Die Gartenlaube (1891)/Heft 1
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Nr. 1. | 1891. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Alle Rechte vorbehalten.
Eine unbedeutende Frau.
Und nun, alter Bursche, will ich Dir alle Deine Fragen beantworten, nachdem ich meiner Freude, von Dir nach fünf Jahren endlich wieder ein Lebenszeichen zu besitzen, auf zwei
langen eng beschriebenen Seiten Ausdruck gegeben habe. Noch
einmal, Du glaubst nicht,
welch ein Jubel Dein Brief
in mir hervorrief; doch das
sagte ich ja schon.
Also, Du fragst zuerst: ‚Was ist aus Dir geworden?‘ - Lieber Wolf, ich habe ein neues Leben angefangen wie Du; ob aber ein besseres? Urtheile selbst!
Als Du mir damals in Berlin zum letzten Male die Hand drücktest, ehe Du in den Wagen dritter Klasse des Hamburger Zuges sprangst, der Dich dem nach Brasilien bestimmten Dampfboot entgegenführte, da blieb ich noch eine ganze Weile, nachdem der Zug längst verschwunden war, dort stehen mit dem Bewußtsein, daß ich am besten gethan hätte, mitzugehen, denn im lieben Vaterlande hatte ich eigentlich nichts mehr zu suchen. Du weißt ja - keinen Pfennig, oder doch nur noch recht wenig Geld in der Tasche, meine Bilder unverkauft, und dazu einen Vater, der mir vor kurzem zugeschworen hatte, er könne mir keine Unterstützung mehr gewähren aus dem einfachen Grunde, weil er seit seiner Pensionirung mit Frau und Tochter selbst am Hungertuche nage.
Warum ging ich eigentlich nicht mit Dir? Ich weiß es nicht mehr. Kurz und gut, ich blieb im Lande und fuhr am andern Tage mit meiner gesammten Habe, d. h. mit einigen Thalern, die mir ein Freund geliehen – Andreas, weißt Du - und mit meinem Malgeräth in den Harz. Du kennst das einsame Forsthaus in der Brockengegend, kennst die niedrige Stube über der Küche und die rothhaarige junge Förstersfrau mit dem blendend weißen Teint und den eigenthümlich rothbraunen Augen, ein schönes Weib. Erinnerst Du Dich noch, wie der launige Gesell, der Förster, uns an einem Sturmabend erzählte, sie sei eigentlich eine Hexe, die ihm am letzten April just um Mitternacht durch den Schlot in seine einsame Küche huschte, sie habe auf ihrem Besenstiel hoch oben in den Lüften das Gleichgewicht verloren und auf diese Weise einen anständigen Mann bekommen. Ich höre immer noch ihr Lachen dazu; eine Hexe war sie wirklich. Nun, also dort wollte ich malen wie schon manches Iahr und mein Schicksal abwarten; es mußte ja doch ein Bild verkauft werden in München oder Berlin.
Erlasse mir die Beschreibung jener Zeiten. Im Juni ging ich hinauf, der Herbst fand mich noch dort - ohne Mittel. Ich hatte nicht Lust, dem Rathe meines Vaters zu folgen, der mir vorschlug, Dekorationsmaler oder Tüncher zu werden, und eines Tages ging ich in schwer zu
[2] beschreibender Seelenstimmung ziel- und planlos im Walde umher, hatte mir ein Gewehr des Försters geborgt, und als ich an einer, wie ich glaubte, sehr einsamen Stelle war, setzte ich den Lauf gegen die Brust und drückte ab. Ich schoß mich – nicht todt, wie ich gehofft hatte, aber doch recht krank.
Nun kommt die bekannte Geschichte von Bewußtlosigkeit, von Wiedererwachen in einer traulichen Stube, von einer holdseligen Pflegerin am Bette, in die man sich von rechtswegen verliebt und die man dann später heirathet. Und bis auf das Verlieben kam es auch wirklich so. Als ich nach langem Siechthum zum ersten Male – es war April geworden – in den Garten des Herrn Hüttenbesitzers Frey hinunter ging, fragte ich Fräulein Anna Frey oder ‚Antje‘, wie sie genannt wurde – die Mutter ist Holländerin von Geburt – ob sie mich armen Kerl wohl nehmen würde, und sie that es ohne Besinnen. Was sie dazu bewogen hat, ist mir bis heute noch nicht ganz klar geworden. Ich war dazumal, weiß Gott, kein irgend wie verlockender Freier, von Liebe habe ich ihr auch nichts vorgeredet, und dennoch sagte sie Ja, trotzdem beide Eltern unverkennbar lange Gesichter zu der Wahl ihres Kindes machten.
Wir waren kaum verheirathet, noch auf der Hochzeitsreise, als ihr Vater starb. Sie wäre nun am liebsten bei ihrer Mutter auf dem einsamen Hüttenwerk geblieben, wo Tag und Nacht die Hämmer pochten; sie meinte, die Mutter würde uns dort gern eine lauschige Villa in den Wald hinein bauen, von wo Antje in vier bis fünf Minuten das Vaterhaus erreichen könnte. Selbstverständlich wollte ich das nicht – es graute mir vor dieser schwiegermütterlichen Idylle, und so ließ sie denn die stattliche Mutter allein in der Heimath, denn diese hatte sofort nach dem Tode des Gemahls mit kräftiger Hand die Zügel des großen Geschäftes ergriffen und leitete dasselbe ebenso gewandt und sicher wie ihr Seliger. Antje aber zog mit mir aus, ein neues Heim zu suchen.
Wir fanden es hier in der nächsten Umgebung Dresdens. Es ist ein stattliches altes Gebäude am Fuße der Weinberge, doch immer noch hoch gelegen über der Elbniederung, inmitten eines großen parkartigen Gartens. August der Starke hat es einst erbaut, um einer seiner Damen ein Geschenk damit zu machen; ‚Sibyllenburg‘ heißt die Besitzung. In dem obern Saal – er war schuld, daß wir dieses Nest kauften - habe ich mir ein Atelier eingerichtet, das auch dem verwöhntesten Künstler genügen würde; es durchmißt die Tiefe des ganzen Hauses und ist getheilt durch einen großen Smyrnavorhang. Am Nordfenster steht meine Staffelei; an der offnen Balkonthür gen Süden mein Schreibtisch, und hebe ich den Blick, so sieht mein Auge über das terrassenförmig abfallende Vorland, über Landhäuser, Dörfer und grüne Felder hinweg zu den Bergen jenseit der Elbe; nach rechts bis dorthin, wo die Albrechtsburg sich über Meißen erhebt, nach links bis zu den Thürmen Dresdens. Will ich in die Residenz, so lasse ich anspannen oder fahre mit einem der Kurierzüge, die im Dorfe halten müssen, weil die Verbindung – –
Aber, mein Gott, ich vergesse Dein Hauptanliegen – ja, es ist dick unterstrichen in Deinem Briefe: ‚Vor allem erzähle mir von Deiner Frau!‘
Alter Junge, wie soll ich das anfangen, ohne, ehrlich gesagt, langweilig zu werden? Du fragst: ‚Ist sie eine von den schlanken, kapriciösen, temperamentvollen Frauen, die Du so sehr bevorzugtest, als wir noch Berlin unsicher machten?‘ Nein, Wolf, nein! Sie ist nicht brünett, sie ist blond, goldblond, wie Tizian das Frauenhaar so gern malte; sie ist groß, aber – ‚wie die Palme windgebogen?‘ O nein! Viel eher wie eine kraftvolle junge Buche in ihren heimathlichen Wäldern; man würde sie, ohne ihr zu schmeicheln, eine hübsche stattliche Frau nennen können. Sie hat zu ihrer Größe einen zierlichen runden Kopf, ein volles Gesicht mit kurzem geraden Näschen, einen rothen Mund, den sie sehr oft zu schließen vergißt, was ihr den Ausdruck kindlicher Verwunderung giebt, und ein Paar klarer grünlichbrauner Augen. ‚Nixenaugen‘ nennt man solche; sie können still und unergründlich unter den langen dunklen, etwas nach oben gebogenen Wimpern hervorsehen. Aber Wolf, Du bist mein ältester und bester Freund, Dir darf ich es sagen, diese Unergründlichkeit trügt – es ist nur seichtes Wasser. – – –
Ich mache da eine ganze Reihe Gedankenstriche, wie soll ich es nur aus der Feder bringen? Von Temperament, Wolf, nicht eine Spur! Ich muß es leider eingestehen, sie ist eine unbedeutende Frau.
Ich will Dir ein Pröbchen erzählen: Auf der Hochzeitsreise waren wir in Haarlem, dem Geburtsort ihrer Mutter. Antje strahlte vor Entzücken, das hochgieblige alte Haus am Markt, in dem die ehrenwerthe Dame das Licht der Welt erblickt hatte, nach der Beschreibung richtig gefunden zu haben. Sie wäre am liebsten hineingegangen und hätte die braven Leute, die dort innen beim Mittagessen saßen, gebeten, ihr die Besichtigung sämmtlicher Säle und Zimmer zu gestatten. Ich mußte fast Gewalt anwenden, um sie fortzubekommen, indem ich sagte: ‚Komm, Kind, mich zieht’s vor allem zu Franz Hals.‘ – Sie sah mich mit offenstehendem Mündchen an. ‚Franz Hals?‘ fragte sie endlich, ‚wer ist das? Wo wohnt er? Ich wußte gar nicht, daß Du hier einen Bekannten hast, Leo.‘
Ich kann Dir nicht beschreiben, Wolf, wie mir war in jenem Augenblicke! ‚Das ist die Frau eines Malers, deine Frau!‘ sagte ich mir. Ich glaube, ich wurde heftig, ich beschämte sie über ihre Unwissenheit, sagte ihr, ich begriffe nicht, daß sie den Namen eines der gottbegnadetsten niederländischen Künstler nicht kenne, da sie doch holländisches Blut in ihren Adern habe! Sie folgte mir stumm und niedergeschlagen und trat pflichtschuldigst ebenso stumm neben mir vor die wunderbaren Bilder, um mich hinterher leise zu fragen. ‚Sind sie wirklich so schön, diese Gemälde?‘
Barmherziger! Wolf, ich war ganz geknickt. Und so ist’s in allem. Ich rede sie an, bei Tische zum Beispiel – sie schlägt die unergründlichen Augen auf und fragt: ‚Wie sagtest Du, Leo?‘ Ich wiederhole meine Worte – ‚So? Das weiß ich nicht.‘ Oder ‚Ach!‘ oder, was noch schlimmer ist, sie will auf das angeregte Gespräch eingehen, wird roth, stottert, verwechselt die Begriffe und nöthigt mir endlich krampfhaft eine allerdings prächtig zubereitete Schüssel auf, denn Kochen und Haushalten, Freund, das versteht sie meisterhaft.
Du sagst vielleicht: ‚Das ist doch schon etwas, und zwar etwas Gutes.‘ Aber, von meiner Gefährtin verlange ich mehr. Sie soll mich in meinem Berufe verstehen, und doch ist, wie Du schon aus alledem ersehen kannst, keine Möglichkeit, mit ihr über Kunst zu reden. Das arme Kind ist ganz entschieden farbenblind, sie verwechselt van Eyck und van Dyck, spricht vom Lackiren der Oelbilder, ich bekomme Beängstigungen, werde unangenehm, sie weint und verläßt das Zimmer und wir versöhnen uns endlich an der Wiege unseres Töchterchens, das genau mit den nämlichen Augen in die Welt guckt, genau das Mündchen so aufsperrt und, leider, genau so ‚einfach konstruirt‘ zu sein scheint wie seine Mama.
Ich sagte vorhin, sie weint nach solcher Srene – sie weint aber auf ihre Art. Sie schließt dann den Mund, seine Winkel senken sich, zucken, und urplötzlich hängen an den krausen Wimpern zwei große Tropfen; man begreift gar nicht, wie dieselben so rasch dahingezaubert wurden. Kein Zug ihres Gesichtes verändert sich sonst, sie ringt nicht die Hände wie andere, sie schluchzt nicht laut, kein Taschentuch wird zum Auswinden naß, sie tritt nicht mit den Füßen auf, wirft sich nicht in einen Stuhl, sie stößt auch keine Vase vom Tisch – es geht alles mäuschenstill ab. Nie werden die Dienstboten etwas von einem Zwiste gewahr, aber – bei Gott, mir wäre etwas anderes lieber!
Mit einem Worte, Wolf, ich wählte sie ja in kopfloser Eile, um mich zu retten, ich bin in jeder Weise ihr Schuldner. Ich verkenne ihre guten Eigenschaften durchaus nicht, und doch – es ist schwer!
Du fragst mich, ob ich Maler geblieben sei? Ja! – Und ob ich glücklich dabei sei? – Das ist schwer zu beantworten. Ich bin gewiß, ich hätte meinen Weg gemacht, wenn nicht meine Frau – ich will es Dir erklären: Ich weiß ja, Wolf, Du hast immer nichts wissen wollen von meinem Beruf, Du hast mir einmal in einer ernsten Stunde, die fast das Band unserer Freundschaft zerrissen hätte, herbe Worte gesagt; Du meintest, ich würde es nie über einen gewissen Dilettantismus hinausbringen. Ich sollte mein Talent nur dazu verwerthen, um mir, neben einem andern soliden Beruf, der mich ernährte und befriedigte, Erholung zu suchen, das wäre das Rechte. – Ich weiß es noch so genau, hundertmal habe ich daran gedacht bei meinen Mißerfolgen. Aber glauben kann ich dennoch nicht daran, und so habe ich denn weiter gemalt. Einmal gelang mir auch ein glücklicher Wurf, ich verkaufte das Bild der rothhaarigen Wäldschönheit unter dem Titel: ‚Brockenhexe‘ und erlebte die Freude, es gut kritisirt zu sehen. Aber seitdem? Ich malte nach wie vor, ich malte Genrebilder und malte Landschaften, niemand wollte die armen Dinger kaufen, obgleich tausendfach geringere Leistungen an den Mann kommen. Niemand [3] besprach sie; nicht einmal einen Tadler fanden sie. In den Ausstellungen gab man ihnen die ungünstigsten Plätze; entweder hingen sie in den dunkelsten Ecken oder in gänzlich falscher Beleuchtung, sämmtlich aber kehrten sie mit rührender Anhänglichkeit in die Arme ihres Urhebers zurück. Glücklicherweise ist noch massenhaft Platz in unserem großen Hause, und wenn er im Laufe der Zeiten zu knapp wird, so kann ich Dich mit bemalter Leinwand versorgen, denn – aber nun höre:
Als unser Töchterchen ungefähr ein viertel Jahr alt war, trat ich eines Tages in die Wohnstube meiner Schwiegermutter – wir hatten damals noch kein eigenes Heim; diese Besitzung war zwar schon gekauft, aber noch nicht eingerichtet, und ich hielt mich nur meiner Frau und des Kindes wegen in dem stillen Waldthal auf – also, ich trete in die Wohnstube meiner Schwiegermutter und stehe plötzlich vor einem Bilde, das mich fesselt und begeistert. Es war, dank den alten hundertjährigen Lindenbäumen vor den Fenstern, ein wahrhaft Rembrandtsches Helldunkel in dem Raum, und nun denke Dir einen antiken Lehnstuhl inmitten der wunderlich holländisch ausstaffirten Wohnstube, an deren Wänden alte Fayenceteller und nachgedunkelte Familienbilder hängen. Denke Dir in diese Umgebung eine Frauengestalt, die ihren Kopf zu dem Kinde in ihrem Arme niederbeugt. Ein einzelner leuchtend goldener Sonnenstrahl umwebt das schimmernde Blondhaar genau mit dem Strahlenschein, wie ihn Raphael der Sixtinischen Madonna gegeben hat. Es war das erste Mal, Wolf, daß ich entzückt, ja hingerissen wurde von meiner Frau.
‚Antje,‘ sagte ich, ‚so will ich Dich malen!‘
Sie hob den Kopf und lächelte mich freundlich an. Am andern Tage begann ich. Es wurde ein schönes Bild, Wolf; die es gesehen haben, behaupten es alle. Es würde Aufsehen gemacht haben in der Kunstausstellung. Dabei war es sprechend ähnlich. Sie saß in dem wunderlichen Lehnstuhl, in dem weißen duftigen Morgenkleid, den Kopf hinuntergebeugt zu dem Kleinen, und der Sonnenstrahl umleuchtete das Blondhaar; kein Madonnenbild, und doch daran gemahnend, nur menschlicher, rührender, mehr zum Herzen sprechend.
Es klingt Dir lächerlich, Wolf, daß ich mein eigenes Werk lobe, ich kann Dir nicht einmal beweisen, daß es dieses Lob verdient, denn – das Bild existirt nicht mehr. Als ich es nämlich einpacken lassen wollte, um es nach Berlin zu schicken in die Ausstellung, da erklärte meine Schwiegermutter, sie wünsche nicht, daß ihre Tochter so ausgestellt werde, es sei unpassend, es sei unmoralisch, und sie begreife nicht, wie ich Antje im Morgenkleide so vielen fremden Blicken preisgeben möge.
Ich schaute sie völlig erstarrt an; da bat auch Antje, dunkelroth erglüht, ich möchte das Bild für mich behalten. Auch sie schien es als einen Mangel an Feingefühl zu empfinden, daß ich ein Porträt von ihr ausstellen wollte. Ich sah von der Lebenden auf die Gemalte und begann, geduldig ihr die Gründe auseinander zu setzen, die mich drängten, das Bild, gerade dies, öffentlich zu zeigen. Sie hörte mich mit niedergeschlagenen Augen an, und als ich am Schluß meiner langen Rede sie davon überzeugt zu haben glaubte, daß man nicht das Recht habe, ein Kunstwerk zu verstecken, daß es Pflicht für sie und für mich sei, mit diesem wirklich gut gemalten Bilde einen Schritt vorwärts zu thun in der Welt, daß fast alle großen Künstler ihre Frauen gemalt hätten zur Freude ihrer Mitmenschen, schüttelte sie den Kopf und wiederholte ihr flehendes: ‚Ach, bitte, thue es nicht, Leo!‘ zum hundertsten Male.
Noch gab ich den Kampf nicht auf, aber nach drei Tagen endloser Mühe von meiner und beharrlichen Weigerns von ihrer Seite riß mir die Geduld, ich wurde heftig und zerschnitt mit einem scharfen Federmesser ritsch ratsch die Leinwand kreuz und quer, beauftragte dann den Diener, Feuer im Kamin zu machen, und verbrannte sie eigenhändig. Antje stand dabei, bis das letzte Restchen verglimmte, sah kreideweiß aus und verschwand, ohne ein Wort zu sagen. Uebrigens habe ich unter der Geschichte mehr gelitten, als Du hier herauslesen kannst.
Seitdem habe ich meiner Frau zu verstehen gegeben, daß mir ihre Gegenwart in meinem Atelier nicht gerade erwünscht ist – und sie hat mich verstanden; sie hat den Raum, nachdem sie bei der Einrichtung desselben geholfen, nicht wieder betreten. Was kann sie denn da auch interessiren?
Ich male nun weiter. Früher that ich es aus Ehrgeiz und aus Hunger, jetzt ist mir der Ehrgeiz geblieben, aber er brennt schlimmer, als er es jemals im Verein mit der Noth gethan hat. Ich suche nach einem Gegenstand, der mich begeistert, und ich finde nichts. Augenblicklich steht zwar wieder eine Leinwand auf meiner Staffelei, ein Frauenporträt. Ich male nämlich unsere Nachbarin, die Baronin Erlach, eine interessante Person, Witwe von zweiunddreißig Jahren. Sie nahm als achtzehnjähriges Mädchen einen Mann von Vierundsechzig, der naturgemäß starb, als sie eben sechsundzwanzig wurde. Ihre beiden Söhne hat sie im Kadettenhause; sie selbst ist, wenn nicht hier in ihrem alten prächtigen Landhause, überall und nirgends, etwa in Paris, London, Petersburg; weder das Nordkap noch die Pyramiden sind sicher vor ihr. Sie kennt die Welt durch und durch, ist heiter, witzig, mitunter ein klein wenig boshaft und besitzt das Aeußere einer Frau, die mehr im Kerzenschein als im Sonnenlicht lebt. Blaß, zart, schlank, hat sie große braune Augen mit jenem eigenthümlichen Ausdruck, wie starke Kurzsichtigkeit ihn zuweilen verleiht, und der oft von bestechender Wirkung ist, hilfesuchend, sanft, was zu dem sonst muthwilligen Gesichtchen kaum passen will. Ich male sie in der reichen spanischen Tracht einer Edeldame des sechzehnten Jahrhunderts, in der perlengeschmückten Stuarthaube, dem hochstehenden Spitzenkragen und im blutfarbenen Sammetkleid, das den Hals frei läßt. Sie kommt jeden Morgen um neun Uhr und bleibt gewöhnlich zum Mittagsmahl bei uns. Bevor das Bild in dem Dunkel seiner Bestimmung verschwindet – sie thut sehr geheimnißvoll mit dem Namen des künftigen Besitzers – will ich es in Dresden ausstellen, wohlgemerkt, lieber Wolf, wenn ich je dazu komme, es zu vollenden. Denn Antje – da ist wieder ein neues Hinderniß – besitzt außer vielen andern ehrbaren sittigen Eigenschaften auch noch die einer philiströsen Eifersucht. Sie liebt die Baronin nicht, zeigt es ihr auf alle Weise, und gestern setzte sie ihrer eiskalten Zurückhaltung die Krone auf, indem sie einfach während des Nachtischs verschwand, vertrieben durch ein paar Anekdoten, die ihre tugendhafte Anschauung verletzt zu haben scheinen. Es hatte zur Folge, daß das liebenswürdige Original der spanischen Edeldame sehr bald aufbrach und heute ihr Ausbleiben mit einem nervösen Kopfschmerz entschuldigte, der zwar gut erfunden ist, mich doch aber gründlich aufklärte darüber, daß ich als Ehemann unter den Unarten meiner Frau mit zu büßen habe.
So steht es, Wolf; Du siehst, ich bin noch immer der alte, der nämliche Phantast, der die nüchterne Wirklichkeit verabscheut, sie vergeblich zu vergolden sucht; der leidenschaftliche Mensch mit dem übervollen Herzen, der immer das Unglück hat, da, wo er sich ganz geben möchte, mit einem kalten Wasserstrahl begrüßt zu werden. Wolf, kannst Du mir nachfühlen, was es heißt, in kleinlicher Umgebung zu leben?
Sieh, ich bin gewiß, sie ist die bravste, die rechtschaffenste Frau; den Begriff ‚Leidenschaft‘ kennt sie nicht, sie wird nie einen Schritt vom Wege der Pflicht, der Ehre abweichen, aber sie wird auch einen solchen nie verzeihen und, was schlimmer ist, nie verstehen. Wir sind Feuer und Wasser zusammen.
Komm bald! Ich hole Dich von Dresden ab.
Dein Leopold.“
Der Schreiber dieser Zeilen faltete die verschiedenen Bogen zusammen, steckte sie in einen Briefumschlag, adressirte, siegelte und saß dann einige Minuten, zurückgelehnt in seinem Armstuhl, völlig bewegungslos. Die herbstliche Abendsonne warf einen hochrothen Schimmer in den reich ausgestatteten vornehmen Raum, sie ließ die matten Farben in den Smyrnadecken, mit denen der Saal getheilt und das Parkett belegt war, glühend aufleuchten und bestrahlte die Gemälde in breiten funkelnden Goldrahmen an den Wänden hinter dem Rücken des Mannes. Es waren meistens Landschaften, aber auch einzelne Porträts, Studien, alles eigenthümlich gemalt. Leo Jussnitz huldigte der kernigen Pinselführung der modern realistischen Schule; skizzenhaft, aber keck waren sie hingeworfen, die knorrigen Eichen, die Wolken am Gewitterhimmel, der grell beleuchtete See. Die Schilfkolben im Vordergrund warfen fast Schatten, so dick war die Farbe aufgetragen. Man konnte nicht leugnen, es lag Stimmung in diesen Landschaften, aber das Dilettantenhafte war durchaus nicht zu verkennen.
Leo selbst blickte zu einem Gemälde hinüber, das sich hinter dem flachen Schreibtisch auf einer Staffelei erhob. Es war ein Frauenbildniß, lebensgroß; eine schlanke Gestalt in rothem Sammetgewand, lehnte sie an einer Säule und blickte mit schmachtenden
[4][5] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [6] braunen Augen dem Beschauer entgegen. Mit dem braunen Haar, dem müden Lächeln um den Mund, der viel zu üppig geformt war für das schmale, krankhaft blasse Antlitz, ähnelte sie einer Makartschen Schöpfung.
Ein zufriedenes Lächeln glitt über das brünette Gesicht des Malers, dem ein wohlgepflegter Schnurrbart etwas soldatenhaft Flottes verlieh. Er erhob sich, schritt zu dem Nordfenster hinüber und trat vor die Staffelei, auf welcher das Bild der schönen Baronin stand. Dort tauchte er den Finger in eine Glasschale, die mit Wasser angefüllt auf einem Tischchen stand, und strich damit über das Haar, das unter dem Perlenrand des Stuarthäubchens hervorquoll. Die goldigen Reflexe in den kastanienbraunen Wellen traten jetzt noch deutlicher hervor, und ein Ausdruck der Befriedigung erhellte sein Gesicht. Er nickte dem schönen Frauenantlitz zu, trat zum Fenster, öffnete und rief hinunter: „Den Wagen in zehn Minuten!“ Dann verschwand er in einem Nebenzimmer und vertauschte in wenigen Augenblicken das braune Sammetjackett mit einem feinen Promenadenanzug, fragte den Diener, ob die gnädige Frau in ihrem Zimmer sei, und als dieser antwortete, er glaube, daß Frau Jussnitz sich im Souterrain befinde, zog er einen Augenblick die Stirn in verdrießliche Falten und befahl, der Gnädigen zu sagen, daß er zum Abend nicht daheim sein werde. Eine brennende Cigarette zwischen den Fingern, stieg er eilig die Treppe hinunter; um keinen Preis hätte er die Wirthschaftsräume betreten.
Im Flur, vor einem riesenhaften alterthümlichen Wäscheschrank, dicht hinter der breiten Treppe, stand eine junge Frau; sie trug ein schlichtes schwarzes Seidenkleid, darüber ein sehr kostbares Fichu von alten schönen Spitzen, auf die Art geknüpft, wie es einst die schöne Königin Marie Antoinette liebte. Am Arme hing ihr ein Schlüsselkörbchen und ihre Hände schienen planlos zwischen den Leinenschätzen zu tasten, denn sie schob und zerrte die mit peinlicher Sorgfalt geordneten Packete hin und her, ohne etwas herauszunehmen. Jetzt wandte sich dem Hausherrn ein junges blasses Antlitz zu, und ein Paar wunderbar klarer grünlicher Augen sah angstvoll fragend zu ihm hinüber.
„Leo,“ scholl es leise hinter ihm, „Leo, willst Du ausfahren?“ Er wandte sich rasch um. „Wie Du siehst, Antje,“ sagte er mit der Miene eines Menschen, der ärgerlich ist, aufgehalten zu werden.
Das bleiche Frauengesicht röthete sich bis unter das goldige zitternde Stirnhaar. „Heute, Leo?“
„Allerdings! Oder hattest Du andere Wünsche?“ Es klang sehr kühl und sehr ungeduldig.
Sie lehnte am geschnitzten Schrank und wand die zierlichen blauen Bänder, welche die blendende Wäsche zusammenhielten, verlegen zwischen den Fingern. Das zarte Rosa ihres Gesichtes hatte sich zu einer wahren Purpurröthe gesteigert.
„Ich dachte, Leo,“ begann sie, hielt aber inne vor dem Blick, der sie traf.
„Du wünschest, daß ich hier bleibe, Antje? Das hättest Du früher sagen sollen, ich würde dann abtelegraphirt haben. Jetzt ist es zu spät, ich werde erwartet.“
„Du wirst erwartet, Leo? Das ist etwas anderes!“ sagte sie. Es lag eine merkliche Veränderung in ihrer Stimme, so wie jemand redet, der heftige Schmerzen leidet. Ihm entging es wohl, denn er fragte: „Hast Du etwas zu besorgen in Dresden, Antje?“
„Nichts, Leo –“.
„Dann guten Abend!“ Er hatte ihre Hand flüchtig an die Lippen gedrückt und war gegangen.
„Diese verdammte Gelassenheit!“ flüsterte er beim Einsteigen; „wenn diese Frau auch nur einmal bitten wollte, einmal trotzen – immer und ewig dasselbe Einerlei; selbst ihre Art, eifersüchtig zu werden, ist von ausgesuchtester Langweiligkeit. Der Wäscheschrank und die Küche sind ihr A und O.“
Er sah im Fortfahren unwillkürlich hinauf zu ein paar Fenstern im ersten Stock; dort preßte sich ein Kindesgesicht, von blondem Haar umrahmt, an die Scheiben. Er warf eine Kußhand hinauf, aber die Kleine rührte sich nicht, auch nicht ein Zug des Erkennens glitt über die weichen Züge.
„Die ganze Mutter!“ murmelte er und fuhr in den rothdämmernden Herbstabend hinaus. „Die ganze Mutter!“
Unschuldig verurtheilt!
Als wir im vorigen Jahrgang das Kapitel von den Verurtheilungen Unschuldiger, welches die „Gartenlaube“ bereits mehrfach beschäftigt hat, wieder aufnahmen, konnten wir der Hoffnung Ausdruck geben, daß die Entschädigung solcher Opfer der irrenden Justiz bald eine gesetzliche Regelung erfahren werde. Diese Aussicht hat sich inzwischen durch die Wiedereinbringung eines dahinzielenden Antrags im Deutschen Reichstage verstärkt, und es könnte uns keine größere Freude bereitet werden, als wenn das erstrebte Ziel thatsächlich erreicht würde. In Erwartung dessen fahren wir mit unseren Veröffentlichungen einzelner besonders lehrreicher Fälle von Verurtheilungen Unschuldiger fort.
Ein bezeichnendes Beispiel, wie durch eine seltsame Verkettung zufälliger Umstände der Verdacht eines verübten Verbrechens mit scheinbar zweifelloser Gewißheit begründet und durch dieselbe Verkettung des Zufalls gleichzeitig wieder beseitigt wurde, ist das folgende.
Der Pfarrer von Wegby in England hatte im Jahre 1861 während einer längeren Abwesenheit vom Orte die Frau seines Küsters, Martha Smith, als Hüterin des Pfarrhauses bestellt. Sie schlief allein in dem geräumigen Hause. Als der Küster eines Morgens in gewohnter Weise seine Frau dort abholen wollte, fand er sie – es war an einem Montag – als Leiche am Boden liegen. Ihre Hände und Füße waren mit hanfenen Stricken zusammengebunden, ein Tuch ihr übers Gesicht gezogen, ein Strumpf ihr in den Hals gesteckt; ein Knüttel von Buchenholz lag im Zimmer. Nahe an der Schulter fand man ein mit Bindfaden geschnürtes Packet, welches verschiedene Papiere in deutscher Sprache enthielt, darunter ein Dienstbuch für „Karl Kranz in Schandau“ mit der üblichen Personalbeschreibung, einen Brief ohne Adresse mit der Unterschrift „Adolf Mohn“, ein an eine Dame gerichtetes Unterstützungsgesuch und den Empfehlungsbrief einer deutschen Opernsängerin in London, am Tage vor dem Morde geschrieben. Bald darauf wurde in London ein deutscher Handwerksbursche Namens Karl Kranz einer unerheblichen Uebertretung wegen festgenommen. Die Beschreibung im Dienstbuche paßte genau auf ihn. Eine Handelsfrau, die Witwe Blout, beschwor, daß sie am Sonntage früh Hanftau an zwei Ausländer verkauft habe, deren einer dem Kranz geglichen habe. Auch ihre Magd bestätigte dies. Der buchene Knüttel aber paßte genau zu einem abgebrochenen Baumaste in einem nahe bei dem Thatorte gelegenen Dickichte, in welchem ein Zeuge am Sonntag ebenfalls zwei unbekannte Bursche hatte vorbeigehen sehen, von denen der eine dem Kranz ähnelte. Beim Durchsuchen der Wohnung des Kranz in London endlich fand man, daß ein demselben gehörendes Hemd mit einem hanfenen Stricke zusammengebunden war von gleicher Beschaffenheit wie die Stricke, mit denen die Ermordete gebunden war, und der auch zu dem Ballen paßte, von dem die Frau Blout für den Fremden abgeschnitten hatte. Es war nämlich ein Gespinst von ganz besonderer Art. Bei einer solchen Häufung von Verdachtsgründen konnte kaum noch ein Zweifel bestehen, daß Kranz der Mörder der Küstersfrau sei.
Und nun die Lösung!
Karl Kranz war im Frühjahr 1861 nach England ausgewandert. Nachdem er in Hull gelandet war, nahm er zu Fuß den Weg nach London. Unterwegs begegnete er zwei Landsleuten, den Matrosen Adolf Mohn und Wilhelm Gerstenberg. Der letztere besaß keine Papiere und drang daher fortwährend in Kranz, daß er ihm sein Dienstbuch überlassen solle, was Kranz indeß ablehnte. Als aber die drei miteinander im Freien übernachteten waren am Morgen die beiden Matrosen verschwunden, zugleich mit ihnen das Kranzsche Dienstbuch und ein Packet, in dem sich ein zweiter Anzug befand, der genau so beschaffen war wie der, den Kranz bereits trug.
Damit war erklärt, wie der Mörder der Frau Smith in den [7] Besitz des auf Kranz lautenden Dienstbuchs gekommen war, das er wohlüberlegt am Orte der That zurückließ, um den Verdacht von sich ab auf den im Buche beschriebenen Inhaber zu lenken. Damit war zugleich erklärt, wie die Frau Blout und die andern Zeugen einen der beiden Fremden für Kranz halten konnten, da er den Anzug des Kranz angezogen hatte. Aber der hanfene Strick? Kranz behauptete, daß er den bei ihm vorgefundenen Hanfstrick in der Nähe eines Tabakladens in der Commerce-Street in London gefunden habe. Man untersuchte den Ort und bemerkte, daß neben dem Laden sich eine Seilerwerkstatt befand, aus welcher die Frau Blout in Wegby ihre hanfenen Stricke bezog. Man fand auch Theile solcher noch im Hofe und auf der Straße. Die Opernsängerin – es war Frau Jenny Lind-Goldschmidt – erklärte, daß ein Deutscher ihre Hilfe angegangen habe, um sich Empfehlungen zu verschaffen, aber die Beschreibung desselben paßte nicht auf Kranz. Durch Schriftenvergleichung wurde endlich festgestellt, daß die Unterschrift „Adolf Mohn“ nicht von Kranz herrührte. Nun war der Entlastungsbeweis geführt und Kranz wurde vom Schwurgericht freigesprochen. Fürwahr ein grausames Schicksal, das einen Menschen seiner Legitimationspapiere beraubte und sie in die Hände eines Mörders spielte, das diesem Mörder durch die gestohlenen Kleider soviel Aehnlichkeit mit jenem Unschuldigen verlieh, daß Zeugen beide verwechseln konnten, und das den Ahnungslosen auch noch in den Besitz der nämlichen Gattung eines Stricks versetzte, deren sich der wirkliche Mörder bedient hatte.
Von einem ähnlichen Schicksale wurde ein italienischer Matrose bedroht, der einem andern sein Messer kurz vor einer Schlägerei geborgt hatte. Die letztere fand in einer Hafenwirthschaft in London bei ausgelöschten Lichtern statt und endete damit, daß einer der betheiligten Matrosen erstochen wurde. Das Messer, welches ihm noch in der Brust stak, wurde bald als das jenes Italieners erkannt und dieser verurtheilt. Der richtige Mörder war inzwischen entflohen. Nur den opfervollen Bemühungen eines wohlhabenden Landsmannes des Italieners gelang es, den Flüchtigen ausfindig zu machen und zu einem Geständnisse zu vermögen. Das Urtheil über den vermeintlichen Mörder konnte nun zwar nach englischem Rechte nicht wieder rückgängig gemacht werden, aber die Strafe wurde ihm im Gnadenwege erlassen.
Erst neuerdings wurde die öffentliche Aufmerksamkeit auf einen Fall der Verurtheilung einer Unschuldigen, eines Fräulein Amalie Schimmel in Breslau gelenkt, in welcher ebenfalls die eigenthümliche Lage der Umstände den Verdacht von vornherein zu rechtfertigen schien. Der Fall ist in einer bei Braun und Weber in Königsberg i. Pr. erschienenen Broschüre behandelt, welche der thatkräftige Verfechter der Entschädigungsansprüche unschuldig Verurtheilter im Reichstage, Rechtsanwalt Munckel in Berlin, mit einem Vorwort versehen hat.
Fräulein Schimmel, eine den gebildeten Ständen angehörige, zur Zeit bereits hochbetagte Dame, führte seit dem Jahre 1858 dem früheren Kaufmanne, späteren Rentier Kästner in Breslau die Wirthschaft. Sie wurde in dieser Stellung, welche sie sorgsam und gewissenhaft ausfüllte, auch belassen, als Kästner wegen eingetretener Geistesschwäche einen Zustandsvormund in der Person eines Kaufmann Rentsch erhielt. Als Kästner am 23. Juni 1886 starb, fand man bei Ordnung des Nachlasses, daß für 24 000 Mark Werthpapiere fehlten. Eine bei der Wirthschafterin vorgenommene Haussuchung ergab, daß diese gegen 10 000 Mark Werthpapiere besaß, unter denen sich auch 3000 Mark konsolidirte preußische Staatsanleihe befanden, von welchen genau feststand, daß sie dem Kästner gehört hatten. Die bereits in den siebziger Jahren stehende Wirthschaftsdame wies zwar im allgemeinen nach, daß sie gegen 10 000 Mark sich nach und nach erworben habe, und behauptete, daß sie die Konsols von Kästner ausgehändigt erhalten habe zur Deckung der Ansprüche, welche ihr gegen ihren Dienstherrn für Auslagen und Lohn erwachsen waren; da sie aber über den Verbleib der fehlenden 21 000 Mark keine Auskunft zu geben vermochte, da man außerdem entdeckte, daß in dem Verzeichnisse der Kästnerschen Wertheffekten ein Blatt herausgerissen war, und endlich auch ein Nachschlüssel zum Geldschranke sich vorfand, so wurde gegen Amalie Schimmel die Untersuchung wegen Diebstahls eingeleitet, deren Endergebniß am 6. Dezember 1887 die Verurtheilung der Angeschuldigten wegen Diebstahls von 24 000 Mark zu einem und einem halben Jahre Gefängniß und zwei Jahren Ehrverlust war.
Inzwischen war ein Bekannter der Verurtheilten, ein Kaufmann Rupp in Königsberg, der an ein Vergehen der Dame nicht glauben konnte, rastlos bemüht gewesen, ihre Unschuld zu Tage zu fördern und besonders den Verbleib der fehlenden Werthpapiere zu ermitteln. Es gelang ihm endlich, nachdem die Verurtheilung bereits erfolgt war, festzustellen, daß die 21 000 Mark Obligationen am 22. Juni 1886 bei der Handlung Günther und Rudolph in Dresden auf den Namen eines Herrn von Stutterheim-N.-(Nieder-)Wintersdorf verkauft worden waren und sich nach mehrfachem Weiterverkaufe jetzt im Depot der Firma S. Bleichröder in Berlin befanden. Nun galt es, über den angeblichen Verkäufer der Papiere weitere Ermittelungen anzustellen. Dieselben erwiesen sich aber als erfolglos; der Name Stutterheim-N.-Wintersdorf war offenbar ein falscher. Indessen hatte ein von Rupp unter Aussetzung einer Belohnung erlassener öffentlicher Aufruf den Erfolg, daß, wenn auch zunächst auf dem Wege namenloser Mittheilungen, der Verdacht der Entwendung der Papiere auf den Kästnerschen Zustandsvormund Rentsch gelenkt wurde. Damit wurde die Wiederaufnahme des Verfahrens erreicht, welche die volle Unschuld des Fräulein Schimmel und die Schuld des Rentsch ergab. Jene wurde, nachdem sie bereits neun Monate ihrer Gefängnißstrafe verbüßt hatte, wegen Diebstahls gänzlich freigesprochen, in Betreff der 3000 Mark Konsols wurde dagegen angenommen, daß sie zwar die Papiere in Pfandbesitz erhalten habe, aber dieselben, da inzwischen ihre Ansprüche an Kästner durch Zahlung getilgt waren, nicht länger hätte behalten dürfen. Das Gericht erblickte in dieser Handlungsweise – die alte Dame war sich deren Tragweite wohl nicht bewußt gewesen – eine strafbare Veruntreuung, für welche man eine Strafe von sechs Monaten Gefängniß in Ansatz brachte, sodaß die Angeklagte immerhin drei Monate unschuldig Strafe verbüßte. Der tapfere Befreier der Unschuld war dabei sogar in die Lage gekommen, eine Zeitlang selbst für den Dieb gehalten zu werden.
Mancher Unschuldige wird das Opfer einer falschen Zeugenaussage. Aber die Falschheit der Aussage braucht nicht immer den Charakter eines wissentlichen Meineids zu tragen, sie ist oft nur das Ergebniß unrichtiger Sinneswahrnehmung. Einer solchen Täuschung unterliegen namentlich die Zeugen oft dann, wenn es sich um die Frage der Wiedererkennung der Person des Angeschuldigten handelt. Eine Person, die man, ohne ihr besondere Aufmerksamkeit zu schenken, nur flüchtig sah, namentlich bei eingetretenem Wechsel der Kleidung wiederzuerkennen, ist keine leichte Sache gegenüber der Verantwortung, die man dabei übernimmt. Sichere Wiedererkennungszeugen sind daher auch ziemlich selten. Aber auch sie müssen dann manchmal erfahren, daß sie sich täuschten.
So wurde während der Untersuchung gegen eine Räuberbande, welche Ende der vierziger Jahre den Kreis Beuthen beunruhigte, ein gewisser Schewior von einem Kaufmann B., den man beraubt und dabei mit Erschießen bedroht hatte, bestimmt als Mitthäter erkannt und deshalb zu lebenslänglichem Zuchthause verurtheilt, obwohl der Verurtheilte behauptete, zu jener Zeit im Zuchthause gesessen zu haben. Man ließ die Ausrede unbeachtet, da der Angeklagte an sich nicht glaubwürdig erschien. Da derselbe aber im Gefängniß immer wieder auf die Angabe zurückkam, zog man die Akten bei und fand dieselbe bestätigt. Schewior wurde nunmehr nachträglich freigesprochen.
Bedenklich ist es auch, auf das Zeugniß von Kindern und halbwüchsigen Personen etwas zu geben, da dieselben vielfach den Einflüssen Erwachsener, besonders der bei der Sache interessirten oder gar auf gemeinen Gewinn spekulirenden Eltern unterworfen sind. Erst ganz neuerdings beschäftigte sich die Presse mit einem Falle, in welchem ein unbescholtener, gut gestellter Berliner Kaufmann infolge der lügenhaften Aussagen von drei Schulmädchen unschuldig zu schwerer Strafe verurtheilt wurde. Die Mädchen behaupteten, durch einen Wüstling sittlich geschädigt worden zu sein, dessen Person sie nicht näher zu bezeichnen vermochten. Ein Polizeibeamter hatte ihnen eine Belohnung von anderthalb Mark versprochen, wenn es ihnen gelänge, den Mann wieder aufzufinden. Die Mädchen stellten sich hierauf in der Belle-Alliancestraße auf, wo sie die Vorübergehenden musterten und hierauf dem Schutzmann den gerade vorübergehenden Kaufmann Gustav Lebram als den Schuldigen bezeichneten. Trotz der gegentheiligen Betheuerungen des Bezichtigten wiederholten die Mädchen auch vor Gericht ihre Angabe, und Lebram wurde auch in zwei Fällen des ihm zur
[8] Last gelegten Verbrechens für überführt erachtet und zu einem
Jahr Gefängniß und Ehrverlust verurtheilt. Einstweilen gegen
Kaution freigelassen, sammelte Lebram so viel neue Belege für seine
Schuldlosigkeit, daß er die Wiederaufnahme der Untersuchung durchsetzte;
der Unschuldsbeweis wurde jetzt so überzeugend geführt, daß
sich endlich auch die Mädchen herbeiließen, ihre gewissenlose Anzeige
als falsch zu bezeichnen, und das Gericht in Uebereinstimmung mit
dem Staatsanwalt den Angeklagten nicht bloß freisprach, sondern
auch die Kosten der Vertheidigung der Staatskasse auferlegte. Das
aber war nicht mehr zu beseitigen, daß Mann unter dem Drucke
seiner Lage inzwischen nicht nur geistig und körperlich, sondern
auch finanziell zusammengebrochen war. Fr. Helbig.
Deutsche Träume
Kreuz des Südens, deine Sterne
Glänzen uns am Himmelszelt,
Und in weiter Erdenferne
Winkt uns eine neue Welt.
Mögen Dichter müßig schweifen,
Während Zeus die Erde theilt:
Völkern ziemt es, zuzugreifen
Unverzagt und unverweilt.
Deutsche Träume, hoffnungstrunken
Fliegt ihr fernen Landen zu,
Wo ein Welttheil schlafversunken
Jetzt erwacht aus tiefer Ruh,
Schwelgt in künft’gen Paradiesen,
Die das Wunderland verheißt,
Seit den trägen schwarzen Riesen
Auferweckt der deutsche Geist.
Rauchen seht ihr schon die Schlote
Auf den ungeheuren Seen,
Und vom Mast beschwingter Boote
Uns’res Reiches Banner wehn.
Rings umschattet von Bananen
Manche prächt’ge Villa ruht!
Unter schimmernden Altanen
Brandet des Nyanza Fluth.
Stadt an Stadt mit Zauberschnelle
Wuchs, vom Palmenhain umhegt,
Wo des Tanganjika Welle
Sturmgepeitscht das Ufer schlägt.
Und an Bagamoyos Strande,
Welch ein bunter Weltverkehr!
Welch ein Volksgewühl am Lande,
Welch ein Mastenwald im Meer!
Deutsche Träume, ferne Zonen
Haben euch berauscht genug!
Wiegt euch nicht auf Palmenkronen,
Lenkt zum Vaterland den Flug!
Auf den heimathlichen Eichen
Mögt ihr euern Horst erbaun!
Fernher flammt ein Feuerzeichen
Drohend auf durch Nacht und Grau’n.
Leichter ist’s, zu überbrücken
Meer auf Meer mit Muth und Kraft,
Als des Abgrunds finst’re Tücken,
Der zu unsern Füßen klafft.
Wie ersehnt den innern Frieden
Das zerspalt’ne Vaterland!
Reich und arm sei nicht geschieden,
Reiche sich die Bruderhand!
Ueber den empörten Wogen,
Aufgepeitscht von Neid und Groll,
Wölbe sich der Regenbogen,
Friedlicher Verheißung voll!
Der Verzweiflung Banner hebe
Nie empor die bitt’re Noth,
Und der Heimath Boden gebe
Allen ihren Kindern Brot!
Südlich Kreuz, auf fernen Meeren
Strahlst du deutscher That und Macht;
Doch ein Sternbild hoher Ehren
Leuchtet hell durch uns’re Nacht.
Keiner zög’re, keiner säume,
Ihm zu opfern, froh bereit,
Dreigestirn der schonten Träume:
Freiheit, Liebe, Menschlichkeit.
Rudolf v. Gottschall.
Neunzig Jahre Frauenmode.
Als die zwölf bedächtigen Schläge der verschiedenen Thurmuhren der Welt in der Sylvesternacht zwischen 1800 und 1801 verkündeten, daß das 19. Jahrhundert christlicher Weltordnung beginne – damals ging es nirgends in der Welt lustiger zu als in Paris.
Der furchtbare Druck der Revolution, der Schreckensherrschaft war von der Stadt gewichen. Geordnete Mächte begannen sich wieder geltend zu machen, der eiserne Bonaparte war erster Konsul geworden. Jahrelang hatte aller feinere gesellige Verkehr schweigen müssen. Ueber der vom Aufruhr durchwühlten Stadt hatte der gespenstische Dampf stets neu vergossenen Blutes schwer gelastet. Wer vornehm, wer lebenslustig gewesen war, den hatte das mörderische Fallbeil bedroht.
Nun war der Umschwung ein vollständiger. Auf den Trümmern der zerschlagenen alten Gesellschaft – das war die lebenslustige, lockere Welt des Rokoko gewesen – entstand eine neue; die alten Grenzen der Sitte, welche jene locker genug zusammengehalten hatten, waren zertrümmert, neue noch nicht aufgebaut. Die Gesetze, welche Jahrhunderte lang in Frankreich gegolten hatten, waren vor dem Hauch des Freiheitsdranges dahingeschmolzen und die von der Revolution eingeführten hatten im Bewußtsein der Nation noch nicht Boden gefaßt. Nur ein Recht schien für die nach langem Fasten doppelt vergnügungsdurstigen Kreise zu gelten: sich zu entschädigen für die Zeit des Schreckens und – wenn sie wiederkomme – die Zwischenzeit wenigstens gut benutzt zu haben!
Die Frauen waren am meisten außer Rand und Band gekommen. Die Revolution hatte die Fesseln, welche sie zurückhielten, zersprengt. Sie hatte Tausende von Männern in der Blüthe ihrer Jahre hingemordet, Tausende von Frauen in ihre Strudel gezogen. Die Ehescheidung war eingeführt worden. Noch hatte die Gesellschaft die Ansichten des Rokoko über die eheliche Treue; noch galt der Mann für den lächerlichsten Liebhaber, den eine Frau haben könne. Aber früher duellirten sich zwei Rivalen – freilich ein meist sehr ungefährliches Auskunftsmittel – jetzt war man prosaischer: man ließ sich scheiden. Auch hier lockte das Neue. Das Zerwürfniß wurde dadurch unendlich viel größer, die Schande verlor ihre Schrecken für die Frauen von Welt. Lustig leben, das war der alle beherrschende Gedanke.
„Noch nie waren die Sitten zügelloser, die Vergnügungsjagd wüthender bei unseren Schönen als jetzt!“ ruft ein Kenner der Pariser Welt jener Zeit. Er erzählt, die Sitte, als Herr gekleidet sich auf der Straße sehen zu lassen, sei so allgemein, daß viele „Männinnen“ gar keine weibliche Garderobe mehr besäßen. Es sei ja auch billiger so: ein Paar Halbstiefel, Pantalons von aprikosenfarbigem Sammet, ein Redingot mit drei Kragen sei alles, was man zum Herrenanzuge brauche.
[9]
Aber auch die Frauenkleidung war einfach. Unsere Großmütter erzählten ja so gerne von ihrer Jugendzeit als einer, in welcher man die heutige Kleiderpracht noch nicht kannte. Und sie hatten recht – das lehren die Modeblätter.[1] Damals galt die Einfachheit ja in allen Gebieten der Kunst als höchste Forderung des guten Geschmackes.
Man sprach es selbst in den Modezeitungen deutlich aus: „Die Kleider müssen den Regeln der einfachen Natur untergeordnet werden.“ „Einfache Natur“ besaßen aber in erster Linie die die Kunst jener Zeit völlig beherrschenden Griechen und Römer. Ihnen strebte man nach: wie alle anderen Schaffensgebiete, so fühlte sich auch das des Frauenschneiders bis in die Wurzel hinein klassisch. Und als Bonaparte erst der Welt, namentlich auch derjenigen der Mode, einen Konsul und dann einen Imperator gegeben hatte – da war der Sieg der klassischen Einfachheit ein vollkommener. Das Weiß antiker Marmorbildwerke, der Purpur der Cäsaren und das Gold des Diadems – das wurden die im Reich der Vornehmheit alleinherrschenden Farben.
Die Natürlichkeit mußte auch in die Frauenkleider jener so lustigen Zeit eindringen. Der Schnürleib des Rokoko verfiel dem Gelächter. Wie hätte derselbe in den Tagen der Freiheit Bestand behalten können! Das hohe Leibchen fiel gleichfalls. „Noch vor kurzem,“ höhnt eine Zeitung, „war die Mode der Damen, ihre Reize mit großer Sorgfalt zu verhüllen, wie abgelebte Mütterchen sonst ihre Runzeln zu verbergen pflegen.“ Dieser gegen die Natur verstoßenden Thorheit wurde von den Frauen des neuen Jahrhunderts gründlich abgeholfen. „Wenig Stoff!“ heißt es in einem Modenblatte aus dem Jahre 1801. „Die Frauen sollen aussehen wie gewebte Nebel in den Farben der Morgenröthe!“ „Von allem Irdischen befreit“ sollen sie erscheinen. Sie sollen sich leiten lassen von jenem allein guten Geschmacke, den die Griechen in ihren Meisterwerken am vollendetsten vertreten.
Man muß es der Mode jener Zeit zugestehen, sie besaß den gewaltsamen Muth der Revolutionen ihrer Zeit! Reifrock und Schnürleib waren schnell aufgegeben, die hohen Haartrachten verschwanden, der kurz geschnittene Tituskopf trat vielfach hervor; sie studierte eifrig die antiken Bildwerke und fand in der „Toque“ eine aus Bändern, Netzen oder Schleifen gebildete, meist den Kopf eng umschließende, kleidsame Schmuckform. Aber sie scheute sich auch nicht vor der edlen Nacktheit der Antike. Achtzehn Loth, so sagt ein Modeblatt, hat der vollständige Anzug einer vornehmen Frau zu wiegen; dann ist er simpel und natürlich genug: ein Hemd, ein dicht unter der Brust von zwei Achselriemen getragener Gurt, ein Kleid aus Perkal oder Tüll, „Pamina-Tricots“, d. h. Handschuhe bis an die Achseln, seidene Strümpfe, Sandalen – das ist alles. Oder doch nicht; denn das neue Jahrhundert trat mit einer großen Erfindung auf, dem „ridicule“, oder wie die tugendhafteren Engländer es nannten, dem „indispensable“, dem „Unerläßlichen“, jenem Arbeitsbeutel, den man in der Hand trug, weil im Kleide eine Tasche unmöglich war, in dem Kleide, welches, dicht unter der Brust zusammengefaßt, eng die Gliedmaßen umschloß. Das Taschentuch hatte bisher die Dame in der Hand halten und beim Tanz dem Partner zur Aufbewahrung übergeben müssen. So wollte es die taschenlose Mode und der Anstand. Als dann 1807 wieder Taschen an der Hüfte angebracht wurden, konnte man sie bei den eng gespannten Kleidern nur mit Mühe benutzen. „Sie sind zwar unbequem und mißgestalt,“ sagt ein Modebericht alles Ernstes, „aber man erkennt an ihnen ein gut gemachtes Kleid.“
Auch die Aerzte billigten diese Toilette. Der Mangel an Ausdünstung sei schuld an [10] vielen Krankheiten, lehrt ein Jägerianer von 1807 in der „Allgemeinen Modenzeitung“. Wolle und Baumwolle seien zwar gut für die Alten, aber die Jungen würden nur dadurch geschwächt, diese müßten ihre lebhaft thätige Haut vor zu starker Verhüllung bewahren. Die Ehemänner freilich waren oft anderer Meinung: nicht nur sorgten sie um die Gesundheit ihrer Frauen, denen ein „Negligé“ auch für den Winter von der Mode vorgeschrieben war, sondern sie klagten auch wohl in sehr eindringlicher Weise öffentlich, daß ihnen die griechische Natürlichkeit denn doch etwas zu weit gehe. Aber wann hat das je etwas geholfen! Im Grund der Seele fanden auch sie die „Simplicität für das Reizendste“.
Es war nicht nur das sündhafte Paris, welches solche achtzehnlöthige Anzüge liebte. Da finde ich eine Anpreisung der „Neuen Hemden“ einer Leipziger Firma in der sehr geachteten „Allgemeinen Modenzeitung“, und zwar im redaktionellen Theil. Sie werden genau beschrieben, mit ihren Kanten an Busen und Nacken, mit ihrer gestickten Knötchenarbeit etc.; 5 bis 6 Thaler kostet eins. Dann aber sagt der kundige Redakteur: „Trägt eine Dame ein solches Hemd, so braucht sie weiter kein Kleid und erreicht den höchsten Grad von Eleganz!“
Ja, ja! Damals als Großmama jung war – damals war’s noch so einfach in der Welt. „Echt antik können freilich,“ so heißt es 1801, „nur sehr junge und sehr schön gebaute Damen gehen!“ Aber die Mode ist doch nicht für die Häßlichen da! Die mögen sehen, wie sie mit ihr sich abfinden!
„Echt antik“? Die Alterthumswissenschaft von heute wird gewiß nur lächeln zu der Kleidung einer Frau wie der Königin Luise, die doch wahrlich das Zeug dazu hatte, „echt antik“ sich zu tragen, und die es auch that. Weil das Kleid weiß ist, weil es dicht unter der Brust geschnürt wurde, ist’s noch nicht griechisch. Der Schnitt hatte auch nicht das Geringste etwa von jenem der atheniensischen Jungfrauen des Parthenonfrieses. Die trugen weite, mit wenig Spangen zusammengehaltene Tücher, die sich faltig um den Körper legten. Das war züchtig und gab schöne, völlig durch die Gesetze der Körperbewegung und die Schwere der Stoffe erzeugte Formen; das war eben wirklich Natur und Einfachheit. Den Frauen von 1801 lag aber die Schlichtheit der Griechinnen so fern, als jenen irgend einer anderen neueren Zeit. Ihnen war das Kleid nicht ein Mittel, sich zu verhüllen, sondern um doppelt anreizend zu wirken. Die Natürlichkeit wurde in ihrer Hand ein Mittel, um sich an die äußersten Grenzen des Anstandes wagen zu können. Es ist die Frage, welche Art von Kleidern die verwerflichsten sind, jene, die eine übertriebene Pracht zeigen, oder jene, welche zwar sehr einfach sind, auf die aber Fr. Vischers, des großen Aesthetikers und Modefeindes, Ausspruch: „In Kleidern nackt“ mehr paßt als auf alle anderen!
Jede Mode beruht aber meist unbewußt auf der die Zeit beherrschenden allgemeinen künstlerischen Anschauung. Das Rokoko hatte sich im Reifrock, in einer unmäßigen Verbreiterung und Erweiterung der menschlichen Figur durch das Kleid gefallen. Der Schneider erhielt die Herrschaft über den Menschenleib. Die Revolution brach mit diesem System und – treu ihrer grausamen Entschiedenheit des Wollens – verfiel sie in den äußersten Gegensatz: sie forderte vom Frauenkleid, es solle die natürlichen Formen ganz rein wiedergeben, der Schneider verschwand, die Formen traten fast unvermittelt hervor. Das war die völlige Umkehr der Mode, die freilich schon von England her vorbereitet worden war. Man kann ihr Kommen kulturgeschichtlich verfolgen. Wo das alte selbstherrliche Königthum, die mit ihm verbündete, jedem freien Luftzuge sich versperrende Kirche herrschten – dort war in der Kunst die Formenwillkür, in der Mode das Bauschige, die Nichtachtung der menschlichen Gestalt, die Steigerung dieser oder einiger ihrer Theile ins Uebertriebene. Wo die junge Freiheit, die nach und nach alles Wissens sich bemächtigende Aufklärung herrschte, da strebte man in der Kunst nach antiker Abklärung und klassischer Formenreinheit, dort wurde das enganliegende Gewand Mode. Es ist kein Zufall, daß Werther in engem Leibrock, Reithosen und Stulpstiefeln ging. Denn der modisch Denkende, der von der fortschreitenden Litteratur Erfaßte, der Schwärmer für Homer und später für Ossian – der mußte das enge Kleid der Aufklärung tragen, ebenso sicher wie der Hofmann, der Anhänger des alten Regierungssystemes, der Gegner der „Libertins“ sich in bauschigem Gewande gefiel.
So frei waren die Freiheitsheldinnen von 1801 aber doch auch in ihrer Kleidung nicht, wie die Griechinnen es gewesen sind. Die tausendjährige Kultur ließ sich auch in der Kleidung nicht ohne weiteres abstreifen. Sie offenbarte sich in ganz unklassischen, der Kleidung noch anhaftenden Schneiderkünsten. Gerade diese simplen Anzüge forderten besonders vorsichtigen Schnitt. Wenngleich die Kleider überaus leicht sein sollten, so waren sie doch nicht eben so leicht zu machen.
Betrachten wir die Modeblätter jener Zeit. Zunächst fällt die erstaunliche Länge der Frauengestalten auf. Eine normale Frau hat die siebenfache Höhe ihres Kopfes. In den Modebildern steigt sie auf die elffache Höhe. Wenn auch die Aesthetiker es nicht werden zugestehen wollen, so sind doch, wie es schon einmal in der „Gartenlaube“ (1889, S. 699 f.) auseinandergesetzt wurde, tatsächlich Modefiguren Werke eines gesteigerten Idealismus. Sie geben in freilich oft rücksichtsloser Uebertreibung der Menschengestalt jene Verhältnisse, welche den Frauen selbst als schön erscheinen.
Millionen von klugen und thörichten Jungfrauen und Frauen betrachten die oft erschrecklich verzeichneten Blätter mit dem stillen Wunsche, ihnen ähnlich zu werden. Sie sehen in ihnen die Steigerung dessen, was am eigenen Körper als reizend, als anmuthig erscheint, d. h. also ihre Ideale. Wenn die Modefiguren mithin so schlank gezeichnet werden, daß der Leib fast auf die Hälfte seiner natürlichen Breite eingeschränkt wird, Hüfte und Brust bis zu einer Schmalheit zusammengedrängt werden, die auf Beschauer mit anderen Idealen äußerst lächerlich wirkt – so sehen wir, was die Frauen damals erstrebten. Das Kleid war dicht unter der Brust zusammengefaßt; ohne jede Querfalte, meist ohne jede Falte überhaupt fiel es bis zum Fuß herab, hinten oft in langer Schleppe endend. Dadurch wirkte der Untertheil des Körpers sehr lang, sehr schlank. Die Figur, nicht in der Mitte durch den scharfen Abschnitt der Taille getheilt, erhielt etwas Biegsames, leicht Bewegtes. Die Schönheiten des weiblichen Körpers traten unverhüllter als in irgend einem anderen Kostüm hervor.
Diese Kleider unserer Großmütter waren nach unseren Begriffen entschieden unanständig. Bei ihrer Leichtheit ist es kein Wunder, daß, als geordnetere Verhältnisse eintraten, die gute Gesellschaft – und das heißt ja so viel als die modische Gesellschaft – sich die Rundtänze verbat und die Menuetts wieder aufnahm, daß man sich des Wortes von Abraham a Santa Clara erinnerte: „Ein tugendhaftes Mädchen soll sein wie eine Orgel – die schreit, wenn man sie antastet.“ Aber das Kleid selbst gab man nicht auf und man fand es zu jener Zeit auch keineswegs unanständig!
Das „Negligé“ war damals ein anerkanntes Gesellschaftskleid, das meist erst zum Abend abgelegt wurde. Die Frauen wollten aussehen, als seien sie eben taufrisch aus den Armen des Schlafes hervorgegangen. Thatsächlich aber erschienen sie wie ungenügend bekleidet.
Aber das menschliche Auge wird von der Gewohnheit beherrscht. Man gewöhnte sich an das Kleid. Nur die ersten Trägerinnen hatten kühn sich über den herkömmlichen Anstand weggesetzt, die Folgezeit fühlte sich in ihrer Tugend nicht erschüttert. Nicht die Zionswächter guter Sitten verdrängten es, sondern die Mode lebte sich aus wie jede andere.
Der Wandel ist das Lebenselement der Mode. In der hohen Kunst wie in der Kleidung giebt es einen Augenblick, wo selbst das Schönste uns zu ermüden beginnt. Unser Auge hat unter der Fülle der möglichen Naturformen eine als ihm besonders wohlgefällig gewählt. Was diese Form bietet, erscheint als schön. Jeder ist bestrebt, sie sich anzueignen. Langsam, Schritt für Schritt wird sie fortgebildet: alle Welt glaubt, man befinde sich auf dem Wege allgemeinen Fortschreitens in das unerreichbare Gebiet der Ideale. Auf tausendfältigem Wege wird dem einen leitenden Formgedanken zugestrebt. Diese Einheit des Strebens nennt man in der Kunst Stil, in der Kleidung Mode. Beide führen nothwendig zur Uebertreibung einer Formenerscheinung. Diese kann bis ins Unglaubliche geführt werden, ehe die Welt sich klar wird, daß sie an einer Verzerrung arbeite. Nach und nach tritt aber, wenn das Aeußerste erreicht ist, Formenmüdigkeit ein. Der Drang nach einer Richtung läßt nach, ein neues Ideal bildet sich heraus. Und während die Welt diesem zustrebt, sieht sie mit höhnendem Erstaunen auf die verlassene Bahn zurück. Man schilt die alte Geschmacklosigkeit, während man sich inmitten einer Bewegung befindet, die ebenso der Geschmacklosigkeit zueilt.
Man sollte glauben, die Grundgestalt des Menschen gäbe einen festen Rückhalt für die Kleidung. Aber selbst diese unterliegt der Formenmüdigkeit, auch sie muß umgestaltet werden, um [11] „schöner“ zu werden. Der Wilde, der seine Haut bemalt und in seine Lippen einen Pflock schlägt, arbeitet nach demselben Kunstgesetz wie der Chinese, der seinen Fuß verkrüppelt, oder die Frau unserer Zeit, die sich in einen Schnürleib zwängt. Namentlich aber schwankt die Anschauung, ob Vergrößerungen einzelner Körpertheile schön seien. Immer wieder werden sie versucht, und seien sie nach so unbequem. Gerade die Unbequemlichkeit reizt. Warum setzt der Jüngling seinen Cylinder schief auf, wenn er kecker Stimmung ist? Weil er durch den Druck auf die Stirn sich bewußt wird, daß sein liebes Ich durch den Achtzehnzöller bedeutend vergrößert wird, weil er sich erweitert, mächtiger fühlt. Warum ist die Schleppe der Inbegriff der Vornehmheit? Weil sie der Frau auf Meterlänge eine Erweiterung ihres Raumes giebt. Soldaten haben sich stets in wallenden Federbüschen gefallen. Sie erscheinen sich mächtiger, weil ihr Körper scheinbar gesteigert ist!
So war das „antike“ Kostüm eine Steigerung in die Länge. Es ist kein Zufall, daß auf allen Modebildern jener Zeit die Frauen als größer erscheinen wie die Männer, ebensowenig, als daß nun die ausschweifendsten Hutmoden platzgriffen. Die „Toques“ werden zu wahren Thurmbauten, die Krempen der Hüte erhielten den wildesten Schwung, die breiteste Ausladung. Der Kopf mit dem kurzen Mieder wurde fast in die Mitte der Gestalt herabgedrückt, das Streben nach Schlankheit führte zu einer recht unweiblichen Riesenhaftigkeit, über der die „Simplicität“ völlig vergessen worden war.
Den ersten entscheidenden Wandel in der Kleidung gab das allgemein sich geltend machende Bedürfniß nach einem festen Sitze des Kleides. Im Jahr 1809 kam das „Corset en X“ auf, welches aus einem breiten Gurt und zwei über den Achseln sich kreuzenden Tragbändern bestand, die unter der Brust zu einer breiten enganschließenden Schnebbe sich erweiterten. Noch trug man dieses Kleidungsstück über dem eigentlichen Kleid. Dazu kamen Beinkleider in der Form von Pantalons, die über der Fußbeuge zugeschnürt wurden. Darüber trug man das Kleid, hatte also – zum Spott selbst der Modeblätter – zwei Anzüge übereinander. Man fand, so angethane Frauen mahnten an verkleidete Männer. Im Jahr 1811 kam das Corset à la Ninon auf, benannt nach der berühmten Ninon de l’Enclos, der gefeierten Königin der Galanterie des 17. Jahrhunderts.
Es begann also das Zurückgreifen auf die Mode der großen Zeit Ludwigs XIV. Dieser Schnürleib schloß sich der Gestalt völlig an, ohne sie zu verändern. Ihr fehlte die Taille. Ebenso war das corset en fichu; beide sind noch darauf berechnet, daß die Kleider dicht unter der Brust geschnürt werden. Aber sie haben schon einige Fischbeine, bedeuten mithin schon das Ende der „Natürlichkeit“. Nachdem die Mode die Gestalt bisher nur verlängert hatte, begann sie nun, sie Schritt für Schritt umzubilden.
An diesem Wandel hatte die Verwendung schwererer Stoffe, als sie bisher üblich gewesen waren, wesentlichen Antheil. Der kaiserliche Hof konnte mit der „Simplicität“ allein nichts anfangen. Perkal, leichte Wolle, Tüll waren nicht die rechten Gewebe für die großartige Prachtentfaltung Napoleons I. Schwere Seide, noch dem antiken Schönheitsgefühle entsprechend weiß, mit massiven Goldstickereien in streng architektonischen Mustern nahmen der Tracht das Geschmeidige, Leichte und zugleich das Anstößige. Im Winter brauchte man wärmendes Gewand. Man begnügte sich nicht mehr mit Ueberkleidern, deren Schwere und Bauschigkeit im Gegensatz zu der übertriebenen Leichtheit des eigentlichen Anzuges stets den Spott geweckt hatte. Während der Ehemann fürchten mußte, daß im Tanzsaal von den Reizen seiner Frau nur zu viel sichtbar sei, war er beim Verlassen des Festhauses in Gefahr, unter den Mänteln mit sechsunddreißig Kragen sein Weib gar nicht wieder zu erkennen. Der Redingot, jener Tuchmantel, der anfangs eng das enge Kleid umschloß, bekam zuerst weitere Formen. Man fand solche Tuchoberröcke, die mit Pelzwerk reich geschmückt wurden, zwar anfangs „sehr männlich“, aber man erkannte ihre gesundheitliche Nothwendigkeit wenigstens an.Seit die Kleiderstoffe schwerer wurden, standen sie von selbst mehr vom Körper ab, bald aber kamen Falbeln und Besätze am unteren Kleiderrande dazu. Die „antike“ Mode hatte ihren Höhepunkt erreicht, die Augen der schönen Frauen richteten sich auf andere Mittel, ihre Gestalt umzubilden, diese den Eindruck der Länge an der Gestalt mindernden Besätze gaben den ersten Anlaß dazu. Die Formenmüdigkeit wirkt eben so mächtig, daß selbst die eitelste Frau nie mit einer ihr nach ihrer Meinung noch so gut stehenden Tracht zufrieden ist. Täglich muß das Neue versucht, die Wirkung eines Reizes gesteigert, und wenn der höchste erreicht wurde, ein neues Mittel hervorgesucht werden, das jenen ablöst!
Bei Robert Koch.
Koch – kein anderer Name hat jemals in so kurzer Zeit eine solche Volksthümlichkeit erlangt, kein anderer ist mit solcher Schnelligkeit bis in die fernsten Gegenden des Erdballs gedrungen und an keinen anderen haben sich so unzählige Hoffnungen und Erwartungen, so zahllose Wünsche und flehentliche Bitten geklammert, wie an diesen! Seit jenem denkwürdigen 13. November 1890, da in der „Deutschen Medizinischen Wochenschrift“ die epochemachende Abhandlung Kochs, seine „weiteren Mittheilungen über ein Heilmittel gegen die Tuberkulose“ erschienen, da ist Koch der Mittelpunkt alles Denkens und Redens in der Welt nicht bloß der Kranken, sondern auch der Gesunden.
Die allgemeine Erregung der Gemüther, die blitzschnelle Verbreitung der Heilsbotschaft nach allen Weltheilen läßt sich nur dadurch erklären, wenn man bedenkt, daß der siebente Theil der Menschen der Lungenschwindsucht erliegt, daß, um Zahlen in ihrer brutalen Nüchternheit sprechen zu lassen, in Preußen jährlich durchschnittlich 90 000, in ganz Deutschland 160 000 Menschen dieser bisher ungezügelten Krankheit zum Opfer fallen, und daß diese sich größtentheils in einem sonst in der Vollkraft der Entwickelung stehenden Lebensalter befinden!
Zum Zentralpunkt dieser gewaltigen, von keiner anderen friedlichen Errungenschaft auch nur annähernd erreichten Bewegung wurde nun Berlin. Binnen wenigen Tagen waren mehr wie zweitausend fremde Aerzte herbeigeeilt, die sich in nervöser Aufregung, in immerwährender Hast und Geschäftigkeit bemühten, während der kurzen Zeit ihres Aufenthaltes möglichst viel von der epochenmachenden Entdeckung zu lernen.
Mit größter Liebenswürdigkeit kam man in den betheiligten Kreisen den fremden Gästen entgegen und suchte ihren Wissensdurst zu befriedigen. Tag für Tag spielten sich in den Lazarethen die fesselndsten Scenen ab
[12][13] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [14] und verloren auch durch ihre steten Wiederholungen nichts von ihrem eigenartigen Reiz. Wenn sich am frühen Morgen die Thore der Charité öffneten, stellten sich bereits die ersten auswärtigen Aerzte ein, und die letzten verließen erst am späten Abend das schmucklos düstere Gebäude, in welchem sich das gesammte Interesse nur auf die mit Schwindsüchtigen belegten Säle zu richten schien. Unvergeßlich für jeden, der, wie der Schreiber dieser Zeiten, Gelegenheit hatte, einer solchen Anwendung des Kochschen Verfahrens in der Charité beizuwohnen, sind die langen, schmalen, durch Gasflammen matt beleuchteten Säle, an den Wänden die Betten mit den Kranken, und dann dort, sich scharf von ihrer hellen Umgebung abhebend und noch besonders beleuchtet durch eine von einem Wärter hoch emporgehaltene Lampe, die schwarze Gruppe der Aerzte: zunächst am Bette des Kranken, welcher mit entblößtem Oberkörper aufrecht dasitzt, der von seinem Assistenten begleitete Oberarzt, die kleine mit Gummiball versehene Glasspritze, in welcher sich die durchsichtige, gelblich schimmernde Flüssigkeit befindet, in der rechten Hand, bald in deutscher, bald in französischer oder englischer Sprache Erläuterungen gebend und Fragen beantwortend sowie die über jedem Bette hängenden, sorgsam geführten Tabellen der Fiebertemperaturen des Patienten erklärend; und nun ein Wink, und ein zweiter Wärter preßt die Rückenhaut des Kranken zwischen den Schulterblättern zusammen, das scharfe Ende der Spritze senkt sich unter die Haut ein, ein leichter Druck auf den Gummiball und die Lymphe hat sich dem Organismus mitgetheilt, nach wenigen Stunden schon ihre Wirkung zeigend.
In der ganzen Welt hallte Kochs Name wider und Millionen Menschen sprachen ihn segnend aus, er aber, der Träger desselben, lebte still und zurückgezogen sein Gelehrtenleben weiter und suchte ängstlich jeder Ehrenerweisung, jeder Huldigung aus dem Wege zu gehen, wie er auch jeden Vortheil zurückwies, der ihm in so vielfältiger und oft eigenthümlicher Art angeboten wurde. Wie bisher, so blieb, mit seltenen Abweichungen, auch in dieser erregendsten Zeit, sein Lebensgang derselbe, wie er ihn seit Jahren geführt, der Lebensgang eines deutschen Forschers, getheilt zwischen den frei übernommenen Pflichten seiner Wissenschaft und der Liebe zu seiner Familie. Zwei Stätten aber bilden die Merksteine dieses Gelehrtendaseins, zwei Stätten, ebenso von einander verschieden wie das Wesen Kochs an jeder von ihnen: hier der prächtige, einfache, gütige, heiter plaudernde Mensch, aus dessen sinnenden blauen Augen so viel Liebe und Freundlichkeit strahlt und um dessen von einem Vollbart umrahmten Mund ein schalkhaft anmuthender Zug spielt – dort der ernste, eifrige, den höchsten Zielen seiner Wissenschaft zustrebende Forscher, der an seine eigene Leistungskraft die größten Anforderungen stellt und über seinen Aufgaben, denen er sich zugewandt hat, alles Uebrige vergißt, einzig und allein bedacht, der Heilwissenschaft zu nützen und damit der leidenden Menschheit zu helfen. Und die Umgebung der beiden Stätten wie diese selbst passen ganz zu dem Menschen wie zu dem Gelehrten – hier eine behagliche Häuslichkeit in einem hochmodernen Hause einer neu angelegten Straße am Thiergarten mit dem Blick aus den Fenstern auf die dichten Baumgruppen des Parks von Bellevue – und dort in einer der ältesten Straßen des alten Berlin, in welche jedoch nur leise verhallend der lärmende Weltstadttrubel hineintönt, die stille Forscherklause, aus welcher auch die neue Entdeckung hervorgegangen ist.
„Hygieinisches Institut“ – so steht über dem Eingange des grauen, verwitterten, aus dem vorvergangenen Jahrhundert stammenden zweistöckigen Gebäudes in der Klosterstraße, welches so recht zu dem ganzen Charakter dieses alterthümlichen Stadttheils paßt und auf geschichtlichem Boden steht, denn hier, an dieser Stelle, hatten die ersten brandenburgischen Markgrafen ihren Wohnsitz aufgeschlagen, hier hatte sich ihr alter „Hof“ erhoben, in welchem sie lange residirt. Etwas ehrwürdig Anheimelndes geht noch immer von diesem schwerfällig soliden Bau aus, in dessen weiten, fliesenbedeckten Fluren die Tritte ein lautes Echo erwecken, dessen breite, mit architektonisch durchbrochenem Holzgeländer versehene ausgetretene Treppen deutlich die Spuren langer Benutzung zeigen und dessen großer Hof eine Raumverschwendung aufweist, wie man sie im neuen Berlin nicht mehr kennt. Im Erdgeschoß hat das noch in seiner ersten Entwicklung befindliche Museum für deutsche Volkstrachten ein vorübergehendes Asyl erhalten, im ersten Stockwerk befinden sich die Hörsäle und die Arbeitsräume der chemischen Abtheilung, das ganze zweite Stockwerk aber ist den bakteriologisch-mikroskopischen Untersuchungen eingeräumt. Hier ist denn auch das eigentliche wissenschaftliche Heim Professor Kochs, aus seinem Arbeits- und Sprechzimmer und aus seinem Laboratorium bestehend, und hier bringt er einen bedeutenden Theil des Tages zu, oft schon in früher Morgenstunde erscheinend und wieder erst, wenn die Dämmerung niedersinkt, das schmucklose Gemach verlassend. Schmucklos durch und durch, und doch seltsam anziehend mit seinem großen, grünüberzogenen Tisch in der Mitte, der zu Demonstrationen dient, dem kleinen Schreibtisch am Fenster mit einigen Photographien tuberkulöser äußerer Krankheitserscheinungen vor und nach der Einspritzung mit Kochscher Lymphe und den zahllosen Retorten.
Unsere Anfangsvignette zeigt uns auf dem Regal rechts oben Gläser mit weißen Mäusen, auf dem Tische einen Kasten für ein Kaninchen; daneben Glasröhren mit Watteverschluß, Lymphe enthaltend. Noch zahlloser aber finden wir die vielgestaltigen Geräthe der Wissenschaft im benachbarten Laboratorium und den sich an dieses anschließenden schmalen Sälen, in welchen die Schüler Kochs, zumeist freilich Schüler in vorgerückterem Alter, ihre Untersuchungen anstellen, um ihrem Meister über dieselben Bericht zu erstatten. Erst allmählich umspannt der Blick dieses wirre Durcheinander von Gläsern, Flaschen, Mikroskopen und Kochgeschirren, um endlich doch am längsten an den vielen gläsernen Behältern mit weißen Mäusen und den Holzgattern mit Meerschweinchen haften zu bleiben, welchen Thieren die verschiedensten Bazillen eingeimpft sind, um deren Fortschreiten bei der späteren Secirung zu beobachten. An den auf den Hof gehenden Fenstern stehen kleinere Tische, und hier werden die mikroskopischen Untersuchungen vorgenommen.
Der Zudrang zu diesem hygieinischen Institut ist ein ganz außerordentlicher, und man trifft unter den in demselben beschäftigten Medizinern auf die verschiedensten Nationen, Oesterreich und Italien, Frankreich und England, Amerika und sogar Japan. Im Jahre 1885 erst wurde es auf die persönliche Anregung Kochs hin ins Leben gerufen, und er, der geniale „Kreisphysikus von Wollstein“, der die Leitung übernahm, verschaffte alsbald dem neuen Institut einen Weltruf. Der „Kreisphysikus von Wollstein“ – kaum fünf Jahre waren damals vergangen, daß er diesen Titel abgelegt und dafür den eines Professors an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin erhalten hatte, aber diese fünf Jahre hatten genügt, Robert Kochs Namen zu einem der gefeiertsten in der Medizin zu erheben! Von der Pike auf, um bildlich zu reden, hat Koch seinen Weg zurückgelegt, denn, am 11. Dezember 1843 in Clausthal im Harz geboren [15] und auf den dortigen Schulen vorgebildet, nahm er 1866 nach Beendigung seiner medizinischen Studien, im Verlaufe derer der Anatom Jacob Henle in Göttingen einen großen Einfluß auf ihn gewann, eine Stelle als Hilfsarzt im Allgemeinen Krankenhause zu Hamburg an, bekleidete dieselbe jedoch nur kurze Zeit, um sich in Langenhagen in der Provinz Hannover der ärztlichen Praxis zu widmen. Dieselbe schien ihn jedoch wenig zu befriedigen, hauptsächlich wohl des kärglichen Verdienstes wegen, und er wandte sich nach der kleinen polnischen Stadt Rakwitz, von der er auch als freiwilliger Arzt auf den deutsch-französischen Kriegsschauplatz eilte, um im 11. Feldlazarett des X. Armeecorps vor Metz seine rastlose Thätigkeit zu entfalten. 1872 ließ er sich als Kreisphysikus in Wollstein im Posenschen Kreise Bomst nieder, und in diesem fernabgelegenen Städtchen, wo ihn eine anstrengende Landpraxis in Anspruch nahm und ihn oft bei Nacht und Nebel auf grundlosen Wegen viele Meilen weit fortführte, widmete er sich mit hingebendstem Fleiße seinen wissenschaftlichen Forschungen, die hauptsächlich den Milzbrand, dessen Entstehung, Gang und Verbreitung betrafen.
Käfige mit Versuchsthieren. | Robert Koch im Laboratorium. | Brutschrank, darauf mit Wattestöpseln geschlossene Röhrchen für Reinkulturen. |
In jenen Jahren arbeitete der berühmte Breslauer Professor Dr. Ferdinand Cohn weiter fort am Ausbau der von ihm neubegründeten bakteriologischen Wissenschaft, und so kam es, daß sich häufig an ihn Dilettanten wandten und ihm ihre angeblichen Entdeckungen auf bakteriologischem Gebiet zur Prüfung vorlegten. Im April 1875 erhielt denn auch Professor Cohn von dem ihm völlig unbekannten Kreisphysikus Dr. Koch in Wollstein einen Brief, in welchem ihm jener mittheilte, daß er die Entwicklungsgeschichte der den Milzbrand charakterisierenden Bacillen ermittelt zu haben glaube, und die Anfrage daran knüpfte, ob er nicht Professor Cohn persönlich seine Erfahrungen vorführen dürfte. Auf die sofort ertheilte Erlaubniß hin kam jener Kreisphysikus am 30. April nach Breslau und suchte Cohn in dessen Institut auf, wo zur Zeit noch mehrere Kollegen Cohns weilten. Alle erkannten während der Demonstrationen Kochs sofort, daß ihnen hier ein erster Meister wissenschaftlicher Forschung gegenüber stände, dessen Untersuchungen sich bereits damals durch die höchstmögliche Vervollkommnung auszeichneten. „Denn das unterscheidet eben die Arbeiten Kochs von denen der meisten übrigen Forscher“, so schreibt Professor Cohn in einem zur Veröffentlichung bestimmten, uns freundlichst mitgetheilten Briefe, „daß er mit ihnen nicht eher vor die Oeffentlichkeit tritt, als bis sie auf den letzten Feilstrich vollendet sind.
Andere Forscher fahren Bausteine auf zum Fortbau der Wissenschaft, oder sie zeichnen einen neuen Entwurf, oder sie setzen einen neuen Flügel an, oder ein neues Stockwerk, ein neues Dach auf: aber sie stellen nur den Rohbau fertig und überlassen es andern, den Bau zu vollenden und wohnlich zu machen. Die wissenschaftlichen Gebäude, die Koch aufgeführt hat, giebt er nicht eher aus seinen Händen, als bis er sie im ganzen und im einzelnen, fix und fertig zur Benutzung der andern, hergestellt, die dann nichts weiter zu thun haben, als in der neuen Einrichtung ein paar Stühle umzustellen oder dieses oder jenes kleine Geräth hinzuzufügen. So vollendet in Form und Inhalt sind alle Arbeiten Kochs gewesen, daß den Nachfolgenden nichts übrig blieb, als sie zu bestätigen, und es nicht möglich war, etwas Wesentlichem hinzuzuthun.“
Kochs rasch gewonnene wissenschaftliche Freunde in Breslau suchten ihn an jene Stadt zu fesseln, und als im Sommer 1879 die Stelle eines Gerichtsphysikus in Breslau frei wurde, setzten sie seine Berufung durch, in der Hoffnung, daß ihm bald eine außerordentliche Professur an der Breslauer Universität übertragen würde. Koch fühlte sich jedoch weder wissenschaftlich noch materiell von diesem neuen Platz befriedigt, und er kehrte nach wenigen Monaten nach Wollstein zurück, wo man ihm das Kreisphysikat offen gelassen hatte.
Seine Rückkehr sollte jedoch nur sehr vorübergehender Natur sein, 1880 wurde er als ordentliches Mitglied des Reichsgesundheitsamtes nach Berlin berufen, drei Jahre darauf zum Geheimen Regierungsrath ernannt und 1885 erhielt er eine ordentliche Professur an der Berliner Universität. Seine Verdienste als Leiter der deutschen Cholera-Expedition nach Egypten und Indien, wobei er den Cholerabacillus entdeckte, sind zu bekannt, als daß wir sie hier noch des Näheren hervorzuheben brauchen, ebenso würde es über den Rahmen dieser Skizze hinausgehen, wenn wir uns des Weiteren mit den übrigen wissenschaftlichen Verdiensten Kochs befassen wollten.
Das Bild Robert Kochs, als Gelehrter wie als Mensch, ist so schön und ungetrübt, daß man sich immer nur von neuem an ihm erfreuen kann, eingedenk der warmen Worte, die der Kultusminister von Goßler in der Sitzung des preußischen Landtages vom 29. November vorigen Jahres über ihn gesprochen: „Sein Forschungstrieb und seine reine Wahrheitsliebe werden nur erreicht von seiner Uneigennützigkeit und von seiner Liebe zur Menschheit!“
[16]
Truggeister.
Der Tag graute noch kaum, dichte kalte Herbstnebel ließen ihn nicht durchdringen. Die schwarzen Umrisse der Pappeln lösten sich eben aus dem Nichts, raschelnd jagten die Blätter, vom Morgenwinde getrieben, über die gefrorene Landstraße. Eine Reihe einstöckiger, wie nach einem und demselben Plan gebauter Häuser, mit langen, rückwärts in das Feld sich streckenden Bretterzäunen, zog sich in gleichen Zwischenräumen zur rechten Seite derselben hin, der Plänklerkette eines noch unsichtbaren Feindes vergleichbar.
Alle diese Häuser lagen noch in tiefem Schatten, nur eines wachte bereits. Ein gelber Lichthof bildete sich im Nebel, zwei dunkle Gestalten regten sich wie Schattenbilder darin in rhythmischer Bewegung.
Es war Vater Margold, der Gärtner, der laut zählend seinem auf einem Wagen stehenden Sohne Kohlköpfe zuwarf. Bei „Hundert“ hörte er auf.
„Genug, Hans! Jetzt rasch die Blumen und die zwei großen Yucca! Ist schon alles hergerichtet – rasch! rasch! Beim Weinmann drüben sind sie jetzt auch schon auf, und unser Fuhrwerk war sonst immer das erste.“
„Als ob was dran läg’!“ entgegnete sichtlich übelgelaunt der junge Mann.
„Ja, Euch jungen Leuten liegt freilich nichts daran, das ist eben das Elend! Wo Ihr einen Stolz haben solltet, da habt Ihr ihn nicht, aber sonst alleweil oben hinaus!“
Der junge Mann brummte etwas Unverständliches und ging mit der Laterne in den Schuppen. „Schau nur, daß die Bertl fertig wird, wegen meiner brauchst Dich nicht zu kümmern!“ rief er.
Vater Margold ging, das graue Haupt schüttelnd, über den Flur und die knarrende Holztreppe hinauf.
An einer der Thüren klopfte er.
„Bertl!“
„Was giebt’s?“ fragte eine helle Mädchenstimme. „Bist Du’s, Papa? Komm’ nur herein, ich bin schon fertig.“
Margold trat in die niedere Stube. Peinliche Sauberkeit herrschte da bis in die Ecken hinein, ein warmer feuchter Duft lag darüber, der von den Töpfen mit frischem Samen am Fenster ausging. – Vor dem überhängenden Spiegel stand Bertl, sein Kind, und legte die letzte Hand an ihre Toilette.
Sie rückte das spitz zulaufende Hütchen, strich die Falten des Regenmantels in der Taille zurecht, ordnete mit den Fingern die Löckchen an den Schläfen, wandte sich rechts, wandte sich links und zuletzt mit einem Ruck ganz dem Vater zu, militärisch mit den Stiefelchen aneinander klappend.
„Nun, wie gefall’ ich Dir, Papa?“
Der Alte humpelte mit den Schlappschuhen um sie herum und strich da und dort mit seinen krummen erdigen Fingern sorgfältig ein Fältchen zurecht.
„Gefallen? – Was gefällt mir nicht an Dir? Das ist’s
ja eben! Aber schau’, ich mein’ halt – die Bertl Margold bist
Du nicht, die Gärtnerstocher von Haching.“
„Alles zu seiner Zeit, Papa!“
„‚Vater‘! Bertl, ich bitt’ Dich – ‚Vater‘!“ flehte der Alte.
„Im Garten, bei der Arbeit, wirst Du Dich über meine Toilette nicht beklagen können. Das ist eben der Unterschied zwischen Euch Alten und uns Jungen! Ihr haltet es für ein Verbrechen, als Arbeiter denselben Rock zu tragen wie die vornehmen Leut’, und meint, Ihr seid aus einem andern Holz geschnitzt als diese – wir denken ein bißchen anders darüber und kleiden uns ebenso, wenn es uns Spaß macht und wir einen guten lieben Papa – Vater wollt’ ich sagen, haben, der uns das Geld dazu giebt ...“
Sie umarmte und küßte die gebräunten lederartigen Wangen.
„Deswegen sind wir um kein Haar schlechter und rühren ebenso die Händ’, wenn es noth thut – oder ist’s etwa nicht so? Hundert Kohlköpfe gestern zurecht gemacht mit diesen Händen – na, sie sind auch danach!“
Bertl spreizte die kräftigen, für ihre sonst schlanke Erscheinung etwas derben rothen Hände.
„S’ ist wahr. Du arbeitest für zwei! Aber schau – wenn ich so zurück denk’, wie ich jung war – da – man lernt’s halt’ nicht mehr in meinen Jahren –“
„Wie Du jung warst, da war Haching eben noch Haching, ein Bauernnest, und die Stadt M ... ein Landstädtchen, und jetzt giebt es bald kein Haching mehr und wir sind Bürger von M ..., Großstädter! Man muß sich jetzt schon vorbereiten – das kommt über Nacht,“ erklärte das Mädchen.
„Großstädter!“ Der Alte nickte mit dem Kopfe. „Das ist eben das Elend, wir werden aufgefressen von der verdammten Kreuzspinne! Wie weit wir auch fliehen, sie erreicht uns dennoch mit ihren endlosen Fangarmen, das ist ja eben das Elend!“
„Und alle Hachinger, außer Dir, können es nicht mehr erwarten, bis sie aufgefressen werden, um dann in dem Bauch der bösen Spinne ein behagliches Leben zu führen –“
„Nicht alle außer mir! Es giebt noch Männer, die keinen Segen darin sehen, trotz des augenblicklichen Vortheils!“
„Du meinst den Herrn von Brennberg, ich weiß schon – ja, der ist hartgesotten, aber der junge Herr denkt auch anders; wir Jungen rechnen eben ein bißchen –“
„Rechnen?“ – Vater Margold lachte. – „Der junge Brennberg und rechnen? Ja, wie er das Geld seines Vaters am besten durchbringt! ’S ist keine Solidität mehr darin. Und Ihr werdet schon sehen, wie es endet, Euer Rechnen, ich erleb’s nicht mehr, Gott sei Dank!“
[17] Ein dreimaliges Peitschenknallen tönte von der Straße herauf und das Rasseln fahrenden Fuhrwerks.
„Komm, Bertl!“
Sie gingen die Treppe hinunter. Hans saß bereits auf dem Wagen; er trug auffallend sorgfältige städtische Kleidung, ein hellgrauer Filzhut auf dem glatt gescheitelten Haar und ein hellbrauner Ueberzieher gaben ihm ein fast sportsmännisches Aussehen. Frau Margold, die Mutter, eine untersetzte Frau, der man die jahrelange harte Arbeit ansah, stand in eifrigem Gespräche neben dem Gefährte; aber sie paßte in ihrem Werktagskleid gar nicht zu ihren Kindern.
„Jetzt bin ich allerdings nicht mehr der erste,“ sagte Hans, seiner Schwester Platz machend.
„Ja, bis die Bertl fertig ist!“ meinte Frau Margold, mit strahlender Miene ihre Tochter betrachtend. „Aber verstehen thut’s halt das Mädel, ich hab’s mein Lebtag nicht so zusammengebracht – nur schad’, daß die Krautköpf’ Euch verrathen!“
„Verrathen als die Gärtnerskinder! Das ist gut,“ sagte bitter Margold.
„Geh’, Alter, werd’ nicht wieder spitzig! Du weißt ja, wie ich’s meine. Das mußt Du doch selber sagen, daß die Zwei nimmer recht da hinaufpassen – andere Zeiten, andere Leut’!“
„Natürlich, sag’ nur gleich, daß es eine Schand ist – – fahr’ zu, Hans!“
Ein flotter Traber war vorgespannt. Hans verstand es, wie ein Kavalier die Zügel zu führen, das Gefährt sprang nur so auf der gefrorenen Straße, daß die Kohlköpfe lustig in die Höhe hüpften und die Yucca sich in ihren Töpfen schüttelten. Der Traber flog vorbei an den schweren Fuhrwerken, die sich der Straße entlang der Stadt zu bewegten. Hans wollte doch der erste sein.
Allmählich zerrissen die Nebel, die bereiften, gefrorenen Aecker dampften im Morgensonnenstrahl. Es war empfindlich kalt, üble Gerüche verschiedenster Art durchzogen die Luft, entströmten den unzähligen, im Brachfelde zerstreuten Leim-, Farben-, Dachpappen- und anderen stadtverbannten Fabriken, die hier auf Rechnung von Gottes freier Natur ihr Unwesen trieben. Dazwischen bildeten sich bereits geradlinige Häuserreihen – Wirthschaften, Wohnungen von Kleingewerbsleuten – Arbeiterquartiere; und jetzt rasselte das Gefährt an dem ersten Neubau an der Landstraße vorbei, einer riesigen Miethkaserne, der in kurzen Zwischenräumen andere sich anschlossen, weiter vorgeschrittene, eben vollendete, schon bewohnte, links und rechts der Straße. Die Pappeln waren schon längst verschwunden, seitwärts in die Felder zogen sich bereits weit hinaus frisch ausgesteckte Straßen, Grund wurde ausgehoben – überall Arbeitslärm, Reihen von Ziegelfuhrwerken – es war einer der vielen Fangarme von Margolds so gefürchteter Spinne, welche täglich ein neues Glied ansetzte. Das Unthier schien jetzt einen bestimmten Raub gierig ins Auge gefaßt zu haben, so zielbewußt reckte es die Fänge – – Haching!
Das Stoßen des Wagens ließ die Geschwister nur zu einem
abgerissenen Gespräch kommen. Die Neubauten beschäftigten sie beide.
Wie stattlich die mit aufgepappter Stukkatur geschmückten Fronten
dalagen! Kaum eingedeckt, waren die Häuser auch schon bewohnt!
Diese Einnahmen von einem Stück Boden, auf welchem vor einem
Jahre noch schlechte Kartoffeln wuchsen! Und da jammerte der
Vater über die Kreuzspinne, die, nachdem er selbst sie sein ganzes
Leben lang mit seiner Arbeit hatte ernähren helfen, jetzt in
der Ueberfülle ihrer Kraft sich dehnte und streckte! Im Gegentheil,
sie war ein dankbares Geschöpf, welches ihm seine viele
Arbeit, den vielen um sie vergossenen Schweiß reichlich lohnen
wollte, indem sie ihn in ihre steinernen Fänge schloß. – So
dachten beide.
Rechts von der Straße, von Fabriken und Neubauten fast verdeckt, erblickte man im freien Felde ein schloßähnliches Bauwerk im französischen Stil des vorigen Jahrhunderts, an welches sich ansehnliche Wirthschaftsgebäude anschlossen.
Es bildete mit seiner vornehmen alterthümlichen Fassade einen starken Gegensatz gegen die geschmacklosen nagelneuen Kasernenbauten, welche dem Schlößchen bedenklich auf den Leib rückten. Die Spinne war sichtlich auch danach lüstern; quer über die Felder richtete sich drohend eine eben im Bau begriffene Häuserreihe gerade gegen die Front des Gebäudes, wenn auch noch eine ansehnliche Strecke Feldes dazwischen lag.
Hans stieß mit dem Arm die Schwester an und wies mit der Peitsche hinüber.
„Der Brennberg ist auch so ein Narr, thut alles, um die Ausbreitung der Stadt nach seiner Seite zu verhindern, und pflanzt seine Erdäpfel weiter, nur wegen des alten Kastens, der schon seinem Urgroßvater gehört hat. Könnt’ ein Millionär sein, wenn er wollte – na, der Lieutenant wird ihn schon mürbe machen! Ein fescher Mann, der junge Brennberg, nicht wahr, Bertl?“ Er lachte verschmitzt. „Dein Freund!“
Bertl ließ ihr von der Kälte geröthetes Antlitz in dem hohen Kragen des Regenmantels verschwinden.
„Das war er auch, wie der Vater noch dort im Dienst stand – Gott, wir waren Kinder, die kennen keinen Unterschied! Jetzt ist das alles aus! Ein Offizier und eine Gärtnerstochter von Haching – das wär’ eine nette Freundschaft!“
„Wenn Du eine Gärtnerstochter von Haching bleibst, dann ist’s freilich aus – aber ein reiches Bürgermädel von M .... ist auch für einen Lieutenant gut genug.“
„Dazu habe ich alle Aussicht!“ meinte Bertl.
„In vier Wochen könntest Du’s sein, wenn der Alte vernünftig wär’! Der alte Weinmann, unser Nachbar – da hast Du’s ja – heute soll’s verbrieft werden – 100 000 Mark kriegt er für seine zwei Hütten und seine drei Acker Land, und unser Vater hat mehr im ganzen.“
„Wirklich, 100 000 Mark? Und da springst Du und singst Du nicht? Da brauchst Du ja den Vater gar nicht mehr!“
„Warum?“
[18] „Geh’, verstell’ Dich nicht so! Glaubst Du, ich hab’ keine Augen und kenn’ Dein Techtelmechtel nicht mit der Loni Weinmann? Sie selbst hat mir schon davon erzählt.“
„Ich leugne’s auch nicht,“ entgegnete Hans, das Pferd zu stärkerem Lauf antreibend; „aber grad die 100 000 Mark ändern die Sach’, ich kenn’ die Loni!“
„Die können’s doch nur zum Guten ändern, mein’ ich.“
„Das meinst Du, die Bertl; die Loni denkt aber anders, die will jetzt keinen Gärtnerburschen von Haching mehr zum Mann haben – die will höher hinaus –“
„Eine nette Lieb’!“ warf Bertl ein.
„Aber es ist so, und recht hat sie!“ Hans hieb zornig auf das Pferd, daß dieses einen Seitensprung machte und ein Krautkopf auf die Straße kollerte. „Wenn man aus dem Elend einmal heraus ist, will man nicht wieder hinein, und am End’ – der Vater ist ein kräftiger Mann – der kann noch –“
„Hans!“ fuhr Bertl auf, „schäme Dich! Laß sie laufen, es ist kein Schade um so ein herzloses Ding. Sei froh, daß Du sie zur rechten Zeit erkannt hast! Wenn ich so seh’, wie’s Geld doch schlecht und hart macht, mein’ ich, der Vater hat am End’ ganz recht. Es käm’ mich selber hart an, von meinen Blumen weg zu müssen, aus meinem Garten, wo ich jede Pflanze kenn’; es ist doch eine schöne, lustige Arbeit, viel lustiger, als den ganzen Tag in so einem langweiligen steinernen Haus zu sitzen und sich zu langweilen wie eine vornehme Dame. Abgehen thut uns ja nichts – er hat ganz recht, der Vater!“
„Nun, dann schlag’ Dir den Lieutenant aus dem Kopf und behalte Deine Blumen und Krautköpf’ dafür, Bertl!“
„Was Du nur mit dem Brennberg hast – als ob ich – ich verbitt’ mir das, Hans, als ob ich – es ist zu unartig, wenn Du so sprichst, was sollen die andern Leut’ – – kann ich dafür, wenn er mir überall nachläuft? Du solltest mich in Schutz nehmen gegen ihn, anstatt – anstatt –“ Bertl standen die Thränen in den Augen – „o, ich hasse diese Stadt! Der Vater hat ganz recht – ganz recht hat er!“
„Du bist nicht gescheit, Bertl,“ entgegnete Hans, „als ob ich Dir nicht recht gäbe? Nur nicht so heucheln sollst Du. Schau – wir wollen alle beide was besseres werden, als der Vater und die Mutter waren – wollen einmal das Leben besser genießen. Das macht der Stadtwind, da nutzt alles nichts, und daß Du es als Frau von Brennberg genießen willst, das werd’ ich Dir nicht verdenken – war auch alles schon da – es kommt nur drauf an, wie man’s angreift.“
„Jesus, was der Mensch heut’ alles zusammenred’t! Als ob ich daran dächte!“ – –
Man war jetzt in der eigentlichen Stadt angelangt, Bertl trocknete sich rasch mit dem Taschentuch die nassen Augen, rückte das Hütchen zurecht und zog dann den Schleier wieder herab.
Auf den Straßen drängte sich zu dieser frühen Stunde nur die arbeitende, dienende Klasse, die Fenster der vornehmen Häuser waren alle noch mit schweren Gardinen verhangen. Bertl fiel das heute besonders auf, und ihre Phantasie schlüpfte hinter die Vorhänge in prächtige Gemächer mit kostbaren Möbeln, kostbaren Spitzenbetten, jeden Laut dämpfenden Teppichen – sie hatte das alles schon als Mädchen gesehen, wenn sie mit Aufträgen ihres Vaters in die Häuser der Reichen kam. Heute aber sah sie sich zum ersten Male selbst hinter diesen verschwiegenen Gardinen, in dem duftigen Spitzenbett, und vor ihr stand ein schöner junger Mann in glänzender Uniform und drückte einen Kuß auf ihre Stirn, wie es bei den Vornehmen Sitte ist, und wünschte ihr guten Morgen. – – Lieutenant von Brennberg! – Von einem Fenster zum andern schweifte ihr Blick und hinter jedem sah sie dasselbe Bild! –
Jetzt kam man durch das Geschäftsviertel – da verschwand der schöne Traum, und um sie her sprangen wieder die Krautköpfe, gaukelten die Blumen, die sie so sehr liebte, von denen sie sich nicht trennen konnte, wie sie eben dem Bruder gesagt. Wie das alles durcheinander stürmte hinter der kleinen, schneeweißen Stirn! Daran war nur der Hans schuld mit seinem dummen Geschwätz.
Nun war man auf dem Marktplatze. Der wirre Lärm, das bunte Gedränge, diese ihr heimische Atmosphäre von Obst– und Blumenduft, Fleisch- und Fischgeruch verscheuchten auf einmal alle müßigen Gedanken. Rasch eine Schürze vorbindend, griff Bertl wacker zu, die Blumentöpfe und die Yucca mit dem Bruder in den Stand zu schleppen, auf welchem in goldenen Buchstaben stand: „Thomas Margold.“
Der Markt war bereits gefüllt, es schillerte von kräftigen bunten Farben; da lagen in Pyramiden aufgeschichtete rothbackige Aepfel, strotzende Trauben, Berge von Gemüsen in allen Schattirungen des Grün, daneben scharfriechende Gewürzpflanzen, Sämereien, in zierlichen Säckchen ausgestellt, verlockende Butter in großen Ballen, ätzend riechendes Sauerkraut in mächtigen Kübeln, weißglänzendes Schmalz und in der Sonne rosig schimmernde Eier; dazwischen tönte das Gegacker unzähliger Hühner, das Gequiek der Schweinchen, Gemecker der Lämmchen und Gurren der Tauben – das lärmende, lawinenartig sich fortpflanzende Gefeilsche der Käufer und Verkäufer, das Fluchen der Bauern und Fuhrleute, helles Gelächter – – das alles sammelte sich im Glanze der Oktobersonne zum farbigen, kraftstrotzenden Lebensbilde. –
Die fruchtreiche, liebevolle Erde schüttete hier ihre Schätze auf zur Fütterung des steinernen Kolosses, der hochmüthig mit seinen Thürmen und Palästen hinausblickte auf ihre durchwühlten bescheidenen Fluren, und ihr kräftiger aromatischer Duft lag wie eine segenbringende Wolke über dem Platz, den wüsten Dunst verbrauchter Luft, den Qualm des Häusermeeres ringsumher besiegend. –
Neben dem Verkaufsstand Thomas Margolds lag der seines Nachbarn von der Landstraße, des Gärtners Weinmann. Er war heute geschlossen und bildete einen schmutzig grauen Fleck inmitten des Blumenwaldes ringsum. Jedermann wußte, warum. Weinmann hatte sein Anwesen verkauft, der Kaufpreis betrug, wie der junge Margold berichtete, 100 000 Mark; er verursachte allgemeine Aufregung. Weiber und Männer starrten in Gruppen mit einer gewissen Ehrfurcht auf den alten staubigen geschlossenen Kasten. Solch ein Glück! Das große Los! Und womit haben sie es denn verdient, die Weinmanns? Waren sie besser wie andere? Nur, weil ihr Anwesen gerade im Wege lag! Warum hatte man nicht auch das Glück? Warum mußte diese verfluchte Stadt gerade dorthin sich ausdehnen, auf der andern Seite konnte man sich zu Tod arbeiten und kam doch zu nichts. Nun, der wird jetzt den Großen spielen, und die Loni, diese eitle Person, wie wird’s die jetzt erst treiben!
Diejenigen, welche in gleicher Richtung wie Weinmanns ihre Gärten hatten, befiel ein ordentliches Fieber; sie berechneten mit pochendem Herzen ihren jetzt sicheren Erlös, sie sahen schon den Tag nahe, wo auch ihr Stand geschlossen sein würde, wo auch sie zu den Verzehrenden, nicht zu den Ernährenden dieser Stadt gehören, wo sie der schwarzen Erde, die sie ein Leben lang umgewühlt hatten, Lebewohl sagen würden, wo das ewige Säen endlich aufhörte und die ewige mühelose Ernte begann.
Kein dankbarer Gedanke, kein Quentchen Liebe blieb übrig für die getreue stetige Ernährerin, die ihnen jede Arbeit reichlich gedankt hatte. Das lustige Brausen der Großstadt umher betäubte sie jetzt schon, und jeder hatte seine heimlichen üppigen Wünsche, die er dann zu befriedigen gedachte. Genießen, mühelos genießen!
Dieser Zuruf erscholl ja in allen Tonarten aus allen Häusern, aus den glänzenden Läden der stattlichen Paläste, aus den Restaurationen und Vergnügungslokalen, den üppigen Auslagen der Bilderläden, die sie auf ihrer Wanderung durch die Stadt so oft staunend mit geheimer Begierde betrachtet hatten. Das alles gehörte jetzt auch den Weinmanns, gehörte auch ihnen in kurzer Zeit, und der geschlossene Stand dünkte ihnen der Sarg der Arbeit – sie wollten ihn tüchtig vernageln, wenn sie einmal so weit wären, daß er gewiß sich nicht mehr öffnete und ihre Quälerin aufs neue ans Tageslicht erstehen ließe.
Hans war zunächst der Mittelpunkt des allgemeinen Neides; als Nachbar Weinmanns mußte sein Vater ja sofort an die Reihe kommen, und man konnte seine helle Freude nicht verbergen, als Hans den Starrsinn desselben schilderte – eines ausgemachten Narren in den Augen aller.
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Badisches Lehrerinnenheim in Lichtenthal bei Baden-Baden. Im Jahre 1884 faßten die Vorsteherin des Prinzessin Wilhelm-Stiftes in Karlsruhe und eine Lehrerin der gleichen Anstalt den Entschluß, zum Besten ihrer Standesgenossinnen einen Verein zu begründen, dessen Zweck die Beschaffung eines Heims sei, in welchem erholungsbedürftige, kränkliche und altersschwache Lehrerinnen sich erholen und genesen, sowie auch den Rest ihrer Jahre verbringen könnten. Sie warben und gewannen Boden zunächst in engerem Kreis. Zu Anfang des Jahres 1888 aber ging man, unterstützt von hohen Gönnern und Freunden und unter dem besonderen Schutz und Beistand der Frau Prinzessin Wilhelm von Baden, an die Begründung eines festen Vereins. Man forderte eine größere Zahl von Lehrerinnen zum Beitritt auf, und im Juni 1888 konnte die grundlegende Versammlung des „Vereins badischer Lehrerinnen“ stattfinden, welcher nunmehr die oben bezeichnete Aufgabe förmlich in seine Satzungen übernahm.
Ordentliche Mitglieder des Vereins können in erster Linie alle badischen Lehrerinnen werden, doch kann der Vorstand auch außerbadische aufnehmen. Außerordentliches Mitglied kann jedermann werden, der entweder 50 ℳ auf einmal oder einen selbstbestimmten Jahresbeitrag zahlt. Die ordentlichen Mitglieder zahlen ein Eintrittsgeld von 2 ℳ; ihre Jahresbeitragsverpflichtung richtet sich nach ihren Jahreseinnahmen aus ihrem Beruf und zwar so, daß von Einkommen bis 700 ℳ 3 ℳ, von 700 bis 1200 ℳ 5 ℳ und von mehr als 1200 ℳ 7 ℳ erhoben werden. Lehrerinnen, welche nicht bei Antritt ihrer ersten Stelle Mitglied des Vereins werden, haben bei späterem Eintritt entsprechende Nachzahlungen zu leisten. Wer zwei Jahre dem Verein angehört, hat Anspruch auf Aufnahme in das Heim; dahin gehende Gesuche sind an den Vorstand zu richten. (Adresse: Fräulein M. Lanz, Vorsteherin des Prinzessin Wilhelm-Stifts. Karlsruhe, Sophienstraße 33.) Soweit es der Raum erlaubt, werden auch Kurgäste im Heim aufgenommen. Besonders erfreulich ist die erste Erfahrung in dieser Beziehung. Viele einzelne Damen, sogar ganze Familien aus allen Theilen Deutschlands und aus dem Auslande haben es sich für längere und kürzere Zeit wohl sein lassen in dem friedlichen Heim badischer Lehrerinnen.
Die erste Thätigkeit mußte sich auf Sammlung von Geldmitteln zur Beschaffung des Heims beschränken; der Verein fand auch reiche Unterstützung, und mit Hilfe eines in Karlsruhe veranstalteten Bazars war das Kapital im Frühjahr 1890 glücklich auf 53 000 ℳ gebracht. Der Zweck des Vereins konnte unter solchen Umständen sehr rasch erreicht werden, und der Vorstand erwarb in Lichtenthal bei Baden-Baden die an der Lichtenthalerstraße gelegene, im Schweizerstil erbaute Villa Salem. Hier in der gesunden und herrlichen Lage in dem engen Oosthal, dessen beide Seiten die Schwarzwaldberge mit ihren schönen Waldungen bilden, sollen in Zukunft erholungsbedürftige und abgearbeitete oder kranke Lehrerinnen eine Zufluchtsstätte finden, sie sollen sich Gesundheit holen an Baden-Badens berühmten Heilmitteln und Kraft schöpfen aus dem würzigen Tannenduft, der sie umzieht. Möge das Heim dieses Ziel in vollem Umfange erreichen; und möge es zugleich eindringlich verkündigen, was werkthätiger Gemeinsinn vermag!
Ein weltbewegender Fund. Am 19. Januar 1848 fand ein gewisser James Marshall im Mühlgraben von Sutters Mühle bei Coloma in der kalifornischen Grafschaft El Dorado ein Stückchen gelbes Metall – es war gediegenes Gold im Werthe von 5 Dollar. Es ist noch in aller Erinnerung, wie auf diese Nachricht hin gleich einer Sturzwelle Tausende und Abertausende, Abenteurer und unternehmende Leute, aus der halben Welt das Land überflutheten, so daß es, bis dahin „Territorium“, schon 1849 zum „Staate“ erhoben werden konnte. Seitdem hat Kalifornien für nicht weniger als 1174 Millionen Dollar an Gold erzeugt. Freilich ist der frühere Raubbau gegenwärtig regelrechtem bergmännischen Betriebe gewichen.
Kalifornien hat jenen glücklichen Finder nicht vergessen. In Coloma hat man neuerdings Marshall, dem Schöpfer des vaterländischen Wohlstandes, eine Statue errichtet.
Etwas vom guten Vater Haydn. Moritz von Schwind, der tief musikalische Meister, der selbst die Violine sehr tüchtig spielte und in seiner Jugend mit Schubert in Wien innig befreundet war, erzählte gern von jenen goldenen Tagen. Er selbst hat Beethoven noch dirigieren sehen und aus guter Quelle damals folgende kleine Geschichte gehört, die zu viel innere Wahrscheinlichkeit für sich hat, als daß man sie unter die Klasse der „ben’ trovati“, der „gut erfundenen“, einreihen dürfte.
Bekanntlich war Beethoven zuerst bei Haydn als Schüler eingetreten, aber ihm auch sehr bald wieder aus der Lehre gelaufen. Das wurmte den alten Herrn, und als ihm noch zum Ueberfluß ziemlich respektlose Aeußerungen des jungen Feuerkopfes berichtet wurden, steigerte er sich in einen seiner Herzensgüte sonst fremden Aerger hinein. Besonders ein Ausdruck stieß dem Fasse den Boden aus; es hieß, Beethoven habe ihn einen „alten Parruckenstock“ genannt! Darüber sehr ergrimmt, rief Haydn aus: „Der junge Mensch! Was untersteht sich der, mich zu tadeln? Was hat er denn bis jetzt gemacht, daß er sich so aufspielt?! .. Die paar Sonaten – na, sie sind soweit nicht übel, wenn auch nichts Besonderes dran ist. Die Quartetten? .. (nachdenklich) Ja, die sind gut! Wirklich gut! .. Und das Septett?! Ach, das ist wunderschön! Sein Angesicht leuchtete verklärt von edelster Mitfreude, und den Anfang seiner Rede hatte er gänzlich vergessen!Br.
Der Streit zwischen Kriemhild und Brunhild vor dem Münster zu Worms. (Zu dem Bilde S. 4 und 5.) Urkräftig, voll elementarer Wucht sind die Leidenschaften, welche das „Nibelungenlied“ seinen Helden verleiht, und es ist verständlich, daß moderne Forschung in dem mittelhochdeutschen Epos die Spuren der grausam harten Merovingerzeit hat entdecken wollen. Wenn wir vom Untergange der Nibelungen am Hunnenhofe Attilas absehen, so finden wir wohl keine Scene im ganzen Liede, die an dramatisch bewegter Wildheit diejenige überträfe, in der die „Küniginne ein ander schulten“, jene Scene, da Siegfrieds Weib, Kriemhild, unter der Pforte des Münsters zu Worms dem Weibe des Königs Gunther, Brunhild, den Vortritt streitig macht.
Schon am Abende vor dem Kirchgang hat Kriemhild die Nebenbuhlerin gereizt durch überschwängliches Lob ihres Gatten; sie hat von ihm das schöne Wort gesprochen:
„Siehst Du, wie er steht,
Wie er da so herrlich vor allen Recken geht,
Wie der lichte Vollmond vor den Sternen thut!“
Sie hat bestritten, daß Siegfried Gunthers Dienstmann sei, und zur öffentlichen Probe dessen verkündet, daß sie morgen vor des Königs Weib zur Kirchenthüre gehen werde. Und sie thut es! Mit königlicher Pracht tritt sie auf beim Zuge zum Münster; und als die eifersüchtige Königin ihr vor versammeltem Geleitsvolk verbietet, daß sie, die Eigene, vor des Königs Weibe gehe, da bricht sie los und hält Brunhild den Gürtel und Ring vor Augen, welche ihr Siegfried unter dem Schutze der unsichtbar machenden Tarnkappe abgenommen hat.
Aber Brunhild ist nicht die Frau, die sich ungestraft vor allem Volke so aufs tiefste demüthigen läßt. Ein heißer Durst nach Rache läßt sie mit dem grimmen Hagen jenen heimtückischen Mordplan ersinnen, dem Siegfried im Wasgenwalde zum Opfer fällt; Hagens Speer durchbohrt den Leib des Helden an der einzigen Stelle, da er verwundbar ist, an der Stelle, die Kriemhild selbst durch das ins Gewand gestickte Kreuz gezeichnet hat, so ahnungslos dem Mörder die Wege ebnend. Und nun ist wiederum Kriemhilds Leben ein einziges Rachesinnen, bis endlich alle, Schuldige und Unschuldige, Freunde und Feinde, in jenem schauerlichen Völkermorden am Hunnenhofe König Etzels zu Grunde gehen, bis Kriemhilds ungestilltes Rachesehnen im Blute des verhaßten Hagen sich gesättigt und sie selbst von dem entsetzten Meister Hildebrand, dem Recken Dietrichs von Bern, den Todesstreich empfangen hat.
Und Brunhild? Was ist aus ihr, der eigentlichen Urheberin all dieses Unheils, geworden? Wir erfahren es nicht, der Sänger des Nibelungenliedes hat sie über dem fürchterlichen Drama im fernen Osten, das er zu schildern hatte, vergessen – ein Zug jener künstlerischen Naivetät, mit der vorwiegend schöpferisch veranlagte Zeitalter den rechnenden, messenden, klügelnden Sohn einer ärmeren Zeit so oft überraschen.
Eine neue Waschmaschine. „Wenn die Weiber waschen und wursten, müssen die Männer hungern und dursten“ sagt der böse Volksmund. Wir sind heute in der angenehmen Lage, wenigstens für den ersten Theil, das Waschen, eine gründliche Abänderung in Aussicht zu stellen. Ein findiger Amerikaner – Linclair Arcus heißt dieser Wohlthäter der Menschheit – hat ein Patent genommen auf die Verbindung einer Waschmaschine mit einem Schaukelstuhl. Letzterer steht über dem Wäschebehälter und setzt beim Schaukeln die Maschine in Bewegung. Eine große Ledermanschette verhindert, daß der Laugengeruch belästigt. Unsere Waschnymphe setzt sich in den – natürlich gepolsterten – Stuhl, schaukelt sich gemüthlich etwa eine halbe Stunde lang, – und die Wäsche ist fertig. Den zweiten Theil, das Wursten, werden sich die Männer in Zukunft schon gefallen lassen.
„Väterchen, Deine Nase!“ Diese Anrede hört man im Winter in Rußland bei strengem Frostwetter; denn dort gehört es zu den ersten Menschenpflichten, jeden, dem man in der Kälte begegnet, auf dessen Nase hin anzusehen. Dies hängt folgendermaßen zusammen: Glieder, die derart abgekühlt werden, daß sie nahe daran sind, zu erfrieren, werden gefühllos, aber man sieht ihnen die Gefahr an, da sie in diesem Zustande ganz weiß werden. Seine eigene Nase kann aber nicht jeder sehen, und so ist die Warnung eine Pflicht des Nächsten. Der Gewarnte nimmt alsdann Schnee und reibt seine Nase, um den Blutumlauf anzuregen. – Wenn wir auch nicht in Rußland leben, so ist doch auch bei uns dieser Warnungsruf im kalten Winter am Platze. Selbst leichte Grade des Erfrierens können als unangenehme Nachwehen eine rothe Nase zurücklassen. „Väterchen, Deine Nase!“ könnte man auch denjenigen zurufen, die zu tief ins Glas schauen. Vielleicht hilft’s! Versuchen kann man es jedenfalls.*
Frauen- und Männersprache. Eine der seltsamsten Sprachgewohnheiten hat sich bei dem menschenfressenden Stamme der Kariben ausgebildet, welche Indianer wir alle aus der Jugenderzählung „Robinson Crusoe“ kennen. Unter ihnen hatten die Frauen und die Männer eine besondere Sprache. Der ganze bekannte Wortreichthum der alten Karibensprache beträgt etwa 3000 Wörter. Vierhundert davon sind doppelt vorhanden, und die einen waren für die Männer, die anderen für die Weiber bestimmt. Wir können uns in diese Spracheigenthümlichkeit hineindenken, wenn wir z. B. annehmen, daß im Deutschen die Männer nur immer „Stuhl“ und „Käfig“, die Frauen aber immer nur „Sessel“ und „Bauer“ sagen dürften. So hieß z. B. der Stamm der Kariben selbst in der Männersprache „Kallinago“ und in der Frauensprache
[20] „Kalliponan“. Bei andern Völkern giebt es wohl die Sitte, daß gewisse Wörter oder Namen von Frauen in Gegenwart von Männern nicht ausgesprochen werden dürfen, aber in dieser Zweitheilung der Sprache dürfte der Karibenstamm einzig in der Welt dagestanden haben.*
Bilder aus dem Ueberschwemmungsgebiet. Die Wassermassen, welche in den letzten Tagen des November vor. J. große Zerstörungen im mittleren und nördlichen Deutschland und in Böhmen anrichteten, haben sich wieder verlaufen, und mehr und mehr gewinnt man einen Ueberblick über den Schaden, welchen sie verursacht haben. Da sind es zunächst die Stromgebiete des Rheins und der Weser mit Werra und Fulda, die gelitten haben; an der deutschen Ostseeküste stiegen die Wasser infolge eines heftigen Nordoststurms so sehr, daß man eine Katastrophe wie diejenige des Jahres 1872 befürchtete. Wie es in Böhmen, in Karlsbad aussah, das haben unsere Leser aus Nr. 51 des vor. Jahrgangs erfahren. In Thüringen wurde fast jeder Bach zum reißenden Strome, ganz besonders gefährlich hat sich aber die Saale erwiesen, jener sagen- und poesieumwobene Strom, an dessen „hellem Strande“ so manches muntere Lied aus kräftiger Burschenkehle ertönt. Ja, gerade die Umgebung der alten Musenstadt Jena gehört zu den am schwersten heimgesuchten Strecken. Aber auch alle anderen Ortschaften an dem vielgewundenen Lauf der Saale können erzählen von den bösen Novembertagen. In Kösen rissen die Fluthen die uralte Saalebrücke mit weg und Pioniere mußten durch Anlage einer Pontonbrücke die nothwendige Verbindung wiederherstellen. In Naschhausen bei Dornburg sind zehn Häuser eingestürzt, und die nebenstehende Abbildung giebt uns eine Vorstellung, wie es in dem Dorfe nach dem Abzuge des bösen Feindes aussah. Die obere Abbildung vergegenwärtigt uns die Zerstörungen an der Schmiede zu Weigau bei Camburg, anderthalb Wegstunden unterhalb von Naschhausen.
Wir hoffen, daß, bis diese Zeilen in die Hände unserer Leser gelangen, schon recht viel geschehen sei zur Linderung der Noth in den von der Ueberschwemmung heimgesuchten Gebieten. Vielleicht aber, daß die lebendige Anschauung von der furchtbaren Wucht des entfesselten Elements, wie sie unsere heutigen Bilder geben, doch da und dort noch einen Säumigen ansporne, das Seine zu thun in opferwilliger Barmherzigkeit. Gelegenheit dazu ist ja überall gegeben und es wird keinem schwer fallen, in den öffentlichen Tagesblättern eine Sammelstelle zu finden, die seine Gabe an die Nothleidenden übermittelt.
Der Ofen als Ventilator. Der Ofen wird namentlich in der Winterszeit als ein ausgezeichneter Ventilator gerühmt, und das ist er auch, denn er saugt, wenn er geheizt wird und solange die Esse warm ist, eine gewaltige Menge Luft vom Zimmer ab. Viele setzen noch dieser natürlichen Ofenventilation die Krone auf, indem sie über dem Ofen ein Loch mit einem Thürchen in die Esse schlagen lassen. Auch dieses Loch saugt eine Masse der oben an der Decke angesammelten Luft ab. Leider sind aber diejenigen, die da meinen, daß damit schon genug für die Ventilation gethan sei, im Irrthum. Bei einer zweckmäßigen Lüftung der Wohnzimmer kommt es nicht nur darauf an, daß die schlechte Luft fortgeschafft wird, sondern auch darauf, daß an ihre Stelle reine Luft eintritt. Wissen wir nun, woher bei der natürlichen Ofenventilation die „frische“ Luft ins Zimmer kommt? Treten wir, während der Ofen brennt und die Fenster geschlossen sind, mit einer brennenden Kerze an die Thür, die nach dem kalten Vorsaal führt, und halten das Licht an das Schlüsselloch. Da sehen wir sofort an der vom Windzuge abgelenkten Lichtflamme, wie der Ofen die Luft aus dem Vorsaal ansaugt. Also wir erhalten bei dieser Ventilation zumeist die Luft aus dem Vorsaal, dem Treppenhause u. s. w. in das Zimmer. Ob sie immer rein und gesund ist, muß dahingestellt bleiben. Oft kann der Ofen eine sehr schlechte Luft ansaugen.
Wie verhüten wir das? Oeffnen wir einmal das Fenster und kehren mit dem Lichte an das Schlüsselloch zurück. Die Flamme brennt jetzt ruhig, der Ofen saugt auf dem weniger Widerstand bietenden Wege die Luft von der Straße an. Da haben wir die nöthige Belehrung. Wir ventilieren erst dann richtig, wenn wir nicht nur für den Abzug der schlechten, sondern auch für den Zuzug der frischen Luft Sorge getroffen haben. Wo sich keine anderen Einrichtungen treffen lassen, ist es am zweckmäßigsten, eines der oberen Fenster mit einer Glasjalousie versehen zu lassen. *
Hermann Kaulbachs „Mondfee“ (Zu unserer Kunstbeilage.) In diesem Bilde erhalten unsere Leser das erste von den zwölf Kunstblättern, welche wir außer den zwei bisher schon üblichen farbigen Beilagen dem Jahrgange der „Gartenlaube“ in regelmäßiger Folge beizugeben gedenken. Wir hoffen, daß diese neuen Kunstbeilagen durch die Schönheit ihrer Ausstattung sich den vollen Beifall unserer Abonnenten erwerben und daß die Nummern, welche ein solches Blatt enthalten, jedesmal mit besonderer Freude begrüßt werden.
Inhalt: [Anm. WS: Inhaltsverzeichnis des vorstehenden Heftes, nicht transkribiert]
- ↑ Den größten Theil meiner Studien machte ich in der reichen Sammlung von Modezeitungen, welche die „Europäische Moden-Akademie“ zu Dresden besitzt. Es sei mir gestattet, hier meinen Dank dem Direktor der Anstalt, Herrn Strobel, auszusprechen, der mir die Sammlung erschloß.