aber die Zunahme des Unterlandes. Nimmt man an, daß die Zerklüftung des Felsens in demselben Maße fortschreite, wie es sich aus dieser Zeichnung und aus anderen Berechnungen ergiebt, so erhält man als die mutmaßliche Lebensfrist der Insel rund ein Jahrtausend! Und zwar zeigt es sich, daß nicht des Meeres Brandung allein es ist, was an dem Mark der Insel zehrt, - dies ist vorwiegend nur an der Westseite der Insel der Fall - sondern auch die am Felsrand sich ansammelnden wässerigen Niederschläge üben im Verein mit der Kraft des Frostes ihre unwiderstehliche Sprengwirkung aus. Das ist der Feind, der vornehmlich den Osten der Insel bedroht.

Also müßten wir heute die Insel begrüßen als eine todgeweihte Braut ? Müßten wir zusehen, wie uns der willkommene Gewinn wieder unter den Händen zerrinnt, unaufhaltsam, unrettbar, Jahr um Jahr?

Fast scheint es so! Aber die Politik kennt keine Sentimentalitäten, sie ist ein Handelsgeschäft und fragt nur danach, was ein Gegenstand jetzt und auf absehbare Zeit werth ist - auf tausend Jahre hinaus hat noch kein Staatsmann gerechnet. Was war denn vor tausend Jahren Geschichte? Wie wenig steht noch von dem, was damals groß und stark schien!

Heute ist Helgoland die Insel, welche die Einfahrt in die Elbe und damit den Nordostseekanal, d. h. die Verbindung zweier Meere, die Insel, welche die Weser und den einen unserer zwei großen Kriegshäfen, Wilhelmshaven, beherrscht. Heute ist es der Punkt, der in unserem Besitze uns tausendfältigen Nutzen, in feindlichem uns vielfachen Schaden, in neutralem uns allerlei Unbequemlichkeiten bringen kann. Sollten wir darauf verzichten, weil es diese Rolle in achthundert oder tausend Jahren vielleicht nicht mehr wird spielen können?

Noch ist auch die Frage nicht beantwortet, ob es den hochgesteigerten Mitteln der neuzeitlichen Ingenieurkunst nicht gelingen sollte, das Dasein des Meerfelsens oder wenigstens einzelner Theile dauernd zu sichern. Das Deutsche Reich hat ganz andere Ursache als England, diese Frage mit allem Ernste in die Hand zu nehmen. Dann mögen auch ängstliche Gemüther sich der Zuversicht hingeben, daß auch nach tausend Jahren noch das „Heilige Land" mit schwarz-weiß-rother Flagge den Seefahrer grüßen, daß der späteste Nachfahre noch an seinem Strande sich in der belebenden Woge erquicken und von seiner grünen Höhe das Auge auf dem wunderbaren Leuchten des ewigen Meeres ruhen lassen wird.




Schulschluß und Ferien.

Skizze aus dem Familienleben von Hans Arnold.
(Schluß.)

Der Dampfer "Germania" nahm unsere Gesellschaft freundlich auf. Wie es bescheidenen Ferienreisendeu geziemt, bestieg man die zweite Klasse und hatte sich eben daselbst häuslich einzurichten begonnen, als der erschreckende Zuruf: "Weg da es chimmt a Viech!" alles emporfahren ließ. Wirklich nahmen ein cholerisch aussehender Ochse nebst eitlem sanften Kalbe neben der Familie Langer Platz, entschieden in der Absicht, auch eine Vergnügungsreise zu machen, wenn auch vielleicht mehr zum Vergnügen des sie erwartenden Fleischers als zu ihrem eigenen!

Der Ochse brüllte die ganze Zeit tief und laut in langgezogenen Tönen, was recht nervenberuhigend wirkte und nur den einen Vortheil hatte, daß er das Wimmern des Jüngsten übertönte, welches sich wie alle kleinen Kinder auf Reisen unsäglich unglücklich fühlte und alle ihm sonst eigene philosophische Ruhe eingebüßt hatte.

Mit Einbruch der Dämmerung erreichte man den Ort, der für die nächsten vier bis fünf Wochen den Vorzug haben sollte, Langers zum Aufenthalt und zur Erholungsstätte zu dienen. Die unbesehen gemietete Wohnung erwiese sich trotz dieser Tollkühnheit als sehr hübsch und freundlich, und der erste Eindruck des Landaufenthalts war ein durchaus anmuthender.

Daß die Zimmerthüren unglaublich niedrig waren und die Decken nahe über den Häuptern der Einwohner schwebten, konnte unsere Hausfrau mit verhältnißmäßiger Gemütsruhe ertragen, da sie klein von Gestalt war, ihre Kinder ebenfalls noch nicht „das Maß“ hatten und man überdies mit Zuversicht darauf rechnete, die Ferien größtenteils unter Gottes freiem Himmel zu verleben.

So ergriff man denn ganz wohlgemut Besitz von dem neuen Quartier.

Paul und Karl erwiesen sich allerdings sofort als störend, indem sie schon in der Ankunftsminute die Mutter von beiden Seiten am Kleide zogen und flehten, heute abend noch im See baden zu dürfen, ein unsinniges Verlangen, welches mit der ihm gebührenden sittlichen Entrüstung zurückgewiesen wurde: „Ihr seid wohl verrückt?"

Nach diesem Bescheid langweilten sich beide Jungen sofort bis zur Verzweiflung und verlangten zu wissen, was sie dann überhaupt hier machen sollten, - eine Frage, die sich als Zukunftsschatten düster vor die Seele der Mutter stellte.

Die Köchin, die draußen in dem ihr geweihten Raum das Fläschchen für das Kleine zu wärmen hatte, tobte wie ein Ungewitter umher, denn die Bauart des Ofens war eine ihr fremde, und sie frug sich und alle andern beständig in den höchsten Tönen, wie man denn in diesem Ofen kochen sollte! Der Vorstellung, daß doch Generationen schon hier gekocht und geschmort hätten, setzte sie ein verächtlich ungläubiges Gesicht entgegen und war allem Anschein nach fest entschlossen, sich und der Hausfrau nach Kräften das Leben in der Schweiz zu verbittern. Jeder Hinweis auf die Schönheit der umgebenden Natur wurde von der Köchin mir empfindungsloser Gleichgültigkeit hingenommen, da ihr ein heimischer Biergarten mit dem dazu gehörigen Schlosser, Tischler oder Weichensteller viel anmuthender war als Alpen und See.

Die ersten Tage im neuen Aufenthaltsorte gingen äußerlich und innerlich ziemlich wolkenlos vorüber. Das Wetter war warm und klar und die Kinder konnten durch Spaziergänge und Spiele im [467] Freien leicht beschäftigt werden. Als drohender Feind des häuslichen Friedens stellte sich nur ein Einwohner des benachbarten Gasthofs zum „Goldenen Stern“ dar. Dieser Mann, ein wohlwollender Brite, der wegen seines behäbigen blühenden Aeußeren von den Jungen ungalant, aber bezeichnend „das Beefsteak“ genannt wurde, hatte ein Ruderboot auf die Dauer gepachtet und sehnte sich beständig nach einem Opfer, das sich von ihm in den See hinaus rudern ließe.

Nachdem Karl und Paul dies einmal erfahren hatten - den Mädchen war Rudern in handelnder und leidender Form als etwas Unweibliches ein für allemal streng untersagt worden! - strebten ihre Seelen nur noch nach diesem lebensgefährlichen Vergnügen und sie schwänzelten und wedelten so lange mit sprechenden Blicken um den seefahrenden Gentleman herum, bis dieser ihre stumme Bitte verstand und fortan täglich mehrmals durch die Frage. „Uollen Ihre Knaben mit mir wudern?" die Mutter in die unangenehmste Lage brachte, die wie Scylla und Charybdis keinen Ausweg zuließ!

Sagte sie ja, so beraubte sie sich auf zwei Stunden jedes Seelenfriedens, da sie während dieser Zeit ihre wilden, unbändigen Söhne unter der Obhut eines ganz Fremden auf den Wogen schaukelnd wußte und bei jedem Wölkchen am Himmel schon innerlich wiederhalte:

„Es rast der See und will sein Opfer haben!"

Sagte sie nein, so saßen Paul und Karl als gemißhandeltes Eigentum einer überängstlichen Mutter zornig und mürrisch in der Stube, wiesen jede andere vorgeschlagene Zerstreuung mit dem überraschenden Vergleich zurück, sie sei „langweilig wie die Pest!" - und verwünschten die Ferien, die Schweiz und die ganze Welt in längeren Selbstgesprächen.

Frau Langer zählte demgemäß schon die Tage, bis das "Beefsteak" die heimischen Gestade wieder aufsuchen würde.

Die Mädchen waren leichter zu beschäftigen. Sie errichteten Kaufläden im Garten und hatten überdies eine tief zu beklagende junge Katze entdeckt, mit der sie Zeit und Weile vergaßen und die sie in liebendem Wettstreit um ihren Besitz schon zu über zwei Drittel ihrer natürlichen Länge ausgezerrt hatten.

Soweit ging alles gut und schön - da überzog sich eines Morgens der Himmel und traf die unverkennbarsten Anstalten, sich auf ein dauerhaftes Regenwetter einzurichten. Die Berge verschwanden langsam, aber sicher hinter dicken Nebelschleiern, der Dorfweg weichte zu einer braunen, zähen Crême auf, die in liebender Anhänglichkeit sich jeder Schuhsohle anheftete, und die einzige Staffage der Landschaft waren Regenschirme.

Nun begann für die Mutter eine Zeit, die wahrlich an Schrecken nichts zu wünschen übrig ließ! Ihre Unterkunft bestand aus zwei Schlafzimmern, einem Wohnzimmer und einem Badenraum. In einem Schlafzimmer schlief zwei Drittel des Tages das kleine Kind, welches bei jedem lauten Geräusch jammernd emporzufahren und dann ungefähr anderthalb Stunden zu schreien pflegte. Die vier großen Kinder mußten daher leise und doch heiter beschäftigt werden, eine Aufgabe, die für die Hausfrau recht erholend und stärkend zu nennen war.

Die beiden ersten Tage hatten die Kinder ohne Pause den Regen beobachtet und mit der ganz unbegründeten Behauptung. „Es läßt nach!" sich in jedem unbewachten Augenblick ins Freie begeben, Regenfußtapfen und Erdspuren mit ins Haus bringend, welche die Köchin, drohend mit einem Scheuerlumpen hinter ihnen herstürzend, wieder zu verwischen bestrebt war.

Als aber das Wetter mit vollster Entschiedenheit auf seinem Starrsinn beharrte und die Kinder sich „geben" mußten, traten wahrhaft unerträgliche Zustände ein. Eine furchtbare Episode bildete ein altes, tief verstimmtes Pianino, auf dem einen ganzen Tag über abwechselnd eins der Vier in Tönen jubelte und klagte - in angenehmer Abstufung von dem Heraussuchen des unsterblichen „Kommt ein Vogel geflogen" bis zum fröhlichen Aufklatschen mit beiden Händen zugleich, oder dem melodischen Hinaufgleiten eines Fingers vom tiefsten Baßton bis zum quiekenden, klappernden Sopran der höchsten Raten. Das war ganz wunderhübsch und, wie man sich denken kann, für die Mutter eine wahre Erquickung, um so mehr, da sie beständig durch: „Mutter, hör' doch!" zu ungeteilter Aufmerksamkeit und Hingabe an den Kunstgenuß ermuntert wurde.

Elli und Anna hatten zum Ueberfluß in diesen schrecklichen Tagen nach eine Freundin, welche zuerst unter dem allgemeinen Namen „die Polin" gegangen war und den unerklärten Zauber alles Ausländischen auf die Kindergemüther ausgeübt hatte. Beide Mädchen verlangten tagelang mit stürmischer Leidenschaft nach der "Polin", die nicht ordentlich Deutsch konnte und einen unaussprechlich schönen Namen hatte.

Durch diplomatische Kunstgriffe und Bemühungen gelang es endlich der Mutter, den Umgang mit der Polin anzubahnen, die sich leider aber als ein „Blender“ erwies und nach wenigen Tagen von den Freundinnen ebenso heftig verabscheut als vorher geliebt wurde.

Die Polin hatte die Eigentümlichkeit, alles übelzunehmen und vom gemeinsamen Spiele etwa jede Viertelstunde weinend wegzurennen - leider aber immer nach zehn Minuten wiederzukommen und großmüthig ihre Verzeihung zu verkünden. Die Polenmutter, welche glückselig sein mochte, in diesen Regentagen eine Zuflucht für ihre beschäftigungslose Sascha zu finden, lagerte diese gänzlich auf Langers ab, so daß unsere arme Hausfrau die Travestie der Schillerschen Glocke ungefähr auf sich anwenden konnte:

„Sie zählt die Häupter ihrer Lieben, und sieh, es sind statt sechse - sieben!"

Während die Mutter entsagungsvoll am Fenster saß, Strümpfe stopfte, in den Regen sah und sich fragte, wie sie so wahnwitzig habe handeln können, ihre bequeme angenehme Stadtwohnung für schweres Geld mit diesem traurigen Aufenthalt zu vertauschen, wurde sie in ihrem Nachdenken beständig durch Meldungen der jungen Damen unterbrachen: "Die Sascha kratzt mich, die Sascha will nach Hause gehen, die Sascha läßt mich nicht mitspielen," wobei Frau Langer nach den ungerechten Forderungen der Gastlichkeit immer nach der entsetzlichen Polin zum Schein Recht geben mußte, während ihre ganze Seele danach lechzte, sie durch ein paar Ohrfeigen unheilbar in ihrem Nationalstolz zu verwunden und auf Nimmerwiederkehr nach Hause zu jagen.

Die Jungen fühlten sich auch ziemlich unglücklich. Zuerst hatten sie im Besitz zweier Gasballons, einem Abschiedsgeschenke des „Beefsteaks", die Ungunst des Wetters vergessen und die bunten Bälle beständig zum Fenster hinaussteigen lassen. Da durchschnitt plötzlich ein Jammergeschrei Karls die Lüfte: der Faden, der seinen blauen Ballon hielt, war der leitenden Hand entglitten, und der Treulose stieg hoch empor und entschwand den Blicken seines heulenden Besitzers, wahrscheinlich des Landaufenthaltes überdrüssig, was ihm Frau Langer von ganzem Herzen nachfühlen kannte.

Karls Thränen vermischten sich infolge dieses betrübenden Ereignisses zwei Tage lang mit dem Regen draußen, und er saß, mit bis zur Unkenntlichkeit verschwollenen Augen, am Fenster und sah dem entflohenen Juwel nach, als könnten seine Blicke es zurückholen. Paul raste währenddem in der etwas schadenfrohen Empfindung „ich habe meinen noch!" mit seinem roten Ballon durch die Zimmer und hatte die schöne Gewißheit, daß die niedrige Stubendecke etwaigen Fluggelüsten desselben erfolgreich „Halt!" gebieten würde.

Aber noch am zweiten Tage fing der rothe Ballon auf räthselhafte Weise an, sich zu verkleinern, und schrumpfte vor den Augen des entsetzten Paul immer mehr zusammen, bis er schließlich aus seiner strahlenden, ausgeblähten Herrlichkeit sich in ein schwarzrotes, faltiges Beutelchen verwandelt hatte, dessen altersschwaches Aussehen jeden Versuch, es zum Fliegen zu ermuntern, als unvernünftige Grausamkeit erscheinen. ließ.

Wohl gelang es der Mutter, mit Ausbietung aller Lungenkräfte, dem zusammengeschrumpften Ballon wieder etwas von seiner früheren Fülle zu geben, aber seine Flugfähigkeit war dahin und blieb es, trotzdem die Mutter mit rührender Geduld sich immer neuen Wiederherstellungsversuchen unterzog.

Dies bildete ziemlich die einzige Zerstreuung und Abwechselung für die Hausfrau während ihres Sommeraufenthaltes, indessen der Gatte mit leichtem Gepäck und frohem Sinn eine Streiftour durch die Welt unternahm und jubelnde Karten auf fröhlicher Reisegesellschaft mit herzlichem Gruß an Frau und Kind entsendete.

Man wird es unter diesen Umständen der Hausfrau nicht allzusehr verargen dürfen, wenn sie, als 14 Tage in dieser Art herumgegangen waren, sich mit allen Fibern ihrer Seele nach einem Vorwand zu sehnen begann, um in die Kultur, in die Stadt, mit einem Wort in all das zurückzukehren, was sie so freudig und erwartungsvoll verlassen hatte. Nach drei Wochen an dem regengepeitschten See aufzuhalten, schielt ihr fast [468] unmöglich – die Tage würden immer kürzer, die melancholischen Abende, an denen die Kinder nicht zu Bett gehen wollten, immer länger – und wenn sich die Doktorin nicht geschämt hätte, so wäre sie lieber heut als morgen in die Heimath zurückgekehrt.

Nachdem man gestern schon zu der tödlichen Thätigkeit der Schreibspiele gegriffen und Pauls Ordinarius es sich zehnmal hatte gefallen lassen müssen, daß sein Steckbrief mit „Nase blau, Hände gelb, besondere Kennzeichen: wacklig“ und ähnlichen geistreichen Bemerkungen unter donnerndem Beifall der jeweiligen Verfasser ausgestellt worden war, hatte die thatenlose Ungezogenheit den höchsten Grad erreicht.

Erst prügelten und zanken sich alle Kinder ohne jeden ersichtlichen Grund, und dann verfielen sie auf den nicht minder unerfreulichen Zeitvertreib, das kleinste Geschwisterchen so lange zu küssen, bis dieses in blinder Wuth um sich schlug und sich jedem, der ihm mit zärtlichen Absichten nahte, in Haare und Augen einkrallte – ein unfreundliches Benehmen, zu dem die Mutter nach herzlos bemerkte, „sie könnte es dem Kinde keinen Augenblick verdenken!“

Frau Langer griff schließlich zu dem Auskunftsmittel, daß sie ihre sämmtlichen großen Kinder beiderlei Geschlechts unerbittlich mit dem Ausbogen von Unterröckchen für das Jüngste beschäftigte, ein Zweig der Thätigkeit, der die Jungen natürlich in ihren eignen Augen aufs tiefste herabwürdigte und von ihnen dementsprechend ausgeübt wurde.

Während Karl seine Arbeit nicht zu deren Vortheil mit Wuththränen befeuchtete, nähte Paul buchstäblich mit geballten Fäusten und fädelte bei jedem zweiten Stich die Nadel aus, in den Pausen furchtbare Drohungen gegen alle ausstoßend, die es je weiter sagen würden, daß er genäht hätte; denn ein Tertianer ließe es sich doch zehnmal lieber nachsagen, daß er Straßenraub getrieben, als daß er ein Unterröckchen ausgebogt hätte!

Die Drohung: „Du wirst gleich wieder nähen!“ blieb infolge dieses Nachmittags noch lange von unschätzbarem pädagogischen Werth für Karls moralische Ausbildung.

Die Spannung unter den Familiengliedern hatte unter diesen Verhältnissen den höchsten möglichen Grad erreicht; und wie es zu geschehen pflegt, so sollte auch hier die mit Zündstoff angefüllte häusliche Atmosphäre plötzlich und verderblich sich entladen.

Das Wetter war immer trostloser geworden, der Barometer sank so tief, daß man gar nicht begriff, wie er es anfing, nicht schon unten zu seinem Gehäuse herauszufallen, und die Kinder wurden immer ungebärdiger, je weniger ihre Lebensgeister sich in freier Lust austoben konnten. –

Das Haus, in dem unsere Ferienreisenden wohnten, diente in seinem Erdgeschoß als Telegraphenbureau, ein Umstand, der glühendes Interesse bei den Kindern erregte nebst dem sehnlichen Wunsch, einmal auch im Telegraphiren sich versuchen zu dürfen.

Das Heiligthum war ihnen aber streng verschlossen, und der Beamte, der das geheimnißvolle Ticken des Apparates zu deuten und zu leiten hatte, blieb immer unsichtbar. Er verrieth seine Anwesenheit nur, indem er bei zu lärmenden Spielen der Kinder laut und zornig gegen seine Zimmerdecke pochte.

Dieser Vorgang übte auf Elli und Anna ungefähr die Wirkung aus, die ein herabstoßender Weih auf eine Hühnerschar hervorzubringen pflegt – sie rannten ängstlich kreischend in eine Ecke und saßen dann gewöhnlich ein paar Stunden still verschüchtert da. Die Jungen dagegen trieben bald einen gewissen Sport damit, den Telegraphenmann so lange zu ärgern, bis er klopfte, ein artiges Spiel, welches seinen Reiz auch durch die Wiederholung nicht verlor.

Ein Sonntag brach für die schwergeprüfte Familie herein, der alle seine Vorgänger durch Regen und Wind beschämte. Eiskalte Luftströmungen zogen durch das ganze Haus, und die beherrschende Empfindung in dieser Sommerfrische war heut nur die Sehnsucht nach einem steifen Grog und einem Fußsack.

Das Kleine hatte sich erkältet und nieste ohne Aufhören, was es wie alle keinen Kinder jedesmal als persönliche Beleidigung auffaßte und worüber es bitterlich weinte. Elli hatte eine Fensterscheibe eingeschlagen und konnte sich, in einer Anwandlung von Gefühlsduselei, nicht über die Vollständigkeit der mütterlichen Verzeihung beruhigen. Mit marternder, zäher Ausdauer frug sie ohne Aufhören: „Mutter, bist Du auch wirklich wieder gut?“ eine Art von Gewissenhaftigkeit, über welche die Mutter viel ärgerlicher wurde als über die Fensterscheibe, und welche ihr zuletzt die Versichernug: „Ja, ich bin gut!“ in einem Tone entlockte, der besser zu „halt’ den Mund!“ gepaßt hätte. – Anna hatte sich in den Finger geschnitten und schrie nach Heftpflaster und alter Leinwand, die Jungen besaßen ein Blaserohr – woher, wußte kein Mensch! – und schossen mit Thonkugeln auf lebende und todte Gegenstände. Zum Ueberfluß kam die ewig beleidigte Sascha schon nach dem ersten Frühstück und wollte ein Kinderbuch wieder haben, das sie ihrer Freundin geborgt hatte, und das nun in allen Winkeln mit beständig offen gelassenen Thüren gesucht wurde – kurz, es war ein recht behaglicher Zustand.

Indeß die Mutter mit dem Fuß den Kinderwagen hin und her schob und mit der Hand Annas Finger kunstgerecht verband, ertönte plötzlich aus der anderen Stube ein lautes Geschrei, und ehe die Mutter noch Zeit fand, aufzuspringen und sich über die Ursache des Lärms aufzuklären, wurde die Thür stürmisch aufgerissen, Sascha stürzte im Sonntagskleide, in Thränen aufgelöst, ins Zimmer und mit dem zornigen Ruf: „Ich sag’s meiner Mama!“ zur andern Thür wieder hinaus, während plötzliche Todtenstille im Nebengemach auf düstere, dramatische Vorgänge zu deuten schien.

Ein vorsichtiges und leises Thürenklappen belehrte die Mutter, daß ihre Herren Söhne sich durch den zweiten Ausgang entfernt hatten, folglich wohl Ursache haben mochten, den mütterlichen Blick zu scheuen. Karl und Paul waren sich wirklich böser Thaten bewußt, indem sie die Polin mit einer Thonkugel an der linken Hand verwundet hatten, und der Androhung eingedenk, daß beim ersten Schaden am lebenden Inventar ihnen das Blaserohr weggenommen werden sollte, entfernten sie sich nun geräuschlos, mit den mütterlichen Zorn erst kalt werden zu lassen. Thatendurstig, wie die Langeweile so oft werden läßt, durchspähten sie das Haus und machten sich durch glückselige Rippenstöße und Mienenspiele auf die herrliche Gelegenheit zum Anstiften von Dummheiten aufmerksam, die sich ihnen darbot.

Der Telegraphenmann war einem sonntäglichen Vergnügen nachgegangen und hatte in unbegreiflichem Leichtsinn den Schlüssel in der Thür zu seinem Allerheiligsten stecken lassen! Die beiden Bruder näherten sich dem Gemach, zögernd wie Blaubarts Gemahlin – aber wie bei dieser, so siegte auch hier die Neugier – und mit der gegenseitigen Versicherung: „Wir wollen's uns bloß mal ansehn!“ verschwanden Karl und Paul in dem Telegraphenbureau und wurden nicht mehr gesehen!

Die Mutter, welche nie Ruhe hatte, wenn sie die Jungen sah, und noch weit weniger, wenn sie sie nicht sah, horchte und spähte indeß besorgt zum Fenster hinaus. Eine halbe Stunde nach der andern verging, ohne daß die sonst so geräuschvollen Brüder ihre Anwesenheit irgendwie kundgegeben hätten, und niemand wollte sie gesehen haben.

Alle gewöhnlichen Zufluchtsorte waren schon durchsucht worden, auch „der Hermann“, ein befreundeter Eingeborener, der immer einen Tag als „ganz nett“ besucht, den nächsten als „furchtbar frech“ in Acht und Bann gethan war, wußte nichts vom Verbleib der beiden Wackern zu berichten.

Jedes vorbeifahrende Boot verursachte der Mutter Herzklopfen in dem Gedanken, ihre Söhne könnten eine Lustfahrt auf eigene Faust unternommen haben! Elli und Anna durchrannten unter langgezogenen Rufen nach den Brüdern den ganzen Ort – aber alles war und blieb vergeblich.

Als nun gar die Vesperstunde hereinbrach, welche sich sollst als das unfehlbarste Mittel erwies, die Söhne des Hauses unter lautem Geschrei nach „Schnitten“ aus den entferntesten Winkeln der Erde herbeizulocken, und sich trotzdem nichts sehen und hören ließ, begann sich die Mutter einer gelinden Verzweiflung zu überlassen, die in einem Thränenstrom und halblauten Verwünschungen gegen jeden Landaufenthalt und diesen im ganz Besondern Ausdruck suchte und fand.

Während so die Stimmung drinnen dem trüben Wetter draußen glich, Elli und Anna sich um die Mutter mit den reizenden Trostgründen beschäftigten: „Vielleicht sind die Jungen ins Wasser gefallen! – vielleicht hat sie ein Zigeuner gestohlen!“ und sogar das kleine Geschwisterchen, vom allgemeinen Jammer verschüchtert, stumm und betrübt am Daumen lutschte, öffnete sich plötzlich die Thür, und mit dem eigentümlichen Bewillkommnungsgruß „au – zum Donnerwetter!“ trat der Vater ins Zimmer.

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Die Nordspitze von Helgoland.
Aus „Unser Vaterland. Küstenfahrten an der Nord- und Ostsee.“ Verlag von Gebrüder Kröner in Stuttgart.

[470] Er hatte es sich allerliebst gedacht, ganz unerwartet bei den Seinigen einzutreffen, aber wie die meisten Ueberraschungen, so schien auch diese unter einem unglücklichen Stern geboren. Zunächst wurde der Vater selbst überrascht, und zwar, indem er beim Betreten der Schwelle den Kopf mit großer Heftigkeit gegen die für so hochgewachsene Leute nicht berechnete Thür stieß, was den obigen Ausruf und eine schon etwas herabgeminderte Fröhlichkeit zur Folge hatte. Sodann fand er seine Lieben erstens nicht vollzählig und zweitens in Thränen schwimmend vor und empfing den stets sehr widerlichen Eindruck, daß er zu ungelegenster Stunde gekommen sei.

Die allerdings etwas unüberlegte Frage, welche die Mutter an den vor fünf Minuten mit dem Dampfer angekommenen Hausherrn richtete – wie sie sie im Augenblick an jeden gerichtet hätte! – „hast Du die Jungen nicht gesehen?“ hatte bei dem Doktor die männlich unwirsche Antwort zur Folge: „Sprich doch nicht solchen Unsinn, mein Kind! Woher soll ich denn die gesehen haben?“ wodurch sich der Augenblick des Wiedersehens recht unfreundlich anließ.

Der Vater sah sich nun aus seiner erwarteten Gestalt als hocherfreuende Ueberraschung und Hauptperson in die Nebenrolle eines Suchenden gedrängt und begann, mit einigem Knurren das Haus ebenfalls nach Paul und Karl zu durchstöbern.

Ein vorsichtig polterndes Geräusch aus der Stube im Erdgeschoß, welches bei der Frage des Doktors „wer wohnt denn da?“ sofort in verdächtiger Weise verstummte, veranlaßte den Frager zu einem sofortigen kräftigen Donner an die von innen verriegelte Thür mit dem den Jungen wohl bekannten Zuruf: „Wollt Ihr wohl sofort aufmachen?“

Daraufhin näherten sich äußerst zögernde Schritte, der Riegel wurde langsam zurückgeschoben, und den eindringenden Eltern bot sich der entsetzensvolle Anblick, wie Karl eben mit seinem Alpstock in dem kunstvollen Getriebe des telegraphischen Apparats bohrte, um ein von ihm ersichtlich angerichtetes Unheil auf diese wunderbare Art wieder gutzumachen.

Beim Anblick des Vaters schien erst die ganze Größe des begangenen Verbrechens im Bewußtsein der Brüder aufzudämmern, und sie brachen in ein zweistimmiges, wehklagendes Geheul aus. Karl flüchtete mit seinem Alpstock, der dem Vater im Augenblick ganz handgerecht erschien, in die äußerste Ecke des Gemaches, während Paul kurz entschlossen das Fenster aufriß, hinaussprang und durch ein klatschendes Geräusch den Ohren der Zurückbleibenden die angenehme Thatsache vermittelte, daß er im Sonntagsanzug auf die aufgeweichte Gartenerde gefallen sei. In einem dieser Voraussetzung entsprechenden Zustande wurde er denn auch, nachdem Karl bereits den gerechten Zorn seines natürlichen Vorgesetzten fühlbar geschmeckt hatte, im Garten aufgefunden, und zwar durch den Hausknecht des Gasthofs, in dem Sascha wohnte. Dieser Sendbote brachte einen Brief an Frau Langer und betraute Paul mit einem boshaften „na, freu Dich nur!“ mit der Abgabe desselben. Paul betrat denn nun zitternd, seine Rücken- und Seitenansicht vorsichtig verbergend, das Wohnzimmer. Die Mutter betrachtete ihn durchbohrend und richtete, ohne seinem stumm hingehaltenen Empfehlungsschreiben vorläufig irgend welche Beachtung zu schenken, die peinliche Aufforderung an ihn: „Dreh’ Dich doch einmal herum!“

Paul sah sich solchergestalt in der schmerzlichen Lage, seine beschädigte Toilette einer unnachsichtlichen Kritik auszusetzen, die denn auch in einer das Mutterherz wesentlich erleichternden Tracht Prügel kräftigen Ausdruck fand. Während nun in jeder Ecke des Zimmers ein Verbrecher schluchzte und der Vater beständig das schwierige Exempel im Kopf auszurechnen suchte, was die Wiederherstellung eines Telegraphenapparates etwa kosten könnte, öffnete die Mutter den Brief, den man über dem Strafvollzug fast vergessen hätte.

Das Schreiben rührte von Saschas Mutter her und enthielt den unwillkommenen und überraschenden Satz: „Ihr neunjähriger Sohn hat meine Tochter angeschossen! Ich werde die Polizei benachrichtigen!“ Der Vater sank wie ein geknicktes Rohr auf einen Stuhl.

„Ihr scheint ja hier recht artig geworden zu sein!“ bemerkte er mit schneidender Ironie.

In der folgenden peinlichen Pause warf Karl noch das letzte Fünkchen in die explosionsbereite Atmosphäre, indem er, als einzige Erwiderung und Entschuldigung auf die gegen ihn geschleuderte Anklage, es sehr übelnahm, daß er in dem Brief als „neunjährig“ bezeichnet war, und wüthend erklärte, er wäre zehn Jahr!

Daß nach diesem Brief und allem, was dazu gehörte und vorangegangen sein mußte, der Vater das segensreiche Geschäft des Durchprügelns wieder aufnahm und noch eine ganze Weile fortsetzte, wird jeder Freund der erziehungsbedürftigen Jugend nur verstehen und billigen.

Nach erfolgter Abstrafung wurden Karl und Paul erbarmungslos zu Bett gejagt; Elli und Anna aber, die sich tugendhaft mit auffälliger Vortrefflichkeit brüsteten und kleine Seitenbemerkungen über die unartigen Brüder machten, mußten vom Vater die niederschlagende Erkundigung vernehmen: „Ihr wollt wohl auch was haben?“ – ein Anerbieten, welches trotz seiner allgemein gehaltenen Form doch verständlich schien.

Zornig und verstimmt warf sich der Hausherr in die steinharte Sofaecke.

„Das fängt ja hübsch an!“ bemerkte er bitter. „Dazu bin ich zwei Tage früher vom Berner Oberland weggegangen! Sei jetzt wenigstens so gut, Auguste, und sorge für ein ordentliches Essen – ich bin seit heute morgen unterwegs und habe noch kein Mittagsbrot gehabt!“

Diese an sich ja durchaus berechtigte Forderung gab der armen Auguste einen Stich ins Herz! Man urtheile! Es war Sonntag nachmittags – noch dazu der Sonntag“ der Köchin, die, aufgeputzt wie ein Pfingst-röslein, unter dem Regenschirm und Schutz des Hausknechts vom „Goldenen Stern“ vor zwei Stunden abgewandert war – und der Fleischer hatte nicht „geschlachtet“, was dem betreffenden Kalbe gewiß sehr angenehm, für die augenblicklichen wirthschaftlichen Verhältnisse aber recht unvortheilhaft sich erwies.

Die Mutter sah sich demgemäß genöthigt, erröthend einzugestehen, daß sie kein Fleisch erlangen könne, und der ob dieser Enttäuschung fast weinende Vater mußte eine Stunde später sich an Eierkuchen, Pellkartoffeln und Butterbrot laben – eine Entbehrung, die ihn zu der beißenden Bemerkung veranlaßte, daß er sich „satt“ allerdings anders dächte.

Das Ergebniß aller dieser Erlebnisse zog der Doktor, indem er unnachsichtlich erklärte, er reise morgen wieder ab, und die Seinen hätten ihm in längstens drei Tagen zu folgen – ein Bescheid, den die Kinder, trotz aller ausgestandenen Langeweile, schluchzend, die Mutter aber mit innerlicher Erleichterung aufnahm.

Eine leise Hoffnung, daß der Vater sich – ein schon öfter dagewesener Vorgang! – seinen Aerger ausschlafen würde, trog diesmal!

Der Doktor, dem man bei seiner unerwarteten Ankunft die einzige lange Bettstelle des Hauses zurecht gemacht hatte, war auf eine Matratze von eigenthümlichem Bau gerathen, die, an beiden Seiten abfallend, sich in der Mitte zu einem festen, runden Hügel aufbeulte, so daß der ermüdete Hausvater durchschnittlich alle zehn Minuten nach rechts oder links herunterrollte – ein Zustand, dem selbst der ihn naturgemäß begleitende Traum von einer Rigibesteigung keinen besonderen Reiz zu verleihen vermochte.

Wie gerädert stand der Doktor am nächsten Morgen auf. Ein Hausherr, der nicht geschlafen hat, ist immer etwas Unangenehmes und wird von den Seinen nach dem alt bewährten Grundsatz behandelt: „Und im Kreise scheu umgeht er den Leu“. Nach allem Vorhergegangenen aber war der Vater heute ein geradezu furchtbares Naturschauspiel, und es hätte der ortsbehördlichen Beschwerde wegen des zerstörten Telegraphenapparates, dessen Herstellung die Reisekasse gänzlich erschöpfte, nicht bedurft, um tobenden Zorn zu entfesseln. Da der Doktor in dieser nicht ungerechtfertigten Empfindung nun aufgeregt und scheltend durch alle Zimmer jagte, dabei aber immer wieder die niedrige Thür vergaß und sich noch dreimal furchtbar an den Kopf stieß, sich demgemäß noch immer mehr in Wuth steigerte, so war es schließlich bei aller dem Familienoberhaupt gezollten und gebührenden Liebe und Hochachtung ein erleichterndes Gefühl für seine Frau, als der keuchende Dampfer ihn davon trug. Der Trennungsschmerz wurde ja durch die Gewißheit gemildert, daß man in einigen Tagen wieder beieinander sein werde.

Und so wurde es!

Mit kaum verhehlter Freude ob des unerwarteten Abschlusses der Sommerfrische packte die Mutter den Frachtkorb zum zweiten [471] Male, und selbst die Thatsache, daß die boshafte Sonne am Abfahrtsmorgen hell, heiß und strahlend über dem wundervollen See funkelte, vermochte kein Reuegefühl über die beschleunigte Heimkehr in die Stadt bei unserer Hausfrau hervorzurufen. Die Kinder, wie Kinder sind, waren auch getröstet und freuten sich auf die heimischen Spielsachen – die Köchin auf ihren Schlosser – und alles war befriedigt.

Als das Ehepaar am ersten Abend nach der Heimkehr wieder vereinigt in seinem behaglichen Wohnzimmer und bei dem gemüthlichen, wohlbekannten Theegeräth saß, rieb sich der Vater vergnügt die Hände: „Was meinst Du, Alte,“ bemerke er, „Ost, Nord, Süd, West – daheim ist das Best! Nicht wahr?“

„Ja, ja!“ stimmte seine Frau bei und fügte dann so recht aus tiefstem Herzen hinzu: „Ach, wie freue ich mich auf die nächste Sommerreise! Da reise ich alle Morgen aus der Schlafstube in die Wohnstube und abends wieder zurück! Das ist die beste und billigste Ferienerholung für eine Mutter von mehreren Kindern!"

„Nun, das kannst Du ja haben!“ sagte der Doktor großmüthig.




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Ferdinand Raimund.

Es ist eine merkwürdige Erscheinung, daß unter allgemeiner Zustimmung in einer Großstadt ein Denkmal für einen heimischen Dramatiker errichtet wird, den man fast gar nicht mehr spielt und der nur noch die Erinnerung an eine theatralische Glanzzeit bedeutet. Diese Erscheinung tritt in der Grundsteinlegung zum Denkmale Ferdinand Raimunds zu Tage, die am 1. Juni d. J., dem hundertsten Geburtstage des Dichters, zu Wien stattfand. Zwar fehlen noch die nöthigen Geldmittel, ein Wettbewerb der Bildhauer steht erst bevor, und so bedeutet jene Grundsteinlegung nur eine sinnbildliche Handlung: Raimund ergreift Besitz von seinem Platze vor dem „Deutschen Volkstheater“. Aber schon darin liegt eine schwerwiegende Bedeutung, denn es wird anerkannt, daß Raimund eine der stolzen Säulen des Wiener Theaterwesens war, daß er es verdient hat, eine Ehrung in Stein und Erz zu erfahren, und daß das jetzt lebende Geschlecht ihm tief verpflichtet ist für sein Schaffen und Wirken als Volksdichter. Niemand bestreitet Raimunds Bedeutung als Reformator unserer heimischen Bühne, aber man feiert ihn nur wie einen Begriff, nicht wie einen leibhaftigen Dramatiker, der seine Stücke für das wirkliche Theater geschrieben hat.

Hie und da bringt eine Wiener Bühne eine von Raimunds dramatischen Arbeiten, und bei Gelegenheit der Grundsteinlegung ist die eine und die andere derselben vor die Rampen gekommen; aber ein lebendiges Glied in der Bethätigung unserer Schauspielhäuser ist Raimund schon längst nicht – unsere Schauspieler wissen nicht mehr recht, wie man Raimund darstellt, wir anderen kaum, wie man ihn genießt. Ein umgestalteter Geschmack, eine neue Zeit mit neuem Streben und neuen Forderungen, sie haben uns ihm entfremdet, und wir blicken zu ihm empor wie zu einem ehrwürdigen Ahnherrn, dessen hoher Werth uns nicht darüber zu täuschen vermag, daß er eine andere Sprache redet als wir.

Trotz alledem ist es eine ehrliche, aufrichtige Pietät, von welcher die Wiener gegen Raimund erfüllt sind, eine Pietät, zu der sie vollauf Grund und Ursache haben, weil Raimund ein für allemal siegreich festgestellt hat, welch reiche poetische Quellen aus dem Wesen des Oesterreichers sich hervorlocken lassen, weil er den Mitlebenden wie den Enkeln einen Schacht aufgedeckt hat, in welchem Edelgestein von werthvollster Art und in kaum übersehbarer Menge eingebettet liegt. Und nicht nur Dankbarkeit stimmt uns anerkennungsvoll für Raimunds Andenken, sondern auch die wehmüthig bedauernde Erkenntniß , daß die Nachfolger Raimunds nicht in wünschenswerther Weise an ihn angeknüpft haben, daß man so lange nur seine Schwächen ins Auge faßte, bis man verlernt hatte, sich für seine hellen Vorzüge zu erwärmen. Heute hat man sich eines besseren besonnen, heute gilt auf theatralischem wie auf jedem anderen künstlerischen Gebiete der Grundsatz, aus den verschiedensten Stilgattungen das Vorzüglichste herauszusuchen und zu verwenden. Wir finden in manchen Seiten von Raimunds Dichtung ein nachahmenswertes Muster, aber da Raimund nicht eigentlich Schule gemacht hat und seine Stücke gerade in ihren bezeichnendsten Wendungen einem überwundenen Geschmacke entsprechen, ist der blutwarme Zusammenhang des bedeutenden Dichters mit der Gegenwart unserer Bühne so ziemlich verloren gegangen.

Raimund fühlte noch bei Lebzeiten, daß er bei Seite gedrängt wurde. Johann Nestroy (1802 bis 1862), eine Art von örtlichem Aristophanes, ein Bühnenschriftsteller und Schauspieler von bitterscharfer Art, voll herben Spottes, voll rücksichtslosen Hohnes, geistreich bis in die Fingerspitzen, aber ein arger Cyniker, dem nichts geheiligt war, eroberte rasch die Gunst der Wiener, die bei aller Gutmüthigkeit immer einen ausgesprochenen Hang für Ironie, ja für Selbstironie bewiesen haben. Als Raimund gegen Ende seines Lebens von einem Fachgenossen befragt wurde, warum er kein neues Stück für das Leopoldstädter Theater schreibe, gab er zur Antwort: „’s wär’ schad’, wenn ich noch etwas schreiben möchte. Ich dringe nicht mehr durch; jetzt ist der Nestroy obenan! Ich hab’ seine letzten Stücke gesehen. Ja, ’s ist wahr, so viel Spaß hab ich nicht wie er, aber – ich möcht’ doch solche Stücke nicht geschrieben haben! Aber sie machen jetzt Furore, meine Stücke haben neben ihnen keinen Platz mehr, und ich selber – ich auch nicht neben dem Nestroy. Na, machen wir halt Platz!“

Grellere Gegensätze als Raimund und Nestroy lassen sich allerdings kaum erträumen.

Jener beschwört Schutzgeister, die im gegebenen Augenblicke den Menschen retten, befreien, erlösen, die seine Geschicke lenken und wenden – Nestroy glaubt höchstens an die bösen Geister, die in des Erdensohnes Brust wohnen, er schlägt aller Schwärmerei, aller Begeisterung ein Schnippchen; für die Ideale hat er ein hämisches Lächeln, man hört eine scharfe Geißel durch die Luft sausen, wenn er sich vernehmen läßt: „Ich soll etwas für die Nachwelt thun? Was hat die Nachwelt für mich gethan?“

Die Kränkung darüber, daß er sichtlich an Geltung verlor, soll mit dazu beigetragen haben, Raimund in den Tod zu treiben. Bekanntlich hat Raimund in der Blüthe des Mannesalters als Selbstmörder geendet.

Geboren am 1. Juni 1790 in Wien, starb er am 5. September 1836 in Pottenstein, einem romantisch gelegenen Dorfe Niederösterreichs. Nachdem er genöthigt worden war, die Lehrlingszeit als Zuckerbäcker durchzumachen, konnte er seiner Lust am Theater nicht länger widerstehen und ging mit achtzehn Jahren frohgemuth unter die wandernden Komödianten. Anfänglich errang er keine Erfolge; ein Sprachfehler, den er nach und nach durch eiserne Beharrlichkeit überwand, bereitete ihm erhebliche Schwierigkeiten; auch wurde er nicht richtig beschäftigt, sondern in Rollenfächer hineingezwängt, für welche er nicht geeignet war. Von 1817 an gehörte er der Leopoldstädter Bühne in Wien an, und hier fand er Gelegenheit, als Charakterkomiker Triumphe zu feiern. Er glänzte in jener halb rührenden, halb komischen Art, welche sich zu einer Wiener Eigenthümlichkeit herausgebildet hat und noch jetzt von einigen Künstlern gepflegt wird. Der große Tragöde Heinrich Anschütz erzählt in seinen Lebenserinnerungen:

„Ich verdanke Raimund eine Reihe unvergeßlicher Erinnerungen. Raimund war der wahre Humorist. Ueber ihn konnte man in demselben Athemzuge lachen und weinen. Noch erinnere ich mich, wie ich mit Ludwig Devrient einer Vorstellung von ‚Bauer als Millionär‘ beiwohnte. Devrient war ganz Auge und Ohr, und bei der Darstellung der Scene, wo das ‚hohe Alter‘ eintritt, war mein Nachbar so ergriffen, daß er in die Worte ausbrach: ‚Der Mann ist so wahr, daß ein so miserabler Mensch wie ich ordentlich mitfriert und leidet‘ …“

Die Zeitgenossen wußten ihn als Darsteller zu schätzen. Seine schriftstellerische Thätigkeit begann 1823 mit der Märchenposse „Der Barometermacher auf der Zauberinsel“. Von da an war er eifrig als Dramatiker thätig. Er schrieb noch „Der Diamant des Geisterkönigs“, „Das Mädchen aus der Feenwelt, oder: Der Bauer als Millionär“, „Moisasurs Zauberfluch“, „Die gefesselte Phantasie“, „Der Alpenkönig und der Menschenfeind“, „Die unheilbringende Krone“ und „Der Verschwender“ (1833).

Mit diesen Stücken wurzelte er wohl noch im Zauberer-, Geister- und Feenwesen, welches damals die Wiener Bühnen beherrschte, aber trotz der Zugeständnisse, welche er nothgedrungen den herrschenden Neigungen machen mußte, schwang er sich hoch empor über das Durchschnittsmaß der übrigen Dramatiker, welche ihn umgaben; er kleidete in das mit possenhaften Schellen behangene Zaubergewand gesunde, sittliche Lehren, weise Ermahnungen. In erster Linie handelte es sich ihm darum, zu erhärten, daß Geld und Gut allein nicht glücklich machen, wenn Herzensfriede und Seelenruhe mangeln, ja, daß in den meisten Fällen der Reichthum Unglück und Verderben mit sich führe.

Dieses Thema zu behandeln, wird er nicht müde, es begegnet uns in den verschiedensten Formen, unter den verschiedensten Verhältnissen. Raimund sieht das Theater als den Schauplatz für erzieherische Strebungen an. Im „Verschwender“ legt er Nachdruck auf den Rathschlag, der Mensch möge im Glücke nicht übermüthig werden. In „Der Alpenkönig und der Menschenfeind“ wendet er sich mit Heftigkeit gegen die Welthasser, die an ihren Mitmenschen durchaus nur Schlechtes entdecken wollen, und daß Raimund dies thut, dünkt uns um so auffälliger, als im übrigen durch sein Wesen ein tief melancholischer, ein entsagender Zug geht, eine wehmüthige Klage über die Nichtigkeit und Flüchtigkeit alles Irdischen. Raimund war ein Weltweiser, der manchmal in den bunten Flitterstaat des Hanswursts schlüpfte und seine Weisheit hinter Phantasterei und hinter Fabuliren verbarg und, um es mit dem Publikum nicht zu verderben, den einen zuliebe einen Purzelbaum schlug, der anderen wegen die lustigen Schemen aus „Tausend und einer Nacht“ heraufbeschwor, ehe er einen seiner Erfahrungssätze verkündete oder seiner Entrüstung über die niedrigen Leidenschaften der Menschen Worte lieh.

Wollen wir bis ans Ende seines Lebenslaufes dessen wichtigste Begebenheiten hervorheben, so müssen wir sagen, daß er auch außerhalb Oesterreichs als Darsteller in hohem Maße gefeiert wurde. In München, Hamburg, Berlin etc. fand er reichsten Beifall. Im Jahre 1834 kaufte er sich zwischen Pernitz und Guttenstein in Niederösterreich an; zwei Jahre später wurde er dort von seinem Hofhunde in die Hand gebissen. Der Hund mußte als wuthverdächtig erschossen werden, und Raimund, von schrecklichen Befürchtungen geplagt, schoß sich eine Kugel vor den Kopf.

Daß er zur Schwermuth hinneigte, geht aus seinen Stücken zur Genüge hervor; wenn er in „Der Alpenkönig und der Menschenfeind“ gegen die Hypochonder Front machte, so darf man annehmen, daß er sich auf solche Art von seinen eigenen überaus trüben Stimmungen dichterisch befreien wollte. Der melancholische Grundzug seines Innenlebens gelangt nirgends so deutlich zum Ausdrucke wie in den berühmt und volksthümlich gewordenen Liedern „So leb’ denn wohl, du stilles Haus“ aus „Der [472] Alpenkönig und der Menschenfeind“, „Ein’ Aschen! Ein’ Aschen“ und „Brüderlein fein, Brüderlein fein“ aus „Der Bauer als Millionär“, endlich in dem Hobel-Couplet aus dem „Verschwender“. Wenn Raimund unablässig mit übernatürlichen Mitteln arbeitet und seine Leute nicht selbst ihres Glückes Schmiede sein läßt, sondern Feen und ähnliche Gestalten zu gütigen oder bösartigen Lenkern ihrer Geschicke macht, so ist er in solchem Zusammenhange mit kindlichen Vorstellungen nicht er selbst, und er ist es auch nicht, wo er die hochtrabenden, in fast unfreiwilligen Jamben sich bewegenden Reden der zauberisch begabten Förderer und Feinde des Menschen mit geradezu läppischen Lokalscherzen vermengt. Er hat sich dagegen offenbar auf sich besonnen, wenn er die weiche, im Halbdunkel waltende Entsagungsstimmung, das schmerzliche Sichabfinden mit den Schattenseiten des Lebens zum Gegenstande von Gesängen macht, die man nicht so leicht vergißt, wenn man sie einmal gehört hat. Valentin, des „Verschwenders“ Flottwell ehemaliger Diener, der den verarmten Gebieter gutwillig bei sich aufnimmt, begleitet das Hantiren in seiner Tischlerwerkstätte mit einem solchen Liede, das für Raimund bezeichnender ist als die Handlung seiner Stücke oder der Charakter seiner Figuren:

„Da streiten sich die Leut’ herum
Oft um den Werth des Glücks,
Der eine heißt den andern dumm,
Am End’ weiß keiner nix.
Das ist der allerärmste Mann,
Der andre viel zu reich,
Das Schicksal setzt den Hobel an
Und hobelt s’ beide gleich.

Die Jugend will halt stets mit G’walt
In allem glücklich sein,
Doch wird man nur ein bissel alt,
Da find’t man sich schon d’rein.
Oft zankt mein Weib mit mir, o Graus!
Das bringt mich nicht in Wuth,
Da klopf’ ich meinen Hobel aus
Und denk’, Du brummst mir gut.

Zeigt sich der Tob einst mit Verlaub
Und zupft mich: Brüderl kumm,
Da stell’ ich mich im Anfang taub
Und schau’ mich gar nicht um.
Doch sagt er: Lieber Valentin,
Mach’ kein Umständ’, geh’!
Da leg’ ich meinen Hobel hin
Und sag’ der Welt Adje!“ [2]

Ferdinand Raimund.

In den Liedern Raimunds wohnen rührende Einfachheit und Schlichtheit, gesundes Empfinden, eine für den täglichen Gebrauch zurechtgelegte Philosophie, welche den Hörer mit echt poetischer Kraft gefangen nehmen. Durch eine Wolkenschicht von hergebrachtem Märchen-Firlefanz und Vorstadt-Scherz bricht sich mit hehrer Gewalt die mächtige dichterische Empfindung Bahn. Braucht man doch nur daran zu erinnern, wie in „Der Bauer als Millionär“ die „Jugend“ von dem Bauer Wurzel sich verabschiedet und das „Hohe Alter“ ihn für sich in Beschlag nimmt, wie jene verschwindet, dieses aber es sich heimisch macht und Wurzel sichtbar zum Greise wird – die Weltlitteratur hat nur wenige dramatische Scenen aufzuweisen. die sich an packendem Eindrucke damit messen können.

Wenn Wien nunmehr den ersten Schritt gethan hat, Ferdinand Raimund ein Denkmal zu setzen, so erfüllt es eine Pflicht. Mag unser Gaumen für die Kost, welche Raimund bietet, verdorben sein, mag sie uns nur noch ausnahmsweise munden – wir müssen doch zugestehen, daß derjenige, der uns Stücke gab wie „Der Bauer als Millionär“, „Der Verschwender“, „Der Alpenkönig und der Menschenfeind“, einer der drei großen Dramatiker war, welche Oesterreich bisher besessen hat. Die beiden anderen heißen Franz Grillparzer und Ludwig Anzengruber. Ferd. Groß.     



  1. Vgl. Dr. Emil Lindemann, „Die Nordseeinsel Helgoland" (Berlin, 1889, Verlag von August Hirschwald) S. 3 ff.
  2. Dies ist die Fassung des vielgesungenen Liedes nach Raimunds eigener Niederschrift, welche Raimunds sämmtlichen Werken, herausgegeben von Glossy und Sauer (Wien, Verlag von Carl Konegen) zu Grunde liegt. In derselben Ausgabe findet sich auch das Bildniß Raimunds in Radierung nach einem Gemälde Lampis, welchem unser Holzschnitt nachgebildet ist.




Madonna im Rosenhag.

Roman von Reinhold Ortmann.
(Fortsetzung.)


Ein glücklicher Zufall fügte es, daß Wolfgang nicht beschäftigt war, als ihm der Besuch Mariens durch seinen Diener gemeldet wurde. In der herzlichen Art seiner Begrüßung verrieth sich nicht die leiseste Empfindlichkeit darüber, daß sie seit dem halb unfreiwilligen Besuche in Cillys Begleitung seine Wohnung nicht wieder betreten hatte. Mit einem munteren Scherzwort führte er sie in sein Arbeitszimmer, und mit einer zärtlichen Bewegung strich er über ihr weiches, goldblondes Haar, als sich Marie dort wortlos und stürmisch in seine Arme warf.

„Steht es so, mein armer Liebling?“ fragte er voll inniger Theilnahme, wenn auch ohne jeden Anflug von Ueberraschung, „hat man Dir da draußen ein Leid angethan?“

Als hätte der weiche Klang seiner Stimme sie schmerzlich getroffen, richtete Marie sich auf und versuchte, sich zu fassen.

„Nein. Wolfgang, ich verdiene nicht, daß Du mir so liebevoll und brüderlich entgegenkommst,“ sagte sie. „Du sollst mich schelten und sollst mir bittere Vorwürfe machen! Um Dich habe ich ja zehnfach alles verdient, was mir widerfahren ist!“

Er legte seinen Arm um ihre bebende Gestalt und geleitete sie zu dem Sofa, auf welchem er sich an ihrer Seite niederließ.

„Es soll Dir im voraus von Herzen verziehen sein, meine liebe Marie! Wollte der Himmel, daß nie eine größere Sünde auf Erden begangen würde als die, deren Du Dich gegen mich schuldig gemacht haben magst!“

„Du kannst eben nicht ahnen, wie lieblos und wie feig, wie erbärmlich feig ich gehandelt habe. Ich habe Dich verleugnet und verrathen, ich habe schweigend geduldet, daß man Deine Ehre antastete – ja, ich war schlecht genug, Deinem Freunde hindernd in den Weg zu treten, als er die Verleumder zur Rechenschaft ziehen wollte!“

Es war, als ob sie von einem leidenschaftlichen Verlangen erfaßt wäre, sich selbst anzuklagen, als ob sie sich nicht genug thun könnte in dem Bestreben, ihm das Verdammenswerthe ihres Thuns im grellsten Lichte zu zeigen. Aber Wolfgang ließ sich durch die Rücksichtslosigkeit dieser Selbstbezichtigung nicht beirren. Etwas ernster zwar, doch noch immer mit jener milden Freundlichkeit, die seinem mannhaften Antlitz so wohl anstand, beugte er sich zu ihr herab und sagte, indem er ihre Hand ergriff:

„Wie übel muß man Dir mitgespielt haben, mein Schwesterchen, wenn Du darüber so hart und ungerecht werden kannst gegen Dich selbst! Sieh, es würde mir gar nicht schwer fallen, Dir zu antworten: was Du auch immer an mir gefehlt haben magst, es ist freudig vergeben, auch ohne daß Du mir’s beichtest! Aber ich weiß, daß ich Dir damit keinen Dienst erweisen würde. Nicht so sehr auf meine Vergebung kommt es ja an als darauf, daß Du Dir selbst verzeihst, und dazu ist ein offenes Bekenntniß sicherlich der beste Weg. Nur daß ich Dir dabei ein wenig zu Hilfe komme, wirst Du mir erlauben. Vielleicht errathe ich viel mehr, als Du vermuthest.“

Betroffen und wie von einer schmerzlichen Befürchtung erfaßt, sah sie zu ihm auf.

„Man hat Dir also erzählt –? Lothar hat mich zu seiner eigenen Rechtfertigung bei Dir verklagt?“

Verneinend schüttelte Wolfgang den Kopf.

„Niemals hat Lothar anders als mit dem Ausdrucke der Achtung und Freundschaft von Dir gesprochen. Aber der Wortlaut Deiner Anklage macht es mir leicht, auf die Natur des Vergehens zu schließen. Man hat in deiner Gegenwart von mir geredet, ohne zu ahnen, daß Du meine Schwester seist – man hat mich ein wenig verlästert, mich vielleicht einen Schwindler oder dergleichen genannt, und Du hast dazu geschwiegen – das ist alles, nicht wahr?“

„Nein, es ist nicht alles, Wolfgang, obwohl es auch so schon schlimm genug wäre! Aber ich habe mehr gethan als das! Ich habe Lothar zurückgehalten, als er seiner Freundespflicht Genüge thun wollte – mit dem Aufgebot aller Mittel, ja, fast gewaltsam habe ich ihn daran gehindert.“

[473]

Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.
Ein Früchtchen.
Nach einem Gemälde von E. Klimsch.

[474] „So? – Und warum hast Du das gethan?“

Marie blickte starr vor sich hin.

„Weil ich einen andern schonen wollte, den ich damals höher stellte als Dich. Weil Engelbert von Brenckendorf es war, den das Eingreifen Lothars am härtesten getroffen haben würde.“

Beinahe tonlos war diese Erklärung von ihren Lippen gekommen. Voll warmen Mitleids ruhte Wolfgangs Blick auf ihrem bleichen Gesicht; aber erst nach einem kleinen Schweigen sagte er mit ruhigem Ernst: „Das war Grund genug, Marie! Auch wenn ich minder schuldig daran wäre, daß Du jener Versuchung ausgesetzt werden konntest, würde ich kein Recht haben, Dir zu zürnen. Auch Stärkere als wir sind unterlegen in dem Zwiespalt zwischen Pflicht und Liebe.“

„Liebe?“

Eine Welt von Schmerz und Bitterkeit lag in dem Ausdruck, mit welchem sie das Wort wiederholte. Dann verbarg sie plötzlich das Gesicht in den Händen, unfähig, sich länger zu beherrschen.

Sacht und liebkosend, fast mit der Zartheit eines Vaters legte Wolfgang seinen Arm um ihren Nacken.

„So viel von mir, Marie! Du hast vor allem Dein Herz erleichtern wollen von der vermeintlichen Schuld, und ich habe Dich nicht daran gehindert. Nun aber laß uns von Dir sprechen und von dem Unrecht, das man Dir gethan hat! Du hast recht gehandelt, daß Du zuerst zu mir gekommen bist!“

„Zu wem hätte ich auch sonst gehen sollen? Bist Du denn nicht der einzige Freund, den ich auf der Welt besitze?“

„Der aufrichtigste jedenfalls, mein liebes Schwesterchen! Aber nun wirst Du mir ohne Rückhalt alles sagen, nicht wahr?“

„Ja – alles!“ bestätigte sie mit festem Entschluß, und eine wie grausame Aufgabe es auch für sie sein mochte, vor einem anderen von ihrem kurzen Liebestraum und von dem kläglichen Erwachen zu sprechen, welches demselben gefolgt war, so nahm sie doch mit trotzigem Muthe die neue Demüthigung auf sich, welche für sie in diesen Bekenntnissen lag. Ohne ihre mädchenhaften Empfindungen zu schonen, berichtete sie alles, was sich seit ihrem ersten Besuche im Hause des Generals zwischen ihr und Engelbert zugetragen hatte; sie verschwieg nichts und sie suchte nichts zu vertuschen oder zu entstellen.

„Nun weißt Du alles!“ schloß sie ihre Beichte, nachdem sie auch den kurzen Auftritt auf dem Bazar geschildert hatte, „und nun ist es an Dir, mir zu sagen, was jetzt geschehen wird.“

Gegen die Polster des Sofas zurückgelehnt, hatte Wolfgang ihr zugehört, ohne sie zu unterbrechen.

„Was jetzt geschehen wird? – Nun, ehe wir davon sprechen, ist es an mir, Dir ebenfalls ein kleines Geständniß abzulegen. Wirst Du mir zürnen, wenn ich Dir sage, daß ich seit Lothars letztem Besuche diese schmerzliche Stunde mit voller Sicherheit vorausgesehen habe?“

Mit großen, erstaunten Augen wandte sich ihm Marie zu. Ein dunkles Roth stieg ihr langsam in die Wangen.

„Also hat er dennoch den Angeber bei Dir gemacht? – 0, das ist schändlich – schändlich!“

„Ich vermag in dem, was Lothar gethan hat, wahrhaftig nichts Schändliches zu erblicken, Marie! Er hat gewiß nicht spionirt; aber Du und Engelbert, Ihr habt es ihm wahrscheinlich sehr leicht gemacht, Euer Geheimniß zu errathen. Und daß er dann mit seiner Entdeckung zu mir kam, geschah vollends in der rechtschaffensten Absicht von der Welt. Er wußte, daß der General zu Eurer Vereinigung niemals seine Zustimmung geben würde, und er wußte auch, daß Engelbert nicht der Mann wäre, sich einem väterlichen Machtwort mit Festigkeit und Entschiedenheit zu widersetzen. Und weil er bei dieser Kenntniß der betheiligten Personen das Ende Deines Romans nur zu gut voraussah, wandte sich Lothar an mich, um meine brüderliche Einmischung zu fordern. Ich sollte Dich warnen und sollte meinen ganzen Einfluß aufbieten, Dich zum Verlassen des Hauses zu bewegen.“

„Mich zum Verlassen des Hauses zu bewegen – ja, das glaube ich gern! – Und was hast Du ihm darauf geantwortet?“

„Ich habe ihm geantwortet, daß ich von der Berechtigung seiner Besorgnisse zwar vollkommen überzeugt sei, daß ich mich aber jeder Einwirkung auf Dein Thun und Lassen enthalten würde, so lange Du die Mittel besäßest, Dich selbst zu schützen. Du bist ja kein Kind mehr, und ich habe drüben in Amerika gelernt, die persönliche Freiheit hochzuhalten. Ein kleiner Kummer, den wir der eigenen Thorheit zu danken haben, ist jedenfalls viel leichter zu ertragen und viel heilsamer für unser künftiges Leben, als der willkürliche Eingriff eines anderen in unser gutes Recht der Selbstbestimmung.“

Vielleicht klangen seine Worte zu wohl überlegt und zu kühl verständig, als daß sie auf Mariens schmerzlich erregtes Gemüth hätten eine wahrhaft wohlthuende Wirkung ausüben können. Sie sah eine Weile still vor sich hin, ehe sie mit leisem Kopfschütteln erwiderte: „Es wäre wohl auch umsonst gewesen, denn ich hätte Dir ja sicherlich nicht geglaubt, was ich meinen eigenen Augen nicht ohne weiteres glauben wollte. Doch es ist müßig, von dem zu sprechen, was unter anderen Umständen hätte geschehen können! Nur das, was jetzt geschehen wird, sollte uns kümmern.“

„Gewiß! Und ich meine, es wird uns nicht viel Kopfzerbrechens machen, darüber ins Reine zu kommen. Natürlich bleibst Du jetzt bei mir.“

„Du mißverstehst mich, Wolfgang! – Nicht mein künftiges Schicksal ist es, das mir Sorge macht, und eine andere Art von brüderlichem Beistand hatte ich von Dir erwartet. Muß ich fürchten, daß Du ihn mir verweigerst?“

„Welch ein Zweifel, Marie! Doch was verlangst Du, daß ich thue? Soll ich hingehen, von dem Vetter Engelbert zu fordern, daß er seine Verlobung mit der Gräfin Hainried aufhebe, um Dir sein Versprechen zu halten und Dich zum Altar zu führen?“

„Niemals! Wenn er mich jetzt auf den Knieen anflehte, seine Gattin zu werden, so würde ich keine andere Antwort für ihn haben als einen Ausdruck des Widerwillens und der tiefsten Verachtung.“

„Genau so habe ich es erwartet! – Aber da Du keinen Anspruch mehr erhebst auf seine Liebe und auf seine Hand, welche andere Genugthuung ließe sich dann noch von ihm verlangen?“

Ein Ausdruck naiven Erstaunens trat auf ihr Gesicht.

„Und das kannst Du fragen? Du, der deutsche Edelmann und ehemalige Offizier, kannst mich, ein Mädchen, danach fragen?“

„Soll ich ihn etwa auf Degen oder Pistolen fordern in dem abgeschmackten Wahn, daß eine Nichtswürdigkeit durch eine Narrheit wieder gut gemacht werden könnte? Nein, mein liebes Schwesterchen, gegen eine flotte Schlägermensur mit Binden und Bandagen habe ich zwar im Grunde wenig einzuwenden; ein Zweikampf mit tödlichen Waffen aber und zwischen Männern, die über die Studentenjahre hinaus sind, ist ein verbrecherischer Unsinn, der für vernünftige Leute unseres Schlages gar nicht erst in Frage kommen sollte. Würdest Du Dich denn getröstet fühlen oder Deine Ehre für wiederhergestellt erachten, wenn Du mich morgen mit durchschossener Stirn vor Dir liegen sähest?“

Obwohl er die letzten Worte in einem fast scherzenden Ton gesprochen hatte, wirkte das Bild, das sie vor Mariens Phantasie heraufbeschworen, doch so furchtbar und erschreckend auf sie ein, daß sie ihm in tiefer Beschämung beide Hände entgegenstreckte.

„Vergieb mir, Wolfgang! Die Vorstellung, daß Du Engelbert fordern würdest, war mir bis zu diesem Augenblick so selbstverständlich erschienen, daß ich mir der Herzlosigkeit dieser Zumuthung wahrhaftig nicht bewußt geworden war. Aber Du hast recht: die Gesetze der Ehre sind zu grausam, als daß man ihnen immer und überall Genüge tun dürfte.“

Sie war aufgestanden, doch Wolfgang nahm ihre Hand und zog sie sanft auf den Sitz zurück.

„Die Gesetze der Ehre? – Verstehen wir uns denn noch immer so wenig, meine liebe Marie? Ist die Welt, in der man Dir so schnöde mitspielen konnte, auch heute noch die Welt Deiner Ideale? Hat Dich selbst diese harte Schule nicht zu lehren vermocht, wieviel Herzlosigkeit, Feigheit und schnöde Selbstsucht sich auch hinter all dieser blinkenden Ritterlichkeit und hinter dem stolzen Gerassel mit fleckenlosen, adligen Wappenschildern zu bergen weiß?“

„Könnte es Dir denn Genugthuung bereiten, Wolfgang, wenn es so wäre?“

„Genugthuung – nein! Dazu war der Preis, den Du für diese Erfahrung zu zahlen hattest, denn doch zu hoch! Aber daß Du nur mit Hilfe mancher herben Enttäuschung aus dem unheilvollen Zwiespalt zu erlösen sein würdest, in welchem ich Dich bei meiner Rückkehr traf, das, meine liebe Marie, war mir allerdings von vornherein nicht zweifelhaft.“

[475] „Ich verstehe Dich nicht mehr, Wolfgang! Aus einem Zwiespalt, von dem ich selber nicht das Geringste bemerkte?“

„Würden wir Menschen denn so oft geradeswegs in unser Unglück rennen, wenn wir rechtzeitig bemerkten, auf einer wie verderblichen Bahn wir uns befinden? Und glaube mir, mein Liebling: Du warst bedenklich nahe daran, Dich in der absichtlich gewählten Einsamkeit Deines elenden Stübchens bei Deinen schlecht bezahlten Malereien in ein tief unglückliches Dasein hineinzuleben. Nicht durch Deine Schuld – denn Du warst eben erzogen worden für eine Gesellschaft, die da meint, über der großen Menge der Menschen zu stehen, und die sich darum das Recht nimmt, diese Menge zu verachten. Alle Deine Gedanken und Lebensanschauungen wurzelten in dem Boden dieser Erziehung, und wie wohlthätig auch eine angeborene Herzensgüte Deinen aristokratischen Hochmuth dämpfen mochte, er war darum doch in nur zu entschiedener Ausprägung vorhanden. Du schüttelst den Kopf und siehst mich beleidigt an – Du glaubst mir alsa nicht! Nun wohl, so gieb mir ehrliche Antwort auf einige ehrliche Fragen: Warum machtest Du gerade das geringste und unvollkommenste Deiner Talente für den Broterwerb nutzbar, wenn nicht in dem hochmüthigen Irrthum, daß es Dir nicht anstehe, Dich gleich der ersten besten Bürgerstochter in der abhängigen Stellung einer Erzieherin oder eines Wirthschaftsfräuleins durch die Welt zu schlagen? Warum gabst Du Dir so wenig Mühe, Deine Entrüstung über die von mir getroffene Berufswahl zu verhehlen, und warum lehntest Du es ohne Besinnen ab, meinem Hauswesen vorzustehen? – Sieh, ich erinnere Dich gewiß nicht an diese Dinge, um Dir einen Vorwurf daraus zu machen, denn Du dachtest und handeltest eben nur, wie Du es von Kindheit auf gelehrt worden warst. Aber Du mußt mir glauben, daß es mich aufrichtig schmerzte, Dich in so gefährlicher Verblendung zu wissen. Wer sich völlig unabhängig von den Menschen fühlt, der mag es ja wagen dürfen, sie ungestraft zu verachten. Wer aber mitten im großen Strome dahintreibt, allen Stürmen preisgegeben und stündlich darauf angewiesen, nach der Hand eines lieben Nächsten zu haschen, um sich an ihr mit genauer Noth über Wasser zu halten, der hüte sich vor der Hoffahrt als vor der verderblichsten aller Thorheiten. Ob er sich den Haß oder den Spott der anderen zuzieht, in jedem Falle wird er sehr bald unglücklich und einsam sein. Was die Menge an den Großen und Mächtigen ehrfürchtig anstaunt und bewundert, das erscheint ihr bei ihresgleichen nur zu oft verdammenswerth oder verächtlich – und ihresgleichen ist ihr jeder, der mit der gemeinen Noth des Lebens zu ringen hat wie sie. Den Hochmuth des Fräuleins von Brenckendorf, das in einer wappengeschmückten Equipage dahinsaust, mag sie vollkommen begreiflich finden – für den Hochmuth des Fräuleins von Brenckendorf aber, das sie mühselig um das tägliche Brot arbeiten sieht, würde sie sicherlich nur Hohn und offenkundige Geringschätzung haben.“

„Und warum, wenn Du dies alles erkanntest, warum hast Du es mir nicht schon damals gesagt?“

„Weil Dir meine Worte nicht den geringsten Eindruck gemacht haben würden, liebste Marie! – Wenn es ein Mittel gab, Dich vor so verfehltem und verbittertem Dasein zu bewahren, so war es einzig der Versuch, Dir die Welt Deiner Träume und Wahnbilder einmal im nüchternen Lichte der Wirklichkeit zu zeigen, Dich durch eigene Erfahrung zu überzeugen, daß Lauterkeit des Charakters und Größe der Gesinnung mit adliger Abstammung so wenig nothwendig verbunden sind als Ehrlosigkeit und feige Schwäche mit niedriger, ruhmloser Herkunft. Wie die Dinge sich jetzt gestaltet haben, muß ich freilich zugeben, daß es ein gefährlicher Versuch war und daß ich vielleicht besser gethan hätte, ihn nicht zu wagen.“

Verständnißlos starrte ihn Marie an; dann aber ergriff sie mit einer heftigen Bewegung seinen Arm.

„Ein Versuch, den Du unternommen hast, Du? – Ja, um Gotteswillen, was soll denn das heißen?“

„So ist Dir niemals eine Ahnung gekommen, wem Du die freundliche Einladung des Generals zu danken hattest? So hast Du nie etwas Auffälliges in der plötzlich erwachten Theilnahme unserer lieben Verwandten gefunden?“

Wie von einem furchtbaren Schlage getroffen, senkte Marie das Haupt.

„Sage mir alles, Wolfgang!“ bat sie mit matter Stimme. „Jetzt darfst Du mir nichts mehr verschweigen!“

Und er berichtete ihr in der That getreulich von seinem einzigen Besuche bei dem General und von dem seltsamen Vertrag, welcher damals zwischen ihnen geschlossen worden war.

„Hättest Du Dich in jenen Kreisen dauernd wohl befunden, meine liebe Marie, so würdest Du aus meinem Munde nie erfahren haben, welche Bewandtniß es mit der liebevollen Fürsorge Seiner Excellenz für die Tochter des armen Jugendfreundes hatte. Meine Rechnung wäre dann einfach falsch gewesen, und im Anblick Deines Glückes hätte ich die Erkenntniß meines Irrthums wahrlich leicht verschmerzt. Jetzt aber mußt Du freilich zu allem anderen auch noch diese Enthüllung in Kauf nehmen. Du mußtest erfahren, weshalb ich mich meines Adels entäußerte und weshalb Engelbert von Brenckendorf es wagen durfte, mich vor seinen Freunden zu verleugnen.“

Er war offenbar einer wohlüberlegten Absicht gefolgt, aber es hatte ganz den Anschein, als ob die Wirkung seiner Mittheilungen eine wesentlich andere sei, als er es erwartet hatte. Marie war todtenbleich geworden, und als er sich nun aufs neue ihrer Hand bemächtigte, lag dieselbe eiskalt in der seinigen. Wolfgang wartete ruhig auf ihre Erwiderung, obwohl Minuten vergingen, ehe sie, all ihre Kraft sichtlich mühsam zusammenraffend, sagte:

„Du hast es gewiß gut mit mir gemeint, und das Opfer, welches Du mir gebracht hast, ist viel größer, als ich es um Dich verdient habe. Ich danke Dir dafür; aber Du siehst nun wohl selber ein, daß es besser gewesen wäre, den Versuch zu unterlassen. Du hattest eben nicht daran gedacht, eine wie unwürdige Rolle ich in den Augen des Generals und seiner Angehörigen spielen mußte, nachdem ich infolge solcher Abmachung in sein Haus gekommen war, – Du hattest die Demüthigungen nicht vorausgesehen, die mir unter solchen Umständen früher oder später unfehlbar beschieden sein mußten, und – doch genug, es könnte den Anschein gewinnen, als ob ich Dir Vorwürfe machen wollte, und das ist sicherlich nicht meine Absicht. Noch einmal: ich danke Dir – auch für Deine Offenheit! Und nun: adieu – für heute!“

In lebhaftester Ueberraschung hielt Wolfgang noch immer ihre Hand.

„Du willst fort – jetzt? – Und die Genugthuung, welche ich Dir verschaffen sollte?“

Sie sah ihn fest an, und es war ein eigenthümliches Leuchten in ihren Augen.

„Ich selbst werde sie mir nehmen, Wolfgang – besser und vollständiger, als irgend ein Beschützer es an meiner Stelle könnte.“

„Aber Du wirst mich zuvor in Dein Vertrauen ziehen, nicht wahr? Und von nun an wird mein Haus Deine Heimath sein?“

Ohne Unfreundlichkeit, doch mit einem Ausdruck unerschütterlichen Entschlusses auf dem blassen Gesicht schüttelte Marie den Kopf.

„Zürne mir nicht, wenn ich Dir darauf zum zweiten Mal mit Nein antworten muß. Es ist gewiß nicht Hochmuth, der mich heute dazu bestimmt.“

„Aber der Grund? Du mußt doch irgend eine Ursache haben für solche Weigerung?“

Ein schwaches, wehmüthiges Lächeln huschte über ihr Gesicht.

„Vielleicht habe ich keine triftigere als der kleine Vogel, der sich vor dem neuen Käfig fürchtet, nachdem er dem alten entronnen ist. Ich weiß, Du wirst mich nicht mißverstehen! Und Du wirst mir auch künftig gestatten, mich an Dich als an meinen einzigen Freund zu wenden, wenn ich des Schutzes bedürftig bin. Ohne Groll wirst Du mir Deine Hand zum Abschied reichen, auch wenn meine Ablehnung Dich ein wenig gekränkt hat – nicht wahr?“

„Wie sollte ich Dir grollen, mein Liebling! Aber es will mir nicht in den Sinn, daß ich Dich so von mir gehen lassen soll! So sage mir wenigstens, was Du zu beginnen gedenkst!“

„Und wenn ich darüber nun mit mir selber noch nicht ganz im reinen wäre? Würdest Du nicht begreifen, daß ich dann vor allem Zeit gewinnen muß, darüber nachzudenken?“

„Ich fürchte, meine liebe Marie, Du bist in diesem Augenblick nicht ganz aufrichtig gegen mich. Aber ich will nicht in Dich dringen, mir ein Vertrauen zu schenken, das Dir nicht von Herzen käme. Daß Du nichts Verwerfliches unternehmen wirst, dessen bin ich ja – Gott sei Dank! – gewiß.“

[476] „Vielen wird es vielleicht in der That verwerflich erscheinen, Wolfgang – und auch Du wirst es möglicherweise nicht billigen. Aber Du hast mir vorhin das Recht der Selbstbestimmung zugestanden, und es kann Dich nicht kränken, wenn ich nach meinen letzten Erfahrungen nicht zum zweiten Mal einen anderen über mein Schicksal verfügen lassen möchte.“

Die Zurückhaltung, welche seit seinem Bekenntniß trotz all ihrer Freundlichkeit in Mariens Benehmen lag, that Wolfgang sichtlich weh; aber auch er ließ nichts von Gereiztheit in seinen Worten durchklingen, als er der Schwester die Hand zum Abschied reichte.

„Man muß nicht von der Minute erzwingen wollen, was nur die Stunde gewähren kann,“ sagte er zwischen Ernst und Scherz. „Die Hauptsache ist doch, daß wir einander jetzt ganz verstehen und uns, wie ich denke, nicht so leicht wieder verlieren werden. Nur eines noch: wo habe ich Dich künftig zu suchen? Denn daß Du in das Haus des Generals nicht mehr zurückkehrst, ist doch wohl selbstverständlich!“

„Ich hoffe, für die nächsten Tage ein Unterkommen bei Fräulein Engelhardt zu finden, und ich gebe Dir natürlich Nachricht, sobald ich meine Wohnung verändern sollte.“

„Dann bin ich beruhigt! – Viel Glück denn auf Deinen Weg, mein liebes Schwesterchen!“

Er geleitete sie bis an die Ausgangsthür der Wohnung und kehrte dann in sein Arbeitszimmer zurück, um vom Fenster aus der Davoneilenden mit den Blicken zu folgen, so lange er ihre schlanke Gestalt im Menschengewühl der volkreichen Straße zu unterscheiden vermochte.

„Was sie nur vorhaben mag!“ sagte er mit einem Kopfschütteln vor sich hin. „Mit der Malerei wird sie es ja schwerlich noch einmal versuchen. Doch gleichviel, was sie auch immer beginnen mag, sie wird dem Namen Brenckendorf in meinem Sinne gewiß keine Schande bereiten!“




Noch kämpften draußen über dem Häusermeer der Riesenstadt die letzten nächtigen Schatten mit dem matten Licht des anbrechenden Wintertages, als ein halbwüchsiger, mürrisch und verschlafen aussehender Kellnerbursche an die Thür des Gasthofszimmers klopfte, welches man dem letzten, erst gegen Mitternacht angekommenen Fremden zugewiesen hatte. Es mochte in Kulickes „Hotel“ nicht Sitte sein, eine besondere Aufforderung zum Eintritt abzuwarten, denn noch ehe von drinnen ein Laut vernehmlich geworden war, schob sich der Junge über die Schwelle. Er trug ein Buch unter dem Arme, das genau so schmierig und abgegriffen aussah wie jeder andere Gegenstand in diesem gastlichen Hause, und mit einem verdrießlichen Gebrumme, das vielleicht einen Morgengruß darstellen sollte, warf er es klatschend auf den Tisch.

Der Fremde, welcher durch das Klopfen nicht aus seinem tiefen Schlummer geweckt worden war, fuhr erst bei diesem Geräusch in die Höhe. Seine dunkeln Augen, die fast geisterhaft aus dem hageren und im grau-gelben Morgenlichte wahrhaft leichenfahlen Antlitz leuchteten, stierten den schmutzigen Burschen sekundenlang wirr und verständnißlos an.

„Das Bild? – Ich habe das Bild nicht! – Wer sagt, daß ich es habe?“ kam es von seinen Lippen. Der beängstigende Traum, aus welchem er emporgeschreckt worden war, mochte noch die Herrschaft behaupten über seine Gedanken. Aber der Kellnerbursche fand nichts Auffälliges in dem sinnlosen Geschwätz eines Schlaftrunkenen.

„Hier ist von keinem Bild die Rede,“ brummte er. „Sie sollen sich bloß in das Fremdenbuch einschreiben! Es wurde gestern abend vergessen.“

„Ja – so –, in das Fremdenbuch!“ wiederholte Hudetz, nun endlich zur Besinnung kommend. Mit einem Ruck warf er das schwere, einen eigenthümlich modrigen Geruch ausströmende Deckbett von sich und griff nach seinen Kleidern.

„Wünschen Sie auch Kaffee?“ fragte der Junge, der ihm mit stumpfer Gleichgültigkeit zusah. „Und wollen Sie das Zimmer für die nächste Nacht behalten?“

„Nein, das eine so wenig als das andere! Ich befinde mich nur auf der Durchreise hier und ich muß mich beeilen, weiterzukommen.“

Er hatte seinen Anzug nothdürftig beendet und trat an den Tisch, auf welchen der Kellner das schmierige Fremdenbuch geworfen hatte.

„Man muß sich also wirklich einschreiben?“ fragte er. „Die Polizei kümmert sich täglich darum?“

„Und ob sie sich darum kümmert! Aber zum Kaffeetrinken haben Sie doch wohl noch Zeit genug! Mit welchem Zuge wollen Sie denn fahren?“

Hudetz hatte die Feder in den fast völlig eingetrockneten, schlammigen Inhalt des Tintenfasses getaucht und starrte nun auf die kleinen schwarzen Klümpchen, die an der rostigen Spitze hängen geblieben waren, als hätte er niemals etwas Merkwürdigeres gesehen.

„Wie sonderbar das doch ist!“ murmelte er, die letzten Fragen des Burschen ganz überhörend. „Man weckt die Leute um dieses Fremdenbuches willen aus dem Schlafe und begnügt sich doch mit dem ersten besten Namen, den sie hineinschreiben. Sehen Sie“ – und er that einige rasche, kreischende Federzüge – „da steht der meinige; aber wer leistet Ihnen Gewähr dafür, daß es der richtige ist?“

Der Bursche las, indem er ihm über die Schulter blickte:

„Julius Patek, Kaufmann aus Budapest.“

Dann zuckte er gleichmüthig mit den Achseln.

„Mir ist es natürlich ganz einerlei, ob Sie Patek oder Schulze heißen. Einer, auf den eine Belohnung ausgesetzt ist, werden Sie doch wohl nicht sein.“

Hudetz zog den Hals zwischen die Schultern und stocherte mit der Feder in dem verstaubten Tintenfasse herum.

„Und wenn ich nun doch so einer wäre?“ platzte er nach einem kleinen Schweigest heraus wie jemand, der vergebens gekämpft hat, ein Wort zu unterdrücken, das sich ihm immer und immer wieder auf die Zunge drängte. „Sie würden es bitter bereuen, mich nicht festgehalten zu haben, wenn Sie später etwas derartiges erführen, nicht wahr?“

„Ach, Dummheiten!“ brummte der Junge, indem er sein Buch wieder unter den Arm nahm. „Also keinen Kaffee?“

„Nein! Was habe ich für das Zimmer zu zahlen?“

„Fünfzehn Groschen, und wenn Sie kein Frühstück nehmen, zwei Mark! An den Gästen, die nichts verzehren, ist uns wenig gelegen.“

Hudetz zahlte; aber nachdem der Junge ohne Dank und Gruß das Zimmer verlassen hatte, stand er eine Weile mit gesenktem Kopfe und schlaff herabhängenden Armen da, wie wenn ihm Muth und Widerstandsfähigkeit plötzlich ganz abhandengekommen wären.

„Das war das zwölfte Hotel!“ murmelte er. „Wie lange noch werde ich täglich ein anderes finden – wie lange noch?“

Draußen auf den Treppen wurde es lebendig. Der Wirth rief scheltend nach dem Kellner, und eine keifende Weiberstimme fuhr in schrillen Fisteltönen dazwischen. Hudetz netzte Gesicht und Hände mit kaltem Wasser und machte sich reisefertig. Außer dem Handköfferchen führte er jetzt noch ein kleines, flaches, viereckiges Packet mit sich, das sehr sorgfältig in Packpapier eingeschlagen und mit Bindfaden umschnürt war. Eine Weile schien er in Versuchung, es zu öffnen, als aber der Lärm draußen immer lebhafter wurde und einmal sogar eine Hand, offenbar aus Versehen, nach der Thürklinke seines Zimmers griff, knüpfte er die schon gelöste Schleife wieder zusammen und nahm das Packet unter den Arm.

Feuchtkalt schlug ihm die rauhe Morgenluft entgegen, als er auf die Straße hinaustrat, und ließ ihn in seinem dünnen Ueberröckchen fröstelnd erschauern. Er hatte es sichtlich eilig, aus der Nähe des Hauses fortzukommen, in welchem er übernachtet hatte und erst in der breiten, zu schier unendlicher Länge ausgestreckten Frankfurter Straße, durch welche um diese Morgenstunde ganze Scharen von Arbeitern mit ihren unvermeidlichen Blechkännchen zogen, mäßigte er die Hast seiner Schritte.

Es kostete ihn jetzt durchaus keine Ueberwindung mehr, die ausgetretenen Stufen zu einem jener Keller hinabzusteigen, aus deren niedrigen, kaum über dem Pflaster sichtbaren Fenstern eine so verpestete Atmosphäre auf die Straße zu strömen pflegt. Und er hatte den Kaffee im Hotel nur verschmäht, weil er sich allgemach daran gewöhnt hatte, einen kräftigeren Morgentrunk zu sich zu nehmen. Eine Frau von schier ungeheuerlichen, schwammigen Körperformen, die hinter dem Schanktisch stand, füllte ihm das Glas mit dem verlangten Branntwein; aber sie hielt es am Fuße fest, bis ihr Hudetz die Bezahlung zugeschoben hatte.

[477]

Glücklicher Fang. Von Werner Schuch.
Holzschnitt nach dem gleichnamigen Bilde aus den „Studienmappen deutscher Meister. Herausgegeben von Julius Lohmeyer. Verlag von C. T. Wiskott in Breslau.“

[478] „Noch einen?“ fragte sie nachher, aber er schüttelte ablehnend den Kopf.

„Später vielleicht, wenn ich wiederkomme, mir meinen Koffer abzuholen, denn ich möchte Sie bitten, ihn mir bis zum Abend aufzubewahren, Frau Wirthin.“

Die kleinen Augen des dicken Weibes musterten ihn nicht ohne Mißtrauen.

„Können Sie mir auch versprechen, daß wir keine Schererei davon haben werden? Da hängen sie einem einen Prozeß wegen Hehlerei an den Hals und schleppen einen vors Kriminal, man weiß nicht wie!“

„Sie dürfen ohne Sorge sein, Frau Wirthin! Ich habe heute morgen meine Wohnung verlassen und muß mir eine andere suchen. Soll ich dabei meine Habseligkeiten beständig mit mir herumschleppen?“

„Na, dann schieben Sie das Ding nur hier hinter den Tisch. Es wird’s ja wohl keiner wegnehmen.“

Hudetz wollte sich für ihre Gefälligkeit bedanken; aber er kam nicht mehr dazu, denn über die steile Kellertreppe herab polterten mit wüstem Lärm zwei Männer, die trotz der frühen Stunde augenscheinlich bereits ziemlich stark betrunken waren. Sie hielten sich an den Schultern umfaßt, und während der eine mit voller Lungenkraft, aber mit heiserer, mißtönender Stimme ein Soldatenlied brüllte, schrie der andere selbstbewußt und befehlend in den Keller hinein: „Wir feiern heute unsern Geburtstag, und wer nicht mitfeiert, der ist ein Lump – ein Lump, sage ich! – Heda, schöne Frau! – Cognac aufgefahren, aber vom feinsten! – Und für die ganze Bande! Ich bezahle alles – wozu hätten wir denn in der Lotterie gewonnen – nicht wahr, Gottlieb?“

„Ja, wozu – hätten wir – denn – in der Lotterie gewonnen!“ stammelte der andere, der kaum noch auf den Füßen stehen konnte. „Halt – dageblieben! – Wer da – desertirt, der – der kommt in den Ka – Kasten!“

Die letzten Worte galten dem unglücklichen Hudetz, der einen Versuch gemacht hatte, mit seinem Päckchen an den beiden Trunkenbolden vorüber die Kellerthür zu gewinnen. Der freigebige Gewinner aber hatte ihn mit beiden Fäusten an den Schultern gepackt und drückte ihn gegen den Schänktisch, daß dem Wehrlosen fast der Athem verging.

„Lassen Sie doch den Mann los!“ bat die Wirthin, die eine gewisse Theilnahme für den Fremden mit den verhärmten, klugen Zügen zu empfinden schien. „Er hat Ihnen ja nichts zu Leide gethan.“

„Und wir thun ihm auch nichts!“ meinte der erste Sprecher.

„Aber er soll mit uns ein Glas auf unsere Gesundheit trinken – das können wir verlangen, nicht wahr, Gottlieb?“

„Ja, das können wir verlangen!“ bestätigte der andere mit schwerer Zunge. „Und wer uns nicht Bescheid thut, dem schlagen wir alle – alle Knochen entzwei!“

Dabei fuchtelte er mit den Armen in der Luft herum, und seine kleinen, tückischen Augen bohrten sich in Hudetz’ blasses Gesicht. Ein Erschauern der Furcht und des Entsetzens lief diesem plötzlich über den Leib, denn nun erkannte er in dem Sprechenden jenen Strolch, welcher ihm vor einer Reihe von Wochen in der Friedrichstraße so drohend gegenübergetreten war. Und er ergab sich bereitwillig in alles, was man von ihm verlangte. Zweimal leerte er auf die Gesundheit der beiden Gesellen unter ihrem rohen Gelächter sein Cognacglas, und er würde vielleicht den Ausweg aus dem Keller nicht mehr gefunden haben, wenn die treuen Freunde nicht plötzlich ohne eigentliche Veranlassung in einen heftigen Streit miteinander gerathen wären und ihre Aufmerksamkeit infolgedessen von ihrem Opfer abgewendet hätten. Diese günstige Fügung benutzte Hudetz zur Flucht. Das verschnürte Päckchen fest an sich drückend, flog er die Treppe empor. Oben aber mußte er sich wohl eine Minute lang am Thürpfosten festhalten, weil sich alles in einem tollen Wirbeltanze vor seinen Augen drehte, und weil er die beängstigende Empfindung hatte, daß er zu Boden stürzen müßte, sobald er die Stütze fahren ließe.

Doch der heftige Schwindelanfall ging vorüber, und wenn auch mit unsicheren, schwankenden Schritten, so konnte Hudetz doch nach einer Weile die Straße hinabgehen, ohne geradezu die gefährliche Aufmerksamkeit der in hellen Haufen daherkommenden Schulkinder auf sich zu ziehen.

Trotzdem war er berauscht, wie er es nie zuvor gewesen war, mehr noch als an jenem verhängnißvollen Vormittag, da er die Wirkung des wundersamen Giftes zum ersten Male in seinem Gehirn und in seinen Nerven gespürt hatte. Und der Rausch war ihm nicht eine Wohlthat wie sonst, wo er in ihm Vergessen seiner verzweifelten Lage gesucht hatte. Statt der rosigen, hoffnungsfreudigen Stimmung, die ihm der feurige Tröster sonst wohl zu erwecken vermocht hatte, regte sich in seinem Innern heute ein dumpfer Groll – eine still glimmende Wuth, die vielleicht ein leiser Hauch zur verzehrenden Flamme emporlodern lassen konnte – ein unbestimmter, nagender Haß, dem es nur an Ziel und Richtung fehlte, um sich in Thaten umzusetzen.

Vor der Anschlagsäule an einer Straßenecke blieb er stehen, zwecklos und absichtslos nach der Art der Berauschten, lediglich weil er andere dort stehen sah, die den Inhalt eines grellrothen Zettels studirten. Die Polizeibehörde hatte eine Belohnung von dreihundert Mark ausgesetzt für die Ergreifung eines Raubmörders, auf den man seit Wochen vergebens fahndete. Obwohl ihm die Buchstaben ein wenig vor den Augen flimmerten, las Hudetz doch mit wachsender Aufmerksamkeit den Wortlaut der Bekanntmachung. Die Beschreibung des an einem alten Geldverleiher verübten Verbrechens ließ ihn trotz der grausigen Einzelheiten vollständig kalt; aber in seinem Herzen erwachte eine merkwürdige Theilnahme für den unbekannten Mörder, der ja vielleicht auch ein Gehetzter und Verfolgter gewesen war wie er selbst, ehe die Verzweiflung ihn zu dem Letzten, Aeußersten getrieben hatte. Er mochte sich wohl gleich ihm in den elendesten Wirthshäusern und Gasthöfen umhergetrieben haben, bis der letzte Pfennig seiner Barschaft verzehrt war, bis man ihn mit Fußtritten auf die Straße hinausgeworfen, ihn verhöhnt und mißhandelt hatte, obwohl er doch ein Mensch war wie die anderen und Hunger, Kälte, Schmerz empfand wie ein Mensch.

War es denn wirklich etwas so Ungeheuerliches, ein Mörder zu werden, wenn man einmal auf dieser letzten Stufe angekommen war, da, wo der Jammer anfängt, sich in Wahnsinn zu wandeln? Gab es nicht der überflüssigen Schmarotzer genug, die zu beseitigen viel eher ein Verdienst war als ein Verbrechen? Welchen Nutzen hatte denn die Menschheit zum Beispiel von diesem eleganten Modegecken, der da hart an seiner Seite stand, den goldenen Stockknopf an das spitze Kinn gedrückt und die matten, wässerigen Augen mit einem Ausdruck schlaffer Neugier auf das rothe Blatt geheftet? Hudetz konnte den brennenden Blick nicht mehr von den verlebten Zügen des Menschen wegwenden. Der fade, süßliche Fliederduft, der von dessen parfümirten Haaren und Kleidern ausging, verursachte ihm ein fast unerträgliches Unbehagen. Er haßte den Menschen um dieses widerwärtigen Duftes willen, und es zuckte ihm in den Fäusten wie von unwiderstehlichem Verlangen, ihn zu erwürgen.

Vielleicht regte sich in dem geschniegelten Herrn eine unbestimmte Ahnung von den fürchterlichen Gedanken, die in dem Hirn seines schäbigen, stier blickenden Nachbarn ihr Wesen trieben; vielleicht auch hatte der heiße Athem des ehemaligen Studenten seinen Hals gestreift; denn er wandte sich plötzlich kurz um, sah Hudetz mit einem scharfen Blick an und ging dann seines Weges, ohne das Plakat bis zu Ende zu lesen.

„Gut, daß er fort ist!“ murmelte der Geächtete, schwer athmend wie einer, der großer Gefahr entronnen ist, „gut, daß er gegangen ist, so lange es Zeit war!“

Andere Neugierige kamen und drängten ihn zur Seite. Da die polizeiliche Kundmachung seinem Gesichtskreis entrückt war, las er gedankenlos die Anzeigen der Theater und Vergnügungslokale.

Plötzlich aber rüttelte ein Name, auf den er da gestoßen war, alle seine Lebensgeister aus ihrem dämmernden Traumzustande auf.

„Schillertheater,“ wiederholte er halblaut für sich selbst, „heute: Kean oder Leidenschaft und Genie. Morgen und übermorgen: dieselbe Vorstellung. Sonntag: Minna von Barnhelm oder das Soldatenglück. Vorher: Die Geschwister, Schauspiel von Goethe. Marianne: Fräulein Marie von Brenckendorf als erstes Auftreten.“

Der Name „Marie von Brenckendorf“ war mit fetten, auffallenden Buchstaben gedruckt. Der Direktor versprach sich offenbar einige Anziehungskraft von demselben.

[479] Und Hudetz starrte auf diesen Namen, als schlösse derselbe alles in sich ein, was auf dieser Welt noch Werth und Bedeutung für ihn hatte. Und eine fast wunderbare Veränderung ging in seinem Aeußeren vor. Seine zusammengesunkene Gestalt hatte sich gehoben und gestrafft, seine fahlen Wangen brannten in heißer Gluth. In all der grausamen Angst und Noth, die ihn seit dem Tode der Alten unablässig verfolgt hatte, war ja die Gestalt seiner schönen, vornehmen Zimmernachbarin nicht für einen einzigen Augenblick aus seinem Geiste verdrängt worden. Nur immer verklärter, immer überirdischer und herrlicher hatte sie sich seiner Einbildung dargestellt – immer schwärmerischer war seine Sehnsucht geworden, noch einmal den weichen Klang ihrer Stimme zu hören, noch einmal ihre strahlenden Augen und den goldigen Schimmer ihres Haares zu sehen.

Fast unwillkürlich preßte er van Eycks Gemälde, das ihn jetzt auf seinen irren Wanderungen durch die Stadt nicht für die Dauer einer Sekunde mehr verließ, inbrünstiger an seine Brust. Es war ihm ja längst zur unumstößlichen Gewißheit geworden, daß zwischen dem Madonnenideal des frommen Niederländers und zwischen Marie von Brenckendorf eine wundersame Aehnlichkeit bestehe. Nicht nur in seinen wilden nächtlichen Träumen, sondern auch in jenem neuerdings immer häufiger wiederkehrenden Zustande, wo sich ihm bei hellem Tage und bei sonst ganz klarer Besinnung merkwürdige Phantasiegebilde in die Wahrnehmung der ihn umgebenden Wirklichkeit drängten, schmolzen ihm oft die Madonna im Rosenhag und das schöne, lebendige Mädchen völlig in ein einziges Wesen zusammen, und in solchen Augenblicken war es schon mehr als einmal geschehen, daß er deutlich zu sehen meinte, wie über das Antlitz der gemalten Gottesmutter ein wohlbekanntes, gütiges Lächeln glitt, und wie ihre Lippen sich öffneten, um wohlbekannte, süße Laute zu flüstern. –

Als wäre durch ein Wunder all seine sonstige Schüchternheit und Scheu vor den Menschen von ihm genommen worden, ging Hudetz geradeswegs in das Bureau des Schillertheaters, um die Adresse des Fräuleins von Brenckendorf zu erfragen. Ohne auch nur für die Dauer einer Minute in seinem Entschlusse wankend zu werden, suchte er dann die ihm bezeichnete Wohnung auf. Es war ein stilles, altes Haus am Büschingsplatz, das er betrat. Niemand begegnete ihm, während er in den zweiten Stock emporstieg, und von den beiden Thüren, welche dort auf den Treppenflur mündeten, war die eine halb geöffnet. Man mußte in diesem Hause wenig Furcht haben vor Dieben und anderen unberufenen Eindringlingen, wenn man so sorglos zu Werke ging.

An der geschlossenen Thür war ein Porzellauschild mit der Aufschrift: Paul Tipke, Schneidermeister; auf der andern Seite aber fand sich weder ein Schild noch eine Karte.

„Hier ist es!“ sagte Hudetz laut, ohne doch für diese Gewißheit einen greifbaren Anhalt zu haben. Er wollte nach dem Glockenzuge greifen, aber er ließ die ausgestreckte Hand wieder sinken. Jetzt, wo er seinem Ziel so nahe war, gebrach es ihm plötzlich an Muth, auch noch den letzten kleinen Schritt zu wagen.

Minutenlang stand er unentschlossen, da ging über ihm im dritten oder vierten Stock eine Thür und zwei Männer kamen in lautem Gespräch die Treppe herab. Die alte Furcht, durch sein Benehmen Mißtrauen und Argwohn zu erregen, kam wieder über Hudetz. Wollte er den Nahenden unverdächtig erscheinen, so mußte er jetzt entweder herzhaft läuten oder sich unverrichteter Sache entfernen. Zu dem einen wie zu dem anderen aber fehlte ihm die Kraft des Entschlusses, und so wählte er denn ohne viel Ueberlegung den einzigen Ausweg, der ihm außer diesen beiden Möglichkeiten blieb, indem er – ohne zu klingeln, – durch die halb geöffnete Thür auf den dunkeln Vorplatz der Wohnung schlüpfte.

Die beiden Männer gingen vorüber, ohne seiner ansichtig zu werden. Hudetz aber verließ seinen Schlupfwinkel nicht wieder; denn er hatte den Klang einer Stimme vernommen, deren süßer Wohllaut ihn mit unbeschreiblichem Wonnegefühl durchschauerte und der ihn urplötzlich die ganze übrige Welt völlig vergessen ließ.

Hinter einer der drei Zimmerthüren, die auf den Gang ausmündeten, mußte sich Marie von Brenckendorf befinden, und wie er den Oberkörper ein wenig gegen die erste derselben verneigte, verstand Hudetz sogar mit voller Deutlichkeit, was sie sprach. Er dachte nicht daran, daß es unanständig sei, die Unterhaltung anderer zu belauschen, und er horchte ja auch gar nicht, weil es ihn danach verlangte, fremde Geheimnisse zu erforschen. Er wollte sie nur sprechen hören, wollte nur den melodischen Wohlklang ihrer Stimme in sich hineinsaugen mit unendlichem Behagen. Was sie sprach, galt ihm gleich. Mochte sie ihrer Aufwärterin eine Weisung ertheilen oder mochte sie die Rolle hersagen, welche sie demnächst zu spielen gedachte, – das eine würde ihn in nicht geringeres Entzücken versetzt haben als das andere.

Und er mochte wirklich meinen, daß es sich nur um eine Stelle aus einem Theaterstück handle, da er sie sagen hörte:

„Einen freundlicheren Empfang? – Nun, es mag sein, daß ich Dich höflicher oder demüthiger hätte begrüßen können in Erinnerung an die Wohlthaten, welche ich im Hause Deiner Eltern genossen habe. Aber es ist besser, daß Du mich gleich ihnen für eine Undankbare und Unwürdige hältst, als daß Du Deine kostbare Zeit in nutzlosen Bekehrungsversuchen vergeudest. Ich habe nicht erwartet, daß meine Verwandtschaft sich weiter um mich kümmern werde, und – ehrlich gesprochen, Lothar – ich habe es noch viel weniger gewünscht! Ich fordere keine Rücksichten mehr, so wenig als ich gesonnen bin, welche zu üben.“

Wie stolz sie zu sprechen wußte, wie königlich selbstbewußt! Nie hatte Hudetz sie in einem ähnlichen Tone reden hören, selbst damals nicht, als sie den Trompeter von Säckingen bemalte und ihn um seine Meinung über ihre kleinen selbständigen Kunstleistungen befragte.

(Fortsetzung folgt.)




Hauschronik.


Wie das Männchen hoch auf den Baum sich schwingt
Und Jubel über die Gärten singt!

Sein Weibchen schlüpft im Gebüsche sacht,
Wo man am besten Heimath macht,

Und freut sich an jedem Halm zum Nest,
Weil’s gar so heimlich sich bauen läßt.

Schaut tief dann hinein und mit tiefem Sinn,
Und morgen liegt’s erste Eilein drin.

O selige Freude am ersten Kind!
Bald fünf! und wie schön sie gesprenkelt sind!

Dich deck’ ich, du herziger Segen du,
Zwölf Tage lang mit mir selber zu.

Zwölf Tage – und unter ihr regt sich’s schon,
O Muttername, du süßer Ton!

Du winziges Elternkind, du kleins!
Noch eines, dann zwei noch und wieder eins.

Sieh, Vater, sie recken die Schnäblein dar,
Die Mutter lehrt sie das Bitten gar.

O emsiges Bringen, wie reichst du zart
Die Bissen, am eigenen Mund gespart!

Schon Feder um Feder im Flaum sich regt,
Fast ganz, wie’s Vater und Mutter trägt.

Zwölf Tage kaum aus dem Ei geschlüpft,
Da sind sie auch schon vom Nest gehüpft.

Nun flattert’s und schwirrt in die Freiheit aus,
Und das ist die Chronik vom ganzen Haus.

 J. G. Fischer.




[480]

Deutsche Originalcharaktere aus dem achtzehnten Jahrhundert.

Friedrich Freiherr von der Trenck.

Wir haben vor uns eine der merkwürdigsten Lebensgeschichten aus einem an Abenteuern und romanhaften Begebenheiten so reichen Jahrhundert! Der Held dieser Geschichte hat sie selbst geschrieben als ein Lehrbuch für Menschen, die wirklich unglücklich sind oder noch guter Vorbilder für alle Fälle zur Nachfolge bedürfen. Und vor dieser Lebensgeschichte, welche im Jahre 1787 zu Berlin in 3 Bänden erschienen ist (ein Abdruck auch in der Kollektion Spemann, Band 44) sehen wir das Bild des Mannes selbst, des Freiherrn von der Trenck, aber nicht in der Offiziersuniform, nicht als schmucken Kriegsmann in frischer kräftiger Jugend: nicht um der eigenen Eitelkeit zu schmeicheln, hat er dies Bild zeichnen lassen, sondern um uns die schwerste Märtyrerstation seines Lebens vorzuführen. Da sehen wir ihn im Sträflingsgewande, das handbreite Eisen um den Hals, an welchem die Kettenlast hing, die er Tag und Nacht mit einer Hand in die Höhe halten mußte, weil sie die Nerven am Halse klemmte, einen eisernen breiten Ring um den Leib, einen Ring an der Mauer, an welchem er angeschmiedet war, Ringe um beide Oberarme, die rückwärts mit Ketten an das Halseisen geschlossen waren, einen großen Ring am rechten Fuß, in welchen dreifache leichtere Ketten zusammenliefen, die aber einen ungeheuren Druck ausübten. Und zu Füßen des so gemarterten Gefangenen sehen wir einen Leichenstein, in welchen ein Todtenkopf eingehauen war und der Name Trenck. (Vergl. Bild und Anmerkung S. 481.)

Zehn Jahre lang hat der Unglückliche diese grausame Pein erduldet.

Und wer war dieser Freiherr von der Trenck, den des Großen Friedrichs Ungnade so grausam bestrafte?

Er war am 16. Februar 1726 in Königsberg geboren, wo sein Vater als Generalmajor der Kavallerie lebte; seine Mutter war eine Tochter des Hofgerichtspräsidenten von Derschau, seine Onkel waren Minister und Generale. Der junge Friedrich war ein Wunderkind von erstaunlichem Gedächtniß; er kannte seinen Cicero, Cornelius Nepos, Virgil und viele Kapitel der Heiligen Schrift auswendig. Er besaß eine seltene Arbeitskraft. Schon mit 13 Jahren bezog er die Universität und hörte juristische Kollegien, dabei auch Physik, Mathematik und Philosophie. Im sechzehnten Jahre hielt er eine öffentliche Rede und zwei Disputationen im Universitätsoratorium. Dabei schlug er sich tapfer; er hatte mehrfache Duelle. Ein Verwandter seiner Mutter, Generaladjutant des Königs, kam 1742 nach Königsberg, prüfte den jungen Mann und schlug ihm vor, nach Berlin zu reisen und dort in die Armee einzutreten. Er that es, wurde von dem König Friedrich II., dem er schon in Königsberg als einer der begabtesten Jünglinge der Universität vorgestellt worden war, gnädig empfangen und erhielt alsbald als Kadett die Uniform einer bevorzugten Truppe, der Garde du Corps. Der Dienst in dieser Truppe, welche der ganzen Armee die Manöver lehrte, war überaus schwer: alle Versuche, die der König mit der Kavallerie machen wollte, wurden hier geprobt, man sprang über Gräben anfangs von drei, zuletzt von sechs Fuß, auch wenn einige Leute dabei die Hälse brachen. Der König rief Trenck schon nach drei Wochen einmal zu sich, prüfte sein Gedächtniß, legte ihm 50 Soldatennamen vor, die er innerhalb fünf Minuten auswendiglernte, ließ ihn einen Brief in französischer und einen in lateinischer Sprache anfertigen, mit dem Bleistift eine Gegend aufnehmen und ernannte ihn dann zum Offizier. Im 18. Jahre schon erhielt er die Aufgabe, der schlesischen Kavallerie die neuen Manöver zu lehren. Der König machte ihn auch mit seiner gelehrten Umgebung bekannt: der junge Mann durfte mit Maupertuis, La Mettrie, Poellnitz verkehren.

Doch allzu früh sollte er des Königs Gunst verscherzen. Anlaß dazu gab folgende Geschichte: eine der zwei noch unverehelichten Schwestern des Königs sollte sich mit dem Kronprinzen von Schweden vermählen. Der Gesandte von Stockholm sollte die Charaktere der beiden, Amalie und Ulrike, prüfen und danach die Wahl entscheiden. Doch Amalie hatte dies erfahren. Als eifrige Calvinistin wollte sie nicht zum lutherischen Glauben der schwedischen Königsfamilie übergehen; sie schlug daher der Schwester einen „Charaktertausch“ vor, und beide führten diese Komodie mit vielem Erfolg durch. Die sanfte Amalie spielte die Stolze, Hochmüthige, Launenhafte und Ulrike nahm eine ihr ganz fremde Miene der Sanftmuth und Bescheidenheit an. Der schwedische Gesandte ging in die Falle: Ulrike wurde Königin von Schweden. Amalie aber suchte für den Königsthron, um den sie sich selbst gebracht hatte, Ersatz in einer leidenschaftlichen Liebe.

Bei den Hoffeierlichkeiten hatte es sich begeben, daß dem jungen Trenck, der als wachthabender Offizier zugegen war, die Goldfranzen seiner Schärpe von einem Spitzbuben abgeschnitten wurden. Das erregte einiges Aufsehen; man sah sich den jungen Offizier näher an und bemerkte, daß er jugendliche Schönheit besaß, hochgewachsen, gegen sechs Fuß groß, dabei von kräftiger Gestalt und blühender Gesichtsfarbe war. Auch eine vornehme Dame bemerke dies und sagte ihm mit einem vielsagenden Blick, sie werde ihn über seinen Verlust zu trösten suchen. In seinen Memoiren nennt Trenck diese vornehme Dame nicht; aber es war bald ein offenes Geheimniß, daß es die Prinzessin Amalie, des Königs Schwester, war. In wenig Tagen war Trenck der glückliche Liebhaber derselben, und außer dem Liebesglück erschloß sich ihm auch die fürstliche Schatulle mit so reichen Spenden, daß er bald der glänzendste Offizier der Garde du Corps war.

Der Feldzug von 1744 unterbrach diesen Liebesroman. Der Krieg in Böhmen war nicht glücklich; es kam zu keinem ernsten Zusammenstoß, aber die leichten Truppen der Feinde thaten großen Schaden. Dem jungen Trenck gelang es, bei einem soldatischen Abenteuer, bei dem er sich noch dazu sehr unvorsichtig benahm, so daß er nur durch einen glücklichen Zufall gerettet wurde, 22 Gefangene zu machen und Fouragewagen ins Lager zu bringen.

Nach Berlin zurückgekehrt, war er unvorsichtiger als früher in seinem Verkehr mit der Prinzessin. Es gab allerhand Klatschereien, und Trenck mußte einen Offizier zur Rede stellen und sich mit ihm schlagen. Dem König konnte das Verhältniß nicht geheim bleiben, gleichwohl mußte er sich den Anschein geben, als wisse er nichts davon, weil sonst die Würde des Königshauses darunter gelitten hätte, denn er konnte Trenck nicht zur Rechenschaft ziehen, ohne die Prinzessin mit bloßzustellen; aber er wollte durch harte Behandlung den jungen Offizier fühlen lassen, daß er die königliche Gnade verscherzt hatte. Für die kleinsten Disciplinarvergehen erhielt er unverhältnißmäßig schwere Arreststrafen. Bei alledem erkannte der König die soldatische Tüchtigkeit Trencks an. Den Feldzug von 1745 machte dieser als Adjutant des Königs mit, betheiligte sich an den Schlachten von Hohenfriedberg und Soor mit gewohnter Tapferkeit und erhielt, ein 19jähriger Jüngling, nach der ersteren den Orden pour le mérite. Doch der stille Groll, den der König gegen ihn im Herzen trug, sollte neue Nahrung erhalten durch einen Zwischenfall, der ihm die Treue Trencks verdächtig erscheinen ließ.

Dieser hatte einen Vetter im österreichischen Lager, es war das der berüchtigte Pandurenobrist Franz von der Trenck, ein tapferer, wilder Soldat, aber ein grausamer, bösartiger Mann, der mehrfach Proben einer wahren Berserkerwuth gegeben hatte, dem im Krieg nichts heilig war, der weder Kirche noch Altar, weder Frauen noch Kinder schonte. Dieser, eben so geizig wie reich, besaß in Slavonien ausgedehnte Besitzthümer. Gegen Räuberbanden, die sich an der Grenze Slavoniens und der Türkei umhertrieben, hatte er dort aus seinen Vasallen ein Streifcorps gebildet, das er im Jahre 1740 wesentlich verstärkt und der Kaiserin Maria Theresia für den Krieg mit Preußen und Frankreich zur Verfügung gestellt hatte; er nahm in dies Corps ohne weiteres Bedenken auch 300 der gefangenen Banditen auf, und als diese sich einmal gegen ihn auflehnten, begann er, jeden vierten Mann niederzusäbeln und dann rechts und links wie ein Wahnsinniger einzuhauen, bis alle um Gnade flehten.

Dieser wilde Vetter hatte unsern Friedrich das Jahr vorher zum Universalerben eingesetzt und verkehrte mit ihm in ritterlicher Weise; er schickte ihm einmal, als er erfuhr, daß Friedrich im Scharmützel sein Pferd verloren, zwei Pferde zum Ersatz. Die Feinde des preußischen Offiziers setzten hier den Hebel ein, ihn aus der Gunst des Königs zu verdrängen; sie verfaßten falsche Briefe, die ein sehr vertrauliches Verhältniß zwischen den beiden [481] zu bezeugen schienen. Das streifte an Landesverrath, wie das Verhältniß zur Prinzessin an Hochverrath. König Friedrich beschloß, den jungen Trenck auf längere Zeit unschädlich zu machen, ließ ihn verhaften und, ohne Kriegsgericht, durch eine Husareneskorte auf die Festung Glatz bringen. Merkwürdigerweise hatte der Vetter Franz fast um dieselbe Zeit das gleiche Schicksal; er wurde beschuldigt, in der Schlacht bei Soor das preußische Lager geplündert, das Zelt- und Silbergeräth des Königs mit fortgeschleppt zu haben, statt den Preußen in den Rücken zu fallen und so ihren Sieg zu hindern. So wurde er vor ein Kriegsgericht gestellt und in einen langwierigen Prozeß verwickelt.

Die Schilderungen , welche uns Trenck von dem Leben in der Festung Glatz entwirft, zeigen die damaligen militärischen Verhältnisse Preußens in einem eigenthümlichen Lichte: die große Mehrzahl der Offiziere ist bei den Fluchtversuchen, welche Trenck unternimmt, mit im Komplott, und zwar durch Geld bestochen, denn seine hohe Gönnerin war nach wie vor von größter Freigebigkeit und sie stand mit ihm durch Vermittlung eines Offiziers in Verbindung. Eine Erklärung für diesen auffälligen Mangel an Disciplin mag man darin suchen, daß die meisten Offiziere der Garnison zur Strafe von den Feldregimentern dorthin versetzt und daher unzufrieden und mißvergnügt waren.

Drei höchst abenteuerliche Versuche, aus der Festung zu entkommen, machte der verwegene Arrestant mit Hilfe befreundeter Offiziere; aber erst der dritte sollte ihm glücken. Das erste Mal durchschnitt er, nachdem vorher in der Stadt Glatz eine Zuflucht gesichert worden war, mit einem schartig gemachten Federmesser drei dicke eiserne Stangen, weitere fünf mit einer Feile, die ihm ein Offizier verschafft hatte; dann schnitt er sein ledernes Felleisen in Riemen, nähte diese mit einem aufgelösten Zwirnstrumpf zusammen, nahm sein Bettlaken zu Hilfe und ließ sich von erstaunlicher Höhe glücklich herunter. Die Nacht war finster; alles ging nach Wunsch; da mußte er durch die Senkgrube einer öffentlichen Kloake wandern; hier blieb er stecken, konnte nicht weiter mit dem Aufgebot aller Kräfte und rief zuletzt der Schildwache auf der Schanze zu, sie möchte dem Kommandanten melden, der Trenck stecke hier und könne nicht fort. Der Kommandant, General Fouqué, ließ ihn möglichst lange in der tragikomischen Lage, bis er dann herausgezogen und, mit Schmutz bedeckt, in sein Gefängniß zurückgeführt wurde.

Fridrich Freyherr von der Trenck
K K Major der Cavall. in seiner 10 Jährigen Gefängnis und 68 Pfündigen Fesseln in Magdeburg.
J. E. Mansfeld delin / H. J. Finningh sculp. Berol. 1787. N. 16.[1]

Noch abenteuerlicher und fast unglaublich erscheint die Geschichte des zweiten Fluchtversuchs. Der Platzmajor kam in Trencks Gefängniß, begleitet von seinem Adjutanten, untersuchte alle Winkel und ließ sich mit Trenck in eine Unterredung ein. Auf Trencks Frage, auf wie lange ihn der König verurtheilt habe, erwiderte der Major, ein Verräther des Vaterlandes, der mit dem Feinde korrespondirt, habe keine bestimmte Zeit der Strafe; er müsse auf die Gnade des Königs rechnen. Da riß Trenck ihm den Degen von der Seite, sprang zur Thür hinaus, warf die erschrockene Schildwache die Treppe hinunter, stürzte mit dem Degen in der Faust auf die gerade unter dem Gewehr stehende Wache am Stockhausthore zu, hieb rechts und links um sich, verwundete vier Mann, lief mitten hindurch, sprang auf die Brustwehr des Hauptwalls und von der gewaltigen Höhe hinunter, ohne sich Schaden zu thun; ebenso sprang er von dem zweiten niedrigeren Wall hinab. Niemand hatte ein geladenes Gewehr, niemand wollte nachspringen. Aber bei einem Außenwerk traten ihm die Schildwachen entgegen. Die eine verwundete er; als er aber über die Palissaden springen wollte, blieb er mit dem Fuße zwischen denselben stecken. So wurde er festgehalten, mit Kolbenstößen mißhandelt und in sein Gefängniß zurückgebracht.

Endlich gelang es Trenck, einen der wachthabenden Offiziere, einen Lieutenant von Schell, ins Komplott zu ziehen. Infolge eines Mißverständnisses glaubten sie, daß die Sache verrathen sei; da machte sich Lieutenant Schell alsbald mit Trenck auf den Weg, um an die äußersten Außenwerke zu kommen. Jetzt aber begegnet ihnen ein Major, sie springen den Wall hinunter, der hier nicht sehr hoch war, doch Schell verletzt sich den Fuß und kann nicht weiter. Trenck trägt ihn auf seinen Schultern fort. Die Lärmkanone ertönt . . . doch ein trüber Nebel verhüllt Stadt und Festung und kommt den Flüchtlingen zu statten. Trenck watet durch die Neisse, sein Freund hält sich an seinem Haarzopfe fest. Hier in der Richtung nach Schlesien hin sucht niemand die Deserteure. Sie gehen nun eine halbe Stunde die Neisse entlang, bis sie die nächsten Dörfer hinter sich haben; dann bemächtigen sie sich eines Fischerkahns, kommen so ans andere Ufer und nach mancherlei Gefahren und Abenteuern glücklich nach Braunau in Böhmen.

Die weiteren Fahrten der beiden Flüchtlinge, die ohne alle Mittel in einem kläglichen Aufzug durch die österreichischen Lande und dann durch Polen wanderten, hat Trenck in einem Tagebuche aufgezeichnet; es sind Abenteuer, wie sie in keinem Schelmen- und [482] Vagabondenroman in bunterer Fülle wuchern können. In Thorn mußte Trenck, nach einem Zusammenstoß mit preußischen Werbern und Stadtsoldaten, seinen Reisegefährten zuletzt zurücklassen und allein nach Elbing wandern, wo er endlich seine Mutter traf, die ihn aus allen Verlegenheiten riß. Er hatte 169 Meilen durchwandert und beim Antritte seiner Wanderschaft nicht mehr als 4 Gulden in der Tasche gehabt. Gleichwohl hatte er nicht gebettelt und nicht gestohlen, aber Ungemach und Hunger in reichem Maße erdulden müssen.

Einige Zeit später finden wir Trenck, der inzwischen mancherlei Schicksale erlebt hatte und einmal auch bereits auf dem Wege nach Ostindien gewesen war, in russischen Diensten als Hauptmann im Tobolskischen Dragonerregiment wieder. Um seine Mutter und seine Geschwister zu sprechen, bat er sich die Gnade aus, 140 Kranke von Krakau auf der Weichsel nach Danzig und von da ab mit russischen Schiffen nach Riga geleiten zu dürfen. In Elbing angekommen, eilte er nach Ermland, um dort seine Verwandten zu sprechen. Da wurde er in einem Grenzdorfe in unliebsamer Weise von den Bauern angegriffen. Es waren kurz vorher Preußen im Dorfe gewesen und hatten einen Bauernsohn als Rekruten fortgeschleppt. In seinem blauen russischen Dragonerrock wurde Trenck für einen Preußen gehalten. Man fiel mit allerhand Mordprügeln über ihn her, sein Bedienter hatte sich mit den Pistolen in einen Backofen verkrochen; nur der Wirth und ein auf Urlaub befindlicher Jäger halfen ihm, sich des Angriffs erwehren. Doch man hatte ihm das Nasenbein zerschlagen; sein Kopf, seine Augen waren verschwollen; er brauchte acht Tage, um sich ausheilen zu lassen.

Weit verhängnißvoller in seinen Folgen war ein anderes Abenteuer Trencks. In Danzig, wo er wieder zu seinen Kranken gestoßen war, machte er die Bekanntschaft eines preußischen Offiziers, mit dem er öfter spazieren ritt. Auch sein Bedienter befreundete sich mit dem Bedienten desselben. Wie war Trenck erstaunt, als ihn sein Bedienter eines Tages vor dem preußischen Lieutenant warnte, der ihn vor das Thor locken, dann gefangennehmen, in einen Wagen werfen und in preußische Hände liefern wolle! Trenck erfuhr selbst durch weitere Nachforschungen das Nähere und rüstete sich zur Gegenwehr. In der Vorstadt Langfuhr war ein Wirthshaus auf preußischem Grund und Boden: dort sollten acht Werbeunteroffiziere, nur mit ihren Säbeln bewaffnet, hinter dem Thore auf Trenck lauern und ihm sogleich in die Arme fallen. Zwei Unteroffiziere waren beritten und sollten ihn dann weiter befördern. Trenck brauchte, um den ganzen Anschlag zum Scheitern zu bringen, nur die Einladung zum Spazierritt auszuschlagen, die seitens des verrätherischen Offiziers an ihn erging; doch das war nicht seine Art und Weise, er wollte den Verräther an Ort und Stelle entlarven. Sechs Russen ließ er sich dem Wirthshause gegenüber im Korn verstecken, sie sollten auf den ersten Schuß ihm mit gespanntem Hahn zu Hilfe eilen. Am Tage selbst erfuhr er noch, daß auch der preußische Resident Reimer mit Postpferden dort hinausgefahren sei. Auf den Wunsch des Lieutenants war Trenck vom Pferde gestiegen; als sie dem Wirthshause sich näherten, lag Reimer am Fenster und rief heraus. „Guten Morgen, Herr Hauptmann, herein, herein da, soeben ist das Frühstück fertig!“ Trenck antwortete, er habe keine Zeit, und wollte weiter vorwärts. Da faßte sein Begleiter ihn am Arm, um ihn hineinzunöthigen. Doch Trenck riß sich los, gab ihm eine Ohrfeige und sprang seinen Pferden zu. Da drangen die Preußen aus dem Thore mit Geschrei auf ihn los; er schoß auf den ersten seine Pistole ab, – das Zeichen für die Russen, aus dem Korn hervorzubrechen. Die Preußen liefen davon, doch wurden ihrer vier gefangen und auf Befehl Trencks mit Stockprügeln traktirt. Obgleich Trenck sofort ins Haus stürzte, entwischte der Resident doch durch die Hinterthür und ließ dem Verfolger nur seine weiße Perücke zurück. Dann zog Trenck seinen Degen und forderte den verrätherischen Lieutenant auf, sein Leben zu vertheidigen, doch dieser war so bestürzt, daß er sich nicht zu vertheidigen wagte; er schob alle Schuld auf den Residenten. Nun nahm Trenck einen russischen Korporalsstab und prügelte den Verräther, so lange er konnte. Er ließ ihn übel zugerichtet zurück und rief ihm zuletzt zu: „Schurke, jetzt erzähle Deinen Kameraden, wie der Trenck Straßenräuber zu züchtigen weiß!“

Dieser Vorfall wurde natürlich dem König Friedrich berichtet und trug nicht wenig dazu bei, dessen Erbitterung gegen Trenck aufs höchste zu steigern. Der Dragonerhauptmann ging indeß mit seinen Kranken zu Schiffe. Eine für ihn gefährliche Landung bei Pillau wußte Trenck mit der Pistole in der Hand zu verhindern. Am folgenden Tage lief das Schiff glücklich in den Hafen von Riga ein.

In Moskau wurde Trenck der Günstling des englischen Gesandten Lord Hyndfordt und von demselben bei Hofe und der Kaiserin vorgestellt; er verfertigte ein Gedicht auf ihren Krönungstag, wofür er einen goldenen Degen im Werthe von 1000 Rubeln erhielt. Auch durch Zeichnungen und Ingenieurarbeiten machte er Glück. Noch mehr Glück aber hatte er bei den Frauen. Eines der schönsten Mädchen, das im Alter von 17 Jahren einen 60jährigen russischen Minister heirathen sollte, der 300 Pfund wog, verliebte sich in ihn; sie traf sich öfters insgeheim mit ihm und wünschte sehnlichst, Trenck möchte sie doch von dem verabscheuten Bräutigam erretten, sie entführen. Doch die Flucht aus Moskau war unmöglich; die Hochzeit des Mädchens mit dem ungeliebten Hofmanne fand statt mit aller Pracht. Von St. Petersburg aus, wohin sich das Ehepaar begeben wollte, hofften die Liebenden entfliehen zu können, da raffte ein früher Tod das schöne junge Weib dahin. Eine der ersten Hofdamen, der Kanzlerin B., schließt darauf Trenck in ihr Herz, und durch ihre Gunst wird er in alle Geheimnisse der Politik eingeweiht; sie enthüllte ihm eine Intrigue des preußischen Gesandten, die ihm – es handelte sich um eine Zeichnung der Festung Kronstadt – fast eine Anklage wegen Landesverraths zugezogen hätte.

Als Trenck dieser Gefahr entgangen war, erfuhr er, daß sein Vetter Franz auf dem Spielberge in Brünn gestorben sei und ihn unter der Bedingung zum Erben eingesetzt habe, daß er keinem andern Herrn als dem Hause Oesterreich dienen werde. Auf den Rath seiner Freunde, nicht ohne inneren Widerwillen, entschloß er sich, nach Wien zu reisen. Er nahm seinen Weg über Petersburg, Stockholm, Kopenhagen, mußte bei der Fahrt nach Holland in Gothenburg Anker werfen und benutzte den neuntägigen Aufenthalt, reiches Geld den Bewohnern der öden Felseninsel zu spenden, hatte in Amsterdam Händel mit einem Harpunirer, dem er mit seinem Säbel die rechte Hand abhieb, und traf im Jahre 1750 in Wien ein. Aber er hatte dort kein Glück; seine Erbschaft wurde ihm durch alle erdenklichen Plackereien verleidet. Der Vater des Pandurenführers hatte ihn schon dem eignen Sohne substituirt für die ungarischen Güter, dieser selbst aber ihn zum Universalerben eingesetzt, ohne auf jenes frühere Testament Rücksicht zu nehmen. Friedrich wollte sich mit den vom Onkel ihm vermachten Gütern begnügen und auf die Universalerbschaft verzichten, weil sie an die Bedingung geknüpft war, daß er katholisch werde und österreichische Dienste nehme; doch die Kaiserin erklärte, er dürfe nichts von der Trenckschen Masse sich aneignen, wenn er nicht die Bedingungen im Testament des Vetters erfüllt habe. So wurde er in einer möglichst äußerlichen Form katholisch und erhielt eine Rittmeisterstelle bei dem Corduaschen Kürassierregiment in Ungarn. Er hatte wegen seiner Erbschaft 63 Processe führen müssen und von den großen Reichthümern seines Vetters blieben ihm zuletzt nur 63000 Gulden.

Als Trencks Mutter 1754 gestorben war, begab er sich zur Regelung seines Nachlasses nach Danzig. Hier aber widerfuhr ihm das verhängnißvollste Unglück seines Lebens: er fiel in die Hände der Preußen. Als er sich zur Abreise anschickte und eben auf einem schwedischen Schiff einschiffen wollte, wurde er mitten in der Nacht überfallen und durch ein Kommando von 30 Husaren nach Berlin geführt. Ein Verleumder hatte dem König hinterbracht, Trenck plane einen Anschlag auf ihn; das häufte natürlich die Summe der Verschuldungen Trencks gegen Preußen und den König, so daß der letztere die strengste Strafe für geboten hielt.

In Berlin wurde Trenck aufs genaueste untersucht und ausgeforscht; man nahm ihm sein Geld und seine Werthsachen und brachte ihn in das Staatsgefängniß von Magdeburg. Allen Offizieren war bei Androhung strengster Strafe von dem König der Befehl ertheilt, ihn aufs schärfste zu bewachen, und diese übertrieben natürlich die Strenge. Zwar wurde der Gefangene nicht gleich mit jenen Ketten belastet, die wir schon geschildert haben, doch litt er furchtbar an Hunger; die kleine ihm zugemessene Ration Brot genügte ihm nicht entfernt, da er ein starker Esser war. Das Gefängniß, in welchem sich Trenck zuerst befand, war zwar nicht 80 Fuß unter der Erde, wie er selbst in seinen Memoiren angiebt, aber es war immerhin in einer unterirdischen Kasematte angebracht. Uebrigens [483] war es keineswegs ganz dunkel, obschon der Gefangene weder Himmel noch Erde sehen konnte.

Wieder begann er seine Fluchtversuche und arbeitete an einem unterirdischen Gang, welcher ihn in eine benachbarte Kasematte führen sollte, deren Thür stets offen stand. Der König erfuhr, daß Trenck mit einigen Soldaten im Einverständniß stehe, ließ einen derselben hängen, den andern gassenlaufen, und für Trenck sollte ein eignes Gefängniß hergerichtet werden. Dieser fuhr zunächst mit seinen unterirdischen Minirarbeiten fort, da dieselben nicht verrathen worden waren; doch als er eben dem Ziel nahe war, wurde er in das neue Gefängniß gebracht, wo er jene erdrückende Kettenlast tragen mußte. Die neue Zelle war feucht; das Wasser tropfte von der Decke, er stand ungefähr sechs Monate mitten im Wasser – und doch litt seine Gesundheit nicht darunter. Er machte fortwährend neue Fluchtversuche, doch ohne Erfolg – nur fand er später ein Mittel, sich von seinen Ketten zu befreien, die er rasch wieder aufnahm, wenn die Wächter kamen. Man trieb die Grausamkeit soweit, ihn nicht schlafen zu lassen: alle Viertelstunden wurde er durch die Schildwachen aufgeweckt. Das ging so vier Jahre hindurch.

Einen seltsamen Gefängnißsport hatte Trenck sich zurechtgemacht: ähnlich wie Silvio Pellico in seinem Gefängniß eine Spinne, so hatte Trenck sich eine Maus abgerichtet; aber auch das Thierchen wurde ihm nicht gelassen. Der Inspekeur des Gefängnisses, welcher Kunde erhalten hatte von diesem lebendigen Spielzeug, ließ es ihm fortnehmen.

Ab und zu, wenn es ihm gelungen war, die wachhabenden Offiziere zu gewinnen, fehlte es ihm nicht an Schreibmaterial und Licht, ja sogar Bücher wurden ihm zugesteckt. Aber auch ohne diese Hilfsmittel entwarf er ganze Reden, Fabeln, Gedichte und Satiren, trug sie mit lauter Stimme vor und prägte sie seinem Gedächtnisse ein, so daß er nach seiner Freilassung imstande war, gegen zwei Bände solcher Arbeiten aus dem Kopfe niederzuschreiben. Auch gelang es ihm, in die zinnernen Trinkbecher Verse und Zeichnungen mit Hilfe eines gewöhnlichen Nagels einzugraben. Prinzessin Amalie hatte ihren Freund nicht vergessen; sie schickte ihm große Summen zu, womit er die Offiziere der Garnison bestach, und wieder war ein Fluchtplan der Ausführung nahe, als der Gefangene selbst sie durch thörichte Ruhmredigkeit vereitelte. So wurde er von jetzt ab nur strenger bewacht als früher. Erst am 24. Dezember 1763 erschloß sich ihm die Pforte seines Kerkers, in welchem er 9 Jahre, 5 Monate und einige Tage gesessen hatte. Maria Theresia, welche einen jener Becher zu Gesicht bekommen hatte, in welchen er einen Weinberg eingravirt, der an die Geschichte des Naboth erinnerte, nahm lebhaften Antheil an dem Gefangenen. Möglich, daß nach Abschluß des Hubertusburger Friedens sich diese Verwendung wirksamer erwies als früher. Die unglückliche Prinzessin Amalie hatte keine Kosten gescheut, um die österreichischen Minister zu gewinnen; in Thränen und Trauer hatte sie die elf letzten Jahre zugebracht.

Nach diesem großen Märtyrerthum seines Lebens hatte Trenck noch genug kleinere Leiden zu erdulden. In Wien war er eine Zeit lang Gefangener durch die Intriguen derjenigen, welche über die Verwaltung der Erbschaft seines Vetters nicht Rechenschaft geben wollten. Er wurde für halb wahnsinnig erklärt und erst als Kaiser Franz I. selbst den Gefangenen besucht hatte, um sich von seinem Geisteszustand zu überzeugen, wieder freigelassen. Zum Major ernannt, begab er sich nach Aachen, wo er 1765 die Tochter des Bürgermeisters heirathete. Hier beschäftigte er sich eifrig mit publicistischen Arbeiten, wechselte selbst Briefe mit Kaiser Josef II., dem er mancherlei Vorschläge für seine Reformen machte, schrieb ein Epos „Der macedonische Held“, gab eine Zeitschrift „Der Menschenfreund“ heraus, die in Oesterreich verboten wurde. Er ließ sie dann eingehen, um seine Gönnerin Maria Theresia nicht zu erzürnen. In den Jahren 1774 bis 1777 machte er große Reisen in Frankreich und England; er wurde mit Franklin befreundet, der ihm in Amerika eine glänzende Laufbahn verschaffen wollte. Doch aus Liebe zu seiner Frau und seinen Kindern ging er auf diese Vorschläge nicht ein. Er hatte inzwischen ein einträgliches Geschäft mit ungarischen Weinen betrieben; aber durch eine Betrügerei englischer Kaufleute und Beamten verlor er wieder den ganzen Gewinn, hatte auch sonst viele Verdrießlichkeiten mit Fürsten und Fürstendienern, so daß er, nach 16jährigem Aufenthalt in Aachen, sich zurück nach Oesterreich wandte.

Um so mehr gab er sich wieder seiner schriftstellerischen Thätigkeit hin, die unter dem Schutz der Kaiserin Maria Theresia stand. Diese zeigte sich fortwährend als seine Wohlthäterin und setzte auch seiner Frau ein Jahrgehalt aus. Auch zu mehreren vertraulichen diplomatischen Sendungen wurde er verwendet. Da starb Maria Theresia, und damit sanken auch die Hoffnungen auf eine glänzende Stellung, die Trenck an die Gunst und Gnade der Kaiserin geknüpft hatte, ins Grab.

Er zog sich dann auf sein Gut Zwerbach bei Mölk zurück, mit dessen Bewirthschaftung er sich ohne sonderlichen Erfolg beschäftigte. Dagegen gab er seine Prosawerke und seine Gedichte heraus, die ihm einen bedeutenden Ertrag abwarfen. Im Jahre 1787 wurde er von König Friedrich Wilhelm II. in Berlin und vom ganzen preußischen Hofe in so liebenswürdiger Weise empfangen, daß er in seinen Aufzeichnungen nicht Worte genug finden kann, um seine Freude darüber auszudrücken. Das Bild, das er von dem neuen König entwirft, ist jedenfalls das schmeichelhafteste, das je von diesem Monarchen gezeichnet worden ist. Auch Prinzessin Amalie sah er wieder, die Geliebte seiner Jugend, deren Liebe seines Lebens Unglück geworden war. Sie versprach, für seine Kinder zu sorgen; aber bald darauf starb sie, als ob sie nach diesem Wiedersehen in der Welt nichts mehr zu suchen gehabt hätte.

Seine in deutscher Sprache erschienene Lebensbeschreibung machte Trenck zu einem berühmten Manne, sie wurde fast in alle Sprachen übersetzt. Ueberall sah man Trencks Bildniß. Im Wachsfigurenkabinette des Palais-Royal zu Paris sah man ihn in Wachs im Gefangenenkittel mit allen seinen Ketten. Auf dem Théâtre d’Audinot wurde ein Stück gegeben, dessen Held er war und das den Titel führte: „Der Baron von Trenck oder der preußische Gefangene“.

Einen unruhigen Kopf, einen Märtyrer fürstlicher Gewaltherrschaft, wie er es war, mußte die revolutionäre Bewegung alsbald in ihre Kreise ziehen. Er schrieb Betrachtungen über die französische Revolution 1791, obschon er in Oesterreich sein Wort gegeben hatte, nichts mehr zu schreiben. Als Gefangener wurde er nach Wien gebracht, zwar nach siebzehn Tagen wieder freigelassen, aber mit dem Verluste seiner Pension bestraft. Gegen Ende desselben Jahres kehrte er nach Frankreich zurück in der Hoffnung, die damaligen Machthaber würden ihn mit offenen Armen empfangen, doch er täuschte sich; man kümmerte sich anfangs wenig um ihn; er lebte in einem Zustand des Mangels und der Entbehrung. Und die Revolution, die wie Saturn ihre eigenen Kinder verschlang, hatte auch keine Gnade für diejenigen, die in andern Ländern als Apostel der Freiheit aufgetreten waren. Und so begab sich das Unglaubliche, daß Trenck, zeitlebens ein Opfer fürstlicher Willkür, sein Leben auf dem Schaffot enden mußte, das die Männer der Freiheit errichtet hatten.

Trenck war ein Ausländer und deshalb verdächtig; man hielt ihn für einen Sendling des Königs von Preußen, und so lernte er nach den preußischen und österreichischen Gefängnissen auch noch ein französisches kennen: in St. Lazare sperrten ihn die Schreckensmänner ein. Es war die Blüthezeit des Schreckens, kurz vor Robespierres Sturz. Bestimmte Anklagepunkte konnte man gegen Trenck nicht vorbringen; er wurde in die Gefängnißverschwörungen verwickelt und auf das Blutgerüst geschickt wie hundert andere, unter dem Vorwande, eine Verschwörung zu seiner Befreiung und zum Sturze der Republik angezettelt zu haben. An demselben Tage wie André Chenier, der gefeierte königlich gesinnte Dichter, wurde er hingerichtet, am 25. Juli 1794; er zeigte sich so standhaft wie seine Schicksalsgenossen. Zur Hinrichtung schreitend, sagte er zu der Menge, die ihn neugierig umstand: „Was wundert Ihr Euch? Das ist nur eine Komödie à, la Robespierre!“ Drei Tage darauf folgte ihm dieser aufs Schaffot. Trencks Unstern wollte, daß er als eines der letzten Opfer des blutigen Regiments fiel.

So endete das Leben eines Mannes, dessen Schicksale so merkwürdig sind, daß kaum die Phantasie eines Romandichters sie wunderbarer hätte erfinden können. Er war ein Mann von Geist und Muth, aber vaterlandslos, den Lockungen des Vortheils und der Leidenschaft zugänglich – und das mag einigermaßen aussöhnen mit der seltenen Grausamkeit, mit der das Schicksal ihn behandelt hat. Er trug das Gepräge des Abenteurers – abenteuerlich war sein Leben und sein Tod.
Rudolf v. Gottschall. 


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Blätter und Blüthen.

Ein unterseeisches Torpedoboot. Seit der menschliche Erfindungsgeist den Torpedo in den Seekrieg eingeführt hat, ist er auch nicht müde geworden, an der Lösung einer zweiten Aufgabe zu arbeiten, die dem Torpedo erst seine volle Wirksamkeit sichern würde, an dem Bau eines unterseeischen Bootes, das imstande wäre, sich unsichtbar und unerreichbar mit seiner furchtbaren Sprengladung an das feindliche Schiff heranzumachen. Schon der erste Erfinder einer torpedoähnlichen Vorrichtung, der Amerikaner David Bushnell, baute 1776 ein steuerbares Unterseeboot, um mit dessen Hilfe seine pulvergefüllten und durch ein ablaufendes Uhrwerk entzündbaren Minengefäße an die hölzernen Schiffskörper des Feindes anzuschrauben. Aber seine Erfindung blieb ohne Erfolg, und auch alle späteren ähnlichen Versuche scheiterten hauptsächlich daran, daß die unterseeischen Boote bei ihrem verderblichen Thun selbst zu großer Gefahr ausgesetzt waren, als daß Vortheil und Nachtheil im richtigen Verhältniß gestanden hätten. Noch im Jahre 1864 gelang es einem solchen unterseeischen Boote, ein Kriegsschiff zu vernichten, aber das Boot ging selbst mit zu Grunde. So sind in den Marinen der heutigen Großstaaten nur überseeische Torpedoboote in Verwendung, denen man eben durch ihre Form, ihre Schnelligkeit, ihren Anstrich etc. möglichst viele von den Vortheilen des Unterseebootes zu verleihen sucht.

Spanisches Torpedoboot auf der Reede vor Anker.
Zeichnung von Willy Stöwer.

In letzter Zeit ist nun aber ein spanischer Marineoffizier mit einem neuen Versuche der Lösung hervorgetreten. Er hat ein Boot von der Gestalt einer Cigarre gebaut, das 24 Meter in der Läuge und stark 3 Meter in der Breite mißt, und das durch 2 Schrauben vorwärtsbewegt wird. Zum Betrieb der Schrauben dient eine elektrische Batterie, die zugleich auch die Explosion des Sprengstoffes bewirkt. Drei Personen genügen zur Bedienung des Bootes, doch kann es im Nothfalle deren fünf aufnehmen. In der Mitte der Oberfläche befindet sich die Oberlichtluke, darunter die Kammer des Kommandanten, der imstande ist, von seinem Platze aus das Steuer und alle anderen Vorrichtungen zu regieren. Schließt man nun die Luke, so schiebt sich ein Geschoßhalter mit Zündspitze aus dem Bootskörper heraus, und mit dieser Spitze berührt das untergetauchte Boot den feindlichen Schiffskörper – die Explosion erfolgt.

Geheimniß des Erfinders und der spanischen Marineverwaltung ist die Zusammensetzung des Sprengstoffs, der stark genug sein muß, den feindlichen Panzer zu sprengen, und doch dem eigenen Boote nichts zu leide thun darf, und der Mechanismus, welcher letzteres zum Sinken bringt und seine Unterwassertiefe regelt.

Spanisches Torpedoboot, vor dem feindlichen Geschwader untertauchend.
Zeichnung von Willy Stöwer.

Vielleicht, daß es jetzt gelungen ist, alle Schwierigkeiten zu überwinden, wenigstens sollen die bisher gemachten Versuche die günstigsten Ergebnisse geliefert haben. Denn auch aus Frankreich wird berichtet, daß im Hafen von Cherbourg kürzlich Proben mit einem unterseeischen Boote stattgefunden hätten, die nicht minder Beweise einer erstaunlichen Leistungsfähigkeit erbracht haben sollen. Daß die deutsche Marineverwaltung ein scharfes Auge auf diese Fortschritte der Technik hat, wissen wir aus kurzen Zeitungsnotizen über die in den einzelnen Häfen vorgenommenen Manöver und Versuche, wenn auch über die Einzelheiten derselben weniger in die Oeffentlichkeit dringt.

Das Oberammergauer Passionsspiel. Unser Artikel über das Oberammergauer Passionsspiel in Halbheft 13 bedarf nach Aenderungen, die inzwischen eingetreten sind, in einem Punkte der Berichtigung. Es ist nicht mehr zutreffend, daß man „am frühesten Morgen von München ausfahrend, das ganze Spiel ansehen und abends wiederum in München sein kann“. Denn die Generaldirektion der kgl. bayer. Staatseisenbahnen hat den eigens wegen der Passionsspiele eingelegten Frühzug von München aus wieder eingehen lassen infolge von eigenthümlichen Maßregeln der Oberammergauer Gemeinde, welche nur demjenigen, der am Vorabend des Spiels in Oberammergau eingetroffen ist, den sicheren Bezug eines Billets zu der Vorstellung – auch eines vorausbestellten – ermöglichen. Entweder erhält man nämlich sein Billet durch die Vermittelung des Quartierwirths, was die Benützung eines Quartiers, also ein Uebernachten voraussetzt; oder man hat sich ein Billet vorausbestellt: dann muß man es sich in den Kassenstunden des Vorabends abholen, weil am Spieltag selbst von morgens 6 Uhr ab auch diejenigen bestellten Billette mitverkauft werden, die bis dahin noch nicht erhoben sind. Da nun aber wohl wenige die Reise nach Oberammergau auf gut Glück unternehmen werden, ob sie wohl auch einen Platz bei den Spielen erhalten, die meisten vielmehr unter allen Umständen sicher gehen möchten, so ergiebt sich, daß der Frühverkauf von Billetten am Spieltage für die Fremden thatsächlich bedeutungslos ist. Nur mit großem Bedauern geben wir unsern Lesern von diesen Anordnungen Kunde. Denn sie werfen auf den Geist, der die Oberammergauer und ihr Passionsspiel beherrscht, ein betrübendes Licht. In der Seele thut es weh, zu sehen, wie ein häßlicher Spekulationstrieb auch über jene entlegenen Dörfler gekommen ist und den schönen Quell ihrer wunderbaren Kunstleistung getrübt hat.

Glücklicher Fang. (Zu dem Bilde S. 477.) Unsere Leser wissen aus wiederholten Hinweisen in der „Gartenlaube“ von dem vorzüglichen Prachtwerk „Aus den Studienmappen deutscher Meister“, herausgegeben von Julius Lohmeyer (Verlag von C. T. Wiskott, Breslau). Heute sind wir nun in der Lage, wieder eine bildliche Probe daraus vorzulegen, und zwar aus der Mappe des als Maler des Kriegs- und Reiterlebens wohlbekannten Werner Schuch. Ein kecker Husar aus der Armee Friedrichs des Großen hat im schneidigen Ritt durch den Bauernhof mit kühnem Griff einen stolzen Hahn an der Gurgel gepackt – da – ein kreischender Wehschrei hinter ihm mischt sich in das heisere Krächzen des gewürgten Thiers, aber schon setzt auch der Schimmel mit seinem Reiter über den halbzerfallenen Zaun. Der stolze Beherrscher des Hühnerhofs ist verloren, die Bäurin hat das Nachsehen – das leidige Kriegsrecht einer kampfverwilderten Zeit. Denn sieben Jahre Krieg haben noch niemals zu Sanftmuth und Schonung des fremden Eigenthums erzogen, besonders nicht, wenn dies fremde Eigenthum – eßbar war. = 

Bibliothek denkwürdiger Forschungsreisen. C. Falkenhorst, den Lesern unserer „Gartenlaube“ durch zahlreiche Artikel wohlbekannt, hat sich die Aufgabe gestellt, durch die Herausgabe dieser Bibliothek (Stuttgart, Union Deutsche Verlagsgesellschaft) in bündiger gemeinverständlicher Form die neuesten Errungenschaften der geographischen Forschung dem weitesten Leserkreis darzubieten. In den Reisewerken der Forscher ist allerdings die ausführliche Geschichte jener Ereignisse nachgewiesen; leider sind aber diese Werke zu umfangreich und auch nicht immer verständlich für den Laien. In der Bibliothek sollen die Darstellungen kurz und für jedermann leicht faßlich gehalten sein. Da wird die Eroberung des kaum durchforschten Meeresgrundes für das gedankenleitende Kabel, die Kultivirung der Wüste, es werden die Anfänge der unterseeischen Schiffahrt, die ersten Versuche der Luftschiffahrt behandelt werden. Auch die Bestrebungen, die auf das Erschließen fremder Länder für die Kolonisation und die Anknüpfung von Handelsbeziehungen gerichtet sind und durch welche die Geschichte unserer Expeditionen vielfach den Unternehmungen des Zeitalters der Entdeckungen an die Seite gestellt wird, in welchem die Neue Welt mit dem Ruhm glänzender und kühner Thaten erfüllt wurde, werden eingehend besprochen werden. – Es sind zwölf Abschnitte in Aussicht genommen, von denen sechs dem dunkeln Welttheil gewidmet sind: „Emin Paschas Vorläufer im Sudan“, „Emin Pascha, Gouverneur von Hat-el-Estiva“, „Henry M. Stanleys Forschungen am Loango und Nil“, „Auf Bergeshöhen Deutsch-Afrikas“, „Deutsch-Ostafrika. Geschichte der Gründung einer deutschen Kolonie“, „Durch die Wüsten und Steppen des dunkeln Welttheils“. Eine Abtheilung ist Prschewalskis Reisen in Centralasien gewidmet; zwei, „Weltentdecker und Weltumsegler“, „Amerikanische Staatenzerstörer und Staatengründer“, sind Jubelschriften zur Feier der Entdeckung von Amerika. Außerdem finden sich Abhandlungen über die Erforschung der Meere, über Nordpolfahrten und Luftfahrten. Die vorliegenden Hefte, in denen „Emin Paschas Vorläufer im Sudan“, vor allem Gordon, geschildert werden, lassen durch klare volksthümliche Darstellung, durch Illustrationen, welche Bildnisse, Volkstypen, Landschaften, charakteristische Gruppenbilder bieten, durch die geschmackvolle äußere Ausstattung bei wohlfeilem Preis den Anspruch, den die Sammlung erhebt, in der Hausbibliothek Zutritt zu erhalten, als vollkommen berechtigt erscheinen.  



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Dem obenstehenden Bilde, das wir faksimilirt wiedergeben, hat Friedrich von der Trenck selbst folgende „Erklärung“ beigefügt:
    a. Das handbreite Eisen um den Hals, worin die ganze Kettenlast hing und die ich Tag und Nacht mit einer Hand in die Höhe halten mußte, weil die Last die Nerven am Halse klemmte.
    b. und e. Zwei Schellen über dem Ellenbogen, welche hinterwärts mit einer Kette am Halseisen befestigt waren.
    NB. Diese habe ich nicht 4 Wochen getragen. Sie wurden mir abgenommen, da ich krank ward.
    d. Ein eiserner breiter Ring um den Leib, wo in h eine Kette befestigt war, die bei g auf der Handstange auf und ab lief.
    e und f. Die zwei Handschellen, welche so, wie sie hier gezeichnet sind, an einer zwei Schuh langen, einen Zoll dicken eisernen Stange g angeschmiedet waren, so daß ich nur die Spitzen der Finger zusammenbringen konnte.
    i. Ein eiserner Ring in der Mauer, an welchem ich angeschmiedet war.
    k und m. Dreifache leichtere Ketten, die alle in einem großen Ringe in l am rechten Fuße zusammenkamen und eine ungeheure Last verursachten.
    n. Mein Leibstuhl, auf dem ich sitzen konnte.
    o. Mein Wasserkrug.
    p. Mein Leichenstein mit dem eingehauenen Todtenkopfe und meinem Namen Trenck. Unter diesem sollte ich begraben werden, nachdem er mir 10 Jahre lang zum Bette gedient hatte.