Die Gartenlaube (1890)/Heft 25

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1890
Erscheinungsdatum: 1890
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[773]

Halbheft 25.   1890.
      Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahrgang 1890. Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.



Sonnenwende.
Roman von Marie Bernhard.

(6. Fortsetzung.)


Annie kauerte sich auf ein niedriges Bänkchen neben Theklas Sitz, brach mit einem schweren Seufzer den Brief auf und ließ ihre Schwester mit hineinsehen.

 „Mein hochverehrtes, theures Fräulein!
Wie sehr viel lieber würde es mir sein, wäre es mir persönlich vergönnt gewesen, zu Ihnen zu sprechen, mit Blick und Wort das zu unterstützen, was aus diesen Zeilen den Weg zu Ihrem Herzen finden soll!

Ja, zu Ihrem Herzen, dem kindlich reinen, liebevollen, das gleich bei unserem ersten Begegnen zu mir sprach! Nicht der


Hydraulisches Schiffshebewerk zu Fontinette im Neuffossé-Kanal.
Zeichnung von W. Stöwer.

[774] hohe Reiz Ihrer Persönlichkeit, nicht die feine Bildung Ihres Geistes, die Anmuth Ihres Wesens allein war es, die mich bezauberte, das alles schien mir damals und scheint mir auch heute nur wie die herrliche Fassung, wie der wohlgelungene Schliff eines seltenen Edelsteines: der weiblichen Seele, die sich im bunten Treiben der Welt, im Tumult der Bewunderung und Huldigung ihre köstliche Frische und Unbefangenheit zu bewahren wußte.

Ich liebe Sie, theuerste Annie, von ganzem Herzen, liebe Sie mit der ganzen Leidenschaft und Innigkeit eines Mannes, der sein Leben nicht im tollen Rausch genossen, seine Empfindungen nicht in unwürdiger Weise zersplittert hat! Gottlob, daß ich dies von mir sagen, daß ich es wagen darf, mein Auge zu Ihnen zu erheben! Hierin nur und in meiner tiefen, unermeßlichen Liebe liegt die einzige Gewähr, daß Sie den großen Schatz Ihrer Neigung an keinen Unwürdigen verschenken. Wer ich bin, was ich habe, das wissen Sie! Kein größeres Glück für mich, als mein Los mit Ihnen theilen, Sie als mit mir denkende, mit mir handelnde Gefährtin auf meinem oft schweren und verantwortlichen Berufswege neben mir sehen zu dürfen, kein süßerer Gedanke für mich als der, Sie hochzuhalten als meines Daseins kostbares Kleinod.

Ich wage es noch nicht, auf Ihre volle, freudige Gegenliebe zu hoffen; wie selten wäre ein solches Glück, wie vermessen ich, es ohne weiteres für mich in Anspruch zu nehmen! Aber, wenn Sie nun wissen, wie es in mir aussieht, wenn Sie auf meine große und tiefe Liebe blicken, vielleicht, daß dadurch das freundschaftliche Wohlwollen, das aus Ihrem ganzen liebreizenden Wesen zu mir sprach, gesteigert und Ihr weiches Herz gerührt wird in dem Bewußtsein, wie mein ganzes Sinnen und Denken, mein ganzes Hoffen nur auf Sie gerichtet ist.

Ich harre in Demuth Ihres Ausspruchs, und ich bete zu dem Gott, an den wir beide glauben, zu dem Gott, der sich mir so oft über mein Verdienst gnädig erwiesen hat, er möge Ihr Herz zu meinem Herzen führen und mich lehren, diese Gnade zu verdienen! All mein irdisches Glück liegt in Ihrer Hand! Ich drücke diese theure Hand an meine Lippen, an mein Herz und warte, daß sie über mein Schicksal entscheide.

 Immer Ihr treu ergebener
 Reginald von Conventius.“

Die Schwestern ließen den Brief sinken. Thekla sah sehr ernst und nachdenklich vor sich hin, und ihre Lippen flüsterten, ohne daß das junge Mädchen es hören konnte, mehrmals „Schade!“ Annie aber legte wieder ihren Kopf auf Theklas Kniee und weinte bitterlich.
– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Er, dem diese Thränen galten, trat um mehrere Stunden später blaß und ergriffen aus der Thür des Gefängnisses. Remmler, der ihn geleitete, und mit dem der leutselige Pfarrer sonst manch freundliches Wort redete, wartete heute umsonst auf eine Ansprache von ihm.

In dem weiten, in regelrechtem Viereck von Gebäuden umstellten Hof lagerten schon abendliche Schatten, die Sonne reichte nicht mehr bis hierher. Warme, sommerliche Luft wehte zwischen den dunkeln, hohen Mauern, als sei auch sie hier gefangen und könne nicht mehr hinaus. Ein Schwälbchen schoß zwitschernd vorüber und huschte in sein kleines Nest unter einem breiten Steinsims nahe dem Dach; zwischen dem fest eingerammten Pflaster sproßten junge Gräser auf, und durch eine halbgeöffnete Thür sah man in den Garten des Direktors, in dem bereits die Obstbäume zu blühen begannen.

Eben trat Gretchen Remmler aus des Schließers Thür und lief mit ihren leichten Kinderfüßchen quer über den ganzen Hof, als sie den Prediger neben ihrem Vater aus dem Gefängnißthor heraustreten sah.

„Herr Pfarrer –“ begann sie schüchtern.

Er drehte sich freundlich nach ihr um.

„Nun, kleine Friedenstaube, was bringst Du mir?“

„Der Herr Direktor“ – Gretchen schöpfte tief Athem – „ja, der Herr Direktor läßt herzlich bitten, ob der Herr Pfarrer nicht so gut sein möchten und noch ein ganz kleines Weilchen zu ihm kommen, er wollte Sie noch so gern sprechen!“

„Gewiß will ich das, mein Kind! Guten Abend, Remmler, und Du, mein Gretchen, besuchst mich morgen nach der Schule, ich muß noch einmal mit Dir reden!“

Direktor Warner saß im Garten unter einem blühenden Kirschbäumchen auf einer Holzbank und erhob sich lebhaft, als er den Erwarteten erblickte.

„Sehr freundlich von Ihnen, daß Sie kommen, Herr Pfarrer! Ich habe um Entschuldigung zu bitten, daß ich Sie so spät noch herbitten ließ, aber es läßt mir keine Ruhe, ich muß wissen, wie die Sache mit dem Kerl – hm! – ich meine mit dem Schönfeld, abgelaufen ist … abgelaufen ist!“

„Sie wissen, daß er mich durch Gretchen Remmler rufen ließ –“

„Ganz recht, ja! Die Kleine sagte mir Bescheid: der Gefangene auf Nummer achtundfünfzig möchte gern den Herrn Prediger sprechen! Sie können sich vielleicht mein Erstaunen denken! Hat’s denn damit wirklich seine Richtigkeit gehabt – Richtigkeit gehabt?“

„Jawohl, Herr Direktor!“

„Also wahrhaftig! Mir wirbelte der Kopf, als ich es hörte! Nummer achtundfünfzig verlangt nach unserm Herrn Prediger! Ich sagte mir es immer wieder vor, Nummer achtundfünfzig, dieser mit allen Wässern des Atheismus, des Nihilismus gewaschene Spitzbube, der seinen Mord und Raub aufs kaltblütigste eingesteht, nichts von mildernden Umständen, von Verführung, Komplott und Mitschuldigen wissen will, keinen einzigen seiner ohne Zweifel zahlreichen Spießgesellen angiebt, die Aerzte, die ihn auf Geistesstörung hin beobachten wollen, kurzer Hand von seinen ungeschwächten Verstandeskräften überzeugt und nach einem Gott, einem Jenseits und ewigen Leben soviel fragt wie nach einer tauben Nuß! Und nun – wie um alles in der Welt mag es gekommen sein … gekommen sein?“

Ich kann Ihnen das nicht so ganz genau nachweisen, Herr Direktor! Ich habe mich gehütet, den Gefangenen über seine inneren Regungen, die alle noch im Keim liegen und deren er sich halbwegs schämt, allzusehr auszuforschen. Hätte ich das gethan, – sein kaum beginnendes Vertrauen zu mir wäre für immer dahin gewesen. Als Gretchen Remmler zu mir kam, bin ich sofort mit ihr gegangen, da ich glücklicherweise freie Zeit hatte; dennoch schien die kurze Frist, die zwischen dem Aussprechen seines Wunsches und meinem Kommen lag, genügt zu haben, den Mann mit Reue wegen seiner ‚Uebereilung‘ zu erfüllen, ich fand ihn kühl, einsilbig, verlegen, es gelang mir erst ganz allmählich, ihn zum Aufthauen zu bringen.

Ich begegnete bei ihm, wie bei unzähligen andern gebildeten und halbgebildeten Leuten, einem tiefgewurzelten Mißtrauen gegen den geistlichen Stand im allgemeinen, der festen Ueberzeugung, wir Prediger machten aus unserem Glauben ein sogenanntes Geschäft und seien nichts anderes als mehr oder weniger gute Schauspieler. Ich habe diese Ueberzeugung natürlich nicht mit einem Male entkräftet, ich habe sie nur nach bestem Können zu erschüttern vermocht. Schönfeld fragte mich in feierlichem Ton, mit durchdringend auf mich gerichtetem Blick, ob ich thatsächlich alles glaube, was ich anderen Leuten als göttliche Wahrheit predige; nun, ich konnte das mit gutem Gewissen bejahen, und es schien ihm Eindruck zu machen, er war sichtlich betroffen. Er kam dann auf seine That zu sprechen und wie er schlechterdings keine Reue darüber zu empfinden vermöge, wie er auch der menschlichen Gerechtigkeit ihren ungehinderten Lauf lassen wolle, da ihn das Leben anwidere und er der Meinung sei, es sei kein Platz mehr für ihn auf der Welt. Die Person, die er ums Leben gebracht habe, sei ein bösartiges, schädliches Geschöpf gewesen, und man schulde ihm eigentlich Dank, daß er es beseitigt habe.

Auf meine Entgegnung, wir müßten es Gott überlassen, Tod und Leben zu bestimmen, erwiderte er in seinem alten höhnischen Ton, Gott könne ihn ja zu seinem Werkzeug auserkoren haben, um die Menschheit von einem schlechten Subjekt zu befreien.

Ich fragte ihn mit großem Ernst, ob er wirklich irgend eine göttliche Regung, die ihn zu einer solchen That hätte anspornen können, in sich gespürt habe; die Antwort lautete: nein, er entsinne sich überhaupt nicht, jemals einer göttlichen Regung seines Innern gefolgt zu sein. Ob wir denn dazu da seien, thatenlos zuzusehen, wie Laster, Geiz und Ungerechtigkeit sich auf Erden breit machen, ohne den Versuch zu wagen, dem abzuhelfen und den armen Bestohlenen, Unterdrückten ihr Recht zu verschaffen? – Gewiß sollen wir das, entgegnete ich, aber Mord [775] und Diebstahl seien nicht die Mittel, einen solchen Zweck zu erreichen, von solchen Irrwegen wende Gott sich mit Zorn ab; ich wies auf seine Bildung, sein gesundes Urtheil hin, ich fragte ihn, was wohl aus der Welt werden müßte, wenn jeder darin sich sein sogenanntes ‚Recht‘ nehmen würde … sein Recht, das jeder Stand, jede Bildungsklasse anders ansieht, anders auffaßt, das bald hier, bald dort liegen und unnennbares Unglück, grenzenlose Verwirrung heraufbeschwören müßte.

Gewiß sei an der Welt, so wie sie heute sei, vieles unvollkommen und dringend der Verbesserung bedürftig, immer aber sei ein anderer Geist als der der Vernichtung und Zerstörung nöthig, aus dem heraus wir streben müßten, vorwärts zu bringen und Schäden zu beseitigen. – Ob das der Geist der Liebe sei, von welchem alle Geistlichen soviel Redens machten? – Ohne Zweifel! – Ob ich denn zum Beispiel ihn lieben könne, ich, der makellose Gottespriester, ihn, den schweren Verbrecher? – Sicher thäte ich das! Ich sei aber kein makelloser Gottespriester, sondern ein Mensch wie er, und eben, weil ich das sei, spreche das Menschliche aus mir zu ihm mit beredter Stimme – ob denn diese Stimme nicht auch zu ihm geredet habe? – Allerdings, er habe sich, gegen seinen Willen, gleich von Anbeginn zu mir hingezogen gefühlt, trotzdem ich ein Geistlicher sei! – Eben weil ich ein Geistlicher sei, war meine Erwiderung, und was da in ihm für mich spreche, unklar noch und halb verstanden, das sei Gott, derselbe Gott, zu dem ich bete, der mir helfe, wenn ich ihn rufe, der mir auch hier, auch heute helfen werde, wenn ich ihn mit ganzer Kraft meiner Seele bitte, mir beizustehen.

Und dann habe ich ein kurzes Gebet gesprochen aus meinem Herzen heraus, und der Gefangene hat mir zugehört, erstaunt, aber nicht spöttisch, nicht widerwillig oder empört. Und er hat mich mit leiser Stimme gebeten, wiederzukommen, recht bald, und das habe ich ihm versprochen!“

Es blieb eine Weile still unter den blühenben Obstbäumen; endlich nahm der Direktor die schmale Rechte des Pfarrers zwischen seine derben, kurzen Hände und drückte sie kräftig.

„Sehen Sie, ein solches werkthätiges Priesterthum, wie Sie es haben, Herr von Conventius, das lob’ ich mir! Hat uns lange gefehlt! Irgend ein allgemein gehaltenes Gebet und ein paar Bibelsprüche für die Gefangenen, das thut’s nicht! Nein, man muß ihr Leben kennenlernen, auf ihre Ideen eingehen, die Sache vom praktischen Standpunkt angreifen! Hier zumal, wo der Betreffende sich auf Bildung und Aufkärung hinausspielt und den Philosophen des Unbewußten darstellen möchte! Nicht jeder Geistliche hätte sich so ruhig von diesem Teufelskerl ausfragen lassen, ihm so eingehend geantwortet, sich mit ihm gewissermaßen auf gleiche Stufe gestellt. Im übrigen wäre es ihm selbst und auch Ihnen, bester Herr Pfarrer, und Ihrem warmen Eifer zu gönnen, wenn diese arme Sünderseele bald ihren Frieden mit dem Himmel machen wollte, bald, sage ich, denn die Bestätigung des Todesurtheils kann jeden Tag eintreffen, und dann hat’s bis zur Vollstreckung nur noch knappe Frist, – nur noch knappe Frist!“

Reginald erhob sich rasch.

„Ist keine Hoffnung mehr, keine? Und wäre ein Gnadengesuch ganz erfolglos?“

„Es hätte nur dann Erfolg, wenn der Verurtheilte selbst wenigstens den Weg der Gnade beschreiten, zeitweilige Unzurechnungsfähigkeit, Trunkenheit, fahrlässige Tödtung oder dergleichen einräumen wollte. Aber ‚in allen Punkten geständig‘ heißt es in den Akten immer wieder. Ja, was soll da der Vertheidiger machen? ’s ist ein hoffnungsloser Fall. Also Sie gehen schon, Herr von Conventius? Nun, ergebenster Diener und vielen Dank – vielen Dank!“

„Ein hoffnungsloser Fall – ja!“ sagte sich Reginald auf seinem Heimwege. „Denn der Mann soll sterben, und es giebt für ihn kein Entrinnen vor der irdischen Gerechtigkeit! Und doch nicht ganz hoffnungslos, nicht ganz verloren, nein, nein! Gott wird mich hören, wird mir so gnädig sein und sein unsterblich Theil einfordern durch mich, sein demüthiges Werkzeug! Möge mein Herz fromm und unverzagt, mein Geist stark und muthig sein, mein Mund die rechten Worte finden, damit ich mein hohes Ziel erreiche!“

Und während die Worte in ihm wiederklangen wie ein Gebet, sank leise der Frühlingsabend nieder auf die schöne Welt. Goldene Schleier schwebten am Himmel, ein süßer Duft stieg wie ein Dankopfer von den frisch aufgeblühten Kräutern empor, ehe der Nachtthau kam, sie zu tränken, und ein leises Säuseln strich durch Busch und Baum. Kein Wind war’s, nur ein friedliches Athmen, das die blühenden Bäumchen küßte, die ihren Lenzestraum träumten. – Und in Reginalds Seele küßte dies kosende, weiche Lüftchen den Liebestraum wach, und eine grenzenlose Sehnsucht nach Glück kam über ihn, ein allmächtiges Verlangen nach Annie Gerolds süßem Gesicht, nach ihrer Stimme – ihrem Kuß! Es packte ihn wie mit Allgewalt – es riß ihn vorwärts, trieb ihn seinem Hause zu … gewiß, gewiß, er konnte schon eine Antwort finden!

Und er fand sie!

Dort auf seinem Arbeitstisch, unter dem Lichtschein, den die brennende Lampe auf die purpurrothe Decke warf, lag ein Brief, die Adresse wies eine kraftvolle, große, charakteristische Handschrift aus – schrieb so Annie? Vielleicht, nein, gewiß sogar antwortete ihm die ältere Schwester. Wie seine Hände zitterten, als er den Umschlag öffnete! – –

Da! Verlobt mit einem andern! – Ihm war’s, als hätte er einen eiskalten Schlag ins Herz bekommen – in sein warmes glückdurstiges Herz! Ihm flimmerte es vor den Augen – seine reine und starke Natur sträubte sich, zu glauben, was er las. Konnte denn das sein? War es möglich? Ein Mann liebt ein Mädchen, so wie er liebt, aus voller Seele … und dies Mädchen empfindet nichts davon und geht hin und verlobt sich mit einem andern!

Er biß die Zähne über einander und zwang sich ruhig zu werden und den Brief zu lesen. Er war sehr herzlich abgefaßt, dieser Brief, fast in mütterlichem Ton, und wenn Reginald nicht ganz von dem einen Gedanken beherrscht gewesen wäre, hätte er leicht zwischen den Zeilen herauslesen können, wie es der Schreiberin leid thue, daß es gerade so habe kommen müssen. Aber er sah nichts davon und wenn auch! Was hätte er mit Thekla Gerolds Mitgefühl und ihrem heimlichen Bedauern angefangen!! Sie theilte ihm mit, wie schmerzlich ihre junge Schwester über seinen Brief geweint habe, wieviel Freundschaft und Hochachtung sie für ihn empfinde, ein wehmütiges Lächeln verzog Reginalds Lippen … er hatte mehr gehofft als das!

O Annie, Annie – Lieblichstes und Schönstes, was die ganze weite Welt für ihn hatte! Für ihn gab es nichts Süßeres als ihr rosiges, zartes Gesichtchen, ihren klug aufleuchtenden Blick, ihr helles Lachen! Zu seiner Qual sah und hörte er all dies deutlich vor sich, sah sie in dem Kleide, das sie zuletzt getragen, sah die bittenden, schönen Augen auf sich gerichtet, als sie ihn fragte, ob sie ihm ihre Blumen schicken dürfe, fühlte ihre warme, weiche Hand in der seinen! Ach – hätten sie ihm geschrieben, er solle warten, um sein Glück dienen, es sei nicht alle Hoffnung ausgeschlossen – er würde ein geduldiger Bewerber geworden sein! In Demuth hätte er auf ihren Ausspruch geharrt – aber nun! – Und er, dieser Mann, den er am ersten Abend schon an ihrer Seite gesehen, der wie ein dunkler Schatten gegen ihre Lichterscheinung, ihr sonnenhelles Wesen hervortrat – er hatte sie ihm genommen!! War es denn nicht auch zuviel gewesen, was er, Reginald von Conventius, vom Schicksal gefordert? Wie? Es hatte ihn in seinem so sehr geliebten Beruf begünstigt, ihn in kürzester Frist auf einen hervorragenden, bedeutenden Posten gestellt, ihm verantwortliche Pflichten, wie er sie sich wünschte, gegeben und ihm die Fähigkeit und Kraft verliehen, diesen schweren Pflichten auch gerecht zu werden; es hatte ihm Rang und Ansehen, ein gewinnendes Aeußere und viele Mittel zum Wohlleben und Wohlthun gegeben, – nun streckte er noch nach einem, dem höchsten Besitz, seine Hand aus … er wollte nicht nur geachtet, angesehen und beliebt – er wollte auch glücklich sein! Eine Braut – ein Weib wie Annie Gerold ihm zur Seite, und er hätte den Himmel auf Erden gehabt! – Aber sein Himmel sollte nicht auf Erden sein! –

Ein häßliches, bitteres Gefühl, das seine Seele bisher noch nie gekannt, kam über ihn: der Neid! Neid auf den Glücklichen, der jetzt gewiß, an diesem wonnigen Maiabend, im verschwiegensten Winkel des Geroldschen Gartens saß, sein neues Glück im Arm: an seine Schulter gelehnt das Köpfchen mit dem seidigen, braungoldenen Haar – zu ihm aufblickend die wunderbaren Augen, in denen ein zärtliches Licht entfacht war – für ihn die thaufrischen, lächelnden Kinderlippen – – – –

[776] Schwer athmend sprang Reginald empor; er wollte das nicht denken, nicht sehen, vor allem den dumpfen, lähmenden Druck nicht mehr haben, der seiner unwürdig war, der sein Herz vergiftete! Ihr Herz hatte ihn nicht gewahlt, es sprach nichts darin für ihn – – nun, so hatte er das zu ertragen und seinen Weg allein weiterzugehen wie bisher! –

Wie bisher … und doch so anders! Zeige dem Menschenherzen, das bis dahin nur von Arbeit, Pflichterfüllung und Freundschaft wußte, das Glück und die Liebe, wecke das Verlangen, den quälenden Durst danach in ihm, – – – laß’ ihm die entzückende Fata Morgana dicht, dicht vor den sehnsüchtigen Augen gaukeln – und dann entzieh’ sie ihm plötzlich und sprich: „Was hast Du denn gehabt? was besessen? es ist ja alles wie zuvor“ – wird es dir glauben und wieder ruhig schlagen wie ehemals?




12.

Fritz von Conventius stieg rasselnd, klirrend, säbelschleifend die drei Stufen zu seiner Flurthüre hinauf und schloß sie mit einem Drücker auf; er kam von der Parade, hatte gestern und heute allerlei erlebt – war sehr nachdenklich – sehr!

Zuerst klirrte der junge Kriegsgott vor den Spiegel in seinem Arbeitszimmer – halb mannshoch, aber schlechtes Glas! – und unterzog sich einer eingehenden Musterung. Hm! Ja! Hm! Warum nicht? Trotz des schlechten Glases nicht ohne – gar nicht so übel! Hm! Ja! –

Aus dem Nebenzimmer eilte Julchen mit wilden Sätzen herbei und sprang freudewinselnd an ihrem Gebieter in die Höhe.

„Na, schau gut, Alte! Kusch Dich! Was hast Du Dich denn so unbändig zu benehmen, dummes Frauenzimmer? Thust ja gerade, als ging’ es heute auf Wildenten und Schnepfen los! Aber hat sich was! ’s ist doch, als wenn die Kreatur wüßte … ja, ja, Julietta, wir sind nicht von Stroh, – haben eine feine Spürnase – leben nicht umsonst Jahr und Tag im vertraulichen Verkehr mit einem gebildeten Ulanenlieutenant! Aber noch sind wir nicht so weit, sag’ ich Dir! Thee trinken und abwarten! Was ist das für ein neugieriges Gesicht! Abwarten, heißt es!“

Der Lieutenant gab Julchen, die erwartungsvoll und schweifwedelnd zu ihm aufschaute, einen Nasenstüber, was sie mit unwilligem Rümpfen hinnahm, und begann, sich seiner Uniformpracht zu entledigen.

„Dieser Esel von einem Burschen ist wieder ’mal fort! Irgend einer Schürze nach, natürlich! Merk’ es Dir, Julchen, alles Unglück, was auf Erden geschieht, richten die Weiber an. Prosit!“

Er führte sich ein Glas Portwein zu Gemüth, schlüpfte in seine Hausjoppe und warf sich, die bestiefelten und bespornten Beine weit von sich streckend, auf eine niedrige gepolsterte Ruhebank. Julchen hatte ein Stück gekochten Schinken, das Fritz ihr zuwarf, geschickt mit dem Maul aufgefangen, hielt es jetzt zwischen den Vorderpfoten und verzehrte es in beschaulichem Behagen.

Der Ulanenlieutenant lag eine Weile regungslos, dann tastete er mit der Hand, ohne sich aufzurichten, auf einem kleinen, kettenbehangenen Metalltischchen, das neben der Polsterbank stand, umher, griff sich eine Cigarette und Streichhölzchen, und nun, zwischen den blauen Rauchringeln zur Zimmerdecke emporstarrend, konnte er mit dem richtigen Nachdenken beginnen.

Zuerst dachte Fritz an sich selbst – wer will ihm das verargen? Er hatte vor einer kleinen halben Stunde, frisch von der Parade kommend, Hedwig Rainer mit ein paar Freundinnen auf der Kommandantenbrücke getroffen, und wie er ehrerbietig und erfreut zwei Finger an den Helm legte, konnte er nicht umhin, wahrzunehmen, daß die niedliche Blonde tief erröthete und ihn sehr – sehr wohlgefällig musterte; eigentlich war’s mehr gewesen als Wohlgefallen, was aus ihren Augen zu ihm gesprochen hatte! – Und nun lag Fritz hier auf dieser seiner Ruhebank und überlegte rauchend, während er zugleich überlegend rauchte. Einen Korb würde er sich hier nicht holen, das stand fest, und das nöthige Kleingeld fehlte auch nicht – soweit war alles in Ordnung! Seine eigenen Angelegenheiten waren arrangirt, dank dem Prachtstück von einem Vetter, der ihm vor vierzehn Tagen „so nebenher“ eine alte, sehr drückende Schuld von viertausend Mark bezahlt hatte ohne ein Wort der Ermahnung oder des geistlichen Zuspruchs, nur mit einem kleinen, verlegenen Lachen und einem treuherzigen „aber Fritz!“ alle Dankesäußerungen abschneidend. Jetzt blieben nur noch ein paar ganz unbedeutende Kleinigkeiten, nicht der Rede werth – o ja, der Ulanenlieutenant von Conventius war ein braver Kerl! – War er denn sehr verliebt in Hedwig Rainer? So sehr eigentlich nicht – aber doch ein wenig! Wenn ihm nur nicht ein anderes, sehr viel reizenderes Gesicht so oft und deutlich vorgeschwebt hätte! Teufel noch eins! Er wußte es ja genau, die Trauben hingen viel zu hoch für ihn. wuchsen überhaupt gar nicht für ihn … daß er einen solchen Kennerblick für weibliche Schönheit, ein so verwünscht treues Gedächtniß für jeden Ausdruck, jedes Lächeln haben mußte! Ach – dieses Lächeln – – weg damit! Andere Mädchen konnten auch lächeln, sehr freundlich und ermuthigend sogar! Nun also! – Es bleibt dabei! Hedwig Rainer!

Er warf ganz aufgeregt dem schlafenden Julchen den glimmenden Cigarrenrest an den Kopf und nahm frischen Vorrath! In den nächsten Tagen also – „im wunderschönen Monat Mai, als alle Knospen sprangen“, – da könnte man sich auf die Brautfahrt machen! Der selige Papa Rainer hatte seinem Töchterchen ein hübsches Vermögen erworben – sehr lobenswerth von dem guten Herrn … freilich, eine Schwiegermutter war vorhanden, aber sie hatte ein freundliches, braves Gesicht und schwärmte augenscheinlich fürs Militär; die würde nicht beißen!

So – das wäre abgemacht! Aber nun Reginald – hatte er eigentlich Aussichten bei Annie Gerold? Seit einigen Tagen hatte Fritz den Vetter nicht gesprochen, sie hatten beide viel zu thun gehabt, das Kind Gottes und das Kind der Welt, aber gestern, als der Ulan mit dem Kameraden Gründlich aus der Hausthür getreten war, da waren sie geradeswegs auf den heimkehrenden Reginald gestoßen; sie hatten nur einen kurzen Gruß getauscht, aber das edle, schöne Gesicht war dem wachsamen Auge des Vetters eigenthümlich ernst, fast traurig erschienen! Das konnte doch nicht … undenkbar! Wenn das geschah, wenn Annie Gerold dies Juwel von einem Manne nicht nahm und Gott noch dazu auf den Knieen dankte, dann, – ja, dann konnte ihre Schönheit noch so groß, ihr Lächeln noch so bezaubernd sein … Fritz von Conventius würde mit ihr fertig sein!

Und was war mit Parsifal, dem „reinen Thor“, geschehen? Er hatte dem Kameraden Gründlich sehr triumphirend erzählt, er laufe jetzt Sturm auf die Festung, was entschieden die beste Taktik sei – er habe schon einen Besuch „dort“ abgestattet und werde jetzt mit einem Bouquet nachhelfen. Nun, heute bei der Parade hatte der Festungsstürmer so schlecht gelaunt ausgesehen, daß Fritz, statt jeder anderweitigen Anspielung, nur gefragt hatte, ob ihm die Petersilie bei dem schönen Maiwetter gänzlich verhagelt worden sei. Thor hatte etwas von „faulen Witzen“ gebrummt und seinen Rapphengst so schlecht behandelt, daß dieser es übelnahm und dem Reiter gehörig zu schaffen machte. „Wenn der Ulan schon an einem unschuldigen Stück Pferdefleisch seine Wuth ausläßt, dann ist’s schlimm um ihn bestellt,“ folgerte Fritz, „ich nehme an, daß die schöne Annie ihn mit Grazie hat ablaufen lassen; verdenk’ ihr das, wer kann! Eine solche Gazelle – und dies Mammuth!“

Soweit war der junge Mann in seinen Betrachtungen gekommen – und sie drehten sich alle um Liebe und Heirath! – als die Thür sich vorsichtig aufthat und das geröthete Gesicht des Burschen sichtbar wurde, der einen sehr schlechten Empfang bei seinem Gebieter voraussetzte, daher auch nicht näher kam, sondern mit einem sehr langen Arm ein großes, weißes Couvert auf das Metalltischchen schob.

„Was soll das?“ rief der Lieutenant plötzlich überlaut, als sich die Thür eben wieder vorsichtig schließen wollte. „Hierher! Rapport!“

Der Gerufene kam mit sehr kleinen Schritten heran und hielt sich in der Nähe der Thür.

„Dies hier ist eben für den Herrn Lieutenant angekommen!“

„So? Und wann bist Du für den Herrn Lieutenant angekommen? Wie?“

„Ich – ich – der Herr Lieutenant werden entschuldigen –“

„Nichts wird entschuldigt! Wo hast Du gesteckt?“

„Der Herr Lieutenant werden entschuldigen – die Emilie von drüben ist meine Braut, – und heute ist drüben Besuch, und da half ich ihr bloß decken.“

„Also die Emilie von drüben! Nette Bescherung! Wie sieht die Emilie von drüben aus?“

„Herr Lieutenant werden entschuldigen - sie sieht sehr gut aus!“

„Wollte ich mir auch ausgebeten haben! – Jung?“

[777]

Der ertappte Eindringling.
Nach dem Gemälde von A. Eberle.

[778] „Zwanzig Jahr, Herr Lieutenant! Und ob ich heute abend nicht bei der Gesellschaft serviren helfen darf?“

„Ihr werdet was Schönes zusammenserviren – zwei Verliebte! Die armen Gäste! Na – Pascholl! – Kehrt – Marsch!“

„Vielen Dank auch, Herr Lieutenant! Wenn der Herr Lieutenant für die nächste Zeit noch etwas brauchen – eine Stunde bleib’ ich noch hier!“

„Sehr verbunden! Werde mir’s merken! Jetzt mach, daß Du fortkommst!“

Der Bursche verschwand, und Fritz, den das kleine Intermezzo erheitert hatte, griff, halb aufgerichtet, nach dem Couvert und riß es auf. Eine sehr fein ausgestattete Karte fiel ihm entgegen.

„Annie Gerold

Karl Delmont, Professor an der Kunstakademie,

Verlobte.“

Der Ulan schlug mit der geballten Faust auf das Tischchen, daß das Metall klirrte und die Ketten rasselten. Julchen fuhr mit einem entsetzten Laut aus ihrem friedlichen Schlaf empor und der Bursche steckte den Kopf zur Thür herein und fragte erschrocken: „Was befehlen der Herr Lieutenant?“

„Nichts – zum Donnerwetter! Schert Euch alle beide zum Teufel!“

Dies geschah, und Fritz blieb mit seiner Wuth allein.

„Es ist doch gleich zum … dieses Glück, das der Farbenreiber hat! Verlobte – jawohl – nimmt sich sehr schön aus – gratulire, Frau Professorin in spe! Mir ahnte so etwas – war mir gleich nicht wohl, als ich diesen interessanten Künstler um das Mädel herumspuken sah! Solch einen Geschmack zu haben! Einen schöneren Kerl als meinen Regi kenn’ ich wenigstens nicht und sie wird auch keinen kennen! Aus der Haut könnte man fahren!“

Ueber dem Haupt des schwergereizten Lieutenants begannen jetzt Schritte zu ertönen – immer gleichmäßig auf und ab, auf und ab, die ganze Länge des Zimmers herauf und herunter.

„Da geht er nun hin und her mit seinem Liebeskummer – der arme Teufel – dem wird die Sache heillos nahe gehen! Unsereins schüttelt sich ein paarmal, wettert unter die Rekruten, trinkt sich ’nen Gehörigen an, macht dem Gaul ordentlich zu schaffen – und aus ist es – aber der! Solch ein kokettes, herzloses Mädel! Na, das stimmt aber eigentlich nicht – sie ist doch ein süßes Geschöpf – und eben weil sie das ist, hätte sie nicht diesen … Jetzt hat der da oben womöglich auch solch eine schöne Anzeige in der Hand! Wird ihm ungeheuer erfreulich sein! Konnte dieser Maler sammt seiner Berühmtheit nicht sitzen bleiben, wo er gesessen hatte? Dann säß’ ich jetzt oben bei meinem Regi und braute uns ein feines Böwlchen und freute mich auf den Augenblick, wo ich der schönen Annie den innigen Vetterkuß auf das reizende Mäulchen drücken könnte! Ja Prosit! Jetzt kann ich mir den eigenen Mund wischen und zusehen, wie der Professor sie küßt! Ich will aber nicht zusehen – nein, ich thu’ es nicht! Daß diese kluge Thekla so etwas wie diese Verlobung zulassen konnte! Die hat es doch mit halbem Auge gesehen, wie es um Reginald stand – aber in Liebesgeschichten taugt kein einziges Frauenzimmer was – kein einziges, und wenn es noch so klug und so alt ist! Meine eigene Verlobungsidee ist mir förmlich verleidet! Wenn eine Annie Gerold so ist – was läßt sich dann von einer Hedwig Rainer erwarten? – Parsifal wird nicht übel wettern – die Flüche möcht’ ich hören – er kann ein ganzes Lexikon voll davon herausgeben. Na – Gott gnade seiner Schwadron! Aber mein armer Regi, wie er die Rennbahn auf- und abläuft! Die Zimmergymnastik wird ihm wenig helfen. Ob ich zu ihm hinaufgehe? Wenn er wenigstens Skat spielen könnte und wir hätten den dritten Mann“ – –

Dies war der Gedankengang des Lieutenants von Conventius anläßlich der Verlobung Annie Gerolds mit Delmont. – –

Sie machte viel von sich reden, diese Verlobung, denn in allen Schichten der Bevölkerung von F… interessirte man sich für die schöne Annie Gerold. Man hatte allgemein geglaubt, sie würde irgend einen Offizier heirathen, sie schien dazu wie geschaffen. Ihre Verlobung mit Professor Delmont schlug unerwartet wie eine Bombe in zahlreiche ahnungslose Gemüther und versorgte viele Familien auf längere Zeit hinaus mit Gesprächsstoff. Merkwürdig war es nur, daß, so allgemein beliebt auch Annie war, sich doch niemand so recht herzlich über ihre Verlobung zu freuen vermochte. Man war erstaunt, befremdet, überall hieß es: „Nein, aber diese Ueberraschung!“ oder: „Wer hätte doch das gedacht!“ – nirgends aber sagte man: „Das freut mich recht von Herzen – das giebt ein glückliches Paar!“

Das kam nun wohl daher, weil die wenigsten überhaupt Delmont kannten. Er hatte fast gar keine Besuche gemacht, in einigen Familien nur Karten abgegeben zu einer Zeit, da man zehn gegen eins wetten konnte, die Betreffenden nicht daheim zu finden. Und die wenigen Leute, die ihn bei einem kurzen Besuch gesprochen hatten, wußten entweder nicht, was sie aus ihm machen sollten, oder er war ihnen gar unheimlich. Seine Manieren ließen nichts zu wünschen übrig, sie waren die eines Mannes der großen Welt – wenn nur seine Augen nicht so müde und weltfremd geblickt hätten, wenn nur durch seine Worte nicht immer wieder diese grenzenlose Gleichgültigkeit gegen alles, was das Publikum sagt und denkt, sichtbar geworden wäre. Delmont erschien im Gespräch entweder matt und theilnahmlos oder herb und spöttisch – dies trug ihm den Ruf der Anmaßung und Unliebenswürdigkeit ein, und jedermann wunderte sich, wie die verwöhnte, gefeierte Annie Gerold einen so ungenießbaren Sonderling nehmen konnte, und bedauerte im voraus das Los, welches das reizende Wesen an der Seite dieses Mannes haben würde.

Die Leute vergaßen, daß selten einem Menschen so viel Gelegenheit zum Menschenstudium gegeben wird als einem berühmten Künstler – wohlverstanden, einem solchen, dem die „Berühmtheit“ nicht gleichsam in die Wiege gelegt worden ist, sondern der sich dieselbe mühsam Zoll für Zoll selbst erobert hat. Fällt nun solche Menschenkenntniß auf den Boden eines schon in früher Jugend verbitterten und zum Mißtrauen geneigten Herzens, das nie glückliche Illusionen gekannt hat, dann kann von einer harmonischen Charakterentwicklung keine Rede mehr sein. Schmeichelei, Neid, Verleumdung – Dinge, die der Künstler eher als jeder andere auf seinem Lebensweg findet! – lehren ihn, die Menschen geringschätzen, die niedrige Kriecherei derer, die sich dem bloßen Erfolg beugen, widert ihn an, er sucht seine Ideale nur in seiner Kunst, weil er daran verzweifelt, ihnen jemals im wirklichen Leben zu begegnen. Der Lorbeer schmeckt bitter – das ist eine alte Erfahrung!

Von Delmonts Vorleben ahnte niemand etwas; als er nach F. kam, hatte man sich bemüht, Biographien des Künstlers in den bekannten Tagesblättern aufzutreiben – allein umsonst. Man erfuhr durch die Redakteure, Professor Delmont verhalte sich allen derartigen Aufforderungen gegenüber durchaus ablehnend; er habe das Jahr seiner Geburt und die Stadt angegeben, in welcher er das Licht der Welt erblickt habe – Prag. Hier habe er bis zum vierten Jahre gelebt, sein Vater sei ein unbemittelter Kaufmann gewesen, der es bald hier, bald da habe versuchen müssen – die Familie habe nacheinander in verschiedenen Städten gelebt … was denn noch weiter zu sagen sei? In München, Paris und Rom habe er bei den und den großen Meistern studiert, dann sei er fast beständig auf weiten Reisen gewesen. Dringend ersucht, über seine innere Entwicklung als Künstler zu berichten, da die Welt, die von Bewunderung für seine bedeutenden Werke erfüllt sei, gewissermaßen ein Anrecht darauf habe, sei er diesem Ansinnen mit seiner ganzen Schroffheit entgegengetreten: das habe er nicht nöthig, dazu könne ihn kein Mensch zwingen, er sei kein Schriftsteller von Beruf und als solcher verpflichtet, Rechenschaft über sich abzulegen, man möge ihn in Ruhe lassen. Wer sich für seine innere Entwicklung interessire, der solle seine Bilder ansehen, in ihnen sei sie enthalten – wer daraus nicht klug werde, dem könne er nicht helfen!

Dies also war alles, was man von ihm wußte! Keine rührende, reizende Kindergeschichte, keine anekdotenhafte Jugend-Episode – kein reicher Gönner – keine ideale Mutter – kein poetischer Liebeshandel – nichts! Die Menschen mußten sich in der That damit begnügen, seine Bilder anzusehen, soviel davon ihnen zugänglich war – sie waren alle, trotz ihrer großartigen Einfachheit, oder vielleicht eben wegen derselben, von tief ergreifender Wirkung, diesem Eindruck vermochte sich kein Laie zu entziehen – aber was ein meisterhaft ausgeführtes Frauenbildniß, ein Sonnenaufgang am Ganges, ein Hinduweib mit seinem Kinde, eine prachtvoll lebendige Straßenscene in Bombay oder Kairo mit dem inneren Leben des Künstlers zu thun haben sollte – das fragten sich die Leute umsonst. –

[779] Auch im Geroldschen Hause jubelte man nicht über diese Verlobung. Was hatte man sich früher für Gedanken darüber gemacht, wen „das Vögelchen“ sich zum Gatten aussuchen würde! Wie er aussehen – was er sein – wie er sein würde – wie alles kommen müßte – und wie wundervoll es sein sollte, wieder einmal einen „Herrn“ ins Haus zu bekommen – natürlich einen so gütigen, liebevollen und klugen, wie des Vögelchens Vater gewesen war – und wie sie dann alle zusammen die Kleine verwöhnen und lieben und untereinander so recht, recht glücklich sein wollten!

So hatten Agathe und Lamprecht, die ja fast schon zur Familie zählten, gedacht – und ähnlich hatte auch Thekla empfunden … nun war alles gekommen, rasch und unerwartet – aber so ganz anders! Gegen den Bräutigam und seine Stellung und sein Aussehen war nichts einzuwenden – er war ja ein stattlicher, vornehmer Mann, ein berühmter Künstler, der sich schon ein schönes Vermögen erworben hatte und soviel Geld verdienen konnte, wie er nur wollte – aber von einer Zusammengehörigkeit, wie man sie bei Gerolds geträumt, von einem schönen, vertraulichen Verkehr war keine Rede … das ließ sich jetzt schon sagen, obgleich die Brautschaft eben erst angefangen hatte.

Nicht daß Professor Delmont unliebenswürdig gewesen wäre oder es an Höflichkeit hätte fehlen lassen! Er küßte beim Kommen und Gehen regelmäßig Thekla Gerolds Hand, versäumte nie, nach ihrem Befinden zu fragen, schob ihren Rollstuhl, wohin sie ihn zu haben wünschte, und brachte ihr eine herrliche große Photographie seines Gemäldes „Der Engel des Herrn“ – ein Geschenk, das seinen Eindruck nicht verfehlte. Thekla wurde nicht müde, das schöne Gesicht mit dem trauervollen Blick, der alles umfaßte und alles verzieh, anzusehen – es war auch jetzt noch von ergreifender Wirkung, trotzdem der Zauber der Farbe fehlte. Ein Verhältniß aber wie zwischen Bruder und Schwester – und so hatte Thekla mit dem einstigen Gatten ihres „Kindes“ zu verkehren gehofft! – wollte sich nicht anbahnen und – das fühlte sie deutlich – würde sich auch nie gestalten, selbst wenn Jahre darüber hingingen. Für Agathe vollends und deren schüchterne Annäherungsversuche, ihre kleinen Erzählungen von ihrer verstorbenen Herrin und wie ähnlich ihr das Vögelchen sehe, und wie sie – Agathe – beide „Kinder“, ihre Ellinor und ihre Annie, auf dem Arm getragen und gewartet – für all das hatte der Bräutigam nur ein zerstreutes Lächeln oder ein kurz abfertigendes Wort, er beachtete auch den alten Lamprecht so gut wie gar nicht, der doch als ehemaliges Reitpferd und geduldiger Spielkamerad des Kindes ebenfalls Anspruch auf einige Rücksicht zu haben glaubte.

Für Delmont gab es nur ein einziges Wesen auf der ganzen Welt – Annie! Es gab nur ein Gefühl für ihn – seine Liebe zu ihr! In ihr ging er auf, in ihr lebte er, jedes fremde Element, sollte es auch früher noch so untrennbar zu seiner Geliebten gehört haben, war ihm störend. Sie für ihn und er für sie – alles andere konnte fortbleiben; so faßte er die Lage auf und danach benahm er sich. Annie kannte es jetzt schon ganz genau, das unwillige Stirnrunzeln, sobald die Thür sich öffnete und jemand kam, mochte es auch Thekla, mochte es auch Hedwig Weyland oder sonst eine liebe, nahestehende Persönlichkeit sein! Ihm war sie nicht lieb, ihm stand sie nicht nahe, er wollte seine Braut für sich allein haben – mochten doch die Leute bleiben, wo es ihnen gefiel! Seine Stimme, sein Blick, sein Benehmen, alles war wie verwandelt, sobald ein dritter sich zu ihm und Annie gesellte, und wenn sie ihn schüchtern bat: „Sei doch gut, Karl – mir zuliebe!“ dann küßte er leidenschaftlich ihre Hände und murmelte: „Ich kann nicht – ich kann nicht! Sie sollen Dich mir lassen – mir ganz allein! Sie haben ja viele andere noch … ich habe nichts als Dich allein!“ –

Ein aufmerksamer Bräutigam war er freilich! In der Frühe schon erschienen die köstlichsten Blumen, von ihm selbst geordnet, als Morgengruß, Rosen von einer Farbenpracht und Schönheit, wie selbst Annie, das verwöhnte Prinzeßchen, sie noch nicht gesehen hatte. Die prachtvollsten Dinge, die er auf seinen Reisen eingekauft hatte, sandte er ihr – schwere Seidenstoffe mit Gold durchwebt, feine indische Shawls, kostbare Fächer, Trinkgläser, Tischdecken, venetianischen Schmuck, ganze Stöße der schönsten Ansichten und Bilder – – es sah wie in einem Bazar bei Annie aus, und die Freundinnen kamen oft mit lachenden Gesichtern, sich die „Ausstellung“ anzusehen, um die sie die Besitzerin heimlich doch ein klein wenig beneideten. Sie kamen aber nur, wenn der Verlobte nicht da war, vor dem sie insgesammt eine gewisse Scheu empfanden; er war so ernst, so steif und förmlich, so ganz anders, als man sich Annie Gerolds dereinstigen „Schatz“ vorgestellt hatte! Aber freilich – er überschüttete sie mit Geschenken, hatte ihr Diamanten verehrt, wie sie nur Millionärinnen zu tragen pflegten … da mußte man doch annehmen, daß er sie liebte, daß er auch, wenn er sie allein hatte, zärtlich mit ihr war!

Ob er sie liebte! Ob er zärtlich mit ihr war! – In Annies Seele stritten sich Schmerz und Stolz um die Herrschaft miteinander, wenn sie sich immer wieder sagte: „Keiner kennt ihn, wie ich ihn kenne! Von seinem wahren Wesen weiß nur ich ganz allein zu sagen!“

Schmerz, weil es ihr weh that, ihn so verkannt zu sehen, in den Blicken, in den Mienen ihrer Umgebung zu lesen, daß man ihn für empfindungsarm und unzugänglich hielt – Schmerz, weil er es nicht verstand oder nicht verstehen wollte, sich auch nur einen einzigen der ihr lieben und nahestehenden Menschen zu gewinnen – und wiederum war sie stolz darauf, daß dieser Mann ihr alleiniges Besitzthum war, daß er sich ihr so ganz erschloß, so ganz hingab – daß für andere nichts weiter übrig blieb. –

Brautzeit – du selige Zeit! Wenn Annie Gerold an ihrem Fenster saß, dann fühlte sie es genau, wenn er kam, wußte es gewiß, noch ehe sie einen Schatten von ihm sah! Mit versagendem Herzschlag, mit stockendem Athem, wie gelähmt vor Glück saß sie da, die Hände im Schoß, bis sie die Kraft gewann, sich vorzubeugen, hinauszusehen, einen Gruß zu nicken und dann ihm entgegenzustürmen und dem Geliebten in die Arme zu fliegen, der sie ungestüm an sich preßte, als habe er sie wochenlang entbehrt, und ihr abgebrochene Laute der Liebe, der Sehnsucht, des Entzückens ins Ohr flüsterte. –

Oft aber, oft, selbst wenn sie das ersehnte Alleinsein mit einander genossen, mitten in seine leidenschaftlichen Liebkosungen hinein, fiel ein Wort – ein Blick – eine Gebärde, die sie heimlich erstaunen ließ … staunen ließ wie damals, als er ihr an jenem herrlichen Maitage im Park von Heinrichslust gestanden hatte, er habe auf alles Glück verzichtet, er besitze kein Recht darauf, und nun habe er sich selber sein Wort gebrochen. Damals, im Rausch und Taumel des ersten überraschenden Glückssturmes, hatte Annie sich innerlich flüchtig darüber verwundert und sich gefragt, was das wohl zu bedeuten habe – dann hatte sie nicht mehr daran gedacht und würde es vielleicht vergessen haben, wenn nicht er selber dafür gesorgt hätte, daß sie dies nicht konnte.

Wieder, immer wieder dieser gequälte, sich selbst anklagende Blick zu dem Ausruf: „Ich verdiene Dich nicht! – Ich stehle mir mein Glück! – Ich habe kein Recht auf Deine Liebe!“ – Diese Demuth des stolzen Mannes hätte Annie beglücken können, wenn sie gesehen haben würde, daß er selber darin glücklich sei – aber das sah sie nicht! Ein Schatten war da und verschwand und kam wieder, und Annie war viel zu klug und liebte den Mann ihrer Wahl viel zu tief, um sich nicht darüber klar zu werden, daß es wohl in ihrer Macht stand, diesen Schatten für den Augenblick durch ihr Lachen, ihre Rede, den ganzen Zauber ihres Wesens, das so mächtig auf ihn wirkte, zu verscheuchen – nicht aber, ihn für immer zu bannen. Kleinliche weibliche Neugier lag ihr ganz fern, und hier, wo sie mit ihrem ganzen Herzen liebte und vertraute, zu fragen, widerstrebte ihr durchaus, wie sie bereits ihrer Schwester Thekla gestanden hatte. „Wenn er es für gut befindet, wird er es mir freiwillig sagen, was ihn quält!“ dachte sie bei sich.

Aber er sagte es ihr nicht. –

Ein lauer, feuchtwarmer Juninachmittag war’s, es drohte stark mit Regen, und so konnte das Brautpaar keinen Spaziergang unternehmen. Delmont war das angenehm; er liebte es nicht, sich „dem Volke zu zeigen“, geflüsterte Bemerkungen, verstohlene Blicke aufzufangen und sich von hundert Augen begafft zu sehen, wenn er mit der schönen Braut am Arm einherging. In Heinrichslust gab es allerdings versteckte Plätze, einsame Pfade genug, und beide liebten den Park jetzt doppelt, seit sie in ihm ihr Verlöbniß gefeiert … aber bis dort hinaus war es ein weiter Weg.

[780] So wandelten sie denn im Geroldschen Garten langsam auf und nieder. Die Obstbäume hatten abgeblüht, aber der Flieder hing in schweren lila und weißen Trauben nieder – süßduftende Maréchal Niel-Rosen und herrliche Malmaisons hatten die lieblichen Kelche aufgeschlossen, und die Beete waren besäet mit den ersten Blumen des Frühsommers.

Schwer hing der Blumenduft in den stillen Lüften. Am Himmel stand ein Gewitter – die Vögel flogen unstät vorüber, die Bienchen hatten aufgehört zu summen. Da und dort taumelte noch ein verspäteter Schmetterling über das niedere Gesträuch, und in langen Zwischenräumen schluchzte eine Nachtigall ihr sehnsüchtiges Lied in den vergehenden Lenz hinaus. Von der nahen Lukaskirche tönte regelmäßig feierliches Glockengeläut – eine Sterbeglocke war’s. Ein vereinzelter Sonnenstrahl blinzelte noch einmal grell, wie jählings aus dem Schlaf aufgeschreckt, vom umdunkelten Himmel herab, aber alsbald zogen schwere Wolken drüber weg und erstickten ihn.

Annie war es ein wenig beklommen zu Muthe, obschon sie das Gewitter nicht fürchtete. „Wenn’s nur schon vorüber wäre!“ dachte sie, machte sich von Delmonts Arm los, hob sich auf die Fußspitzen empor und langte mit ausgestreckten Händen nach einer besonders schönen, frisch aufgebrochenen weißen Fliedertraube, die sie für Thekla mit Hereinnehmen wollte.

„Bitte, Liebstes, bleib’ so, wenn Dich’s nicht zu sehr ermüdet – nur für wenige Minuten, ich bitte Dich!“ rief Delmont hastig und dringend, während er rasch sein kleines Skizzenbuch aus der Brusttasche riß.

Das junge Mädchen gehorchte lächelnd. Sie war es schon gewöhnt, daß ihr Verlobter urplötzlich, unvermittelt irgend eine Stellung, einen Ausdruck, eine Gebärde von ihr auf dem Papier festzuhalten wünschte, und er besaß mindestens schon ein Dutzend dieser hastigen, flüchtigen Bildchen von ihr, in fliegender Eile mit dem Stift hingeworfen, oft nur mit einigen Strichen, die er dann später daheim in Muße sorgsam auszuführen pflegte.

„Deine Schönheit ist meine Verzweiflung!“ hatte er zuweilen ausgerufen. „Ich kann mich nicht in Ruhe ihrer erfreuen – immer tritt der Künstler zwischen mich und mein Gefühl und verlangt gebieterisch sein Recht. Meine Augen können sich nicht satt trinken an dieser ungekünstelten Grazie, dem holdseligen Umriß der ganzen Gestalt, dem Spiel der marmorschönen Hände. Ach, und der Augenaufschlag – das köstliche Lächeln – das Abwenden des Köpfchens – jede Bewegung, so, gerade so des Meißels, des Pinsels würdig – es ist zum Entzücken und zum Verzweifeln!“

Und Annie lachte dann und freute sich ihrer jungen Schönheit, aber es war eine unbefangene und eine selbstlose Freude; es war ihr lieb, daß er sie so schön fand.

Auch jetzt stand sie geduldig still, die zart gerundeten Arme hoch erhoben, die Last des überreich blühenden Zweiges zu sich niederziehend. Sie trug ein Kleid von gelblich weißem Batist, reich mit Stickereien verziert, und keinen Schmuck weiter als ein paar von den wundervollen weißen und rothen Rosen, die ihr Verlobter ihr heute früh geschickt hatte.

„Armes, süßes Lieb! Wie anspruchsvoll ich bin! Noch einen Augenbick – ich beeile mich schon! Weißt Du, ich fürchte, ich werde in Zukunft zu den Malern gehören, die nicht umhin können, auf jedem neuen Bilde ihre Frau anzubringen!“

„O Karl! Denk’ doch einmal an Deine ‚rastende Karawane‘, die Du jetzt fertig malst – und unter all den Arabern ich mitten darunter!“

„Es sind ja auch Europäer dabei! Aber freilich, nein, auf dem Bilde ginge es nicht an! Die Figuren sind in zu kleinem Maßstab angelegt – wer bekäme da einen Begriff von Deinem liebreizenden Gesicht, von allem, was –“

„Du hörst jetzt gleich auf, mir Komplimente zu sagen, oder ich lasse den Fliederzweig los!“

„Ums Himmels willen, nein! Aber Komplimente? Ich – und Komplimente! Das Wort nimmst Du zurück!“

„Und wenn nicht?“

„Dann setzt es eine fürchterliche Strafe. Hörst Du den Donner in der Ferne?“

„Ich höre ihn!“

„Fertig! So! Mein süßes, engelsgutes, geduldiges Herz! Wie Du mir stillgehalten hast! Bist Du sehr müde? Komm zu mir – so – und nun schilt mich! Schilt mich tüchtig aus!“

Er hatte sie an sich gezogen und küßte sie wieder und wieder. Sie sah mit schelmischen Augen zu ihm auf, befreite sich endlich aus seinen Armen, fuhr ihm mit der weißen Fliedertraube neckisch über die Augen und rief lachend: „Ich soll schelten, und Du lässest mich nicht einmal zu Wort kommen! Uebrigens weiß ich gar nicht, warum ich mit Dir so geduldig bin – das ist sonst keineswegs meine Stärke. Thekla wirft mir manchmal vor, daß ich keine rechte Stätigkeit in mir habe. Jetzt zeig’ einmal die Skizze her!“

„Aber, mein Herz, es sind ja nur ein paar Striche!“

„Du zeigst die Skizze her! Ich will sie sehen, Deine Paar Striche!“

Sie wußte, wie sehr er diesen scheinbaren kleinen Trotz an ihr liebte,

„Nun denn – da – Du kleiner Eigensinn! Zufrieden – wie?“

„Ach, wie hübsch!“ rief sie naiv. Und hübsch war’s auch, das kleine, rasch hingestrichelte Bildchen der anmuthigen Gestalt, des reizenden Profils und der nickenden Fliederbüsche.

„Das Gewitter zieht näher – komm, Liebster, wir müssen hinein!“

Er that, als hörte er nicht, und drückte seine Lippen auf ihre sammetweichen Handflächen; vereinzelte Regentropfen begannen zu fallen. – Aus dem „Nußgang“, so genannt, weil die hoch und kraftvoll emporstrebenden Haselnußstauden sich oben zu einem Dach verschlangen, kam der alte Lamprecht mit einer riesigen Gartenschere, die große derbe Schürze mit abgeschnittenem Grünzeug angefüllt; der alte Mann blieb neben dem Brautpaar stehen und zeigte mit der Gartenschere nach dem Himmel.

„’s giebt gleich was Ordentliches! Vögelchen sollte man laufen, daß es hineinkommt!“

Annie nickte ein zerstreutes „ja, ja“, und Delmont hörte überhaupt nicht – er war gerade damit beschäftigt, Annie ein paar Narzissen ins Haar zu stecken. Der Alte blieb noch ein Weilchen stehen und besah sich das Paar, dann, da die Regentropfen immer dichter auf seinen kahlen Scheitel herabfielen, lief er kopfschüttelnd davon.

Drinnen im Gartenzimmer – dasselbe hatte zwischen den beiden Fenstern eine Flügelthür mit bunten Glasscheiben, die im Sommer gewöhnlich offen stand und mit drei Stufen in den Garten führte – saß Thekla und wollte eigentlich Feuerbach studieren. Aber das konnte sie nicht, denn erstens fing es an, im Zimmer finster zu werden, so daß das Lesen ihr die Augen angriff, und zweitens war sie mit ihren Gedanken nicht bei den Feuerbachschen Lehrsätzen, sondern bei dem Brautpaar, das sie von ihrem Platz aus beobachten konnte.

„Davon hat er natürlich keine Ahnung!“ dachte sie. „Er würde sonst nicht so zärtlich mit Annie sein – in meiner Gegenwart küßt er ihr ja kaum einmal die Hand – sonderbarer Heiliger, der er ist! Nun hat er sie wieder einmal gezeichnet – und werth ist sie es freilich – mein schönes, süßes, geliebtes Kleinod! Himmel, wenn er sie nur glücklich macht – ich will ja gern in den Hintergrund treten und gar nichts mehr von ihr haben … Gern? Und gar nichts mehr von ihr haben? Das ist nun geradezu gelogen – und ich will ein Philosophenzögling sein! Ich hänge ja mit meinem ganzen Herzen an diesem Kinde – ich weiß einfach nicht, wie ich ohne dasselbe leben soll! Das macht, sie hat mich verwöhnt – immer war sie um mich … für Auge, Herz und Geist die richtige Erfrischung! Und sie würde auch weiter mein Kind bleiben, wenn auch erst in zweiter Linie, sie hat mir’s ja gesagt: wer so glücklich sei wie sie, habe doppelte Liebe und Zärtlichkeit für seine Nächsten und Theuersten im Herzen; ich glaube es ihr auch, sie ist so köstlich wahr – aber er, er! Er leidet es ja nicht, daß sie andern, denen sie bis dahin ganz gehörte, auch nur ein Almosen von dem Reichthum spendet, den er besitzt … ganz und gar will er sie für sich haben, mit jedem Gefühl, jedem Gedanken – ein rechter, echter selbstsüchtiger Mann! O mein Vögelchen – mein Liebling! Wie sie spät abends, wenn er fort ist, noch zu mir hereinschlüpft und durch doppelte Zärtlichkeit alles wieder gutzumachen strebt, was sie tagüber versäumen mußte! Sie liebt ihn ja – wunderbarerweise! – und ist für jetzt sehr glücklich! Aber wird das Glück Dauer haben, wenn er das freie, lustige Vögelchen so ganz in den Käfig sperrt, wenn es immer nur für ihn da sein muß und [781] für niemand sonst? Und neulich sprach er gar von Fortziehen, so ganz beiläufig nur, als wär’ es das selbstverständlichste Ding von der Welt … ich glaube, mein Herzschlag setzte aus vor Schreck! Ich bin ja hilflos, bin gelähmt, kann nicht fort von hier! Alles, alles könnte ich ertragen – nur die Trennung nicht! Wie grausam wäre das! Er müßte es doch bedenken, daß mir das Herz in Stücke gehen müßte – das Herz, an dem ich mein Goldkind hielt, als es seinen ersten Schrei that! Aber freilich, was fragt er nach mir!“ –

Um Theklas Lippen zuckte es bitter, und mit finstern Augen starrte sie in den rasch sich verdunkelnden Garten hinaus.

„Wissen möchte ich nur,“ dachte sie weiter, „ob er wohl unserem Vater gefiele, ob der mit Annies Wahl zufrieden wäre! Freilich, in den Weg hätte er ihr nichts gelegt, sie hätte volle Freiheit behalten! Aber ich denke immer, nach seinem Herzen wäre dieser Mann nicht gewesen. Oft starrt er so weltvergessen vor sich nieder, als sähe er etwas Schreckliches – und sieht er Annie, wenn er sich unbeobachtet glaubt, nicht zuweilen an, als wollte er ihr etwas sagen – etwas eingestehen – und fände nicht den Muth dazu? – Das aber mag Einbildung von mir sein, weil – weil – ich ihn nun einmal nicht mag! Ja, ja, das ist die Wahrheit, und die gesteh’ dir nur ganz ehrlich, meine Seele! So traurig es ist – für so geradezu unmöglich ich es früher gehalten hätte: ich mag den Verlobten meiner Annie nicht – durchaus nicht! … Und da fängt es nun in allem Ernst an zu regnen, und er bringt sie mir nicht herein, läßt sie draußen im Regen stehen! Sie standen doch eben noch dort – jetzt sind sie nicht mehr zu sehen; wo ist er mit ihr geblieben? Das ist doch unverantwortlich!“

Und Thekla ergriff den rechts neben ihr hängenden Klingelzug und läutete Sturm.

Agathe, die athemlos, mit schiefgerückter Haube, aus ihrem Stübchen herbeieilte, und Lamprecht mit seiner Schürze voll Grünzeug und der langen Schere erschienen gleichzeitig in dem Gartenzimmer.

„Lamprecht, wo in aller Welt bleibt das Brautpaar? Es regnet ja, was es kann!“ rief Thekla ihm zu.

„Ha, Fräulein Thea, das kommt noch ganz anders – es wird gleich platzregnen, und ’n Stück drei, vier Gewitter stehen parat am Himmel, ich hab’ sie gezählt, immer eins hinter’m andern! Ich werd’ man hier die Glasthür hübsch zumachen, sonst kriegen wir den ganzen Himmelssegen auf das Parkett – und den Rollstuhl schieben wir auch beiseite!“

„Aber Alter, nun red’ nicht!“ rief seine Frau ärgerlich. „Unser Vögelchen! So red’ doch ’mal! Das kann doch nicht im Guß draußen bleiben!“

„Ja, was das Vögelchen ist“ – Lamprecht schloß sorgsam die Thür und rollte Theklas Sessel vor das rechtsgelegene Fenster – „hab’ ich ihm nicht gesagt, daß es regnete, – und konnte es das nicht auch sehr gut fühlen, wenn es bloß gewollt hätte? Aber du liebe Zeit! Läßt sich Narzissen in die Haare stecken und sieht mich an, ganz abwesend und verschmachtet, und sagt ‚ja, ja‘ – und er sagt nichts – und sie retiriren sich beide in den Nußgang hinein. Die“ – hier that Lamprecht so, als sei er der erste Verkündiger einer Thatsache, auf die vor ihm noch nie ein Mensch gekommen war – „die sind verliebt – das sag’ ich! – Und da kommen sie gelaufen, was sie nur immer können!“

Er riß die Glasthür sperrangelweit auf und komplimentirte das Brautpaar mit sehr vorwurfsvollen Blicken herein.

Annie lachte ausgelassen wie ein Kind und schüttelte das Köpfchen, daß die hellen Tropfen aus ihrem Haar umhersprühten, und rüttelte ihr Kleid zurecht, warf Thekla den feuchten Fliederzweig in den Schoß und nestelte ihren Rosenstrauß, der sich von ihrer Brust losgelöst hatte, von neuem fest. Delmont stand daneben und fühlte besorgt ihre Hände und Kleider an und sah mit zürnenden Augen auf die alte Agathe, die ihrem Bedauern sehr wortreich Ausdruck lieh und sich, als ehemalige Bonne, auch für berechtigt hielt, die Kleine wegen ihrer „Unvernunft“ ein wenig auszuschelten. Annie streichelte ihr die runzlige Wange und wollte ihr zur Versöhnung das Bildchen zeigen, welches ihr Bräutigam soeben im Garten von ihr gemacht hatte; aber Delmont sagte frostig: „Wozu? Solche Bildchen sind nur für Dich bestimmt, das weißt Du ja!“ und gekränkt verstummte die redselige Alte, faßte Lamprecht beim Arm und sagte halblaut: „Komm’ – wir sind hier zuviel. Die Zeit ist gewesen, wo wir hier mitreden durften und der selige Herr mich seine alte Freundin nannte!“ –

(Fortsetzung folgt.)



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Großes Reinmachen.

Humoreske von Hans Arnold.

Ein Freund von mir, der sich – ob mit oder ohne Grund, bleibe dahingestellt! – für einen Pechvogel erster Güte zu halten geneigt ist, erzählte mir einmal, er arbeite im Hinblick auf eben dieses Pech ein neues philosophisches System aus, „die Philosophie des Selbstverständlichen“ mit dem Motto „natürlich!“

An Beispielen zu dieser Philosophie fehlt es nun freilich nicht, und jeder wird schon Zeiten – im besten Fall Tage gehabt haben, wo ihm alles quer ging, und wo von dem erfreulichen Augenblick an, als die gefüllte Kaffeetasse beim ersten Frühstück zutraulich in den Schoß ihres Besitzers hüpfte, bis zu dem nicht minder angenehmen Augenblick, wo derselbe Besitzer abends beim Schlafengehen mit dem Bett einbrach, er den ganzen Tag über geneigt war, alles Widerwärtige für selbstverständlich zu erachten und bei jedem neuen Mißgeschick höhnisch zu sagen: „natürlich!“

Ein solcher Tag pflegt mit Vorliebe dann anzubrechen, wenn große, wirthschaftliche Veranstaltungen und außergewöhnliche Vorkommnisse es gerade besonders wünschenswerth machen, daß sich alles glatt abwickelt.

Nie kocht die Köchin schlechter, als wenn der verwöhnte Freund des Hausherrn den bekannten „Löffel Suppe“ mitißt – nie sind die Kinder ungezogener, als wenn sich die einflußreiche Pathe einstellt, und nie ist mangelhafter Staub gewischt, als wenn die Anverwandte mit dem Falkenblick für derartige kleine Ungehörigkeiten ihr Haupt zur Thür hereinsteckt – natürlich!

Ein solcher fataler Tag drohte allem Anschein nach dem Hause des pensionirten Oberstlieutenants Solten anzubrechen. Das „große Reinmachen“, schon bei normalem Verlauf ein abgesagter Feind des häuslichen Friedens, war auf diesen Freitag angesetzt, der schon als „Freitag an sich“ in abergläubischen Gemüthern ein unangenehmes Vorgefühl erregte.

Der Hausherr hatte von dem Augenblick an, als seine Augen sich dem Licht des Tages öffneten, bereits jene Laune an den Tag gelegt, deren Wirkung auf die Umgebung sich am besten durch die Worte kennzeichnen läßt:

„Und des Donners Wolken hangen schwer herab auf Ilion.“

Ein Mann, der nichts mehr zu thun hat, ist ja leicht geneigt, sich Beschäftigung zu suchen, und wenn er einmal gar nichts anderes zu besorgen vorfindet, so wettert er eben auf Frau und Kinder – nur der gesunden Bewegung halber!

Mehrere Tage war der Gebieter des Hauses sehr nutzbringend untergebracht gewesen, und alle hatten die Wiege der kleinsten Tochter des Hauses gesegnet, da man diesem Möbel den erwähnten angenehmen Umstand verdankte. Diese Wiege erfreute sich nämlich eines hohen Gitters aus Eisenstäben, die soweit auseinander standen, daß ein mäßig beleibtes Kind beständig von der Sucht ergriffen werden mußte, zwischen diesen Stäben durchzukriechen;

[782] immer wieder mußte die jugendliche Weltbürgerin von irgend einen gerade unbeschäftigten Angehörigen zurückgestopft werden, erheischte also eine fortwährende Aufsicht.

Der Vater hatte sich nun vor zwei Tagen ein netzartiges Drahtgeflecht meterweise aus der Eisenhandlung geholt und das Bettgitter äußerst kunstgerecht durchflochten, eine Leistung, die, wie er mit Stolz ausrechnete, dem Familienvermögen mindestens fünf Mark erhalten hatte.

Daß dieser dilettantische Eingriff in die Innungsrechte des Handwerkes einen kleinen Fehler hatte, indem an den beiden sich treffenden Enden des Drahtgeflechts lauter kleine Dornen und Enden heraussprießten und sich jeder, der einmal ohne besondere Aufmerksamkeit an dem Bettchen vorbeiging, handgroße Löcher in die Kleider riß – daß daher die Ersparniß auf der einen Seite eine Mehrausgabe von mindestens zwanzig Mark auf der andern bedingte, hielt der Vater für eine Erfindung weiblicher Bosheit und glaubte es einfach nicht.

An dem erwähnten Morgen nun hatte die Hausfrau sich gleich nach dem Aufstehen liebevoll über die Wiege der Kleinsten gebeugt, und beim Zurücktreten – ritz – ratz – riß sie sich ein rechtwinkliges Dreieck von so mathematischer Genauigkeit in den Morgenrock, wie es ihr Sohn, der Tertianer, in seiner Geometrie fast noch nie so schön und regelrecht gezeichnet hatte.

Stürmisch erwartete die gereizte Mutter ihren noch schlafenden Gatten und verlangte von ihm, als er noch kaum die Augen offen hatte, Mitgefühl und Reue über diesen neuesten Erfolg seiner Bastelleidenschaft. Ein lebhaftes Wortgefecht eröffnete den Morgen, und verstimmt begab man sich zum Frühstück.

Die größeren Kinder des Hauses waren bereits versammelt. Liesbeth, ein bildhübsches Backfischchen von fünfzehn Jahren, deren tiefblaue Augen unter dichten, schwarzen Wimpern sehr schelmisch hervorsahen, schien durch die ersichtliche üble Laune ihrer elterlichen Vorgesetzten nicht besonders beunruhigt zu sein. Sie wußte, daß sie bei solchen Anlässen als der Liebling des Vaters immer am besten wegkam, und hatte außerdem ein so glückliches Temperament, daß sie jeweilige Schelte schnell und sorglos abschüttelte und wieder so lustig war wie vorher. Das kleinste Kind schlief noch ahnungslos in der neuumflochtenen Wiege, die den ersten Grund zu der düstern Stimmung des Morgens gegeben hatte, und schon glaubte der Hausherr, daß das Frühstück wider Erwarten ohne besonderen Aerger vorübergehen werde.

Denn auch die beiden Jungens der Familie verhielten sich heute ziemlich ruhig. Der dicke Franz war vermöge seines grenzenlosen Phlegmas, das ihm den wenig schmeichelhaften Kosenamen „Pfund Wurst“ eingetragen hatte, nie sehr lärmend und, wenn er etwas zu essen und zu trinken hatte, so ausschließlich mit Leib und Seele dabei beschäftigt, daß er für Extravaganzen keine freie Minute fand.

Der dreizehnjährige Ernst fühlte daher die schwerwiegende moralische Verpflichtung, den täglichen Bedarf an Dummheiten für den Bruder mit zu besorgen, und kam dieser Empfindung aufs gewissenhafteste nach. Immer trug er das Bewußtsein irgend einer verborgenen Schandthat im Busen, die jeden Augenblick „herauskommen“ konnte!

Da Ernst seine eigenen Sachen beständig verlor, verlegte und zerbrach, so entnahm er mit einer Genialität, die zu den schönsten Hoffnungen berechtigte, alles Fehlende, oder vielmehr Ersatz dafür, wo er es eben konnte, und trug zum Beispiel heute – dem Vater zum Glück verborgen! – einen Bauer aus des Hausherrn Schachspiel als Kragenknopf mit dem tröstlichen Bewußtsein, daß derselbe ja vor Abend nicht gebraucht werde.

Nebenbei hatte er sich gestern das väterliche Taschenmesser geborgt und die kleinere Klinge desselben war, wie das Messern in der Hand von Tertianern merkwürdigerweise öfter widerfährt, „ganz von selbst“ zerbrochen. Im Bewußtsein dieser beiden belastenden Umstände war es daher Ernst recht elend zu Muthe, und er konnte es kaum erwarten, heute in die Schule – einen ihm sonst tief verhaßten Aufenthalt! – zu gehen, obwohl das in der Stille der Nacht angefertigte Exercitium auch dort einen unfreundlichen Empfang in Aussicht stellte. –

Stumm und bedrückt frühstückte alles. – Plötzlich tönte aus dem Nebenzimmer ein schrilles Geschrei, die Thür wurde aufgerissen und die schon etwas bejahrte Köchin des Hauses stürzte unter gellendem Wehklagen ins Zimmer, auf ihren Schultern als unfreiwillige süße Last Franzens Eichhörnchen tragend, welches, mit bitterer Ironie „das zahme“ genannt, bei Gelegenheit der Fütterung seinem Käfig entschlüpft und der Küchenfee auf den Rücken gesprungen war – eine Lage, in der es sich entschieden mindestens ebenso unglücklich fühlte wie sein Opfer und die nur dadurch hingehalten wurde, daß es sich mit seinen Krallen in die Haare seiner Trägerin verfangen hatte.

Alles sprang auf. Der Vater – zum Glück der Vater höchsteigenhändig! – warf die Kanne mit der Milch um, die sofort in einer breiten plätschernden Straße auf die Dielen niedertroff. Die Mutter lief nach Wischtüchern, Liesbeth lachte, daß ihr die Thränen herunterliefen, die beiden Jungen aber faßten die Sache als Sport auf und rannten schreiend hinter der Köchin her, die, mit dem Eichhörnchen auf dem Rücken, wie von Furien gepeitscht, einem Cirkuspferde vergleichbar, immer rund um den Tisch raste.

Endlich befreite sich das unselige Hausthierchen unter Mitnahme eines Viertels von dem Gelock der Köchin; es jagte, von den Brüdern unter Hussa und Hallo verfolgt, unter alle Schränke, sprang auf den gedeckten Tisch, trat in die Butter und entfloh schließlich über das Sofa auf den Ofen, die Spuren seiner zierlichen Pfötchen in getreuer Butternachbildung auf dem dunkelgrünen Plüsch des Möbels zurücklassend – eine Thatsache, welche das Stichwort „natürlich!“ – gebieterisch herausforderte.

Eine allgemeine Ermattung folgte dem geräuschvollen Auftritt.

Die Köchin, eine kräftige Person, auf deren thätige Mithilfe und guten Willen man beim heutigen großen Reinmachen stark rechnete, zerfloß infolge von Schreck und Schmerz in Thränen und erklärte, dazu hätte sie sich nicht vermiethet, daß sie sich von „den jungen Herren ihren Biestern“ umbringen ließe – sie bekäme Magenkrampf! Mit dieser tröstlichen Versicherung wankte sie schluchzend hinaus.

Der Vater schlug ärgerlich nach seinen Söhnen und verwünschte Jungens und Eichhörnchen in einem Athem, so daß die beiden unschuldigen Schuldigen schon vor der gesetzlichen Schulzeit sich drückten mit der Versicherung „es haut schon dreiviertel,“ die neuerdings für „es schlägt“ beliebt wurde. Sie wurden mit allseitigem Segen entlassen und man hörte nur noch, wie sie auf der Treppe dem abholenden Freunde, „dem Schulze“, das Geheul der Köchin zu dessen namenloser Erheiterung dramatisch vortrugen. – Die Zurückbleibenden, einschließlich des Eichhörnchens, welches sich auf Umwegen auf die Gardinenstange gerettet und sich daselbst als verlegener, rother Knäuel ins Privatleben zurückgezogen hatte, fühlten die eingetretene Stille recht wohlthätig. Die Laune hob sich.

Zudem erschien eben der Briefträger, dieser stets willkommene Mann, und erwies sich auch heute als Friedensengel. Er brachte einen ganzen Stoß Postsachen für den Hausherrn, die, wenn sie sich auch bei näherer Betrachtung mit einer Ausnahme als uninteressante Geschäftsempfehlungen mit der verhaßten Dreipfennigmarke erwiesen, doch immerhin als Ableitung hochwillkommen waren.

Der Oberstlieutenant, ein Mann von System, der alles langsam und höchst ausführlich betrieb, namentlich seit der Dienst [783] ihm keine Zeitbeschränkung mehr auferlegte, brachte durch die umständliche Erledigung seiner Briefschaften die etwas ungeduldige Hausfrau oft zur Verzweiflung. So auch heute, wo sie mit jeder Fiber ihrer Seele die Beendigung des Frühstückes herbeisehnte, um mit dem Aufräumen des Wohnzimmers den Anfang des heutigen Greuels zu machen.

„Natürlich“ schien aber das Geschäft des Brieföffnens heute gerade gar nicht vor sich gehen zu wollen!

Erst ordnete der glückliche Empfänger seine Korrespondenz nach nur ihm bekannten Grundsätzen und legte jede Sorte, die Ränder der Umschläge nach Möglichkeit aufeinander passend, zusammen, und dann nahm er den einen eigentlichen Brief heraus, um ihn mit Hochgenuß zu betrachten.

„Nun!“ drängte seine Frau, „so mach’ ihn doch auf!“

„Geduld!“ sagte der Oberstlieutenant und drehte den Brief nachdenklich hin und her; „von wem kann denn der sein?“

Er studierte kopfschüttelnd den etwas unleserlichen Poststempel und das Siegel, wie es denn überhaupt eine Eigenthümlichkeit vieler Leute ist, daß sie sich eine halbe Stunde vor einem geschlossenen Briefe den Kopf über den Absender zerbrechen, statt einfach den Umschlag aufzumachen und sich davon zu überzeugen.

„Liesbeth,“ wandte er sich dann an seine Tochter, „ich habe mein Papiermesser auf meinem Schreibtisch liegen lassen!“

„Natürlich!“ sagte Frau Anna, „wenn es schnell gehen soll! – So mach doch einmal ohne Papiermesser auf!“

Der Oberstlieutenant sah sie groß an.

„Ja!“ sagte er dann mit tiefer Verachtung, „Du bist das imstande, Anna, den Umschlag so mit dem Zeigefinger im Zickzack aufzureißen – das kann ich nicht – so etwas ist angeboren!“

Anna schwieg – nicht aus Friedensliebe, sondern um die Verhandlungen nicht zu verlängern; Liesbeth brachte das Papiermesser.

Der Vater nahm es, begann aber noch nicht den Brief aufzuschneiden, sondern wiegte verwundert den Kopf und sah das corpus delicti an.

„Was ist denn nun wieder?“ frug seine Frau mit vor unterdrückter Ungeduld zitternder Stimme.

„Komisch!“ bemerkte der Oberstlieutenant sinnend, „die Postmarke ist links unten aufgeklebt – sonst sitzen sie doch immer rechts oben!“

Anna verschränkte die Finger, warf einen Blick nach oben und deutete durch beredtes Mienenspiel ihre Ansichten über die Männer im allgemeinen und über den ihrigen im besondern an. Die Zeit verstrich.

Endlich öffnete der Vater den Brief.

„Von wem ist er denn?“ frug die Frau.

„Ich muß doch erst lesen!“ gab der Oberstlieutenant mit erhobener Stimme zurück.

Die zitternde Erwartung seiner Frau und Tochter bemerkend, hielt er es für pädagogisch, diese unbefugte Neugier noch nicht zu befriedigen. Er las mit staunenswerther Langsamkeit und verschärfte die Qual seiner Damen noch, indem er durch lebhaftes Mienenspiel, Lächeln und kurze Ausrufe wie „aha!“ oder „nun sieh’ ’mal!“ auf einen höchst interessanten Inhalt des vorenthaltenen Schreibens schließen ließ.

Endlich war er fertig. Er erhob sich legte den Brief zusammen und steckte ihn in die Tasche.

„Nun bitte!“ rief Anna empört, „Du wirst uns doch wohl mittheilen, was Du erfahren hast, Emil!“

„Eigentlich wäre ich dazu durchaus nicht verpflichtet,“ erwiderte Emil, der heut seinen unausstehlichen Tag hatte, „aber da Euch ein Theil des Inhalts mit angeht, will ich ihn Euch nicht verschweigen. Mein alter Freund General Binder schreibt mir, daß sein Junge ein Kommando zur Centralturnanstalt bekommen habe und in den nächsten Tagen hier durchkommen werde. Er bitte, sich uns dann vorstellen zu dürfen.“

„Ein Lieutenant?“ frug Liesbeth mit großen Augen.

Der Vater lächelte – zum ersten Male an diesem Morgen.

„Ja!“ sagte er, „Du thust ja, als wenn Du noch nie einen Lieutenant gesehen hättest!“

„Wenigstens noch nie gesprochen!“ betonte Liesbeth wehmüthig, die sich entschieden durch diesen Mangel um eine der wichtigsten Lebensfreuden betrogen fand.

„Wird auch noch kommen!“ meinte der Vater behaglich, „Du kannst Dich vorläufig noch mit mir begnügen – ich bin ja auch einmal Lieutenant gewesen.“

Gewesen!“ wiederholte Liesbeth bedeutsam. „Aber Papa,“ rief sie dann plötzlich, „das ist wohl der Bruder von Lina Binder, mit der ich in der Pension zusammen war!“

„Freilich – die liebtest Du ja so!“ sagte der Vater jetzt wohlgelaunter und schickte sich an, das Zimmer zu verlassen.

„Bitte, komm vor Tisch nicht wieder hier herein, Emil,“ rief ihm seine Frau nach, „wir fangen mit dieser Stube an und haben schon dreiviertel Stunden verloren!“

„Sei unbesorgt,“ gab der Oberstlieutenant zurück, „ich gehe bis zu Mittag aus. Großes Reinmachen ist kein so besonderes Vergnügen für mich, daß ich mich noch extra dazu setzen sollte!“

„Weiter fehlte mir auch nichts,“ bemerkte die Mutter, als sich die Thür hinter dem Hausherrn geschlossen hatte, „das wäre das Angenehmste, was ich mir denken könnte!“

„Ich hätte Dir ja gut helfen können, Mama,“ sagte Liesbeth bedauernd. „Kann ich nicht heute einmal aus der dummen Litteraturstunde wegbleiben?“

„Nein,“ entschied die Mutter, „Du hast erst vorigen Freitag versäumt – um zehn Uhr gehst Du ab!“

Das Hilfscorps, eine noch nicht erprobte Scheuerfrau – die gewohnte konnte nicht kommen – und die Köchin wurden nunmehr aufgeboten, und binnen wenig Minuten war das behagliche Wohnzimmer in ein Chaos verwandelt, in welchem Stühle ihre vier ungraziösen Beine in stummer Anklage gegen die Decke streckten, die Familienbilder wehmüthig mit dem Kopfe an der Wand lehnten, und gardinenlose Fenster hohläugig auf dieses Bild der Ungemüthlichkeit starrten.

Amalie, die bereits oben erwähnte Köchin, kreidebleich und mürrisch, mit einem vorwurfsvollen Tuch um den Kopf, erklärte auf die theilnehmende Frage der Mutter nach ihrem Befinden, „es wäre ihr in den Magen gekommen!“ ein unbestimmtes „es“, welches sich nach dem Vorgefallenen nur auf das – übrigens inzwischen wieder eingefangene – Eichhörnchen deuten ließ.

Die leidende Amalie betheiligte sich unter herausforderndem Aechzen an der allgemeinen Thätigkeit und hielt halblaute Selbstgespräche, in denen die Wendung „der Mensch kann nicht mehr wie arbeiten“ – „der Mensch kriecht eben so lange, bis er liegen bleibt!“ eine wohllautende Begleitmusik zu ihren Leistungen bildete.

Die Stimmung der Mutter wurde infolge dessen natürlich nicht gerade ausgelassen heiter.

Die Scheuerfrau, die sich einer namenlosen Bildung erfreute und, um diese zu beweisen, jedes Glas ohne ersichtlichen Grund „Pokal“ nannte, war entschieden in Fremdwörtern gewandter als im Aufräumen. Sie schmetterte alle Augenblicke zerbrechliche Gegenstände wie Fanfaren durch die Luft und jonglierte in einer so betrübenden Weise mit den Porzellanschätzen des Hauses, daß man sich immerfort lebhaft an einen Polterabend erinnert fühlte.

Nur eine abscheuliche gemalte Kachel, durch die eine böse Freundin der Familie diese einmal recht gekränkt hatte, und auf deren Zerbrechen man schon öfter Belohnungen gesetzt hatte, trotzte auch diesmal mit eiserner Stirn jedem Unfall und ging heil und häßlich aus den drohendsten Gefahren hervor. Das diesmalige Aufräumen war ihr übrigens als letzte Gnadenfrist gestellt, und sie sollte, wenn sie wieder ganz blieb, dann sofort auf einen Bazar zu wohltätigem Zweck geschenkt werden – den bewährtesten Ableiter für alle unbrauchbaren und verhaßten Gegenstände eines Haushalts.

Angesichts des Zerstörungstriebes der helfenden Scheuerfrau kommandirte die Mutter diese in die Küche, wo sie unter dem eisernen Geschirr entschieden unschädlicher toben konnte; als aber Frau Anna von diesem Abstecher und den dazu gehörigen Anweisungen ins Wohnzimmer zurückkehrte, fand sie ein neues Unheil vor.

Die Köchin, die heut jeder schonte wie ein rohes Ei, und die schon in jeder Ecke verstohlen Baldriantropfen aus einem Fläschchen gekneipt hatte, saß in einem Lehnsessel zusammengekauert und überraschte ihre Gebieterin durch die Erklärung,

[784]

Kaiser Maximilians I. Rückkehr nach Gent.
Nach einem Gemälde von A. H. Schram.

[785] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [786] der Magenkrampf „schmisse sie bis an die Decke!“ – was ja jedenfalls als eine achtbare Leistung anzusehen war.

„Nun, Amalie,“ sagte die Hausfrau gefaßt, „da müssen Sie eben zu Bett gehen – wir werden schon sehen, wie wir fertig werden!“

Nach einem kurzen, edlen Wettstreit ließ sich denn Amalie bewegen, sich selbst für invalid zu erklären, und wankte unter der heiteren Versicherung, daß sie „am liebsten so schreien möchte, daß man es Häuser weit hörte“, in ihr etwas abgelegenes Gemach, wo sie dieser Neigung ohne jegliche Störung von seiten der Außenwelt obliegen konnte und wohin sie den ewig warmstehenden ungeheuren Topf voll Kaffee mitnahm, der zu jeder Köchin so untrennbar gehört wie die Eule zur Minerva.

Die Zurückbleibenden, Mutter und Tochter, sahen sich verstört und rathlos an.

Natürlich muß die Amalie heut krank werden,“ nahm die Mutter endlich mit einiger Bitterkeit das Wort, „aber Liesbeth, nun hilft es nichts – Du mußt nun doch von der Litteraturstunde zu Haus bleiben und mir helfen!“

„Hurrah!“ rief Liesbeth lustig und warf das Staubtuch, mit dem sie eben beschäftigt gewesen war, in die Luft, „was geht mich die Litteraturstunde an? Du weißt doch, Mutter, daß ich zehnmal lieber hier helfe, als in die dummen Stunden gehe, wo ich doch nur schlafe – wir haben noch dazu heut den alten Sebastian Brant mit seinem Narrenschiff – auf den habe ich immer einen Haß gehabt! Darf ich mich richtig zum Reinmachen anziehen? Bitte, Mama!“

„Kindskopf!“ sagte die Mutter lachend und strich ihr über die Wange, „mach Dir die Arbeit nur zum Spiel, obwohl das mit bald sechzehn Jahren auch aufhören könnte!“

Als Liesbeth nach wenig Minuten wieder ins Zimmer trat, war sie ihrer Aufgabe gemäß verwandelt. Die Kleiderärmel, bis über die Ellbogen aufgestreift, ließen zwei zierliche Arme frei, eine mächtige, dunkelblaue Latzschürze verbarg das Kleid vollständig und ein türkisch buntes Tuch, das wie bei den böhmischen Obstfrauen um den Kopf geknotet war, stand allerliebst zu dem frischen, feinen Gesichtchen.

Die Mutter betrachtete ihr reizendes Töchterchen mit heimlichem Wohlgefallen.

„So ist es ja ganz ordentlich,“ sagte sie kühl, „und nun werde ich einmal sehen, ob Du schon vernünftig bist! Ich muß draußen in der Küche und Speisekammer nachsehen und übertrage Dir, diese Stube jetzt ganz fertig zu machen. Das Gröbste ist ja geschehen, jetzt nimm Dir alle Nippsachen noch einmal vor, wasche sie gründlich ab und stelle sie wieder an ihren Platz. Die guten Krüge konnte ich der ungeschickten Person draußen doch nicht in die Hand geben! Wie das heute werden soll, weiß ich nicht!“

(Schluß folgt.)




Die Rappsche Kommunistenrepublik.

Von Schmidt-Weißenfels.

Im Jahre 1785 trat in seiner württembergischen Heimath, hauptsächlich im Oberamt Maulbronn, ein junger verheiratheter Weber namens Georg Rapp, gebürtig aus dem kleinen Iptingen, als ein „Erweckter“ auf, welcher von der Verderbniß der herrschenden Kirche, von Buße im rechten Bibelgeist predigte und auch das nahe Kommen des Heilandes verkündete, der erscheinen werde, um sein tausendjähriges Reich der wahren Glückseligkeit für die rechten Christen aufzurichten. Rapp fand sogleich andachtsvolle Zuhörerschaft. In Nachwirkung der ungeheuerlichen Ereignisse der französischen Revolution gewann dann in den Massen des Landvolkes, zumal des württembergischen, die Empfänglichkeit für den Glauben an einen Untergang der verrotteten und vielverhaßten Zustände einen großen Boden und ein Prophet wie Rapp, der den Ruf eines unsträflichen bürgerlichen Lebenswandels und einer eindringlichen, überzeugungsvollen natürlichen Rednergabe genoß, daher einen wachsenden Anhang. Von weit und breit kam das Volk zu ihm, dem „Räpple“, wie es ihn nannte, und immer mehr schwuren auf sein Wort und seine Berechtigung als Prophet, der gesandt sei, die Menschen zu erleuchten und aus ihnen ein „Leibcorps des Heilandes“ zu bilden, würdig, den Erlöser für sein tausendjähriges Paradiesesreich auf Erden zu empfangen. Alle Maßregeln, Warnungen, Drohungen und Einsperrungen, welche die württembergische Regierung gegen die Mitglieder der erstarkenden Sekte und ihren unbeirrt das neue Evangelium predigenden Gründer aufbot, hielten die aufsteigende Fluth dieser Bewegung nicht zurück, sondern mehrten nur ihre Mächtigkeit.

Als nun Ende des Jahres 1803 die Regierung einen förmlichen Krieg gegen die Räppler verkündigte, die Männer der Sekte unter die Soldaten oder ins Zuchthaus, die Weiber in die Arbeits-, ihre Kinder in die Waisenhäuser stecken ließ, da entschloß sich Georg Rapp zum Verlassen des Sündenlandes und zur Auswanderung mit seinen Getreuen nach Nordamerika. An die siebenhundert Schwaben folgten seinem Ruf – aus der Kirchengemeinde Knittlingen allein 88 Personen – und zogen in zwei Abtheilungen 1804 ihm nach über den Ocean. Sie verehrten Rapp als ihren Erlöser aus der verteufelten Welt, als ihren Herrn und Gebieter, als den durch Gottes besondere Gnade Erleuchteten, unter dem sie in den Wäldern Amerikas das christliche Glückseligkeitsreich errichten wollten.

Am 15. Februar 1805 kam dieses „ausgezogene Leibcorps des Heilandes“ in Pennsylvanien an. Rapp, des unbedingten Gehorsams seiner Anhänger sicher, ließ sich nach einer feierlichen Bundesweihe von ihnen alles Geld und Gut ausliefern, welches sie nach Bestreitung ihrer Reisekosten noch bei sich führten; es bildete den Bundesschatz, 20 000 Dollars, deren Verwaltung er allein übernahm. Die ganze Gemeinde zusammen sollte eine große Familie bilden, die ihr Haupt in dem begnadeten Rapp habe. Jeder einzelne mußte für die Gesammtheit arbeiten; aus dem Gesammtvermögen erhielt jeder seinen Unterhalt, der zunächst nur auf das Dürftigste beschränkt war, da es sich vor allem um das Heil der Seele handelte.

Rapp kaufte 6000 Acres (2428 Hektar) Land in waldiger Wildniß Pennsylvaniens und legte daselbst das Städtchen Harmony an. Es blühte schnell empor. Aber die Vermehrung der Gesellschaft durch den Nachwuchs an Kindern ließ besorgen, daß die Kosten sich vergrößern und die Arbeitsleistungen der Frauen sich vermindern würden. So befahl Rapp denn fortan die Ehelosigkeit und suchte nach Möglichkeit auch die Ehen zu trennen, die von den mitgenommenen Württembergern schon früher geschlossen worden waren. Es bedürfe, meinte er, keiner Kinder mehr für die Auserwählten Gottes, denn das Ende der Welt sei nahe und die letzten Gerichte hätten bereits begonnen. Auch führte er eine Beichte ein, in der ein jeder gehalten war, die geheimsten Regungen seines Herzens ihm zu offenbaren, namentlich die, welche sich auf Verehelichung richteten. Heirathen galt schließlich als Sünde und Verbrechen, und die Harmoniten nahmen diese Lehre auch gläubig an.

[787] Nach kaum zehn Jahren fand Rapp seine in schwerer Arbeit errichtete und emporgebrachte Kolonie zu klein, er verkaufte sie um 100 000 Dollars und erwarb dafür weite Ländereien am Flusse Wabash im südwestlichen Theil von Indiana, mitten in dichtem, sumpfigem Walde. Hier mußten nun von neuem die Wälder ausgerodet, Aecker gewonnen und Weinberge angelegt werden. Ein Leben der Mühen und der Entbehrung aller Familienfreuden war auch den Kommunisten von Neu-Harmony beschieden; aber ihr Schatz im Verwahrsam von Rapp wuchs, und das sollte ja die Hauptsache sein, um ins tausendjährige Wonnereich in wohlverdienter Ehrenstellung einziehen zu können. Und fragten[WS 1] die Ungeduldigen, wann dies stattfinden werde, so tröstete sie Rapp damit, daß sich die Zeit erfüllen müsse. Sie habe mit dem Bundesfest vom 15. Februar 1805 begonnen, und nach der Offenbarung Johannis rechne er, daß sie 24½ Jahre dauern werde, also bis 1829 gemeiner Rechnung. Ihrer genug von den Begründern waren derweil unter den ungeheuren Anstrengungen, die ihnen als Mitgliedern der Harmony auferlegt waren, schon gestorben oder gebrechlich geworden. Aber es hatte sich auch in den Theuerungsjahren 1816 und 1817 aus Schwaben neuer Zuzug von Rappschen Jüngern eingestellt und die Zahl der Kolonisten bis auf tausend gesteigert. Mit ihrer Aufnahme mehrte sich der Bundesschatz. Rapp veranstaltete ein neues Dank- und Schwurfest und führte einen noch größeren Despotismus denn seither als von Gott gewollt ein. Alle Briefe mußten durch seine Hände gehen und kein anderes Buch wurde in Neu-Harmony zugelassen als die Bibel und das Rappsche Gesangbuch.

Im Jahre 1823 war der edle und berühmte englische Philanthrop und Schwärmer für eine kommunistische Gesellschaftsreform Robert Owen in Nordamerika und machte da, wie früher in England und auf dem europäischen Festlande, Aufsehen mit seinem verkündeten Traumbild von einem neuen Eden, wo es weder Krieg noch Verbrechen mehr geben werde. Die große Menschenfamilie sollte regiert werden nach dem Gesetz der Liebe. Owen setzte sich mit Rapp in Verbindung und wollte ihm seine Kolonie abkaufen, um sogleich einen wohl eingerichteten kleinen Staat zu haben, der den Anfang einer allgemeinen Weltgesellschaft nach seinen Ideen bilden könnte. Rapp als kluger Finanzmann war bereit, gegen eine halbe Million Dollars den Handel abzuschließen, durch den Owen 30 000 Acres meist bebautes Land mit Wohnungen für 1500 Menschen erhielt. Der englische Idealist bekam durch seine Verehrer in Boston und New-York mit Leichtigkeit die verlangte Kaufsumme zusammen, übernahm die Rappsche Kolonie Neu-Harmony am Wabash und begann mit Feuereifer sein Werk eines wissenschaftlichen Sozialismus, der den Kommunismus ohne religiöse Grundlage für das einzig Richtige erklärte. Jedoch bereits nach zwei Jahren hatte er damit jämmerlich Bankerott gemacht und seine Kolonie gerieth in vollständige Auflösung.

Rapp aber hatte inzwischen mit dem gelösten Gelde eine neue Kolonie bei Pittsburg am Ohio angelegt, die er Harmony-Economy nannte und die er nicht auf den gemeinsamen Namen seiner Anhänger, sondern auf den seines angenommenen Sohnes Reich[e]rt – sein eigener Sohn Johann war schon 1811 gestorben und er besaß aus seiner Ehe sonst nur noch eine Tochter Rosine – in die Gemeindegrundbücher einschreiben ließ. Seinen Leuten erklärte er zur Rechtfertigung dieser dritten Gründung und der nun nochmals ihnen auferlegten Mühsal der Anlage und Einrichtung, daß dies die dritte Einwohnung Gottes in der Welt sei, wie sie nach der Bibel stattfinden müsse, ehe das tausendjährige Reich allen Prüfungen der Auserwählten ein Ende bereite. Und triumphirend konnte er dann bald auch auf den großen Owen verweisen, der mit allen seinen Geldmitteln nichts von seinen kommunistischen Glückseligkeitsverheißungen erreicht habe, während er, der Erleuchtete Gottes, auch zum dritten Mal seinen Getreuen den christlichen Staat der Bruderliebe und Gütergemeinschaft herrlich auferrichte.

In der That erstand Economy glänzender, als die beiden Gründungen vorher gewesen waren. Die Häuser wurden aus Backsteinen erbaut, es gediehen die angelegten Obstgärten und Weinberge, die Aecker und Weiden. Es gab auf der Rappschen Kolonie das beste Vieh, die besten landwirthschaftlichen Maschinen, aufblühende Fabriken und Gewerbebetriebe. Der große Wohlstand war allen ersichtlich und weit und breit stand die Gemeinde wegen ihrer Leistungskraft wie wegen der Sparsamkeit, Rechtschaffenheit, Wohlthätigkeit, Gastfreundschaft und strengen Ehrbarkeit ihrer Bewohner in hohem Ansehen. Diese waren jetzt unzweifelhaft Millionäre, und doch lebten sie wie Sklaven, indem nicht nur ihre spartanisch einfachen Leibesbedürfnisse, sondern auch ihr Seelenleben ganz nach der unbedingten Willkür ihres Patriarchen bestimmt und geregelt wurden.

Rapp und sein Adoptivsohn bewohnten dagegen das größte und festeste Haus in Economy, hielten zu ihrem Vergnügen vier prächtige Pferde, aßen und tranken köstlich und arbeiteten fast gar nicht mehr. Rapp fühlte sich als König in seinem selbsterschaffenen Reich und ließ sich daher von seinen Unterthanen reichen, was er brauchte. Sein Wille als der eines göttlichen Gesandten galt als unumstößliches Gebot, und er verkündete ihn sowohl in den Predigten, die er zweimal wöchentlich abhielt, wie abends in den gemeinsamen Unterhaltungen, die mit Gebet und Gesang begonnen und beschlossen wurden.

Mehr und mehr ging es freilich mit der Mitgliederzahl der Gemeinde, die mit tausend etwa ihren Höhepunkt erreicht hatte, rückwärts, theils durch Tod, theils wegen der zum Dogma gewordenen Ehelosigkeit, theils weil die Jüngeren es nach Erreichung ihrer Volljährigkeit vorzogen, die Kolonie zu verlassen, obgleich sie sich damit ihrer Anrechte auf deren Vermögen entschlugen und gewöhnlich für ihre zehn- bis fünfzehnjährige Arbeitsleistung nur mit einem Hundertdollarschein unter argen unchristlichen Flüchen abgespeist wurden. Auch fuhr der böse Geist in manches Haus und brachte den Glauben an Rapps Verheißungen vom Gottesreich ins Wanken. Als endlich das verkündigte Erfüllungsjahr 1820 kam und sich nichts erfüllte, brach mehreren die Geduld und sie verließen Economy.

Da ereignete sich etwas, was Rapp sogleich mit der ihm eigenen Klugheit zur Beschwichtigung der Zweifler benutzte. Aus Europa lief ein bogenlanges Schreiben an ihn ein mit der Einleitung: „Fried[e,] Gnade und Barmherzigkeit, wie auch Heil und Segen werde dem alten Patriarchen Georg Rapp und seinen Mitvorstehern, wie auch der ganzen in Gott vereinigten Gesellschaft der Harmony zu Theil.“ Dieses Schreiben kündigte Rapp die nahe Ankunft des wahren Gesalbten Gottes an, der bei ihm den Thron des neuen Jerusalems aufrichten wolle, und war unterzeichnet von dem Geheimsekretär des Propheten Proli, dem Dr. Göntgen profanen Namens.

Rapp war immerhin noch Schwärmer genug, um zunächst an den neuen Gottgesandten und die von ihm angekündigte Aufgabe zu glauben; jedenfalls hielt er es für seinen Zwecken förderlich, die Sache in seiner Gemeinde so darzustellen, daß Christus zuerst im Geist und, wenn er durch den Dienst dieses seines Gesandten Proli die Guten alle gesammelt habe, dann auch leibhaftig erscheinen werde. Er antwortete daher dem europäischen Propheten, daß er ihn hoffnungsfreudig erwarte, wobei er freilich mit Schlauheit verschiedene Fragen that, deren Beantwortung er zuvor erwarten müsse. Proli, von dessen abenteuerlichem Treiben und Leben die „Gartenlaube“ im Jahre 1867[1] eine ausführliche Schilderung unter dem von ihm geführten Titel eines „Herzogs von Jerusalem“ gebracht hat, beliebte nicht, dem amerikanischen Patriarchen Bescheid darauf zugehen zu lassen, und darüber gerieth dessen Gemeinde in nicht geringe, für Rapp höchst verdrießliche Unruhe. Denn es trieben in seinem Reich ersichtlich Zweifel und Unzufriedenheit aus religiösen wie aus sehr egoistischen Ursachen einer Krisis zu, die das Werk seines Lebens zu vernichten drohte.

Er athmete daher auf, als er endlich nach zwei Jahren von New-York die Nachricht amtsmäßig erhielt, daß Proli, nunmehr königliche Hoheit Erzherzog Maximilian von Este sich zeichnend, als „Gesalbter Gottes vom Stamme Juda und von der Wurzel David“, sich persönlich und zwar zuerst incognito unter dem Namen Graf Leon bei ihm einstellen werde. In dieser Mittheilung wurde auch zu verstehen gegeben, daß der mit vornehmem Gefolge ankommende Prinz im Besitze großer Geldmittel sei, und das Gerücht drang zu Rapp, Graf Leon habe nicht weniger als sechs Millionen Thaler, um das himmlische Reich der Herrlichkeit mit allem irdischen Glanze einzurichten. Dieser Umstand bestimmte Rapp, den Gast mit aller ihm wegen seiner göttlichen Eigenschaft gebührenden Auszeichnung zu empfangen und allem zu vertrauen, was er ihm so feierlich angekündigt hatte.

[788] Im Oktober 1831 kam der als Graf Leon verkappte Reichsgründer mit seinem Gefolge von 46 Personen an und wurde auf Rapps Veranstaltung mit Pauken, Trompeten, Hörnern und Pfeifen empfangen. Ganz Economy war in Freuden und Wonne, da nun die Zeit des Harrens und der irdischen Mühsal zu Ende sein sollte. Proli, der königliche Herr, der schöne Prophet mit dem bärtigen Christusgesicht, der feine, liebenswürdige Schwärmer, welcher das Glück der Menschheit in den Falten seines wallenden Gewandes trug, wurde von alt und jung als der Gottgesandte verehrt, und man bereitete ihm mit seinen Leuten ein so angenehmes Leben, wie er es beanspruchte.

Von den sechs Millionen irdischen Thalern sah man jedoch nichts, und bald merkte Rapp, daß er von einem abgefeimten Schwindler ausgebeutet wurde. Er konnte wohl nach gewissen Anzeichen schließen, daß Proli, nachdem er in Europa seine mystischen Pläne nicht hatte durchführen können, nur nach Amerika gekommen sei, um sich bei den schwärmerischen schwäbischen Bauern von Economy in Ansehen zu setzen, ihren Patriarchen zu verdrängen und dessen Gut sich anzueignen. Schon schwur auch ein Drittheil der Gemeinde mehr auf den Grafen Leon als auf den alten Rapp, und diesem wurde es wahrscheinlich, daß eine Revolution in dem heiligen Economy ausbrechen, der fremde Abenteurer als Usurpator sich an die Spitze seiner Anhänger stellen und das Kastell mit dem Bundesschatze stürmen werde. Da entschloß er sich zur rechten Zeit noch, so schwer es ihn auch ankam, in den Schatz zu greifen und sich von der Prolischen Einquartierung loszukaufen. Der schöne Prinz trieb die Abfindungssumme bis auf 105 000 Dollars, weil er etwa 250 Gemeindemitglieder mit sich nehmen wollte und diese ihren Antheil aus Rapps Kasse ausgezahlt erhalten mußten. Damit zog er endlich ab, um die Gründung seines himmlischen Reiches nach Philippsburg am Ohio, nur zehn englische Meilen von Economy, zu verlegen. Diese so gefährliche konkurrirende Nachbarschaft war natürlich dem schwäbischen Gottgesandten nichts weniger als angenehm; aber schon nach zwei Jahren wurde ihm die hohe Genugthuung, daß Prolis Kolonieversuch wie einst der Owensche schmählich verkrachte und der bankerotte Gründer dann auch spurlos verschwand.

Wie stand nun Rapp wiederum in den Augen der ihm treu Gebliebenen da! Waren ihm auch durch den Einbruch Prolis ein paar Hundert abtrünnig geworden und verloren gegangen, so hielt die verkleinerte Gemeinde doch desto zuverlässiger zu ihm. Sie fühlte sich noch inniger mit ihm und unter sich verwachsen, als Rapps Adoptivsohn Reichert 1834 starb und somit das gesammelte Vermögen, als Familienfideikommiß für ihn hinfällig, nach seinem Tode lediglich Gemeindeschatz werden mußte.

Fortan blieb auch die Kolonie von neuen Stürmen verschont, und trotz ihres fortschreitenden Rückgangs an Mitgliedern gedieh sie immer mehr. Mit dieser Thatsache mußten sich die Gemeindeangehörigen über die Täuschung bezüglich der Ankunft des Heilandes zur Eröffnung des tausendjährigen Reiches trösten. Am 7. August 1847 starb Joh. Georg Rapp als ein neunzigjähriger Greis in dem Glauben, daß sich doch nächstens seine Weissagung erfüllen werde, und in dem Bewußtsein, daß er seiner Aufgabe gerecht geworden sei und das Urbild einer christlichen Gemeinde wieder aufgestellt habe. Sein Werk blieb auch unerschüttert. Die paar Hundert Kolonisten von Economy, die noch vorhanden waren, zumeist Greise und Greisinnen, wollten in dem Glauben sterben, in dem sie gelebt hatten, und nichts an ihrem gewohnten und für sie wie geheiligten Dasein verändert wissen.

Rapp hatte vor seinem Tode auch für alles, was seinen Staat weiter erhalten sollte, gesorgt. Sein Nachfolger als erster Vorsteher war der ihm treu gesinnte Romelius Backer und nach diesem Jakob Henrici, auf deren Namen auch immer das Gemeindevermögen eingetragen wurde. Es wird neuerdings bis auf zwölf Millionen Dollars geschätzt, ohne daß freilich das streng bewahrte Geheimniß darüber früher enthüllt werden wird, als bis die kommende Auflösung der Gemeinde, das Aussterben ihrer heute nur noch in sehr kleiner Zahl bestehenden letzten Mitgliedschaft die Erbschaftsregelung erheischt, für welche ja eine ansehnliche Menge württembergischer Familien ihre Ansprüche schon vorbereitet hat. Das wird das Ende der Rappschen Schöpfung sein, welche dann die Dauer fast eines Jahrhunderts gehabt hat.

Aber die Reichthümer, welche durch die gemeinsame Arbeit vieler und durch die Enthaltung der einzelnen von jeglichem Luxus, ja selbst von den Freuden der Familie, gewonnen waren, blieben im Grunde ungenossen. Die Anziehungskraft dieses kommunistischen Stätchens erstarb denn auch mit denen, die seine Urheber waren und sich zu seiner Ermöglichung einer fast knechtischen Lebensweise unterworfen hatten. Sie kannten keine Armuth und Noth, aber sie waren arme Reiche. Der Kulturmensch erstrebt das materielle Wohlsein für sich und seine Familie, jedoch in möglichster individueller Freiheit, deren sich wohl einzelne aus persönlicher Liebhaberei oder aus religiöser Schwärmerei entschlagen mögen, welche aber die Gesellschaft im großen als erste Bedingung irdischen Glücks niemals aufzugeben bereit sein wird.


0Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Der Sprung im Glase.

Erzählung von Anton Freiherr v. Perfall.
 (Schluß.)
2.

Ein Jahr ist vergangen.

Auf der Kommandobrücke der „Laura“ steht Bill Lührsen, der Kapitän. Durch die sternenhelle Nacht leuchten die Watten in unsicherem Schein, dunkle Landmassen heben sich von allen Seiten aus dem flüsternden, kosenden Meere. Sein Grund ist hier gepflastert mit Schiffstrümmern und Leichen, ein Gewirr von Inseln, Untiefen, Klippen bereitet tausendfaches Verderben den Seefahrern; da braucht es eine sichere Hand am Steuer, und das Auge muß die Flamme der Leuchtschiffe, die schwankenden Richtungsbojen fest erfassen; jeder Irrthum bringt Verderben – Tod! Aber die Nacht ist ja hell und Bill Lührsen ein erfahrener Seemann, der die Küste kennt wie seine Tasche – und doch steht der Schweiß ihm auf der Stirn, trotz des steifen Nordost, und mit einer nervösen Unruhe läuft er hin und her, die auffallend absticht gegen seinen ersten Steuermann, der, die kalte Pfeife im Munde, mit eiserner Ruhe den unter buschigen Brauen verborgenen Blick auf die erleuchtete Kompaßplatte vor sich heftend, das Steuerrad lenkt. Das verwitterte Gesicht ist grell beleuchtet, die Gestalt im Dunklen, der steife Wind fährt klatschend um seinen Sturmhut.

Der Kapitän sieht jeden Augenblick nach dem leise sich bewegenden Zeiger unter dem Glase, geht dann wieder vor an die Brüstung und wieder zurück.

„Kommt es Dir nicht vor, Jansen, als kämen uns die Watten zu nahe?“ Sein bleiches, gar nicht seemännisches Antlitz kehrte sich dem hellen Streifen in der Ferne zu.

Jansen hob nicht den Kopf. „Alles in Ordnung, Kapitän!“

Bill begann wieder seinen Rundgang.

„Stopp!“ rief er plötzlich durch das Sprachrohr in den Maschinenraum.

Die Maschine arbeitete rückwärts, das Wasser schäumte um die Schraube, ein schriller Pfiff – ein Matrose sprang auf die Brücke.

„Lothen!“ klang der kurze Befehl.

Der Steuermann schüttelte den Kopf.

Das Loth sank in die Tiefe, viele Faden tief.

„Vorwärts!“ tönte der Befehl.

Bill athmete tief auf und lehnte sich weit über das Geländer.

Schwarze drohende Eilande lagen rings umher, hie und da blitzte ein Licht, er dachte an den gespenstischen Reiter von den Halligen, von dem Claus, der Richter, an seinem Hochzeitsabend erzählt hatte, an Rolf, den Kater, der eben da gesessen auf der Brüstung mit seinen feurigen Augen – er glaubte sie vor sich funkeln zu sehen – aber da waren es keine feurigen Augen, es war ein grünes, zersprungenes Glas. Der grüne Römer stand noch immer oben auf dem Schrank; Bill hatte ihn schon oft entfernen, in die Gosse werfen wollen, aber immer hielt ihn etwas davon ab. Wozu auch? Sie waren ja glücklich, was kümmerte ihn der Scherben! [789] Daß er immer mit schwerem, sorgenvollem Herzen von daheim schied, das war ja ganz natürlich, dafür hatte er jetzt ein geliebtes Weib – ja, noch mehr, ein gesegnetes Weib.

Vor zwei Monaten war er nach Bergen ausgelaufen, da war der Abschied doppelt hart gewesen, das Herz ihm schier gebrochen. Ihre Blicke hatten sich zuletzt an dem Glase oben auf dem Schrank getroffen und er hatte, Thränen in den Augen, einen schlechten Witz gemacht. Es waren zwei harte Monate gewesen und zum erstenmal in seinem Leben fühlte Bill Lührsen die Schwere seines Berufes.

Laura war gesund und kräftig, ein Nordseeweib, es war eigentlich kein Grund vorhanden zu solcher Unruhe. Der Sprung im Glase am Ende? Das wäre denn doch zu kindisch für einen Mann, einen Seemann! Was kümmerten denn ihn diese dummen Landsagen, glaubte er ja nicht einmal an die der See, an den Klabautermann, den fliegenden Holländer und andern „Unsinn“.

In einer halben Stunde hatte er Gewißheit. Schon liefen die Lichterreihen von H. hinter der schwarzen Insel dort hervor. Das Geschäft war gut, die Fahrt glücklich, er sorgte schon dafür, noch nie fuhr er den gefährlichen Weg mit solcher Vorsicht – oder war es mehr als Vorsicht – Aengstlichkeit? Das macht alles die Familie – ein Seemann sollte ledig bleiben. Sie wird ihm entgegenkommen, das Kindchen auf dem Arme –

Er lachte laut in das schäumende Meer hinab, er vergaß die Watten, die Inseln, den Kurs.

Ein spitzes Signal machte ihn aufsehen: ein Segelboot zog schemenhaft mit flatternden Segeln vorüber.

„Steuerbord! Hörst Du nicht? Steuerbord! Ums Himmelswillen, Steuerbord!“ brüllte Bill dem Steuermann Jansen zu, sprang selbst zum Rad und riß es dem Starren aus der Hand, es mit aller Gewalt drehend, daß das Schiff jäh zur Seite schwenkte.

„Aber Kapitän – eine halbe Seemeile dazwischen!“ bemerkte Jansen.

Bill ließ das Rad und wischte sich den Schweiß von der Stirne.

„So dachte Lars Tönningen wohl auch und ließ sich übern Haufen rennen!“

Er ging wieder an die Brüstung, er fühlte sich so matt in den Beinen – der Schreck! Schreck vor einem Segelboot mit so viel Wasser dazwischen!

Bill! Bill! Er hielt sich den Kopf.

Wär’s am Ende nicht besser, es wäre weniger Wasser zwischen ihm und dem Segler gewesen und er hätte nicht Steuerbord gerufen – wenn am Ende doch ein Unheil bestimmt wäre für ihn – vielleicht hätten es ein paar Rippen der „Laura“ gesättigt, es abgelenkt von der andern Laura daheim – „Gute Fahrt mit beiden allewege!“ hatte der alte Rungholt damals gerufen. Da war das Glas gesprungen!

Das Schiff lief jetzt langsam in den Fluß ein, der in den Hafen von H. mündet. Der Mond leuchtete am Himmel, der Einfahrt stand nichts im Wege. Noch eine qualvolle Stunde – schnelle Fahrt ist hier verboten. Endlich ist die „Laura“ im Hafen.

Wie das Beidrehen langsam ging! Der Kapitän wetterte wie noch nie.

„Jansen, ich muß zu meinem Weibe, ich verlasse mich auf Dich!“ rief Bill.

Er wartete das Legen der Treppe nicht ab, mit einem Sprung war er am Land.

Es war schon spät, der Hafen leer, in den erleuchteten Kneipen lärmte das Schiffsvolk. Jetzt noch um die Ecke, dann – dann mußte er Rungholts Haus erblicken, wo Laura wohnte – er mußte anhalten, Athem schöpfen. Wie ein Dieb schlich er weiter. – Da lag es! Im ersten Stock rechts ein Licht, sonst alles dunkel; er studierte seinen Schein – kein sanfter, heimlicher, wie er von der gemüthlichen Lampe ausgeht – ein matter, grünlicher Schein! Wo sah er nur schon den Schein? – Als wenn er von dem zersprungenen, grünen Römer ausginge, gerade so! – Gott, hab’ Erbarmen!

Das Hausthor stand offen, eine dicke Frau mit einem Körbchen begegnete dem die Treppe hinaufstürmenden Bill.

„Lebt sie?“ keuchte er und wartete die Antwort nicht ab. Die dicke Frau sah ihm erstaunt nach.

Er sank in die Kniee, indem er an der Glocke riß – es war ihm, als donnere die See zu seinen Füßen.

Leise Tritte näherten sich von innen, vorsichtig wurde die Thür geöffnet.

„Pst!“ Die Magd legte den Finger auf den Mund – eine warme schwere Luft quoll aus dem Flur heraus.

„Lebt sie?“ keuchte er, vom Boden sich erhebend.

„Beide leben, freilich, man soll’s nicht glauben – Herrgott! der Herr Kapitän!“ schrie die Magd auf, in dem Mann mit dem blassen, feuchten Gesichte vor sich ihren Herrn erkennend.

„Beide? Und warum sollt man’s nicht glauben?“

Er drückte ihre Hand, daß sie aufschrie.

„Weil – weil – Herr, Sie dürfen nicht so plötzlich – weil sie so viel leiden mußte und das Kleine – der Doktor sagte es, ich versteh’s ja nicht – so schwach, so schwach – ein Hauch, Herr – aber es lebt, es ist ganz munter – ich werde nachsehen, Herr – pst!“

Sie verschwand hinter einer Thür. Leises Gewimmer drang heraus, eine Kinderstimme – die Stimme seines Kindes! Er knieete nieder, verbarg sein Antlitz in seine Hände und weinte.

Die Magd blieb lange aus. Bill wagte nicht, einzutreten in das Zimmer, aus dem das Kinderstimmchen kam, er hätte ja sein armes Weib tödten können durch ein plötzliches Erscheinen. Still horchte er – leises Geflüster – jetzt ein jubelnder, sich aus kranker Brust gewaltsam bahnbrechender Jubelruf: „Bill! Bill!“

Er riß die Thür auf.

„Bill!“ tönte es gell. Er sank vor dem Bett auf die Kniee und hielt sein bleiches, abgemagertes Weib in den Armen. Hinter ihm knarrte die Diele, er fuhr auf; Frau Holde stand lächelnd vor ihm; aus dem weißen Linnen in ihren Armen leuchteten zwei große blaue Augen.

„Maria, Deine Tochter!“ sagte die Mutter.

Er berührte scheu die zarten geballten Händchen und küßte den so eigenthümlich schmerzlich verzerrten Mund in dem schmalen, durchsichtigen Gesichtchen.

Lauras Blick hing zaghaft an ihrem Mann.

„Sie wird schon werden, Bill, ich ängstigte mich so um Dich –“ sagte sie mit zitternder, thränenerstickter Stimme.

„Ja, ja,“ grollte Frau Holde, „und so ein armes Wesen muß es dann büßen! Eine Kapitänsfrau! Und bei dem guten Wetter! Wie soll denn das noch werden?“

„Ja, es ist auch wahr, Laura – bei dem guten Wetter! Wie konntest Du nur – ?“

Der Blick des jungen Weibes war in die Höhe gerichtet, Bill folgte ihm unwillkürlich und erblickte auf dem Schrank den grünen Römer. Jäh sprang er auf, einen wilden Fluch auf den Lippen – eben erreichte er das Glas, hob es auf zum vernichtenden Wurfe –

„Aber Bill, sei doch vernünftig! Was kann denn das Glas dafür!“ sagte Frau Holde.

„Natürlich, was kann denn das Glas dafür!“ wiederholte Bill wie beschämt und stellte es auf seinen alten Platz.

Er setzte sich auf das Bett, Frau Holde legte Mariechen zwischen beide Eltern und schlich hinaus. Ueber Lauras Antlitz zog ein seliges Lächeln.

„Ich war recht albern, Bill, und recht gewissenlos!“ sagte sie leise. „Verzeih’, aber es lag mir auf der Brust, ich konnt’s nicht wegheben.“

Bill nickte stumm.

„Ich kenn’s – wenn sich’s nur an uns hält, das Unglück, und unser Mariechen verschont – !“

„Unglück? Haben wir denn Unglück?“

„Ich meine nur, wenn’s einmal hereinbricht, mein Gott, das kommt über Nacht – beruf’ es nicht!“

Sie wagten nicht, sich anzusehen, und blickten auf das Kind. Das streckte die Aermchen aus nach der Mutter; die nahm es und zog es an sich, und das junge Wesen blickte wie erstaunt nach dem bärtigen fremden Mann.

„Laura, ist das nicht das höchste Glück?“ rief Bill beseligt von diesem Anblick. „Jetzt spring’ noch einmal!“ drohte er mit geballter Faust nach dem unseligen Glase auf dem Kasten hinauf. „Wir sind glücklich, hörst Du?“

Sonderbare Lichter spielten darin, es blinkte so höhnisch, katzenartig – und Bill wandte sich rasch ab – zurück zu seinem Glück.


3.

Bettnischen in der hölzernen Wand mit auf und zu sich bewegenden Thürchen, in die Wand eingelassene Bänke, eine schwankende qualmende Lampe, von der sanft gewölbten, hölzernen [790] Decke herabhängend über dem massiven Tisch, zwei nach Seewasser und Fischen riechende, seemännisch gekleidete Männer daran, die schweigend Karten spielen – dumpfes Brausen, das eigenthümliche Schlürfen der Wasser, Pfeifen und Heulen des Sturmes vor den wie Schiffsluken geformten Fenstern; alles schwankend, zitternd, feuchten Seegeruch athmend – man hätte schwören können, in einer Schiffskajüte sich zu befinden. Und doch war es des Seerichters Wohnzimmer auf Oland und zu Claus Buiksloot war sein alter Kamerad Lars Tönningen von Föhr gekommen auf Besuch. Der ehemalige Kapitän der stattlichen „Laura“ führte jetzt ein kleines Küstenfrachtschiff; Rungholt hatte ihm zwar trotz seines Unglücks ein anderes Schiff anvertrauen wollen, doch Lars selbst fehlte der Muth, es anzunehmen ohne seinen Rolf.

Man sprach davon, daß es bei Lars nicht recht geheuer sei seit seinem Unglück mit der „Laura“, der Kater spuke ihm im Gehirn. Er hatte keinen Freund mehr als Claus, den Richter, der hörte noch immer gerne seine Geschichte. Darum fand Lars auch oft den Weg herüber nach Oland. An holzgetäfelten, mit blauer Farbe gestrichenen Wänden leuchteten bunte rohe Skizzen von Schiffen und Schiffbrüchen, an die sich wohl Familienerinnerungen knüpften; die Lehnen der Eichensessel zeigten Walroßköpfe, Meerungeheuer; auf den Gesimsen lagerten vielgestaltige Muscheln, Korallen aus der Südsee, grellfarbige Vogelbälge hingen neben der alten Wanduhr, Erinnerungen an des Besitzers Meerfahrten.

Der Sturm brüllte draußen gegen das Watt, er rüttelte und schüttelte das Haus des Seerichters.

„Bill ist auf der Fahrt nach Sylt, ein verdammtes Wetter, soll sich in acht nehmen,“ unterbrach Claus das Schweigen, während Lars von neuem Karten gab. Der zog die buschigen Augenbrauen steif hinauf.

„Hat auch kein Glück mehr, der Lührsen! Wie geht es denn seinem Kinde jetzt?“

„Schwach, Lars, recht schwach, wird’s nicht weit bringen! Wie’s nur möglich ist von solchem Blut! Holde sagt, die Angst um ihren Mann habe der Frau so zugesetzt. Ein Seemannskind – Angst! Keine Kraft ist mehr drin in dem jungen Volk!“

Lars spielte aus.

„Mein Gott, ich verdenk’ es ihr nicht einmal.“

Claus sah ihn erstaunt an, er hielt die zum Auswurfe erhobene Karte in der Luft.

„Geht das am Ende auf Bill? Zu jung zum Kapitän, meinst Du? Laß doch die Geschichten! Du wirst doch nicht glauben, daß er Dich verdrängt hätte!“

Lars lachte.

„Nicht das, mich hat niemand verdrängt –“

Plötzlich gab es beiden einen Stoß. Horch! Ein lang gezogener Ton – noch einer –

Claus öffnete das Fenster. Finstere Nacht, der Ton wiederholte sich, und dort –

„Das kann doch Langeneß nicht sein – das Licht dort, siehst Du, Lars!“

Ein rothes Pünktchen schwankte wie ein Funken in der Finsterniß.

„Er sitzt auf dem Watt,“ entgegnete Lars.

„Wer?“ rief Claus erbleichend.

„Wer? Irgend wer – nach oder von Föhr oder Sylt.“

„Sylt!“ wiederholte Claus, langte ein dütenförmiges Horn von der Wand und rannte zur Thür hinaus. Derselbe Ton erscholl wie von dem Lichte her, nur kräftiger, wie ein Schlachtruf – von dort Antwort heischend.

Die Fenster erhellten sich in den nächsten Häusern, dunkle Gestalten bewegten sich auf den Werften. Die Männer sammelten sich um Claus, einige Worte genügten: der rothe, auf und ab sich schwingende Funke, die den Sturm durchdringenden, sich immer schneller wiederholenden Hilferufe sagten alles. Eile that Noth, jede Schwingung des Funkens kostete eine Schiffsrippe, das wußten die Männer.

Am Wiesgrund ging es rasch vorwärts mit Stangen und Seilen, die schmalen Wattbäche, die sich hereindrängten, wurden übersprungen, durchwatet. Claus Buiksloot trieb zur Eile, hoch schwang er die Laterne. Da begann der schlammige Schlick, der sich wie Blei an die Füße hängt, es quatschte, gurgelte, man sprang auf die weißen Steine, die vom schwankenden Boden heraufleuchteten, mit den Stangen und Seilen sich im Gleichgewicht haltend; das Licht draußen machte wilde Sprünge, das Nothhorn tutete wie besessen; immer näher toste die Brandung – über den Köpfen sausten die aufgeschreckten Seevögel. Man erreichte die Fischerboote im Wattstrom; das Schiff konnte dem Lichte nach nicht weit von seinem Laufe gestrandet sein.

Claus und Lars sprangen zusammen in ein Boot.

„Von Sylt glaubst Du, Lars?“ fragte der Richter, die Ruder schwingend.

„Nach H.,“ war die Antwort.

Claus holte stärker aus, sein Boot hatte einen Vorsprung vor den andern.

Das Licht vergrößerte sich, in fernem dunstigen Kreis glaubte man eine riesige, schwarze Masse sich auf und ab bewegen zu sehen. Die weißen Schaumhäupter der Brandung blitzten durch die Nacht, sie schwangen sich über die dunkle Masse. Die Männer arbeiteten mit aller Kraft, das Schiff lag wenige hundert Schritte seitwärts vom Strome auf dem Schlick und schlug, von der Brandung gehoben, mit dumpfem Knall taktmäßig auf. Jetzt sah man den Rumpf, die Masten, kleine schwarze Gestalten in schwankenden Lichtkreisen. Aber die Brandung drängte die Boote zurück und warf ihren Gischt gegen die zu Hilfe eilenden Männer.

„Setzt Boot aus, nicht näher heranzukommen,“ signalisirte der Seerichter mit dem Horn.

„Boot über Bord! – Leine! – Höchste Noth!“ lautete die Antwort. Und als Bekräftigung dazu stieß das Schiff mit einem splitternden Krach von neuem auf den Boden auf, und wie ein gieriger Wolf die Gelegenheit benutzend, stürzte eine mächtige Woge darüber her.

Claus sah starr hinüber, sein graues Haar flatterte im Sturme.

„Rolf! Rolf!“ schrie plötzlich Lars neben ihm. „Komm’, mein alter Freund, ein Sprung nur – Rolf! hörst Du nicht?“

Er lachte gell auf, – Claus schauerte – er packte den Freund bei der Schulter.

„Siehst Du ihn denn nicht, meinen Rolf, meinen guten Rolf?“ rief dieser schmeichelnd, lockend.

„Narr, was soll das Thier auf dem fremden Schiff?“ schrie Claus dem verrückten Freunde in das Ohr.

„Fremdes Schiff? Es ist ja die ‚Laura‘ und der Rolf sitzt drauf!“ – er lachte wahnsinnig – „er holt sie, ich wußte es ja! Ich laß sie aber nicht – die Leine, Leute, die Leine!“

Er riß sie dem Nachbar aus der Hand, der sie bereits zweimal vergebens geschleudert hatte. Die Entfernung war groß, der Sturm lenkte den Wurf ab. Lars sprang aus dem Boot, bis an die Kniee versank er in dem weichen Schlick.

„Rolf! Rolf!“ tönte sein wahnsinniger Ruf, während er mühsam vorwärts watete. Er verschwand in der Finsterniß, keiner wagte dem Rasenden zu folgen. Aber die Leine wickelte sich stetig ab, er kam doch vorwärts – jetzt einen jähen Ruck – das Signal „An Bord!“ vom Schiffe herüber – Lars hatte das Wagstück glücklich vollbracht.

Claus machte die Leine fest, sie straffte sich, er folgte ihr mit gierigen Augen in die Finsterniß; am Schiffe drüben wurde es laut, jetzt eine zerrende Bewegung an dem Seil, dunkle Gestalten schwankten durch die Nacht.

„Bill, bist Du’s?“

Keine Antwort; – endlich kommt der erste durch den Schlick heran – das ist Bill nicht.

„Wie heißt das Schiff? – Woher?“ tönen die Fragen.

„‚Laura‘, von H.,“ erwiderte der schmutzbesudelte, durchnäßte Mann.

„Und der Kapitän?“

„Lührsen, noch an Bord!“

„Gehört sich auch, er allein ist schuld daran,“ sagte der Nächstfolgende.

„Das lügst Du,“ schrie Claus ihn an, „Lührsen versteht sein Geschäft.“

Der Matrose warf einen Pack in das Boot und stieg hinein.

„Dann kennt Ihr ihn wohl von früher, jetzt ist’s aus mit ihm.“

Wieder wankten zwei Männer, schwer bepackt, das Seil entlang dem Boot zu; Bill war nicht dabei, und das Schiff neigte sich bedenklich zur Seite.

„Was sind denn das für verdammte Lichter?“ fragte der eine.

„Die Lichter von Oland!“

„Sagt ich’s nicht dem Kapitän? Aber nein, er glaubt’ es [791] nicht, Langeneß mußt’ es sein. Er hat den Kopf ganz verloren, der Teufel steh’ da am Steuer.“

Sechs Mann waren schon glücklich in den Booten, es fehlten nur noch der Kapitän und Lars. Die Leute hatten den letzeren begegnet, wie er an ihnen vorübereilte. Dem Schiff sei weiter nicht zu helfen, meinten sie. Zwar wenn es bis zur Fluth aushalte, vielleicht könne es dann wieder flott werden, der Kapitän denke wohl daran und wolle das Schiff nicht verlassen.

Claus freute sich jetzt, daß Bill nicht kam. Wie die elenden Burschen ihren Kapitän verleumdeten!

„Da könnt Ihr lange warten, der Lührsen verläßt sein Schiff nicht!“ rief er triumphirend. „Wo nur Lars bleibt?“

Ein wilder kurzer Schrei flog herüber, die Leine schwankte.

„Na, Alter, jetzt kommt er schon, wäre auch ein Narr,“ sagte spöttisch der eine Matrose.

Claus wollte es noch nicht glauben; hatte der Matrose nicht die Wahrheit gesprochen, so mußte Bill bleiben.

Ein Mann näherte sich mühsam den Booten – ist’s Lars – ist’s Bill Lührsen, der Kapitän?

„Bill!“ schrie Claus.

Der Mann an der Leine stutzte, dann eilte er rascher dem Rufenden zu; sein Gesicht war weiß wie die aufblitzenden Wogenkämme. Er wankte – Claus griff nach ihm und half ihm in das Boot. Es war Bill.

„Hast Du Lars nicht gesehen?“

„Lars! Ein Mann kletterte auf den Vordersteven. Er schrie wie wahnsinnig, eine Sturzwelle riß ihn weg – also es war doch Lars!“

„Ja, Lars und kein anderer! Lars! Sein Rolf rief ihn –“

„Sein Verhängniß!“ entgegnete düster Bill.

„Hoffst Du denn nicht auf die Fluth?“ meinte Claus.

„Das heißt, ich hätte bleiben sollen,“ sagte nach Athem ringend Bill. „Wär’ auch geblieben, da glaubte ich Lars’ Gesicht vor mir zu erblicken, er sah aus wie ein Gespenst und mich packte das Grauen. Er rief nach seinem Rolf, bis ihn die Welle erfaßte; da floh ich – ich dachte an gar manches und gab jede Hoffnung auf.“

Eine weißköpfige Woge wälzte sich heran, die schwarze Schiffsmauer hob sich krachend auf ihrem Rücken – die Boote mit den Männern flogen weit zurück über die Ufer des Wattstromes – „die Fluth!“ tönte es aus jedem Munde.

Bill blickte scheu zurück; die „Laura“ war verschwunden, die Fluth hatte sie befreit; jetzt trieb sie hilflos, verlassen auf den Wogen, Rungholts letzte Hoffnung! Denn es ging schon einige Zeit nicht mehr recht mit der Schiffahrt und es stand schlecht mit Rungholt – die „Laura“ war noch sein einziger Halt gewesen.

Bill fühlte die verächtlichen Blicke der Männer um sich her in der Dunkelheit – die Besinnung schwand ihm, er sank auf den nassen Grund des Bootes.

Als der Tag graute, erblickten die Oländer von ihren Werften aus auf der nahen Sandbank ein Wrack, die steuerlose „Laura“ war dahin getrieben. Die jetzt wieder beruhigten grauen Wellen des Wattenmeeres bespülten einen dunklen Gegenstand am Ufer, mit dem Fernglas erkannte man ihn als menschlichen Körper; – ganz Oland versammelte sich bald davor, es war Lars Tönningen, der Seemann.

Bei Claus in der Stube saß Bill vor einer geleerten Flasche Gin und blickte mit gläsernen Augen, mit dem Kopfe wackelnd, hinaus auf den dunklen Fleck am Horizont.

„Hi hi! Das hab’ ich errathen, da läg’ ich jetzt wie der dumme Lars da unten; ’s ist doch was werth, so ein Sprung im Glas, man kennt sich doch aus! Verdammt gut, das Zeug, besser als Seewasser – ah!“

Er schüttete das letzte Glas hinunter. Vom Watt herauf brachten sie, Gebete murmelnd, die Leiche des Lars.


4.

Christen Rungholts Reederei, einst die bedeutendste in H., war nicht mehr. Der Verlust der „Laura“ war der letzte und entscheidende von einer Reihe von Verlusten.

Als Bill Lührsen in Begleitung des Seerichters Claus mit der furchtbaren Nachricht eintraf, da rührte den alten Rungholt der Schlag, seine rechte Seite blieb seitdem gelähmt.

Der verächtliche Blick Holdes, als Bill den Hergang erzählte, machte diesen im Bewußtsein seiner Schuld stottern, tödtete in ihm den letzten Glauben an sich selbst. Er fürchtete sich vor seinem Weibe. Doch dieses hörte mit einem schmerzlich ergebenen Lächeln sein böses Geschick, sie wußte, daß es einst so kommen müsse, daß noch mehr kommen werde. – Sie sahen jetzt beide mit einer gewissen Ehrfurcht hinauf zu dem bestaubten Glas auf dem Schrank; ja, es lag eine Beruhigung für Bill in dem Anblicke dieses Zeichens seines unbeugsamen, ehernen Schicksals, es sprach ihn frei von aller Schuld. Nie hätte er das Schiff retten können, da stand es ja geschrieben in dem grünen Glase; er war seinem Weibe, seinem Kinde die Rettung seines nackten Lebens schuldig, was hätte denn alles Ankämpfen gegen diese unsichtbare, feindliche Macht genützt! Es kam über ihn die Ruhe des Stumpfsinns, der mit seltsamer Wollust den nächsten Schlag abwartet, er fühlte sich zuletzt wohl in dieser Rolle des vom Schicksal Verfolgten.

Nur ein Gefühl rüttelte ihn noch auf, erhielt noch den schwachen Rest seiner Lebenskraft, die Liebe zu seinem Töchterchen Maria. Die körperliche Schwäche des Kindes bei der Geburt hatte nichts zu bedeuten gehabt, Maria hatte sich herrlich und kräftig entwickelt; sie glich dem frischesten, sonnigsten Meermorgen und ihre großen Augen konnten sich an Tiefe mit der Nordsee messen.

Bill forschte vergebens in ihnen nach dem wehmüthigen Schimmer, der ahnungsvoll in Kinderaugen liegt im dunklen Vorgefühl kommenden Leides – nichts davon! Nur kecker Uebermuth, ein bißchen Trotz, kindliche Unschuld standen darin zu lesen. Er wußte nicht recht, ob er sich darüber freuen sollte; wie furchtbar würde das arme Geschöpf einst aufgeweckt werden aus seinem Jugendtraume! Der Gedanke, diese lieben, glückstrahlenden Augen einst von Thränen geröthet, dieses rosige Gesicht vom Gram verzehrt zu sehen, nagte erst recht an ihm. Mit selbstquälerischer Spitzfindigkeit suchte er sich zu beweisen, daß der Fingerzeig des Schicksals nicht nur ihm und Laura, sondern auch ihrem Kinde gelte. Er las gierig alte Bücher mystischen Inhaltes, voll Anmeldungen, Vorherbestimmungen, wunderbaren Ahnungen, und gerieth immer tiefer in das verderbliche Netz seines Wahnes.

Es konnte nicht ausbleiben, daß Bill in der Verbindung mit Laura sein ganzes Unglück erblickte. An dem verhängnißvollen Tag ihrer Hochzeit begann ja der Umschwung, bis dahin war er nur vom Glück begünstigt gewesen, und wenn er auch seinem Weibe keinen Vorwurf zu machen wußte, wenn er sich auch selbst nicht Rechenschaft geben konnte, wie Laura eine Schuld dabei treffen sollte, eine Bitterkeit blieb doch zurück, und in einem verbitterten Herzen stirbt die Liebe.

Der alte Rungholt rettete gerade so viel aus dem Zusammensturz, als er und sein Weib zu spärlichem Unterhalt bedurften. Bill mußte selber für sich sorgen. Aber die Geschichte mit der von der Mannschaft und ihrem Kapitän verlassenen „Laura“ war überall bekannt geworden; man sah Bill mit zweideutiger Miene an. Mit seiner Seemannslaufbahn war es aus, er war jetzt jedem Reeder zum Matrosen zu schlecht.

Nun begannen Noth, Zank und gegenseitige Vorwürfe, und mitten darin stand ewig lachend, scherzend die zehnjährige Maria und knüpfte immer wieder von neuem das gelockerte, zerfressene Band zwischen den Eltern. Für sie mußte der Vater erwerben; wenn es ihr auch nichts nützte, er wollte wenigstens kämpfen mit dem erbarmungslosen Schicksal um sein Kind.

Ein kleiner Kutter aus der Konkursmasse Rungholts wurde von ihm um ein Billiges erstanden.

Er kannte die Küsten und die Inseln weit umher, hatte überall alte Bekannte, der Handel mit Austern, Vogeleiern und Garneelen sollte ihn wenigstens anständig ernähren.

Laura betrieb den Handel in dem kleinen Hause am Hafen, das Bill gemiethet hatte, während dieser die Ware theils selbst sammelte, theils von den Strandbewohnern und Fischern aufkaufte. Die Mannschaft der aus- und einlaufenden Schiffe war ihre Kundschaft. Die kleine Maria ging in die Schule von H., aber auch in ihrer freien Zeit ließ Laura sie nicht theilnehmen an dem Geschäfte des Tages, der Umgang mit dem derben Seevolke schien ihr gefährlich für das unerfahrene Kind.

Eine Reihe von Jahren gedieh das Geschäft, Bill war unermüdlich, und das Glück schien ihm günstig; es kam ihm ganz sonderbar vor, ja, es beunruhigte ihn fast. Sollte das alles, was er seither geglaubt hatte, doch Unsinn sein, blöder Aberglaube, wie Holde sagte? Er erschrak förmlich vor dem Gedanken – dann hatte er ja einem Hirngespinst sein Glück geopfert, seine Ehre – [792] alles! In solchen Augenblicken sehnte er sich ordentlich nach einem Unglück, das ihn wenigstens vor sich selbst gerechtfertigt hätte.

Es blieb nicht aus. Beim Eiersammeln auf einer Felseninsel stürzte Bill und brach ein Bein; er lachte hämisch, als sie ihn in diesem Zustande zu Laura brachten. Maria pflegte ihn, sie hatte die Erfahrung und den Ernst einer Erwachsenen, wenn es galt. Die Mutter mußte ja im Geschäfte sein, das ohnehin, wenn der Vorrath einmal ausging, stark gefährdet war. Außerdem verlangte der Vater selbst immer nach Maria; Laura hatte eine unglückliche Hand, wenn sie nur den Verband berührte, schrie er auf.

Das Krankenlager hätte nimmer enden sollen! Unter dem ewig heiteren, klaren Blick seines Kindes, den munteren und doch so klugen Reden desselben kehrte seine eigene glückliche Jugend ihm wieder zurück.

Maria lockte ihm sein ganzes Inneres unbewußt auf die Lippen; er erzählte von seinen Jugendstreichen, seinen frohen, sorglosen Fahrten auf allen Meeren als junger Matrose. Sie hörte mit hochgerötheten Wangen zu, als wehe eine frische Seebrise ihr um das Gesichtchen. Abends, wenn beim düsteren Schein der Nachtampel die schwarzen Gedanken wieder kamen, die Schmerzen in dem gebrochenen Glied hämmerten und pochten, da ergriff er seiner Tochter Hand und erzählte von dem gespenstigen Reiter auf Oland, von den Wogenmännern, von Lars, dem Kapitän, und seinem Rolf, wie die Wogen den Mann hinwegspülten von der unglücklichen „Laura“, und wie ihn selbst das Entsetzen so erfaßte, daß er das gute Schiff verließ, bevor er das letzte versucht, es zu retten; wie das an ihm fresse sein ganzes Leben lang. Dabei blickte er starr auf das grüne Glas oben auf dem Schranke, in dem die Flamme des Nachtlichtes sich abspiegelte.

„Es giebt keinen Zufall, Verhängniß ist alles!“ rief er, wild an der Decke seines Bettes zerrend.

„Du hast das Glas da oben oft gesehen, Maria – die Mutter verbot Dir strenge, es nur zu berühren, ich weiß es – die schlimmsten Erinnerungen pflegt man ja immer am sorgfälligsten – dieses Glas sprang an unserem Hochzeitstag in der Hand Deiner Mutter, als sie mit Lars anstieß, der eben die Geschichte von seinem Rolf erzählte. Es war ein neues Glas, die Mutter hatte es den Tag zuvor zum Geschenk erhalten, es sprang nicht durch Zufall, ebenso wenig als Lars’ Rolf durch Zufall verschwand. Im ersten Augenblicke erschrak alles, dann lachte man darüber, alle außer Lars und mir! Und wir hatten recht, daß wir nicht lachten; die Folge hat es bewiesen. Lars liegt auf Oland begraben, ich liege hier, schmachbedeckt, mit zerbrochenen Gliedern – mein, des Kapitäns Bill Lührsen, Weib, Christen Rungholts Tochter, sitzt in einem dumpfen Laden und verkauft Eier und Garneelen an scheltende Seeleute!“

Seine Stimme klang thränenerstickt, er preßte die Hand seiner Tochter, die auf das Glas oben mit einem Ausdruck des Zornes blickte, der ihr schönes Antlitz entstellte.

„Sieh nach der Mutter, Maria,“ fuhr er dann plötzlich auf, „sie härmt sich allein, die Arme! Gott, wenn ich denke, wie schön und heiter die Laura war; wie Du, Maria, gerade wie Du!“

„Und Du hast sie traurig gemacht, Du und das häßliche Glas da oben!“ brach das Mädchen plötzlich los. „Es giebt keinen Zufall, aber auch keine Katzen, Gläser, Reiter, die Einfluß haben auf unser Geschick. Keinem Schulkind kann man das heutzutage mehr weismachen; nur einen giebt es, der es lenkt und leitet auf dem Meere, auf dem Lande, der allmächtige Gott. Wer auf ihn fest vertraut, sagte unser alter Lehrer, der segelt nicht irre; wer aber solchem Teufelsspuk mehr Glauben schenkt, den schlägt er mit Blindheit, daß er die Wahrheit nicht mehr sieht!“

Bill hatte sich emporgerichtet und starrte in das von der Nachtlampe matt erleuchtete, geröthete Antlitz seines Kindes. Die blauen Augen leuchteten seltsam, sie sprach wie einer inneren Eingebung folgend, gottbegeistert; der Schleier wich einen Augenblick von seiner verfinsterten Seele, er sah die Wahrheit.

„Maria,“ sagte er mit gebrochener Stimme, „hole die Mutter!“

Das Madchen sprang freudig auf. Da öffnete sich die Thür, ein alter, vornübergebeugter Seemann trat herein, scharfen Fischgeruch verbreitend, hinter ihm, die Schürze vor den Augen, Laura, die den Zögernden vor sich her schob.

„Was giebt’s, Haje? Glücklich zurück? Gut eingekauft? Warum kommt Balk nicht selbst, dem ich den Kutter anvertraut habe?“

Der alte Haje winkte traurig mit der Hand.

„Der kommt nicht mehr, der Balk –“ er würgte bedenklich und zerknüllte die gestrickte Haube in den Händen. „Mein Gott, ’raus muß es doch – übersegelt im Nebel von einem Schweden! –“ und er strich mit der flachen, knöchernen Hand wagerecht durch die Luft.

Ein gelles Lachen schallte durch die Stube, daß das grüne Glas zu klingen anfing.

„Was sagte Dein alter Lehrer, Maria? ‚Wer auf ihn vertraut, der segelt nicht irre.‘ – Ich vertraue auf dich da oben, braver alter Scherben! haha! und segle überhaupt nicht mehr!“

Bill schlug in einem Anfall von Wuth mit beiden Fäusten gegen die Wand.

„Jetzt ist’s aus mit der Plackerei! Laura, bring’ von dem alten Gin, Haje muß den neuen Spaß erzählen, ich will ihm aus dem braven Glas da oben vortrinken. Gin, Laura! Was guckst Du denn so unheimlich?“

„Bill, nur das nicht, das wäre das Ende!“ flehte unter Thränen sein Weib.

„Herrgott, das auch noch! Bring’ Gin, oder ich krieche in die Kneipe!“

Laura entfernte sich. Haje kratzte sich verlegen im Haar.

„Mutter, Du bringst keinen Gin, der Vater ist krank und darf ihn nicht trinken. Ich dulde es nicht. Haje kann unten bewirthet werden.“

Der Ton in Marias Worten duldete keinen Widerspruch.

Haje drückte sich scheu aus dem Krankenzimmer, Laura blieb zaghaft unter der Thür stehen.

„Maria, hab’ Erbarmen!“ flehte Bill mit glühender Stirn. „Nur ein Gläschen! Ich ertrage es nicht ohne Gin! Ich wollte ja eben Deinen schönen Worten glauben, merkest Du es nicht? O, es sind ja schöne Worte, aber nur für die Schule, Kind, nicht für das Leben! Da, da kam das Schicksal selbst in der Gestalt des Haje zur Thür herein, um Dich auszulachen – und das Glas! – kling! kling! – ich hörte es deutlich. Maria, Gin, oder ich erwürge mich!“

Er schnürte sich den Hals zu mit krampfhaften Händen. Maria löste sie gewaltsam, ihre klaren Augen waren mit liebevollem Ernst auf den Vater gerichtet, und wirklich beruhigte er sich unter dem stetigen Blick.

„Hat Dir das grausame Schicksal nichts mehr gelassen als ein Glas Gin? Liegt die Mutter, liegt Dein Kind auch auf dem Grund der Nordsee? Stehen sie nicht hier vor Dir mit inniger Liebe im Herzen und wollen alles mit Dir tragen?!“

Bill schloß die Augen vor Scham.

„Mutter!“

Laura näherte sich mit dem gewohnten, zaghaften Schritt. „Sieh’ auf uns, Vater!“ redete Maria eifrig weiter, „ich bin jung, habe kräftige Arme, die Mutter hat nur der Gram gebeugt, – ein gutes Wort, und der böse Zauber muß weichen. – Sprich es aus!“

Seine Brust hob sich zitternd, und seine jetzt fest auf Mariens Antlitz ruhenden Augen blickten unsicher durch Thränen.

„Maria – Laura!“

Er streckte die Arme weit aus, sie zu umfangen. „Verlaßt mich nicht!“

Der alte Haje stand noch immer draußen vor der offenen Thür, er wollte seinen Gin doch nicht einbüßen, über dem Anblick vergaß er ihn aber ganz – er hätte auch lang warten können. Er wischte sich mit der schmutzigen Mütze über die Angen.


5.

Bill war nicht mehr jung und sein Beinbruch war schwer. Die Heilung ging langsam trotz der vortrefflichen Pflege, und zu Bills Geschäft gehörten vor allem gesunde Knochen. Wenn ihn auch die Frauen von seiner Absicht, gar kein Schiff mehr zu kaufen, glücklich abgebracht hatten, so wollte er doch vorderhand nichts von einem solchen wissen. Was wollte er denn in diesem Sommer noch damit machen? Es anderen Leuten anvertrauen? Das wollte er nicht noch einmal probieren. Laura mußte sich so behelfen, Maria, die jetzt achtzehn Jahre alt war, half ja auch wacker mit, so wacker, daß er sich selbst ganz überflüssig fühlte und am liebsten hinüberhinkte in die Seemannskneipe zu den alten Kameraden. „Man bleibt dann doch im Fahrwasser und verweichlicht nicht ganz,“ pflegte er zu sagen.

[793] 

Trau, schau, wem!
Nach einer Zeichnung von F. Specht.

[794] Dort in der „Grünen Auster“ fand er stets aufmerksame Ohren für seine Leidensgeschichte, beim Gin werden alle Sünden vergeben. Er hatte ganz recht, hieß es da, daß er die sinkende „Laura“ verließ, daß er sich kein neues Boot kaufen wollte, man soll einen Wink des Schicksals verstehen – ein Sprung im Glas der Braut am Hochzeitstag! da gehört überhaupt ein verdammter Kerl dazu, der sich da noch auf die See wagt – übrigens habe jetzt das Schicksal wohl ausgetobt und er könne nun in aller Ruhe seinen Gin trinken und die Weiber arbeiten lassen, die ja doch immer an allem Unglück schuld seien.

Solche Reden sog Bill gierig ein, diese Leute meinten es wirklich ehrlich mit ihm! Was hatten sie denn davon? Die gute Kameradschaft machte sie so besorgt, während sein eigenes Weib und sein Kind es kaum erwarten konnten, bis er wieder den Gefahren der Seefahrt sich aussetzte.

Unterdessen kam der Spätherbst heran, der Winter stand vor der Thür, der dem Handel in dem kleinen Häuschen gefährlich zu werden drohte. Die Schiffahrt steht dann still, die Kunden bleiben aus und auch die Waren.

Als Bill eines Tages mit schwerem Kopfe aufstand und nach seiner Tochter fragte, erklärte ihm Laura, Maria habe selbst einen Kutter gemiethet und sei mit dem alten Haje fortgefahren, alle Geschäfte für den Winter zu besorgen.

Bill erschrak heftig bei dieser Nachricht. Seine Maria in dieser rauhen Jahreszeit mit Haje auf einem Segler draußen auf der Nordsee! Jetzt sollte es sich vollenden, sein Schicksal, jetzt sollte der Hauptschlag kommen, gegen den alles andere, was schon geschehen, nichts war! „O, das Glas! das Glas!“ jammerte er, schalt Laura eine schlechte Mutter und ging von neuem in die „Grüne Auster“, seinen Kummer, seine Sorgen zu vertrinken.

Unterdessen segelte Maria unverdrossen in dem Wattenmeer von Insel zu Insel bis nach Romöe hinauf und füllte den Kutter mit Vorräthen aller Art.

Auf Oland saß noch immer Claus, der Richter, der Patriarch der Halligen, der Großmutter Holde Bruder. Den wollte Maria besuchen, sie hatte ihn nicht mehr gesehen seit ihrer Kindheit, seit damals, als er mit dem unglücklichen Vater kam, der das schöne Schiff verloren hatte. Sie hatte die milden Trostesworte, die der Greis dabei zur Mutter gesprochen, nicht vergessen, vielleicht wußte er auch jetzt Rath gegen des Vaters schlimmstes Uebel, gegen den Gin.

Sie fuhren über die Stelle, wo die „Laura“ verunglückt war. Maria forschte vergeblich nach einem Zeichen; dann fuhren sie in den Wattstrom, der Oland durchschneidet, bis dicht vor Claus Buiksloots Werfte.

Ob er wohl noch lebte? Das Haus lag so still, kein Mensch war weit und breit zu sehen. Wenn Claus am Ende allein, verlassen gestorben wäre! Auch Haje äußerte Besorgniß und meinte das sei schon oft vorgekommen bei so alten Leuten.

Die Haustür war offen. Maria horchte im Gange. – Was war das? War sie denn im falschen Haus? Eine kräftige Mannesstimme ertönte, Gelächter, dazwischen das heisere Kichern eines Greises.

Sie klopfte, und „Herein!“ rief es von drinnen.

Ein großer blonder Mann stand vor ihr, der die Decke der Stube fast mit den Haaren streifte; in dem Lehnstuhl beugte sich der halbblinde Claus weit vor.

„Wer kommt denn, Jakob?“ fragte er.

„Deiner Schwester Enkelkind, die Maria Lührsen aus H., und ihr Bootsmann Haje,“ rief laut das Mädchen, des Greises Hand ergreifend.

Der sah mit zitterndem Haupt an der hohen Gestalt hinauf.

„Die kleine Maria, meiner Schwester Enkelkind und – und – wer?“

„Mein Bootsmann, hier, der alte Haje –“

Sie zog den zögernden Alten aus dem Winkel.

„Und Bill Lührsen, Dein Vater?“

„Ist krank – lange schon – hat das Bein gebrochen – nun muß ich das Geschäft besorgen. Geht auch herrlich! Nicht wahr, Haje? Gott, ist’s auf dem Meere schön! Und da bin ich, um Dich zu besuchen!“

„Und hoffentlich ein bißchen auszuruhen von der Fahrt,“ mischte sich der junge Mann darein, der seither zurückgetreten war; „ein Mädchen wie Sie bei der Jahreszeit in einem so jämmerlichen Kasten, wie ich da unten sehe, unter Führung eines –“ er stockte und blickte auf Haje – „gewiß erfahrenen aber doch schon hochbejahrten Seemannes!“

Maria kehrte sich mißmutig nach dem Sprecher um.

„Was kümmert Sie der ‚jämmerliche Kasten‘, und der ‚hochbejahrte Seemann‘?“

Aber plötzlich schien alle Kühnheit, aller Trotz sie zu verlassen. Sie erröthete tief, schlug die Augen nieder vor dem lächelnden Mann und trat unwillkürlich näher zum Großvater.

„Jakob Tönningen, Kapitän, der Sohn meines alten seligen Freundes,“ stellte ihn Claus dem Mädchen vor.

„Des Tönningen mit dem Rolf?“ fragte neugierig Maria.

„Ja, der Sohn des Tönningen mit dem Rolf, ganz recht, Fräulein Maria, der gekommen ist, das Grab seines Vaters zu besuchen. Sie glauben wohl an die Geschichte mit dem Rolf?“

Maria zog verdrossen die Lippen hinauf.

„So wenig als Sie.“

„Ich wollte Sie nicht kränken, ich dachte nur – wir sprachen eben von Ihrem Vater.“

„Ich hätte etwas geerbt, meinen Sie! Wenn man das so mitmacht von Kind auf, Herr Kapitän, das Unheil, welches ein so häßlicher Aberglaube in einem Menschenleben anrichten kann, dann haßt man den Unsinn.“

Der aufsteigende alte Groll röthete ihr von den goldblonden Flechten umrahmtes Gesicht. Maria war in diesem Augenblick wunderschön.

„Was macht denn der Bill?“ redete der Alte dazwischen, der nichts von allem verstanden hatte. „Schwört er noch immer auf das zersprungene Glas? Sonderbar! Sonderbar!“

Maria war sichtlich verlegen, sie schämte sich vor dem Fremden.

„Ich weiß alles, Fräulein Maria,“ beruhigte sie Jakob Tönningen. „Erzählen Sie nur, wir sind uns ja nicht fremd!“

„Nicht fremd?“

„Nicht ganz, das Schicksal unserer Väter schlingt ein Band zwischen uns. Erzählen Sie nur, lassen Sie mich ruhig zuhören!“

Er sprach so herzlich, so einfach; sie schämte sich nicht mehr vor ihm. Und sie erzählte dem Greise ihr junges, hartes, entsagungsvolles Leben voll kindlicher Liebe, männlicher Thatkraft und heiligem Gottvertrauen. Sie bat ihn um Rath für das schwere Seelenleiden, dem der Vater verfallen war, wie sie den Geliebten retten könne von dem häßlichen Wahne, der ihn ganz beherrsche. Sie vergaß in ihrem kindlichen Eifer ganz den Mann im Hintergrunde des Zimmers, dessen Augen trunken an dem schönen, edlen Geschöpfe hingen.

Claus, der Richter, hörte mit bedrückter, sorgenvoller Miene dem Mädchen zu. Er erinnerte sich wohl, wie er selbst damals am Hochzeitsabende erschauerte, als das Glas zersprang in den Händen der Braut beim Trinkspruch auf die beiden Lauren; er war zu alt zum Heucheln, und doch that ihm das Herz so weh beim Anblick dieses zerstörten jungen Lebens. Wie hilfesuchend blickte er auf Jakob, dem die Zornesader schwoll bei der Schilderung von Bills unverantwortlichem Treiben.

Jäh sprang er in die Höhe und seine Augen flammten. „Ich will ihn heilen, Maria, den Vater!“ rief er.

Das Mädchen sah ihn groß an. Er war so schön in seiner Erregung; sie wäre ihm am liebsten zu Füßen gefallen und hätte ihn angefleht, gleich mit ihr zu kommen, so glaubte sie an seine Kraft.

„Du kennst Bill Lührsen nicht! Bill ist mißtrauisch gegen Fremde, nimm Dich in acht,“ meinte Claus bedächtig.

„Ich will ihm bald kein Fremder mehr sein,“ erwiderte Jakob mit einem Blick auf Maria, der das Mädchen wie ein Blitz durchfuhr. „Laß mich nur machen – ich habe Eile – mein Schiff liegt auf Sylt, ich habe Befehl nach Liverpool, dann geht’s nach Bremen. In drei Monaten längstens bin ich mit meinem Heilmittel bei Ihnen in H., Fräulein Maria. Vergessen Sie unterdeß den Jakob Tönningen nicht!“

Er reichte ihr die breite Hand und ließ lange die ihrige nicht.

„Nicht vergessen, hören Sie, sonst wirkt das Mittel nicht, und Du Claus kommst nach H., wenn es gewirkt hat, das versprichst Du mir!“

Claus sagte herb lächelnd zu. „Und wenn ich nicht mehr komme, trinkt auf mein Wohl und gebt fein acht beim Anstoßen.“

Jakob eilte die Werfte hinab zu seinem Segelboot, das im Wattstrome seiner wartete.

[795] Maria fühlte einen heftigen Schmerz im Herzen, sie preßte die Hand darauf und sah dem Scheidenden regungslos durch das Fenster nach.


6.

In starren Fesseln lag der Mastenwald im Hafen von H. Dichter Nebel braute ununterbrochen über der Stadt und kürzte den Tag.

In der „Grünen Auster“ ging es immer gleich lebendig zu, bis spät nach Mitternacht leuchteten die mit blutrothen Vorhängen versehenen Fenster.

Da saßen die Stammgäste an dem mit grünem Wachstuch überzogenen Tisch: Schiffsmakler, Viehhändler, einige Kapitäne, die in H. ihr Winterquartier aufgeschlagen hatten; und mitten unter diesen Ehrenwerthen saß Bill Lührsen, „der Herr Kapitän“, wie er hier genannt wurde. Seine jetzt heisere, aber noch kräftige Stimme war immer hörbar, er wußte stets etwas Neues, wußte überall Bescheid, sprach in großartiger Weise von seinen Leistungen, zuckte die Achseln über andere, übte die schärfste Kritik – ja, wenn er so ein Glücksvogel gewesen wäre wie der und der, was er dann geworden wäre! – und dann ging’s los über sein Pech, das alles je Dagewesene übersteige. Dabei trank er Glas auf Glas des feurigen Trankes in seinem Kneipzorn.

Später, als die alten Geschichten, die man sich allabendlich erzählte, nicht mehr genügten, griff man zu den Karten, natürlich nur zum Zeitvertreib, nicht etwa des Geldes halber.

Bill hatte erstaunliches Glück und eine tolle, fieberhafte Freude an diesem Glück. Er war der erste, der einen höheren Satz vorschlug, er fand wenig Widerspruch – „wenn er will, wir halten’s aus!“ mochten seine Kumpane denken. Auch das gewöhnliche heimische Spiel paßte nicht mehr, es ging zu langsam und wozu denn das Hirn sich dabei abmartern, das Zufallsspiel, sein Fall! Es prickele ihm in allen Nerven, wieder einmal, zum letzten Mal, wie er sich sagte, die große Frage an das Schicksal zu stellen. Verluste, die sich bald einstellten, machten ihn nicht irre, er entwickelte plötzlich einen ungewohnten Widerstand und Trotz gegen sein Verhängniß.

Laura wagte nur einmal eine Einwendung. Die spärlichen Einnahmen litten ja keine solchen Ausgaben. Da kam sie aber gut an!

„Wer ist der Herr im Hause? Etwa weil ich das Unglück gehabt habe, mich Dir zuliebe zum Krüppel zu fallen, soll ich mich in die Ecke stellen lassen und um mein Brot betteln? Nette Liebe das! und dafür ein Leben geopfert!“ so fuhr er auf die unbequeme Mahnerin los.

Die arme Frau hoffte auf Maria, er liebte ja sein Kind, ihren Bitten würde er nicht widerstehen können. Doch sonderbar, Maria lächelte immer so geheimnißvoll und wiederholte stets: „Gieb ihm nur, es wird bald anders werden.“

Erst als drei Monate in dieser den Hausstand vernichtenden Weise vergangen waren, zeigte sich in Marias Wesen eine auffallende Unruhe, ein ständiges ängstliches Warten, und oft überraschte die Mutter sie, wie sie in Thränen aufgelöst in einem Winkel ihrer Kammer saß.

So verstrich der Winter – ein trüber Sommer schlich vorüber, und langsam nahmen die Tage wieder ab. Mehr und mehr brannte das Hoffnungsflämmchen in Marias Herz herab und nur mit dem letzten Rest ihrer Seelenstärke klammerte sie sich noch an Jakob Tönningens Worte: „Nicht vergessen, sonst wirkt das Mittel nicht!“ Nein, vergessen wollte, konnte sie ihn und seine Verheißung nicht. –

*  *  *

Mäuschenstill war es am Stammtische in der „Grünen Auster“, selbst die Karten fielen lautlos auf das grüne Tuch. Die Köpfe waren erhitzt, man spielte heute besonders hoch, ein fremder Seemann betheiltgte sich, und es wäre doch ein Hauptspaß gewesen, den hübsch hereinzulegen.

Er saß neben Bill, der heute wieder seinen Pechtag hatte. Sein Gesicht war bleich, seine Hände zitterten, wenn er das Glas Gin zum Munde führte, seine Gestalt war auf den Tisch herabgebeugt, und seine gierigen Blicke auf das sich zusehends mehrende Geldhäufchen des Fremden entgingen diesem nicht.

Bill verlor den größten Satz, der heute gestanden hatte, er lachte wild auf, zerrte an seinem ergrauten Haar und wischte mit einer krampfhaften Bewegung der Hand seinen ganzen Geldvorrath seinem Nachbar, dem Fremden, zu.

„Fertig!“ keuchte er. „Ihr versteht’s – dürft Euch übrigens nichts einbilden drauf. Habt Ihr von Bill Lührsen noch nicht gehört, dem berühmten Pechvogel? Der bin ich!“

„Der Kapitän Bill Lührsen?“ fragte erstaunt der Fremde. „Das freut mich. Habe freilich schon gehört von ihm. – Jakob Tönningen!“ stellte er sich vor.

Bill wich zurück, er mußte sich am Stuhle festhalten.

„Tönningen? Wirklich Tönningen?“ schrie er und brach dann in ein tolles Gelächter aus. „Verwandt mit dem verstorbenen Kapitän Lars Tönningen?“

„Sein Sohn sogar.“

„Lars’ Sohn? Und mit dem – ? Haha! Das sieht mir gleich, gegen den setz’ ich meinen letzten Heller! Lars’ Sohn! Wenn’s jetzt nicht klar ist! – Gin! Gin!“ brüllte er, sich von neuem setzend und den Mann starr betrachtend, „spielt nur zu, ich bin fertig.“

„Unsinn, Kapitän! Was fertig? Hier!“ widersprach Jakob Tönningen und schob ihm einen Haufen Geld zu. „Kredit, so viel Ihr wollt, und Ihr werdet sehen, Ihr gewinnt jetzt!“

„Gegen Lars Tönningens Sohn?! – Wißt Ihr denn, daß wir – Gott, wo soll ich da anfangen? Die See fraß ihn vor meinen Augen; eine Katze war sein ganzes Unglück! Ja, eine einfache Katze! Das versteht Ihr nicht, nicht wahr? Und meines ist ein Glas! Ein einfaches, zersprungenes Glas! Ich sag’ Euch, ganz dieselbe Geschichte. Wir mußten lachen, so oft wir uns sahen, nur als wir uns zuletzt sahen, da lachten wir nicht, da nicht – und jetzt setze ich mein Letztes gegen seinen Sohn, gegen Lars’ Sohn! Ist das auch ein Zufall? – Sei’s denn! Zum Schlusse der dummen Geschichte!“

Er machte sich bereit, das Spiel fortzusetzen.

„Aber die Geschichte von der Katze und dem Glas muß ich dann hören,“ meinte der Sohn Lars’, dem das närrische Benehmen Bills nicht aufzufallen schien.

„Sollt Ihr hören! Werdet dann manches begreifen, was Ihr vielleicht über mich gehört habt.“

Das Spiel nahm seinen Fortgang, Bill gewann jeden Satz. Der Fremde war nämlich so unvorsichtig, sich jedesmal in die Karten sehen zu lassen, und Bill besann sich keinen Augenblick, diesen Vortheil zu benutzen, es war ja sein Geld, das er zurückgewann! Er hätte jetzt nimmer aufhören mögen – das Häufchen vor ihm stieg höher und höher, vielleicht war gar alles wieder gut zu machen – die „Laura“, das gebrochene Bein, der Kutter! Wenn es ihm nur nicht immer gewesen wäre, als säße Lars neben ihm mit den hinaufgezogenen Augenbrauen und auf seinem Schoß Rolf, der Kater, mit zugekniffenen Augen!

Die anderen merkten das falsche Spiel des Kapitäns und verlangten plötzlich den letzten Rundgang.

Bill athmete auf wie von einer furchtbaren Qual befreit. Jakob Tönningen hatte eine große Summe verloren, doch er mußte sehr reich sein, er sprach kein Wort darüber. Er schob nur die Karten beiseite und sagte: „Nun die Geschichte von der Katze und dem Glas!“

Die Tischgesellschaft machte sich spöttische Zeichen, sie hatte sie schon so oft, unzähligemal oft gehört.

Bill war heute in seiner Laune; der hohe Gewinn, der reichliche Gin – er konnte kein Ende finden. Der Kapitän schien sein Gesinnungsgenosse zu sein; besonders die Geschichte mit dem Glas erschien ihm sehr bedenklich: er begreife ganz wohl, wie einem so etwas nicht mehr aus dem Kopfe gehen könne, und das sei einmal sicher, es gäbe Dinge auf der Welt, die sich nicht erklären lassen. Dann fragte er nach Bills Familie, was die davon denke, und erstaunte nicht wenig, zu hören, daß seine Tochter nicht daran glauben wolle, was doch sonst Mädchenart sei.

Schwer geladen wankte Bill lange nach Mitternacht nach Hause am Arme Jakobs, der noch manche Fragen nach seiner Tochter that, die dem Vater, wäre er in nüchternem Zustande gewesen, aufgefallen sein müßten. Mit dem sicheren Versprechen eines Besuches verließ Jakob den Alten.

Laura wachte noch; sie hatte sich fest vorgenommen, heute mit Bill ein ernstes Wort zu sprechen, es ging so nicht mehr fort, es fehlte bereits am Nöthigsten; sie hatte im geheimen [796] bereits Hausrathsgegenstände veräußert, um die Geldbedürfnisse des Mannes zu befriedigen.

Das war ein bitteres Wachen! Ein Glück, daß Maria den Schlaf der Jugend schlief, das Mädchen hätte sie gewiß an ihrem Vorhaben gehindert, das mit jeder Stunde in ihr fester wurde.

Endlich Stimmen auf der längst verödeten Straße; Laura schlich leise von Marias Seite in das Nebenzimmer, um ihren Mann zu erwarten. Die wankenden unsicheren Tritte die Treppe herauf machten ihr Herz erbeben. Er war in der letzten Zeit recht roh mit ihr gewesen – aber es mußte sein, heute noch, bis morgen verlor sie den Muth.

Er trat ein mit einer Laterne.

„Noch auf, Weibchen?“ lallte er, „das freut mich!“

„Bill!“ begann Laura in flehendem Tone, „hab’ Mitleid mit uns!“

Er pfiff in komischer Weise und schlug auf die Tasche.

„Laß’ das, Kind, und freue Dich! Runter mit dem Scherben da oben. Ich habe gewonnen, mehr als ich in einem Winter verdienen kann, den ganzen Krempel unten kauf’ ich Dir ab!“

Laura fühlte sich angewidert von seinem trunkenen Wesen, sie wich zurück.

„Das glaubst Du nicht, Unglücksrabe? Ist aber doch so! Da –“

Er schüttete einen Haufen Goldstücke auf den Tisch. „Und von wem, rath’ einmal! Wenn es nur nicht wieder eine Falle ist, ich merke so was! Von wem, rathe!“

Er lachte kindisch, mit den Goldstücken spielend.

„Von Lars Tönningens Sohn! Das glaubst Du nicht! Von Lars Tönningens Sohn, der Gott weiß woher mit einem Sack voll Geld zurückgekehrt ist; von Jakob Tönningen –“

Ein leiser Aufschrei ertönte aus dem Nebenzimmer. Laura fuhr auf.

„Das arme Kind! Kein Wunder, daß es schwere Träume hat! – Ich sag’ Dir aber, daß ich dieses Geld verachte!“ fuhr sie mit einer Leidenschaft auf, die Bill an ihr lange nicht mehr gewohnt war – „daß ich nur ein neues Unglück darin sehe! Es wird Dich nur von neuem verlocken, und das Ende wird doch ein erbärmliches sein. Bill, denk’ an Maria! Gott hat Dich wieder gesund werden lassen, arbeite wieder! Es ist nicht wahr mit dem Glas, nur dumme Einbildung ist es, die uns unser ganzes Lebensglück gekostet hat. Ich ahne es längst, wir selbst sind schuld an allem.“

„Ei, ei, wie klug auf einmal! Nur damit ich meine Knochen noch einmal riskire!“ erwiderte verdrossen Bill. „Einbildung soll das sein mit dem Glas? Jakob Tönningen selbst gab mir recht! Frag’ ihn nur darum, morgen, wenn er kommt.“

„Immer Tönningen! Unser ganzes Unglück hängt an dem Namen. Was will er denn hier, dieser Mensch?“

„Was weiß ich! Mir kann’s nur recht sein, wenn er länger bleibt. Uebrigens wird er Euch schon gefallen, wenn Ihr ihn einmal seht, ein schöner lieber Mann! Sieht gar nicht so aus, als ob er Unglück bringen könnte. Da nimm’, Laura!“

Er reichte ihr eine Hand voll Geld.

„S’ ist ehrlich Geld und –“ er sah sich lange im Zimmer um – „es fehlt einiges – merk’ es wohl – hol’ es wieder! Es soll ja anders werden mit mir! Ja, wenn das nur Einbildung wäre – sagtest Du nicht so? – dann – dann – Herrgott, dann –“

Sein bleiches Gesicht bekam einen ängstlichen Ausdruck.

„Laura –“ er griff nach ihrer Hand – „dann wäre ich ein rechter Schurke! Laß’ mich jetzt, frag’ morgen den Tönningen – er wird Dir sagen, daß es keine Einbildung ist, daß es so Dinge giebt – jawohl!“

Er warf noch einen verschwommenen Blick nach dem Glas hinauf und wankte dann in seine Kammer. Als Laura nach einer Stunde voll bitterer Gedanken zu Maria zurückkehrte, fand sie dieselbe mit erhitzten Wangen, ein seliges Lächeln um den Mund, als träume sie einen schönen Traum, auf ihrem Lager liegen. Sie beugte sich besorgt mit dem Lichte über sie, da öffnete Maria weit die blauen, feuchten Augen, schlang die Arme um die Mutter und drückte dieselbe fest an sich.

„Endlich!“ flüsterte sie.


7.

Bill verbrachte jetzt mit Jakob Tönningen die Abende zu Hause; der junge Mann zog ihn durch seine anregenden Gespräche, Vorschläge und Pläne wieder auf sein früheres Interessengebiet, belebte von neuem seinen Standessinn, erweckte in ihm ein neues Verlangen nach der See, der Heimath seiner Jugend; die bösen Dünste der Kneipe wichen langsam vor der gesunden Atmosphäre, die dieser Mann um ihn verbreitete.

Maria glaubte die Heilung des Vaters schon vollzogen und fürchtete die baldige Abreise des siegreichen Arztes. Sie wollte ihm gewiß ewig dankbar dafür sein, aber doch brach ihr das Herz schier. Sie hatte sich das doch anders gedacht, recht kindlich albern, das sah sie wohl ein, aber er war doch auch schuld daran, was brauchte er sich denn gar so in ihr Herz einzuschleichen, wenn alles nur dem Vater galt!

Da kam er in der dritten Woche seiner Anwesenheit eines Tages im Sonntagskleid und in einem Zustande eigenthümlicher Unruhe. Maria dachte: nun will er Abschied nehmen! und ihr ganzes Wesen krampfte sich zusammen. Er aber trat mit ernster Miene auf sie zu.

„Maria,“ sagte er, „heute gilt’s, ich darf nicht mehr länger zögern mit der Operation, sonst erneut sich das Uebel. Jetzt sprechen Sie, haben Sie Wort gehalten, haben Sie immer an mich gedacht seit unserer Begegnung in Oland, herzlich meiner gedacht?“

Seine Hand drückte fest die ihrige, sein großes Auge ruhte voll heißer Liebe und mit dem Ausdrucke inniger Ueberzeugung auf ihr.

„Mehr, Maria, haben Sie sich nach mir gesehnt? noch mehr – haben Sie mich lieb?“

Das Mädchen sank wonnebetäubt in seine Arme, und er hielt sie lange umfaßt und küßte ihr Blondhaar.

„Dann ans Werk, es muß gelingen!“

Er eilte zum Vater.

„Ich komme, von Ihnen die Hand Ihrer Tochter Maria zu erbitten. Unter uns Seeleuten sind lange Vorreden nicht Brauch; ich bin jetzt Eigenthümer eines Schiffes, besitze genug Vermögen, mich selbständig zu machen und eine Familie zu ernähren. Ihre Tochter liebt mich, ich denke, es steht nichts im Wege –“

Bill mit seinem düsteren Blick, seinem tiefergrauten Haar und seinen verlebten Gesichtszügen sah greisenhaft aus an der Seite des blühenden Mannes. Er zuckte schmerzlich zusammen unter diesen kurzen, biederen Worten und ein Blick tiefen Mitleides traf den Brautwerber.

„Nichts läge im Wege, Jakob Tönningen,“ erwiderte er, „wenn ich noch um einen Grad schlechter wäre, als ich so schon bin; dann könnt’ ich Euch sagen: da habt Ihr sie und meinen Segen dazu! Ich kann’s aber nicht, und Ihr selbst seid schuld daran, daß ich’s nicht kann, weil Ihr in der kurzen Zeit, da Ihr hier seid, das Gewissen in mir wachgerufen habt. Ihr fordert von mir Euren Fluch und stürzt, was Ihr gewiß nicht wollt, wenn Ihr sie liebt, Maria in das Unglück! Ihr habt mir selbst recht gegeben, als ich Euch einst mein sonderbares Schicksal erzählte von der Stunde an, wo das Unglücksglas zersprang an dem Eures Vaters. Die geheimnißvolle Kette von Umständen zwischen Tönningen und Lührsen bis auf Eure jetzige Werbung muß Euch selbst zu denken geben. Es ist blöde, ein Menschenschicksal an ein Glas zu hängen, ich weiß es, und hab’ mir’s tausendmal vorgehalten, und doch sag’ ich Euch, es ist mir, als sähe es drohend dort auf mich herab, – ich kann nicht ,Ja‘ sagen, Jakob Tönningen!“

Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, sein ganzes Inneres war in Aufruhr.

Der Kapitän blickte sinnend hinauf zu dem Glas. „Hm, Ihr habt recht, ein sonderbares Zusammentreffen von Umständen, und das Glas – zeigt mir doch das Unglücksding, das mir mein Liebstes rauben soll auf Erden!“

„Nehmt es nur herab, ich erreich’ es nicht mehr, so hat es mir den Rücken gebeugt.“

Jakob griff danach und trat an das Licht, das sich in der grünen Wölbung spiegelte, betrachtete es genau und prüfte mit dem Finger. Plötzlich lachte er laut auf – betrachtete wieder das Glas, dann Bill, der ihn nicht aus den Augen ließ.

„Bill Lührsen,“ sagte er, „Ihr seid ein Narr! Das Glas hat ja gar keinen Sprung, es ist ja nur eine Falte im Glas, welche so aussieht! Na hört, da sieht man doch genauer zu, wenn man so viel darauf hält!“

[797] Bill war kreidebleich geworden, der Mund stand ihm offen, ein Bild des Entsetzens bot er.

„Das lügst Du, Tönningen,“ röchelte er, mühsam nach Athem ringend. „Es muß ein Sprung sein! Ich sah ihn zwar nur einmal, aber der Klang – her mit dem Glas!“

Mit zitternden Händen entriß er es ihm und drehte es nach allen Seiten.

„Herrgott! Wenn es kein Sprung wäre! Alles einer Täuschung geopfert, ein ganzes Leben – Laura – Maria –“

Er tastete und kratzte wie wahnsinnig an dem Glase herum. „Heilige Maria, kein Sprung!“

Da entglitt das Glas seinen Händen und zerschellte in Scherben. Bill sank in die Kniee, bedeckte sein Antlitz mit beiden Händen und schluchzte laut. „Kein Sprung!“ wiederholte er nur immer wieder verzweifelt.

Tönningen erschrak selbst vor der furchtbar unerwarteten Wirkung seines Heilmittels; doch faßte er sich rasch, die Krisis mußte eintreten.

„Und da freut es Euch nicht,“ redete er dem zusammengebrochenen Manne zu, „daß alles nur ein häßlicher Traum war, daß Ihr mir jetzt ohne Gewissensbisse Maria zum Weibe geben könnt, daß Euer Geschick keiner blinden, dunklen Macht überantwortet ist, sondern nur Eurem eigenen Willen, daß derselbe gütige Gott es leitet, der auch das von uns allen lenkt! Das muß Euch freuen, selbst wenn Ihr Euch dabei sagen müßt, daß Euer Wahn, von dem Ihr nun geheilt seid, Euer ganzes Unglück war. Auf, Bill Lührsen, zu neuem Leben! Ich biet’ Euch Hand und Herz, sie kennen beide kein Falsch!“

Bill lächelte unter Thränen; er erhob sich, wie aus einem Traum erwachend.

„Ist’s denn wirklich möglich! Ein neues Leben! Ein Schiff! Die weite See – mein Weib – mein Kind! Tönningen, es ist zu viel, ich kann das viele Licht nicht allein ertragen. Maria! Laura!“ rief er, die Thür öffnend.

Maria eilte herein. Tönningen streckte ihr die Arme entgegen, – sie wußte alles.

„Es ist ja kein Sprung, Laura,“ rief Bill seinem Weibe zu, „nur eine Falte im Glas, der Kapitän hat es mir deutlich gezeigt! Ich ließ es fallen vor Freude, da liegen die Trümmer, aber ich versichere Dich, nur eine Falte im Glas – Laura, wir waren rechte Kinder – wie eine Binde fällt es mir jetzt von den Augen! – Kinder? Nein, ein Schurke war ich, Laura, ein erbärmlicher Schurke! Verzeihe mir um des Glückes dieser beiden willen – Deiner Kinder!“

Das war zu viel des Freudensturmes für Lauras im Leid ermüdete Seele; sie warf einen Blick auf die grünen Scherben des Glases am Boden, auf das in sich versunkene Paar, auf Bill, der sie in seinen Armen hielt. Erst an dem klaren Blick Jakobs, der auf sie zutrat und ihr die Hand reichte, fand sie ihre Fassung wieder.

*  *  *

Als Claus, der Richter, die freudige Nachricht erhielt, daß das Mittel gewirkt habe und Bill völlig geheilt sei, da eilte er trotz seines hohen Alters noch zur Hochzeit Jakobs und Marias.

Als der Bräutigam nach dem Mahle dem Alten von der Falte im Glase erzählte, die Bill fälschlich für einen Sprung gehalten habe, da lächelte er verschmitzt; als man dann wie einst vor zwanzig Jahren das Brautpaar leben ließ und die Gläser hob, rief er: „Obacht, Kinder, damit es nicht wieder Falten giebt, sie taugen nichts, in den Gläsern nichts und nichts in den Gesichtern!“

Alles lachte, nur Bill senkte beschämt den Blick.

„Lührsen-Tönningen“ heißt heute die größte Reederfirma in H., sie führt einen grünen Römer im Schiffswappen.


Aufruf

zur Errichtung eines Denkmals auf Helgoland für Hoffmann von Fallersleben, den Dichter des Liedes
„Deutschland, Deutschland über alles“.

Es sprach des Deutschen Kaisers Mund:
„Der letzte Fleck von deutschem Grund,
Nun zählt er zu dem deutschen Land!“ –
Er sprach’s am Helgolander Strand.
Da stieg auf Fels und Haus und Boot
Das Banner, schwarz und weiß und roth,
Da donnerten Kanonen rings –
Und durch die deutschen Gaue ging’s:
Nun ist zum Reiche heimgebracht
Des deutschen Landes Nordlandswacht!

0000000

Wo man in deutschen Lauten spricht,
Durch jedes Herz tönt ein Gedicht,
Das Deutschland über alles preist –
Nicht immer klang’s im gleichen Geist!
Es stieg wie leises Fleh’n zu Gott,
Als Deutschlands Zwietracht aller Spott,
Und jauchzend sang’s des Volkes Schar,

Als Deutschland über alles war! –
Wo aber wuchs der Sang empor?
War’s an des Rheines Rebenflor?
War’s, wo die Donau südwärts zieht?
Erklang am Main „der Deutschen Lied“?
Vom Meer umbraust, vom Sturm umweht,
Das rechte Wort fand der Poet!
Vom Felseneiland Helgoland
Ein Dichter hat’s hinausgesandt,
Das Lied von deutscher Herrlichkeit,
Das Trost uns war in trüber Zeit,
Und heut’ in sich gesammelt hält
Das Fühlen einer deutschen Welt! –
Das Lied von deutschen Lippen fliegt,
Wo sich die Palmenkrone wiegt;
Wo über’m Eis das Nordlicht flammt,
Singt’s, wer von deutschem Blut entstammt.
Wir singen’s, wenn beim frohen Fest

Man brüderlich die Hand sich preßt,
Da steigt der Sang in hellem Chor
Gewaltig aus der Brust empor –
Eins sind wir all’ in Herz und Geist! –
Und, wenn’s im Feld zu sterben heißt,
Wo’s um die höchsten Güter geht,
Wird’s deutschen Kriegers Schlußgebet! –

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Wo er es sang, was wir gefühlt,
Hoch auf dem Fels vom Meer umspült,
Da rag’ das erzgegoss’ne Haupt
Des Dichters, der da fest geglaubt
An unsres Reiches Auferstehn
Und große Zeit vorausgesehn!
Deß’ Wort begeisternd uns erklang
Im deutschen Nationalgesang,
Der jenes Lied uns hat erdacht,
Sein Bildniß zier’ die Nordlandswacht!
 Emil Rittershaus.

Auf dem neuen deutschen Gebietstheile Helgoland entstand am 26. August 1841 das Lied Hoffmanns von Fallersleben „Deutschland, Deutschland über alles“, das „eine Volksthümlichkeit erlangte, die bis heute ungeschmälert sich erhalten hat und sich erhalten wird, so lange der Deutsche die Liebe zum Vaterlande als Heiligstes in seiner Brust bewahrt“. Bei jeder Gelegenheit, wo des Deutschen Reiches gedacht wird, braust es begeistert und begeisternd durch die Reihen der Sänger und „nährt als deutsche Nationalhymne die Gluth vaterländischer Liebe“.

Im nächsten Jahre feiert dieses „Lied der Deutschen“ das fünfzigjährige Jubiläum.

Was es für den deutschen Patriotismus gewirkt hat, können wir dem Dichter nicht vergelten; aber ein Zeichen des Dankes und der Anerkennung vermögen wir dem echt deutschen Manne in äußerer Gestalt darzubringen, wenn wir auf dem Geburtslande des Liedes ihm ein Denkmal errichten, das an der Seewacht des geeinten Deutschen Reiches die unvertilgbare Kraft der Vaterlandsliebe hinaus in alle Welt dringen lassen soll. Gerade auf der Insel, von der Hoffmann von Fallersleben äußerte: „Helgoland muß deutsch werden,“ sollte, nachdem das Wort zur That geworden, ein Denkmal des Vaterlandes Dankbarkeit bekunden.

Am 22. September 1890 haben in Kassel deutsch gesinnte Männer und Frauen den Plan gefaßt, Sammlungen für ein solches Denkmal zu veranstalten und auszuschreiben. Dasselbe soll in einer großen Bronzebüste auf Granitblock bestehen, einfach und schlicht, aber erhaben und würdig. Mit einem hervorragenden Künstler sind Verhandlungen angeknüpft, und es ist Aussicht, daß, wenn die Sammlungen baldigst einen günstigen Erfolg zeigen, bis zum Geburtstage des herrlichen Nationalliedes die Enthüllung stattfinden kann. Die Kosten dürften sich auf ungefähr 10000 Mark belaufen.

Unter Hinweis auf das an der Spitze stehende Gedicht eines warmen Freundes des Verewigten, das in jener Kasseler Versammlung dem begeisterten Herzen entquoll, ergeht die Bitte, allenthalben zu Gaben aufzufordern. Als besonders ersprießlich erscheint es, so oft das „deutsche Lied“ gesungen wird, in unmittelbarem Anschluß an die dadurch hervortretende gehobene Stimmung Sammlungen zu veranstalten.

Die eingehenden Gelder wolle man an den Geheimen Regierungsrath Robert Fischer in Gera (Reuß) einsenden, der die Bewahrung derselben und öffentliche Empfangsbescheinigung in der hierzu zur Verfügung gestellten „Gartenlaube“ übernommen hat.


Anmerkung der Redaktion. Die deutschen Zeitungen werden um Nachdruck des Aufrufs und um Veranstaltung von Geldsammlungen freundlichst gebeten.


[798]

Tabora.

Von Sansibar ist die erfreuliche Kunde eingetroffen, daß Emin Pascha auf seinem Zuge nach dem Viktoria-Njansa die Hauptniederlassung der Araber im Innern, Tabora, erreicht hat.

Die Grenzen von Deutsch-Ostafrika sind jetzt endgültig festgestellt. Unsere ostafrikanische Kolonie ist ein gewaltiges Stück Land, ungefähr zweimal so groß wie das Deutsche Reich, und hat eine sehr günstige bevorzugte Lage. Ihre östliche Grenze bildet die Küste mit den wichtigen Handelsstädten Bagamoyo, Dar-es-Salaam u. s. w. Im Norden umfaßt sie den grünen Sockel des schneebedeckten Kilimandscharo und stößt an den herrlichen Viktoria-Njansa oder den Ukerewe, wie die Araber den See nennen. Im Westen grenzt sie an das Gebiet des Kongostaats und verläuft längs der Ostküste des Tanganyikasees, berührt die nordöstliche Spitze des Njassasees und schließt im Süden mit dem Laufe des Rowumaflusses ab. Durch dieses Gebiet führten seit jeher die Hauptstraßen des mittelafrikanischen Handels, auf welchen das Elfenbein der Länder um den Viktoria- und Tanganyikasee nach Sansibar gebracht wurde. Hier liegen die Hauptetappen der Araber auf dem weiten Wege nach dem Kongo; die Handelsbeziehungen reichen von der Küste bis Njangwe und darüber hinaus, berühren in Uganda und Unjoro selbst die Grenzen des Reiches der Mahdisten. Die Karawanen der Händler werden nicht so bald die gewohnten Wege verlassen, um neue Bahnen einzuschlagen, und die alten Handelsstraßen entlang wird sich auch die koloniale Thätigkeit der Deutschen bewegen.

Emin ist gerade zu diesem Zwecke abgerückt. Er will die Handelsstraße über Tabora zum Viktoria-Njansa sichern und an den Gestaden des Sees selbst eine Station gründen, die zu einem Mittelpunkt der Kultur werden soll. Die erste wichtige Etappe auf diesem Wege ist nunmehr erreicht worden. Bis jetzt bildete Mpwapwa an den Grenzen Usagaras das äußerste Bollwerk der deutschen Macht, nun aber hat sich ganz Unjamwesi Emin unterworfen. Versuchen wir Land und Leute, durch welche der ruhmvolle Kulturträger im dunklen Welttheil gezogen ist, in kurzen Umrissen zu skizzieren.

Westlich von Mpwapwa dehnt sich etwa zwei starke Tagemärsche lang eine Wildniß aus, „Marenga Mkali“, „Bitterwasser“ genannt, da die Quellen und Brunnen dieses Gebietes bitter schmecken. Nachdem die Flaschen mit Trinkwasser gefüllt worden sind, zieht man in Eilmärschen vorwärts; die Karawanen marschieren geschlossen mit geladenen Gewehren, denn vom Norden bedrohen die Massai, vom Osten die Wasagaro, vom Süden die Warori und vom Westen die Wagogo kleine Karawanen und Nachzügler. Ueberfälle stehen hier auf der Tagesordnung, die schwarzen Räuber verschwinden in dem Dunkel der Nacht und die Thäter lassen sich niemals feststellen.

Jenseit Marenga Mkali dehnt sich Ugogo aus, „das häßlichste, ärmste ungastlichste Land, das ich in Afrika kennenlernte,“ sagt Wißmann von ihm. Es bildet den ersten Abfall von dem Hochplateau des äquatorialen Afrikas nach Osten, eine weite Ebene, die nur von vereinzelten nackten, mit Granitgeröll bedeckten Höhen unterbrochen wird. Wir haben hier eine Steppenlandschaft vor uns. Wenige krüppelhafte Bäume, viel dorniges Gebüsch und spärliches feines Gras entsprießt dem sandigen Boden. Sieben Monate dauert hier die Trockenzeit, und während derselben findet man nur in Lachen und künstlich aufgehaltenen Brunnen warmes, in allen Farben des Regenbogens schillerndes, schlechtes Wasser.

Rauh und ungastlich wie ihr Land sind auch die Bewohner. Viele Häuptlinge haben sich hier am Wege niedergelassen und erheben Hongo, d. h. Durchgangszoll; die Brunnen zwischen den weiten wasserlosen Strecken sind von bewaffneten Eingeborenen besetzt und die durstigen Karawanen müssen jeden Topf voll Wasser kaufen.

Der Reisende begegnet hier überall der „Tembe“, einer besonderen Art von Hütten. Sie wird aus zwei parallellaufenden Wänden gebildet, die durch Querwände in kleinere Räume getheilt und mit einem fast flachen, nur vorn etwas ansteigenden Dache bedeckt sind. Sie sind gewöhnlich in Gestalt eines Vierecks gebaut, innerhalb dessen das Vieh während der Nacht eingepfercht wird, und da überdies auch das Geflügel und die Ziegen den Aufenthalt in den Hütten theilen, so sind diese ganz fürchterlich schmutzig und alles wimmelt von Insekten. Sie gehören vielleicht zu den unbequemsten Wohnungen, die das menschliche Gehirn je ersonnen hat.

Die Quälerei des Hongozahlens war seit jeher den Arabern lästig und vor etwa 20 Jahren versuchte einer derselben sich durch Ugogo durchzuschlagen. Er hatte seine Absicht offen erklärt und rückte an der Spitze von etwa 900 Mann in das Land ein. Die Wagogo erwarteten seine Ankunft aber gar nicht, sie verschütteten die Brunnen, verbrannten ihre Häuser nebst allem, was sie nicht forttragen konnten, und zogen sich mit Weib und Kind, Vieh und allen Habseligkeiten in die Dschungeln zurück. Da wurde der tapfere, aber weniger kluge Araber durch Hunger und Durst besiegt; die wenigsten seiner Leute kehrten zu ihrem Ausgangspunkt zurück, nur zehn schlugen sich durch Ugogo durch, die meisten starben an Erschöpfung und die Zahl der Todten wurde Cameron auf 600 bis 700 Menschen angegeben.

Hinter dem ungastlichen Ugogo dehnt sich „Mgunda Mkali“ oder „das heiße Feld“ aus. Zu Beginn der großen Aera der Afrikaforschung, als Burton das Land zum ersten Male betrat, verdiente es den Namen, denn es war eine menschenleere Wildniß, ist der es an Nahrungsmitteln und Wasser fehlte. Seit jener Zeit hat sich vieles verändert. Aus der Umgegend vertriebene Stämme besiedelten das Land und Anfangs der siebziger Jahre konnten Stanley und Cameron erklären, daß der Name auf das Land nicht mehr passe. Aber die kurze Blüthezeit ging rasch vorüber. Die Häuptlinge stritten mit einander um den Besitz des Landes, wo man die Karawanen am besten ausplündern konnte, und die Folge davon war die Entvölkerung des Landes; Mgunda Mkali ist wieder eine Wildniß, in deren schattenlosen Wäldern und Dschungeln das Wild umherschweift.

Doch nach wenigen Tagen erreicht der Reisende eine Gegend, in der bebaute Felder sein Auge erfreuen, er betritt Unjamwesi, das „Mondland“, und nähert sich einem Knotenpunkt ostafrikanischer Karawanenstraßen, einer Hauptniederlassung der Araber, dem vielgenannten Tabora. Es ist eine Poststation, auf der sozusagen Pferde gewechselt werden. In Ostafrika bildet aber der Mensch noch immer das einzige Lastthier; alle Waren, Tauschmittel müssen die Neger auf ihrem Kopfe tragen, doch die Träger von der Küste gehen in der Regel nur bis Tabora, hier müssen neue gemiethet, die Karawanen frisch gebildet werden.

Die Araber haben sich an diesem Orte schon seit langer Zeit niedergelassen. Ihre Magazine sind stets wohlgefüllt und der Reisende kann hier alles, was er als Zahlungsmittel im Innern braucht, wie Zeuge, Perlen und Draht, ja auch Pulver und Kugeln, Gewürze und Apothekerwaren erhalten; sie kosten aber hier fünf Mal so viel als in Sansibar. Die Ebene, auf welcher die Kolonie liegt, ist zwar baumlos, aber fruchtbar. Reis wird überall erbaut; süße Kartoffeln, Yams, Mais, Sesam, Hirse, Felderbsen sind immer zu haben. Ja selbst Weizen und Gerste werden um die Tembes der Araber angebaut und vor ihren Häusern gedeihen Orangen, Limonen und Melonenbäume, während in den Gemüsegärten Knoblauch, Gurken, Tomaten etc. gebaut werden. Rings um Tabora giebt es gute Weideplätze, die von Vieh und Ziegenherden belebt sind, so daß in Tabora zu jeder Zeit auch Milch, Sahne und Butter zu haben sind.

Aber der Gast der Araber kann auch in anderen Genüssen schwelgen. „Wenigstens einmal im Jahre,“ schrieb Stanley in seiner anziehenden Schilderung des Lebens in Unjamjembe, „bringen ihnen ihre Sklaven von der Küste Vorräthe von Thee, Kaffee, Zucker, Gewürzen, eingemachten Säften, gewürzten Saucen, Wein, Branntwein, Zwieback, Sardinen, Lachs, feinen Tuchen und allem, was sie für ihren eigenen persönlichen Gebrauch bedürfen. Fast jeder Araber von Stande vermag einen Reichthum an persischen Teppichen, luxuriösen Betten, vollständigen Thee- und Kaffeeservicen, schön verzierten Schüsseln von verzinntem Kupfer und messingenen Waschbecken aufzuweisen. Fast alle haben Uhren und Ketten, einige solche von Gold, andere aus geringerem Material.“ Kurz die Araber leben hier wie in der „Stadt des Sieges“ und haben auch ihre Harems mit schwarzen Schönen.

Durch einen Bergrücken von Tabora getrennt, liegt in unmittelbarer Nähe eine zweite Niederlassung, Kwihara, in der Stanley und Livingstone eine Zeit lang wohnten.

[799] Tabora, das Kapua der Karawanenträger, die hier so lange zu bleiben pflegen, bis das letzte Stück Tuch verpraßt ist, kann nicht als eine Stätte guter Sitten gelten. Der Sklavenhandel mit allen seinen üblen Nebenwirkungen stand ja hier seit jeher in voller Blüthe, denn die Araber herrschten hier nach Belieben. Anfangs der siebziger Jahre entstand ihnen plötzlich in der Nachbarschaft ein gefährlicher Feind, mit dem sie fast ein Jahrzehnt hindurch in blutigem Streite lagen, und der fortwährende Krieg trug noch mehr dazu bei, das Leben roher und grausamer zu gestalten. Dieser Feind war der berühmte Mirambo, der „Napoleon von Ostafrika“, wie ihn Stanley nannte. Seine Herkunft ist etwas dunkel und es wird über seine ersten Jahre verschiedenartiges berichtet. Er war vermuthlich ursprünglich ein Häuptling des kleinen Dorfes Ujoweh, der anfangs mit den Arabern in Frieden lebte, ihnen aber Rache schwur, als einer derselben ihn beim Elfenbeinhandel betrogen und er in Tabora vergeblich sein Recht gesucht hatte. Mirambo ging in die Wälder zwischen Tabora und Ugogo, sammelte sogenannte Ruga-Ruga, das heißt Walddiebe, um sich und wurde ein Straßenräuber, der mit Glück Karawanen plünderte. Mit der Zahl der eroberten Gewehre wuchs seine Macht, er konnte bald nordwestlich von Tabora in Urambo ein eigenes Reich gründen und verlegte so den Weg nach dem Tanganyika. Als Stanley 1871 in Tabora war, zog er mit den Arabern gegen Mirambo, um die Straße zu öffnen, aber Mirambo schlug die Gegner, und Stanley, der die Bundesgenossenschaft später aufgab, sah von den Höhen Kwiharas einen Theil von Tabora in Flammen aufgehen. Seit der Zeit begann ein wahrer Vertilgungskrieg zwischen den beiden Parteien und selbst der Sultan von Sansibar sandte seine Truppen nach Tabora. Mirambo trotzte jedoch allen Angriffen. „Mirambo ist unermüdlich,“ schrieb Cameron im Jahre 1873, „und zerstört alles, wo er keine Unterwerfung findet. Mehr als einmal ist er in die Niederlassungen der Araber in Unjamjembe eingebrochen und hat ihr Vieh vor ihren Augen fortgetrieben, während sie sich einfach in ihren Häusern verschanzt hatten und keinen Widerstand zu leisten wagten.“

Auf beiden Seiten wurde der Krieg mit der empörendsten Barbarei und Grausamkeit geführt: Dörfer wurden überfallen und niedergebrannt, kleine feindliche Abtheilungen im Walde niedergemacht, und die Araber unterstützten diese barbarische Kampfweise dadurch, daß sie jeden, der ihnen eine Trophäe von einem gefallenen Feinde brachte, mit einem Sklaven und einer Frau beschenkten. Natürlich forderte eine solche Kriegführung das Wiedervergeltungsrecht von Mirambos Leuten heraus.

Die Macht Mirambos wuchs indessen zu ungeahnter Größe empor. Er bekriegte auch die Nachbarstämme und machte sich dieselben unterthänig. Sein Einfluß reichte bis zum Ukerewe im Norden und bis zum 6° im Süden.

„Der Ruhm der vielen Siege,“ erzählt Wißmann, „hatte allmählich Mirambo zum gefürchtetsten und bei den Seinigen zum populärsten Manne gemacht. Mirambo schlafe nie, er könne fliegen, sei unverwundbar und manche andere Eigenschaften schrieb man ihm zu. Trotz seines scheinbar milden Wesens soll er durch wenig Worte seine Krieger zu wildem Muth entflammt haben. Er focht heute hier und erschien am nächsten Morgen sechs gewöhnliche Tagereisen weiter entfernt mit seinen sieggewohnten Horden, den Tag über und eine ganze Nacht im Dauerlauf unglaubliche Entfernungen durcheilend. Er war überall.“

Mit den europäischen Reisenden wußte sich Mirambo auf einen guten Fuß zu stellen. Stanley wurde auf seinem zweiten Afrikazuge Mirambos Blutsbruder. Der schwarze Napoleon wußte zwischen Europäern und Arabern einen Unterschied zu machen und empfing die Fremden, in denen er wohl die Rivalen der Araber ahnte, freundlich und zuvorkommend. Bald darauf wurde in Urambo eine englische Mission gegründet und der Missionar Southon gewann einen großen Einfluß auf Mirambo, der von seiner kriegerischen Laufbahn immer mehr in die friedliche des Handels einlenkte.

Im Jahre 1882 war Wißmann, von Westen kommend, Mirambos Gast, und während dieser Tage zog auch der erste Araber friedlich in Urambos Thore ein; es war Zefu, der Sohn Tippu-Tips, der mit Mirambo Frieden schloß. Wißmann besprach hier mit Mirambo einen Plan, um mit Hilfe seiner Soldaten den Muta-Nsige, der jetzt Albert-Edward-Njansa heißt, zu besuchen. Leider starb bald darauf Mirambo, wie einige behaupten, von Arabern vergiftet, und Wißmann, der es 1886 in Njangwe am Kongo erfuhr, mußte darauf verzichten, schon damals mit Emin zusammenzutreffen.

Das Feld, auf welchem die Missionare in Unjamwesi wirkten, war nicht besonders günstig. Von den Eingeborenen sagt Reichard: „Die Sinnesart dieser Neger ist scheußlich; sie sind heuchlerische Diebe, habsüchtig, sehr sinnlich, faul, lieblos; Eltern verkaufen ihre Kinder; ein liebevolles Familienleben ist nicht vorhanden.“ Der Sklavenhandel hat sie auch verderbt, ebenso wie die grausamen Kriege.

Trotzdem befand sich die katholische Mission in Tabora, als Wißmann sie besuchte, in blühendem Zustande und hatte ausgedehnte Gartenkultur, Feldbau und Viehzucht. Wißmann schwelgte hier im Genuß des ersten Brotes in Innerafrika. Das Werk der Civilisirung Afrikas war angebahnt. Die Afrikanischen Gesellschaften hatten beschlossen, Stationen im Innern zu gründen, und Forscher zogen über Tabora nach dem Tanganyika, darunter befanden sich auch Deutsche, der unerschrockene Reichard, Dr. Kaiser und Dr. Böhm. Die beiden zuletzt genannten ruhen bekanntlich für ewig im Dunklen Welttheil. Sie mußten schon damals die Erfahrung machen, daß die Araber, die anscheinend freundlich thaten, ihnen im geheimen Schwierigkeiten bereiteten. Von Jahr zu Jahr verschlimmerte sich die Lage der Dinge, bis es an der Küste zu offenen Feindseligkeiten kam und diese ihre Rückwirkung in das Innere nicht verfehlten. Vieles von dem Errungenen mußte preisgegeben werden.

Die deutschen Waffen haben indessen an der Küste den Sieg davongetragen und die nöthige Achtung vor dem deutschen Namen den Arabern beigebracht. Dies hat jedenfalls auch Emin auf seinem neuen Zuge die Wege geebnet. Daß seine Aufgabe keine leichte war, lehrt uns selbst diese flüchtige Skizze aus der Vergangenheit eines der Mittelpunkte des innerafrikanischen Handels.

Hoffen wir, daß der Samen, den er jetzt auf deutschem Boden ausstreut, aufgehen und reifen werde! Emin versteht es wie kaum ein anderer, den Neger zur Arbeit zu erziehen; das ist eine der Bürgschaften für seinen Erfolg. Im Augenblick aber ist sein Erscheinen in Centralafrika darum von hohem Werthe, weil er sich der Achtung und des Wohlwollens der Araber erfreut, deren Macht im Innern nicht zu unterschätzen ist. *


Die Moltkefeier in Berlin.

Von Hermann Heiberg.

In vielfachster Weise hat das deutsche Volk Vorbereitungen getroffen, um den Ehrentag eines seiner größten Mitbürger, des Generalfeldmarschalls Grafen von Moltke, zu feiern. Das Königshaus hatte im Lauf der Zeiten schon wiederholt den unvergleichlich bewährten Diener des Thrones und Staates belohnt; Wilhelm II., des siegreichen Kaisers Enkel, gab in Dankbarkeit die Anregung zu einer Feier, wie sie selten einem Irdischen zutheil geworden ist. Aber er setzte nur in Thaten um, was jeder Patriot wünschte als kleinen Dankessold abzutragen. Und doch ist dem greisen Feldmarschall schon so viel geschehen, daß auf eines Mannes Schultern an Ehre wohl kaum je so viel gehäuft worden ist. Moltke ist Ehrenbürger der Hauptstadt und zahlreicher anderer deutscher Städte des Reiches; seine Statue steht in öffentlichen Räumen und Privathäusern neben denen unserer Herrscher, öffentliche Standbilder von ihm werden schon bei Lebzeiten aufgerichtet und sein Bild fehlt in keinem illustrirten historischen Werk über unsere Tage. Die Frage: Wer ist Moltke!? beantwortet schon heute der kleinste Ränzelträger, und gedenkt ein Deutscher, welchen Namen er trage und welchem Beruf er angehöre, der vergangenen gewaltigen Zeiten, so drängt sich ihm neben dem Kaiser Wilhelm I. und Bismarck der Name des Mannes auf, der nun am 26. Oktober seinen neunzigsten Geburtstag begangen, und der namentlich in Berlin eine Huldigung erfahren hat, wie sie nur den Hohenzollern selbst und dem eisernen Reichskanzler geworden ist. Was sich dem unbefangenen Zuschauer besonders aufdrängt, wodurch sich die ungewöhnliche Gestalt Moltkes so glanzvoll und strahlend abhebt, das ist in ihm das Zusammenfließen von geistiger Bedeutung und höchster Männertugend. Größe paart sich mit Selbstlosigkeit und Bescheidenheit! Goethe hat in Anwendung auf ungewöhnliche Menschen das Wort gebraucht, es sei starker Schatten vorhanden, wo viel Licht sei; hier sehen wir nur Licht, und so verehrt das deutsche Volk in Moltke nicht nur den Mitlenker seiner Geschicke, sondern das Ideal eines Mannes. Auf solcher Grundlage allgemeiner [800] Anschauungen war es nur natürlich, daß man sich in jeder kleinsten Stadt zu einer Feier rüstete, daß aber auch Berlin insbesondere seine Fackeln anzündete und Moltke seine Huldigung zu Füßen legte.

Die Fahnen der Berliner Garnison werden in die Wohnung des Generalfeldmarschalls gebracht.

Eins der großartigsten Schauspiele, die Berlin je gesehen hat, vollzog sich am Vorabend des Geburtstages in dem Fackelreigen, welcher sich, vom Kupfergraben beginnend, an dem Generalstabsgebäude vorüberzog.

Kurz nach halb acht Uhr hatten die dem endlosen Zuge voranreitenden Herolde den Zielpunkt erreicht. Die Halle des Generalstabsgebäudes war mit Pflanzen geschmückt, aus denen sich Draperien und Wappenschilder hervordrängten. Auf den Stufen stand der Feldmarschall, umgeben von seinen Angehörigen und höheren Militärs, und dankend und grüßend hob sich die Hand, als in unabsehbarer Fülle der Strom sich entfaltete.

Fast zwei Stunden währte es, bis alle vorüber waren; unbewegt verharrte der Neunzigjährige mit dem ehernen Antlitz, nur dann und wann belebten sich in dem historisch schweigsam ernsten Gesicht, bald von Rührung ergriffen, bald zum Lächeln angeregt, die Züge, wenn in den Ernst der Lage der Humor sich mischte. Und umstrahlt war seine Gestalt von dem Lichte der Tausende von Fackeln, bald düsterroth, bald in magischem Glanze des Magnesiumlichtes: ein für die Erinnerung unauslöschliches Bild! – –

In der ersten Abtheilung des Zuges waren die Berliner Hochschulen durch etwa zweitausend Mitglieder vertreten. Die Chargirten in vollem Wichs fuhren in offenen Wagen und neigten die Fahnen und Banner, sobald sie vor dem Jubilar erschienen. Und so ging’s fort. Vor der technischen Hochschule schritt die Musikkapelle des zweiten Garderegiments. Ein Halt erscholl; der Sprecher nahm das Wort, kurz, kräftig und zündend, und kaum hatte er geendigt, da begleitete das jubelnde Hoch ein Knattern, Brennen und Prasseln; Feuergarben und Leuchtkugeln stiegen vom Königsplatz in die Luft und gleichzeitig ward dem Feldmarschall von einer Bürgerdeputation ein silberner Kranz in die Hand gelegt.

Moltkes Antwort erfolgte – durch ihre Einfachheit von um so größerer Wirkung.

Auf die dann heranmarschirende Berliner Schützengilde folgte ein Sängercorps. Aus ihren Kehlen drang, wie schon vorher einmal vom Märkischen Centralsängerbund, der „Das ist der Tag des Herrn“ gesungen hatte, durch die Nacht ein ergreifendes „Gott grüße Dich!“ Nachdem die Töne verschollen waren, folgten neue Scharen: die Bürgervereine, ein endloser Zug, in den auch Moltke in seinen verschiedenen militärischen Chargen durch lebende Personen zur Darstellung gebracht war. Alle Moltkes, auf einen eigenartig ausgestatteten Wagen postirt, grüßten militärisch und empfingen einen Gegengruß. Es zogen die Brauereien und Fabrik-Etablissements auf, der christliche Verein junger Männer, die Bollesche Meierei mit einem von der Bläserkapelle gespielten Choral, der von schönster Wirkung war. Dann Jünglingsvereine, Radfahrer in Kostüm – überall, wohin das Auge schaute, kostümirte Menschen, geschmückte Wagen, Fahnen, Banner, fast ermüdend, bis dann die Künstlerabtheilung mit neuen farbenreichen Ueberraschungen dem Blick auch neue Reize bot und dem Fackelzug den eigentlichen Glanzpunkt verlieh.

Die Gratulation des Kaisers.

Ein ungeheures Gewühl von uniformirten Truppen aus allen Zeitaltern: Mannschaften zu Fuß und zu Roß, Zietenhusaren und Lützowjäger, Hellebardenträger und Paukentrommler, Herolde, Germanen in Pelzen und Riesengardisten in Blechmützen. Auch ein wilder phantastischer Tanz ward aufgeführt von einem braunen Mädchen und einem Kamerun-Soldaten, bis dann der Triumphwagen der Germania heranrollte und durch seine wahrhaft märchenhafte Schönheit alle Zuschauer hinriß. Nach den von der Germania gesprochenen, von Wildenbruch gedichteten Versen nahm Moltke noch einmal das Wort, um die Huldigung von sich selbst auf des Sinnbildes Inhalt, auf das deutsche Volk zu übertragen. Und als alles vorübergezogen war, stürmte die Volksmasse auf den Jubilar zu, um noch einmal ihrem Gefühl Ausdruck zu verleihen. Nur schwer entrang sich Moltke diesen aus der Liebe und Verehrung des Volkes hervorgehenden Kundgebungen. –

Und dann kam als zweiter, bedeutungsvollster Akt in dem großen Schauspiel der eigentliche Festtag, der 26. Oktober, an dem unser Kaiser den Feldmarschall ehrte, wie noch kein Preuße je zuvor von seinem Herrscher gefeiert worden ist. Und in der That trug die Huldigung, welche Wilhelm II. dem Feldmarschall zutheil werden ließ, einen so ergreifenden Charakter, daß der Neunzigjährige sich, überwältigt von seinen Empfindungen, tief und lange auf die Hand seines Kaisers herabneigte.

Der Kaiser hatte die Spitzen der ganzen deutschen Armee entboten. In gestickter Generalsuniform, bedeckt mit Ehrenzeichen und Ordensbändern, fuhren die Generalinspekteure der Armee, der Generalfeldmarschall Prinzregent von Braunschweig an der Spitze, der Oberbefehlshaber in den Marken, Generaloberst von Pape, sowie sämtliche kommandierenden Generale vor und begaben sich zur Aufstellung in das Generalstabsgebäude. Die Feier begann mit der Gratulation der Offiziere und Beamten des Generalstabes und der Landesaufnahme um 9½ Uhr. Geführt von dem Chef des Großen Generalstabes, Graf Waldersee, betraten diese den großen Empfangssaal und statteten dem Jubilar ihre Glückwünsche ab. Nach der Aufstellung erfolgte zunächst die Vorstellung, soweit eine solche erforderlich war, und dann richtete Moltke einige warme Worte an die Versammelten. Nach diesem ersten Akt trat eine Pause ein, während welcher der Feldmarschall in seinem Studierzimmer, unterstützt von seiner Familie, die eingegangenen Telegramme und Briefe, gegen zweitausend, öffnete und durchsah.

Um diese Zeit schmetterten die ersten Trompeten. Das Musikcorps des Eisenbahnregiments brachte dem Jubilar den Morgengruß.

[801]

Der Fackelzug in Berlin am Vorabend von Moltkes 90. Geburtstage.
Zeichnung von H. Lüders.

[802] Um 11 Uhr trat Moltke aus dem Hause; dort vor dem Hauptportal des Generalstabsgebäudes waren die Zöglinge der Hauptkadettenanstalt aufgestellt, welche vom Kaiser hierher befohlen waren, damit sie Zeugen der erhebenden Feier wären. Einem „Guten Morgen“ folgte ein kräftiges „Guten Morgen, Excellenz“, und der Jubilar richtete auch an einen der jungen Krieger beim Abschreiten der Front einige huldreiche Worte. –

Inzwischen war es 11½ Uhr geworden. Da erschien unter einem wahrhaften Jubelsturm aus den Kehlen der Massen, die sich ringsum aufgestellt hatten, der Kaiser, um selbst Moltke seine Glückwünsche darzubringen. Er wartete zunächst das Eintreffen der auf dem Königsplatz aufgestellten und sich sofort in Marsch setzenden Fahnen- und Standartenträger ab. Unter den schmetternden Klängen des Pariser Einzugsmarsches nahte sich die erste Compagnie des zweiten Garderegiments, voran die flatternden Feldzeichen in sechsfachen Reihen, und alsbald wurden diese, gleich darauf auch die Standarten der Kavallerie in das Generalstabsgebäude gebracht; erst dann begab sich der Kaiser selbst in das Innere des Gebäudes, und, gefolgt von seinem persönlichen Dienst, in den auch der Reichskanzler von Caprivi eingereiht war, in den Empfangssalon. – Nachdem lautlose Stille eingetreten war unter den Fürsten und Vertretern der Armee, befahl der Kaiser, den Jubilar in den Festsaal zu geleiten. Er schritt dem Feldmarschall bis an die Thür des Saales entgegen, und an seines Herrschers Hand nahm Graf Moltke in der Mitte der im Halbkreis aufgestellten Anwesenden seinen Platz. Dann ergriff der Kaiser das Wort und Dankeslaute, die aus dem Innern des Herzens drangen, gingen über seine Lippen und riefen sichtlich nicht nur in der Brust des Gefeierten einen gewaltigen Eindruck hervor. Der Kaiser verwies in seiner Rede auch auf die versammelten Fürsten, insbesondere auf den König von Sachsen, der sich persönlich eingefunden habe, um dadurch seine Empfindungen für den Jubilar an den Tag zu legen.

Nachdem Moltke aus den Händen seines Kaisers noch einen prächtigen Marschallstab entgegen genommen und tiefbewegte Dankesworte gesprochen hatte, endete dieser Theil des Festes, und der Kaiser begab sich in offenem Wagen über die Linden nach dem Schloß zurück. –

Diese Straße war zu Ehren des Tages festlich geschmückt. Fahnen in allen Farben wehten auf Dächern und Fenstern, und von früh bis spät fand eine gewaltige Menschenansammlung hier und bis über das Brandenburger Thor hinaus statt. In und bei dem Generalstabsgebände aber regte sich gewaltiges Leben, das auch jetzt nicht nachließ. Unabsehbare Wagenreihen hielten vor dem Gebäude und entluden Gratulanten und Boten, welche Gaben brachten. In der Wohnung des Feldmarschalls waren die ersten Geschenke schon in der Frühe eingetroffen und aufgebaut worden; aber immer neue Spenden trafen ein aus Berlin und aus dem ganzen Deutschen Reiche. Schon um Mittag brachen die Tische fast unter der Last und Fülle. Wohl das werthvollste Geschenk unter allen war dasjenige, welches die Großherzogin von Baden dem Jubilar gespendet hatte: die Schreibmappe des Kaisers Wilhelm I. Freilich, neben der Glücksempfindung, ein so kostbares Andenken in Händen zu halten, brachte es dem Feldmarschall auch eine wehmüthige Erinnerung an denjenigen, an dessen Seite er einst die unsterblichen Siege erfochten hatte, an denjenigen, der nicht mehr Zeuge sein konnte, in welcher Weise das deutsche Volk die Verdienste seiner großen Mitlebenden ehrt.

Und noch eines mag die Seele Molkes bewegt haben: die Stadt Schleswig, auf deren Friedhof das Grab seiner Mutter sich befindet, bittet, in Zukunft für den Hügel derjenigen sorgen zu dürfen, die einem der größten Menschen, die je gelebt haben, das Leben gegeben!


Blätter und Blüthen.


Hydraulisches Schiffshebewerk zu Fontinette im Neuffossé-Kanal (Mit Abbildungen Seite 773 und 802.) Der Neuffossé-Kanal hat in erster Reihe die Aufgabe, den Verkehr der Stadt Paris mit dem nördlich gelegenen Landstriche und den dort befindlichen Seehäfen zu vermitteln. In der Nähe von Fontinette waren, wegen des starten Gefälles an dieser Strecke, fünf Schleusen nach alter Einrichtung angelegt, welche dem Verkehr jedoch dadurch sehr hinderlich wurden, daß sie für jedes Schiff einen Aufenthalt von 2 bis 2½ Stunden bedingten. Da der Verkehr auf dieser Strecke sich ungemein hob, so wurde dieser Uebelstand mehr und mehr fühlbar und verlangte dringend Abhilfe. Die Kanalverwaltung sah sich deshalb zu einem Umbau veranlaßt und ersetzte die fünf Schleusen durch eine einzige Schiffshebevorrichtung, welche, nach einem englischen Vorbilde, der Hebevorrichtung in Arlington, erbaut, es ermöglicht, die ganze Hebung der fünf Schleusen d. i. eine Höhe von über 13 Meter mit einem Male zu überwinden. Dabei werden zwei Schiffe in der kurzen Zeit von 20 Minuten befördert, so daß die Leistung die 12- bis 15fache derjenigen der früheren Einrichtung ist. Jetzt fährt einfach das Schiff aus dem Kanale in eine mit Wasser gefüllte Schleusenkammer von 45 Metern Länge, 6 Metern Breite und 2 Meter Wassertiefe und wird, zusammen mit dem Wasser- und dem Kammergewichte, in einem Zuge gehoben. Das Heben an und für sich nimmt nur 4 bis 5 Minuten in Anspruch, die übrige Zeit, also 15 bis 16 Minuten, ist zum Ein- und Ausfahren der Schiffe, zum Anbringen und Dichten der Verschlüsse erforderlich. Da das ganze zu hebende Gewicht gegen 842 000 Kilo beträgt (also so viel wie zwei ansehnliche Eisenbahnzüge, jeder mit 42 Doppelladern, befördern) und dieses Gewicht 13 Meter hoch gehoben werden muß, so entspricht das der bedeutenden Leistung von annähernd 480 Pferdekräften.

Schematische Ansicht des Schiffshebewerkes im
Neuffossé-Kanal.

Nun werden unsere Leser denken, dazu sei eine mächtige, große Maschinenanlage erforderlich. Aber weit gefehlt: die ganze Arbeit geht, so zu sagen, von selber – ganz von selber! Die erforderliche, sehr geringe Kraft muß das Wasser des Oberkanals liefern, und fremde Hilfe ist von dem Ingenieuer Clark, der die Anlage für die Firma Clark, Standfield and Clark ausgeführt hat, gar nicht in Anspruch genommen. Wie das unglaublich klingende Ergebniß erreicht wurde, wollen wir im Nachstehenden zu erklären versuchen.

Aus dem landschaftlichen Bilde S. 773 ist die Anordnung im großen und ganzen ersichtlich: es sind zwei Schleusenkammern vorhanden, welche miteinander so in Verbindung stehen, daß die eine sinkt, wenn die andere steigt, geradeso wie bei den Schalen einer Tafelwage; nur hat man hier an die Stelle der Wagschale die Schleusenkammer und anstatt des Wagebalkens von Metall einen solchen von Wasser zu setzen. – Vom obern Kanal aus ist soeben ein Schiff in die Schleusenkammer gefahren, die untere Kammer ist zur Aufnahme eines Schiffes bereit. Es kann demnächst sich der Vorgang wiederholen, und so geht’s fort im steten Wechsel.

Den innern Zusammenhang der Hebevorrichtung und die Art ihrer Wirklung ersehen wir nun mit Leichtigkeit aus der zweiten Figur S. 802. Jede Schleusenkammer wird von einem sauber abgedrehten, 2 Meter im Durchmesser haltenden Kolben getragen, der in einem mit Wasser gefüllten gußeisernen Cylinder schwebt. Beide Cylinder sind durch eine Rohrleitung miteinander verbunden. Da nun das Wasser derselben durch Stopfbüchsen abgeschlossen ist und nicht entweichen kann, so ist es erklärlich, daß, wenn der jetzt obenbefindliche Kolben heruntergedrückt wird, der andere steigen muß, denn wir haben eine hydrostatische Wage im großen vor uns. Dies Herunterdrücken wird nun auf eine sehr einfache Weise bewirkt.

Man beachte einen Augenblick die schematische Figur: diese entspricht dem Augenblick, wo das rechts befindliche Schiff unten und das links befindliche oben angekommen ist. Schließt man jetzt das Kopfstück der unteren Schleusenkammer an den untern Wasserspiegel an, so fließt ein Theil des Wassers in den offenen Kanal ab. In der obern Schleusenkammer vollzieht sich der umgekehrte Vorgang; sie füllt sich aus dem etwas höheren Oberwasser. Nur eine Handbreite hoch ist erforderlich, alsdann ist die obere Kammer um so viel schwerer als die untere, daß die Hebevorrichtung nunmehr „fertig“ zur neuen Arbeit ist. Stellt jetzt der Maschinist das in der Rohrleitung befindliche Ventil, so geht’s sofort los. Also, wie gesagt – es geht ganz von selbst; zu jeder Hebung gebraucht man nur das geringe Uebergewicht von 20000 Kilo, für welche man 20 Kubikmeter Wasser aus dem obern Kanale entnehmen muß, wo dergleichen genug gratis zu haben ist.

Ob hierbei das Schiff beladen ist oder nicht, ist ganz gleichgültig, ja – die Ladung zählt gar nicht einmal mit. Der scheinbare Widerspruch erklärt sich dadurch, daß nach dem Einfahren des Schiffes ebensoviel Wasser aus der Schleusenkammer herausfließt, als das Schiff, mit oder ohne Fracht, schwer ist. Die Schleusenkammer wiegt also nach wie vor 842 000 Kilo, kein Gramm mehr oder weniger, sobald nur die Füllung genau bis zur Wasserstandsmarke reicht.

Es ist natürlich, daß das ganze auf den Kolben wirkende Gewicht der Schleusenkammern sich durch den Kolben fortpflanzt und hier einen hohen Druck von beiläufig 27 Atmosphären hervorbringt. Das Wasser sucht infolgedessen durch etwaige undichte Stellen der Stopfbüchse zu entweichen. Einestheils um diese Verluste zu ersetzen, anderntheils um die Hebevorrichtung bei verändertem Wasserstande, oder wenn der Maschinist seine Ventile unpünktlich gehandhabt hat, sowie außerdem zur Verrichtung von Nebenarbeiten, wie das Heben der Schützen, ist noch eine Vorrichtung erforderlich, die unsern Lesern unter dem Namen „Accumulator“, das ist Kraftsammler, wohl bekannt sein wird. Der Accumulator ist ähnlich eingerichtet wie die unter der Schleusenkammer befindliche Hebevorrichtung, der Kolben hat jedoch nur 54 cm Durchmesser und ist nur 8 m lang.

Mit Hilfe einer verhältnißmäßig kleinen Preßpumpe, die auch wieder vom Oberwasser des Kanales mittels einer Turbine getrieben wird, wird der Accumulator stets gefüllt gehalten. Jederzeit steht nun dem Maschinisten eine bedeutende Kraft zur Verfügung, die er durch Drehung eines Hähnchens entfesseln kann, um von ihr die erwähnten Arbeiten verrichten zu lassen. Auf diese Weise werden alle Arbeiten vom Wasser selbst besorgt und vier Mann genügen für die Bedienung der ganzen Anlage. [803] Die Accumulatorvorrichtung, die zur Sicherheit doppelt vorhanden ist, befindet sich in dem mittleren Thurme unseres Bildes. In den beiden Seitenthürmen befinden sich noch Ausgleichungsröhren von 2 m Durchmesser, welche bei jedem Hube das Gewicht der Wassersäule der Hebekolben ausgleichen und somit die Gleichförmigkeit der Bewegung vermehren. Eine noch weiter eingehende Beschreibung würde aber unsere Leser wohl ungeduldig machen.

Die Kosten der ganzen Anlage sind nicht unbedeutend und belaufen sich auf 1 870 000 Franken. Der Bau nahm einen Zeitraum von nahezu 5 Jahren in Anspruch. Durch die Anlage ist jedoch das angestrebte Ziel erreicht worden, der Kanal genügt jetzt wieder allen Anforderungen und wird selbst erheblich gesteigerten Ansprüchen gegenüber ausreichen.

Das Schenkendorfdenkmal zu Tilsit. (Mit Abbildung.) Am 21. September wurde zu Tilsit das Denkmal für Max v. Schenkendorf enthüllt, ein Werk des Bildhauers Martin Engelke in Dresden-Blasewitz. Es war eine überaus würdige, frohe Feier. Galt es doch, einem der besten Söhne der Provinz in Erinnerung an die ruhmreichste Zeit dieser „Wiege des preußischen Königthums“ ein seiner Bedeutung entsprechendes Denkmal zu weihen. Was in den kummervollen Tagen von 1806/1807 das preußische Königshaus zu Tilsit gelitten, was der König Friedrich Wilhelm III. in Memel und Königsberg in den folgenden Jahren zur Wiederaufrichtung des Vaterlandes geplant und geschaffen hat: es ist durch Schenkendorfs Lieder verherrlicht. Dem großen Gedanken der Befreiung des Vaterlandes waren alle seine Kräfte geweiht. Ihm verdanken wir auch das bekannte Lied „Freiheit, die ich meine“. Als Hausgenosse des Landhofmeisters von Auerswald war es ihm vergönnt, im Schlosse zu Königsberg das Antlitz der Königin Luise zu schauen und ihr in Liedern die felsenfeste Zuversicht auf eine Befreiung des heißgeliebten Vaterlandes vorzuführen. So hat Schenkendorf an seinem Theile dazu beigetragen, daß die edle Dulderin in Zeiten der [schwer]sten Noth die beseligende Hoffnung auf [eine] bessere Zukunft hegen durfte. Als aber am 19. Juli 1810 die schwergeprüfte Königin Luise an gebrochenem Herzen starb, da gab er dem Schmerze des gesammten Vaterlandes beredten Ausdruck:

Das Schenkendorfdenkmal zu Tilsit von Martin Engelke.
Nach einer photographischen Aufnahme von R. Minzloff in Tisit.

„Rose, schöne Königsrose,
Hat auch dich der Sturm getroffen?
Gilt kein Beten mehr, kein Hoffen
Bei dem schreckenvollen Lose?“

Endlich jedoch nahte der Tag der Befreiung! In derselben Stadt, welche den tiefsten Fall des Vaterlandes und die herbste Enttäuschung der Königin Luise gesehen hatte, sollte sich auch das Unglück wenden, als am ersten Tage des ewig denkwürdigen Jahres 1813 mit dem Erscheinen des Yorkschen Corps in den Straßen Tilsits jene heilige Begeisterung aufflammte, welche jung und alt um den König scharte und dem geknechteten Preußenvolke die Freiheit wiedergab. Und in dieser Stadt ist der Mann geboren, der der heiligen Streiter Ruhmesthaten durch seine Sangesweisen für alle Zeiten verherrlichte und der Sehnsucht nach einem einigen und mächtigen Vaterlande mit einem deutschen Kaiser an der Spitze beredte Worte verlieh. –

Diesem Gedanken hat der Künstler die lebendige Verkörperung gegeben in seinem Denkmal. Ein unten 41/2 Meter im Quadrat messender, nach oben sich verjüngender Stufenbau aus gestocktem Granit trägt einen reich gegliederten polirten Granitwürfel mit der Inschrift auf der Vorderseite:

„Max von Schenkendorf,
geb. in Tilsit d. 11. Dec. 1783,
gest. in Coblenz d. 11. Dec. 1817,“

auf der Rückseite des Dichters Schwur:

„Ich will mein Wort nicht brechen,
Will predigen und sprechen
Vom Kaiser und vom Reich.“

Auf diesem 31/2 Meter hohen Postamente steht die 2,80 Meter hohe Bronzebildsäule des Dichters. Hochaufgerichtet, Begeisterung auf dem edlen Antlitz, die Rechte zum Treuschwur erhoben, während die Linke die Lieder ans Herz preßt, steht in der Tracht der Freiheitskämpfer, schwertumgürtet die jugendlich straffe Kriegergestalt da, ein Bild der Kraft, in jedem Zuge „zugleich ein Sänger und ein Held“. E. K.     

Maximilians I. Rückkehr nach Gent. (Zu dem Bilde S. 784 u. 785.) Karl der Kühne, der mächtige Herzog von Burgund, war vor den Mauern von Nanzig den Streichen der siegreichen Eidgenossen erlegen und hatte sein stolzes Erbe einer zwanzigjährigen Jungfrau, seiner einzigen Tochter Maria, hinterlassen. Lange schon war diese Tochter dem Erzherzoge Maximilian, dem Sohne des deutschen Kaisers Friedrich III., verlobt, und es hatte sich der seltene und darum für menschliches Empfinden so wohlthuende Fall ereignet, daß wirkliche gegenseitige Liebe einem politischen Handelsgeschäft – denn das war die Verlobung der beiden gewesen – die Weihe gab. Erzählte doch eine hübsche Legende, daß in Marias Herzen schon das Bild des deutschen Kaisersohnes eine heiße Leidenschaft entfacht hätte. Und als nun nach ihres Vaters Tode Aufruhr im eigenen Lande und die Ländergier des französischen Ludwigs XI. die Einsame umdrohten, da eilte der ritterliche Maximilian herbei, seine Braut zu schützen und seine Rechte geltend zu machen. Bereits im April 1477, wenige Monate nach dem Tode Karls des Kühnen, fand durch Stellvertretung die Vermählung statt, welche für die Habsburger der Ausgangspunkt zur Gewinnung einer weltbeherrschenden Macht werden sollte. Am 18. August wurde die Hochzeit in Gent prunkvoll begangen, unter dem Jubel des Landes, das sich durch diese Wendung der Dinge der drohenden französischen Herrschaft glücklich entrückt sah.

Aber noch hatte Maximilian den neuerworbenen kostbaren Besitz in einem mehrjährigen wechselvollen Krieg gegen die Ansprüche Ludwigs XI. zu vertheidigen, und es gelang ihm auch, die nördlichen Provinzen, das heutige Belgien und die Niederlande, durch den Sieg bei Guinegate im Sommer 1479 zu behaupten. Max selbst hatte im Kampfe mit außerordentlicher Tapferkeit mitgefochten und mehrere Feinde mit eigener Hand getödtet. Um so größer war die Begeistermig für ihn, als der Sieger nun am 7. August 1479 heimkehrte zu seiner schönen Gemahlin nach Gent.

Das ist der Augenblick, den unser Bild darstellt. Auf der Freitreppe des Rathhauses begrüßt Maria ihren ruhmgekrönten Gemahl und bringt ihm den jungen Erstgeborenen des Hauses, Philipp, der später den Beinamen des „Schönen“ erhielt, entgegen. Mit glücklichem Aufblick zu der reizenden Gruppe zügelt Maximilian sein in prächtiges Stahlgewand gehülltes Streitroß und seine kampfesstarke Rechte erfaßt mit zärtlichem Druck das schmale Händchen der lieblichen Frau, die ihm nur zu kurz noch erhalten bleiben sollte. An allen Fenstern der engen Gasse zeigen sich die Köpfe der jubelnden Genter, und nur mit Mühe vermag der stämmige Hellebardier im Vordergrunde die drängenden Massen zurückzuhalten, die den glorreichen Helden gern in allernächster Nähe gesehen hätten.

Kaum 21/2 Jahre nachher, im Jahre 1482, starb Maria durch einen Sturz vom Pferde. Ihr Tod war das Zeichen zu einem allgemeinen Aufruhr im Lande, und nur unter schweren Opfern gelang es Maximilian, Ruhe und feste Ordnung wiederherzustellen. Jenes Knäbchen aber, das auf unserem Bilde dem reisigen Manne seine Aermchen entgegenstreckt, wurde der Vater Kaiser Karls V., in dessen Reich die Sonne nicht unterging. =     

„Trau, schau, wem!“ (Zu dem Bilde S. 793.) Wenn diese drei Wörtchen schon in der menschlichen Gesellschaft Geltung haben, um wie viel mehr müssen sie erst unter Bestien berechtigt sein, und dazu noch unter Bestien in Ostafrika, wo Kultur und Zahmheit erst ihren Einzug halten sollen! Da ist ja eine nette Gesellschaft am Rande des Dschungels zusammengerathen. Ein junger Löwe, der die Macht seiner Pranken ’mal probiren möchte, ein Kafferbüffel, einer von jener Sippe, die schon so viele Menschenleben und darunter die berühmter Forscher auf dem Gewissen hat, und als drittes im feinen Kollegium das hinterlistige Krokodil! Trau, schau, wem! Wird es wohl zum Kampf kommen? Wer wird Sieger bleiben?

Wir finden die Antwort auf diese Frage in dem interessanten, wenn auch über zehn Jahre alten Werke „Quer durch Afrika“ von Verney Lovett Cameron. Bei Gelegenheit seines Aufenthalts in dem heutigen „Deutsch-Ostafrika“ südlich von Tabora an dem Ngombefluß erzählt er eine „Jagdgeschichte“, welche den trefflichsten Text zu unserem Bilde abgiebt. Sie lautet:

„Während meiner Streifereien bemerkte ich die Ueberreste eines Löwen, eines Büffels und eines Krokodils, die in einem Haufen zusammenlagen, und man erzählte mir über diesen seltsamen Anblick eine merkwürdige Geschichte. Als nämlich einst ein Büffel zur Tränke gekommen, da sei ein Löwe auf ihn gesprungen, beide seien in das Wasser gefallen und da von einem Krokodil ergriffen worden; dieses wurde wieder durch die konvulsivischen Anstrengungen der beiden Thiere sechzig Fuß weit von dem Ufer geschleift, und da war dann das Trio in unlöslicher Vereinigung liegen geblieben.“

So weit der berühmte Reisende Cameron. Und die Moral von der Geschicht’? – Trau, schau, wem! *     


Kleiner Briefkasten.

(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

Dr. G. A. S. in B. Die ursprüngliche Skizze des Bildes in Halbheft 17 d. Jahrg. S. 537 „Leipziger Sommergartenleben zu Großvaters Zeiten“ ist von dem verstorbenen Major W. Berggold gezeichnet worden.

H. F. in B., Südamerika. Sollte wirklich das richtige deutsche Sprachgefühl Ihnen und Ihrer Umgebung soweit abhanden gekommen sein, daß Sie die „Gartenlaube“ fragen müssen, ob man „bei dem Buche“ sagt? „Bei das Buch“ ist ein mundartlicher Fehler, aus dem man beinahe die engere Heimath Ihrer tadelsüchtigen Verwandten erschließen könnte.

K. S. in Mücheln. Das Gedicht „Die Fürstengruft“ suchen Sie in Schillers Werken deshalb vergeblich, weil es nicht von Schiller, sondern von Chr. Friedr. Daniel Schubart ist.

[804]

Allerlei Kurzweil


Schachaufgabe Nr. 6.
Von Max Feigl in Wien.
Drudenfuß.
Damespielaufgabe.
Von Dr. E. S. Freund.

SCHWARZ

WEISS

SCHWARZ

WEISS

AAA D EE F III LL MM NNNN O P RR S TT
Vorstehende 25 Buchstaben sind in der Weise
an die Stelle der Punkte zu setzen, daß fünf siebenlautige
Wörter von folgender Bedeutung entstehen:
1–2: eine historisch denkwürdige Burg in der Rheinpfalz,
2–3: eine Festung an der Küste Dalmatiens,
3–4: ein berühmtes Fürstengeschlecht, 4–5: ein Fürwort,
5–1: ein kostbares Mineral.
Weiß zieht an und setzt mit dem dritten Zuge matt.
Weiß zieht und gewinnt.


Räthsel.
Charade.
Buchstabenräthsel.

Die Erste ein Punkt, unwandelbar fest
Trotz aller Bewegung der Erde,
Die Zweite ein Maß, mit dem man mißt
Die großen Flächen der Erde,
Die Dritte ein Licht, das fernher scheint
Der Erde dunklen Räumen,
Das Ganze ist, was Drei dir nennt,
Ein Punkt in fernen Himmelsräumen.


Ernst Kornrumpf.

Mein erstes Silbenpaar benennt
Das gegnerische Element.
Mein zweites Silbenpaar zumeist
Der Spanier stolz als Dichter preist.

Sind beide Paare dann verbunden,
Hast du ein schlankes Thier gefunden.


Oskar Leede.

Der Freude scheint’s, dem Leid, dem Sch[...]
Und immer führt es himmelwärts,
Doch bringt es Schmerzen meist [und Weh,]
Giebst du ihm statt des u ein b

Homogramm.
Altägyptische Papyrusrolle.
Dominopatience.

Die Buchstaben dieser Figur sind so zu
ordnen, daß vier sechslautige Wörter entstehen,
welche von rechts nach links und von
oben nach unten gelesen gleichlautend sind.

Die Worter bedeuten:
1. ein Metall, 2. einen männlichen Vornamen,
3. einen berühmten Chemiker, 4. eine Stadt in Hannover.

Aus den 28 Steinen eines gewöhnlichen
Dominospiels ist die nebenstehende Figur in
der Weise zu bilden, daß die Augensumme
jeder wagerechten, jeder senkrechten und jeder
der beiden diagonalen Reihen 21 beträgt.
Die gegebenen elf Steine dürfen nicht um-
gelegt werden.  A. Stabenow.



Soeben ist erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:
Wild-, Wald- und Weidmannsbilder von Guido Hammer.
Mit Illustrationen vom Verfasser. Elegant gebunden in Prachtband. Preis 6 Mark.

Dieses Buch bildet eine Sammlung der im Laufe einer langen Reihe von Jahren in der „Gartenlaube“ erschienenen bekannten Schilderungen.

Der Verfasser, welcher von Jugend an im Genießen und Beobachten der eigenartigen Schönheit des Waldes mit seinem mannigfach anregenden Leben seine schönste Lebensfreude gefunden hat, sucht das, was er dem geliebten Walde abgelauscht, in schlichter und getreuer Wahrheit durch Stift und Pinsel wiederzugeben und ergänzt die charakteristischen Bilder durch lebhaft erzählte ansprechende Geschichten.

Die „Wild-, Wald- und Weidmannsbilder“ haben sich bei ihrem Erscheinen in der „Gartenlaube“ stets reichsten Beifall errungen und werden in ihrer Zusammenfassung in einem stattlichen Buche gewiß auch zahlreiche Freunde finden. Für Förster, Jäger und Jagdfreunde, sowie überhaupt für alle diejenigen, welche Sinn für Natur und den Zauber des Waldes haben, bildet der stattliche Band das passende Weihnachtsgeschenk.

Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.

Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Nr. 21 und 22.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: sragten