Die Gartenlaube (1891)/Heft 2
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Nr. 2. | 1891. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Eine unbedeutende Frau.
Frau Antje stand nach ein Weilchen an ihrem Wäschespind und
versuchte, einen Knoten zu lösen, der sich durch das Spiel
mit dem Bande verschlungen hatte, aber diese Bemühung schien
eine rein mechanische zu sein, denn als jetzt ein Diener
durch den Flur zum Speisesaal hinüber schritt, fuhr sie
erschreckt zusammen, ordnete eilig die Wäschestöße und
schloß den Schrank. Dann ging sie hinunter in das
Souterrain, wo in blitzender Küche die alte Köchin,
die schon zwanzig Jahre in Antjes Vaterhause als solche
gedient hatte, vor dem blendend weißen Anrichtetisch
stand und beschäftigt war, eine Anzahl Schüsseln mit
kaltem Fleisch und andern appetitlichen Sachen zu belegen.
„Laß es gut sein, liebe Classen,“ sagte die junge Frau, „der Herr speist nicht daheim heute abend, er mußte ganz plötzlich nach Dresden.“
Das alte Gesicht unter der sauberen Haube starrte die Herrin mit einem Ausdruck von Erstaunen an, als habe diese soeben verkündet, morgen gehe die Welt unter, oder dergleichen. Antje hatte sich umgewandt und sah angelegentlich in die spielenden Flammen des Herdes; sie antwortete auch nicht auf die hastige Frage der Alten: „Heute - Ant - heute, Frau Jussnitz? Grad’ heute mußte er fort?“
„Ich trinke wie gewöhnlich meinen Thee -“ scholl es vom Herd zurück.
„Schon gut, gnä’ Frau – ja – aber – –“
„Und schicke den Diener zur Frau Baronin hinüber, liebe Classen, ich bedauerte sehr, daß aus unserer kleinen Ueberraschung nichts werden könne, der Herr habe plötzlich nach Dresden fahren müssen, und ich – mit mir allein – ich habe Kopfschmerzen. – Frau von Erlach möge uns ein andermal die Freude machen. Hast Du verstanden, liebe Classen? Oder soll ich es aufschreiben?“
Sie griff mit der Hand nach der Stirn, wartete eine Antwort nicht ab und verließ die Küche.
„Ja wohl, ich hab’s verstanden,“ murmelte die alte Frau, die ihr mit den Augen folgte, „freilich hab’ ich’s verstanden. O du lieber Himmel! Und heute sind’s just vier Jahre, daß sie Mann und Frau wurden! Ich hab’s gleich gesagt, als er sich in der Kirche so umgeschaut hat, während er mit dem Kinde zum Altar ging, ’s wird all mein Tag nichts Gutes daraus. – Warum hat sie ihn auch um jeden Preis haben wollen, konnte ’nen andern kriegen, als so einen, einen – !“
Sie stieß ingrimmig ein paar Schüsseln auseinander, und in dem Klirren ging die wenig schmeichelhafte Bezeichnung verloren, die sie dem Gatten ihrer angebeteten jungen Herrin gab.
„Nicht einmal eine Aussteuer hat er gehabt!“ schalt sie weiter, und dann trippelte
[22] sie zum Sprachrohr und beorderte den Diener, um den Befehl ihrer Herrin ausführen zu lassen.
Die junge Frau war währenddem die breite Treppe hinauf gestiegen und hatte mit bitterem Lächeln ihr Zimmer betreten. Bis jetzt hatte er doch wenigstens nicht versäumt, sie durch irgend eine kleine Aufmerksamkeit an diesem Tage zu erfreuen; war er denn derartig erbittert, daß er sie so hart bestrafen mußte für etwas, was doch jedem Menschen zusteht als sein gutes Recht? Durfte sie allein keine Sympathien und keine Antipathien haben? Durfte sie allein nicht sagen: dieser Mensch ist mir lieb und jener weniger angenehm? Was konnte sie dafür, daß diese Baronin ihr in tiefster Seele so zuwider war, wie sie Leo aus tiefster Seele zu entzücken schien? Freilich, sie hätte schweigen sollen, aber das war Leo auch nicht recht –.
Sie seufzte und schritt zum Fenster hinüber, durch welches der letzte blasse Schimmer des Abendroths quoll. Die beiden großen Linden, deren Gezweig sich grell von dem blaßgoldenen dämmernden Himmel abhob, hatten kaum noch ein Blättchen, die sehnsüchtigen Frauenaugen konnten deutlich durch das Geäst der Bäume in die Ferne sehen; wie ein Miniaturbildchen in verschnörkeltem Rokokorahmen erblickte sie die im bläulichen Abendduft schimmernden Thürme Dresdens. Sie sah hinüber, bis ihr das klare Wasser in die Augen trat und die runde Kuppel der Frauenkirche in der rasch hereinbrechenden Dämmerung verschwamm. Ihre Hand strich mit dem Tuche über die Augen, aber sie blieb regungslos stehen, sie dachte, wie sie heute vor vier Jahren um dieselbe Zeit neben ihm durch den herbstlichen Wald gefahren war mit einem so dankbaren großen Glück im Herzen, einer wundervollen Zukunft entgegen – wie sie gemeint!
Wenn sie nur anders sein könnte, nicht so „schwerfällig“, nicht so „spießbürgerlich“, wie Leo gestern abend in vollster Heftigkeit gesagt hatte. Aber sie fühlte so deutlich, sie würde es nie lernen, jenes gefällige „sich gehen lassen“ in der Unterhaltung; nie begreifen, wie man es macht, zu lächeln über Sachen wie – nun, wie zum Beispiel über jene Geschichte, welche die Baronin gestern mit ihrer tiefen schönen Altstimme so gewissermaßen komisch dramatisch vortrug, die Geschichte zweier Eheleute, die sich gegenseitig schon seit Jahren betrügen, endlich in bester Freundschaft übereinkommen, sich scheiden zu lassen, und die sich nun nach erfolgter Trennung nie auf der Straße begegnen können, ohne ein paar freundliche Worte miteinander zu reden und sich höflich nach dem gegenseitigen Befinden zu fragen. – Sie hatte dabei gesessen mit erschrockenen Augen und nicht begriffen, wie Leo und die Baronin sich darüber todtlachen konnten, daß diese beiden auf dem letzten Ball beim Grafen L. sogar ein „Vielliebchen“ zusammen gegessen und sich ganz harmlos und gemüthlich allerhand Lustiges aus ihrem jetzigen Leben mitgetheilt haben sollten.
Antje fand alle ihre Ideale über die Ehe in den Schmutz getreten; sie wurde still und verstimmt und die Worte blieben ihr in der Kehle sitzen. Das hatte die Baronin gereizt, immer mehr und immer pikantere Geschichten zu erzählen, und schließlich war Antje aufgestanden und hatte sich, unter dem Vorwande, nach der Kleinen zu sehen, entfernt. Droben hatte sie an dem Bettchen gesessen und die zornigen Thränen waren ihr aus den Augen gedrungen. Dann war Leo heraufgekommen und hatte halb lachend, halb ärgerlich gesagt: „Du willst doch nicht etwa hier oben bleiben? Es ist unartig, uns allein sitzen zu lassen.“ Und als er die bewußten zwei Tropfen an ihren Wimpern entdeckte, hatte er gerufen: „So kannst Du natürlich nicht wieder erscheinen, aber es ist unglaublich, Antje, wie lächerlich Du Dich machst, einfach lächerlich!“
„Es ist möglich,“ hatte sie geantwortet. – Er war gegangen, und sie war ihm bis zum Treppengeländer gefolgt, aber er hatte sich nicht mehr umgesehen. Sie hörte, wie er mit den Worten in den Speisesaal trat: „Verzeihen Sie, Baronin, meine Frau hat heftiges Kopfweh.“ Dann ein langgezogenes bedauerliches „Ah!“ und bald darauf das reizende, ansteckende Lachen der schönen Frau. Antje hatte dann auf dem Flur gestanden, bis die Baronin fortfuhr; es war ihr gewesen, als seien die Wände von Glas, als sähe sie die junge Frau im Schaukelstuhl, den schönen Kopf an das Sammetpolster gelehnt, zwischen den hochrothen Lippen die Cigarette, und, wenn sie lachte, die Reihe blendender Zähne – Leo fand den Mund so besonders schön. – Als sie endlich fort war, half ein tiefer Seufzer ihre Seele von einer nie gekannten Spannung befreien.
Sie hatte ihren Mann auf der nämlichen Stelle erwartet und ihm die Hand entgegengestreckt; und drinnen im Zimmer hatte sie gesagt: „Sei nicht böse, Leo, sieh, wir waren doch auch vergnügt zu Hause, herzlich vergnügt sogar, aber an derartigen Sachen haben wir uns nie erheitern können.“
„O, ich kenne den ehrenfesten braven Humor Deiner Mama ja so gut, mein Kind,“ hatte er gähnend geantwortet.
Sie war verstummt, denn sie liebte ihre Mutter, und Leo wußte, er konnte ihr nicht weher thun als mit einer Bemerkung über die alte einfache Frau, die ihr lebenlang weiter nichts gethan hatte, als gesorgt und geschafft für Mann und Kind – ungeachtet ihres Reichthums. Aber in der langen schlaflosen Nacht hatte sie sich auch vergegenwärtigt, wie klug ihre Mutter es verstanden hatte, mit dem Vater umzugehen und unangenehme Dinge mit Freundlichkeit zu ertragen und zu übersehen, Dinge, die der Mutter vielleicht genau so zuwider waren wie ihr die freie Unterhaltung der Baronin. Und sie redete ernsthaft auf sich selber ein, daß sie doch einen Künstler geheirathet habe, daß es Unrecht sei, ihm eine so schöne Persönlichkeit verleiden zu wollen, die ein Malerauge ja entzücken müsse, und daß sie am Ende durch das Anhören des leichten Geschwätzes noch lange nicht in Gefahr sei, ihre Grundsätze zu ändern; um Leos willen wollte sie es künftig ertragen. Ewig konnte er ja doch an dem Bilde nicht malen, und diese häufigen Besuche mußten nach Vollendung des Gemäldes eines Tages aufhören oder doch seltener werden. Gegen Morgen war sie eingeschlafen mit dem festen Vorsatz, Leo zu versöhnen, indem sie für den Abend die schöne lustige Frau einlud, ihm so zugleich eine Ueberraschung für den Hochzeitstag bereitend.
Und nun waren sie so kläglich ins Wasser gefallen, diese schönen Pläne. Leo hatte augenscheinlich vergessen, daß es jemals einen siebzehnten Oktober gegeben hatte, an dem er eine junge selige Braut vor den Altar geführt. Er war gleich nach dem Frühstück in sein Atelier gegangen, ohne der letzten champagnerfarbenen Rosen zu achten, die in brauner Majolikaschale den Tisch festlich schmückten, und ohne nur mit einem Blick seines Töchterchens weißes gesticktes Kleidchen zu streifen.
Antje Jussnitz fühlte plötzlich, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Gott sei Dank, daß sie es unterlassen hatte, das mattrosa Morgenkleid anzubehalten, welches sie sich heimlich für diesen Tag hatte machen lassen, weil Leo neulich einmal geäußert: „Meine Frau ist stets Motte oder Fledermaus, sie hat keine andere Toilette als Grau in Grau oder Schwarz.“ Und Antje wollte ihm doch gefallen! Sie wünschte das so leidenschaftlich, wie nur je eine Frau es gewünscht hat, die ihren Mann liebt. So bestellte sie sich denn ein farbiges Morgenkleid und legte es heimlich an heute früh; als sie aber in den Spiegel blickte, erschrak sie vor dem Bilde, das ihr entgegen strahlte. Sie mußte finden, daß sie schön aussah, aber sie erschien sich förmlich herausfordernd in dem spitzenbesetzten Gewande mit der langen Schleppe und in dem Händchen mit den rosa Bandschleifen; es erinnerte an die Morgentoilette einer Bühnenkünstlerin in irgend einem modernen Salonstück. Sie kam sich vor, als gehe sie drauf aus, mit ihrem Manne kokettieren zu wollen, unwürdig und unwerth einer Frau, die sich geliebt weiß auch ohne solchen Firlefanz. Gott sei Dank, sie war wieder in ihr einfaches graues Kleidchen geschlüpft, sie würde sich sonst auch noch nachträglich geschämt haben, wenn er sie fremd und verwundert angeschaut hätte – gerade heute, an dem Heute, das er vergessen hatte!
Sie preßte plötzlich die Hände gegen die Augen, es that ihr furchtbar weh; zum ersten Male empfand sie eine thatsächliche Vernachlässigung. An ein gewisses Uebersehen war sie ja von Anfang an gewöhnt worden, selbst als Bräutigam hatte er ihr nie, wie man so sagt, zu Füßen gelegen. Sie kannte nicht, was es heißt, eine vergötterte Frau sein, der man Wünsche an den Augen abliest, deren kleinen Launen man Zeit und Geld und mehr noch als das – die Bequemlichkeit opfert, um deren Thränen oder Lächeln Thorheiten begangen werden. Sie kannte es nicht und vermißte es nicht. Sie hatte immer nur das Eheleben der Eltern vor Augen, wo der Vater als Gebieter verehrt wurde, dem die Frau diente. Bei Tisch hatte er den Ehrenplatz und besondere Leckerbissen, das bequemste Eckchen auf dem Sofa oder im Wagen. „Wenn Du es so willst, lieber Frey,“ waren die Worte gewesen, die Antje am meisten aus dem Munde [23] ihrer Mutter gehört hatte; und der stattliche Hausherr schrieb Goethes Ausspruch: „Dienen lerne bei Zeiten das Weib nach ihrer Bestimmung“ seinem einzigen Töchterchen in das Album, das es zur Konfirmation erhielt.
Nun, Leo dachte jedenfalls anders, er verstand ihr Bestreben nicht, ihm das Haus behaglich zu machen. Sie hatten ja Dienstboten, die den Thee eingossen, die das Abendbrot auftrugen, die Zimmer und Garderobe imstand hielten. Antje wußte mitunter nicht, was sie vornehmen sollte; glückselig erwartete sie das Kind, das ihr Leben ausfüllen würde. Als es geboren ward im mütterlichen Hause, da durfte sie zunächst noch ihm alles sein; dann aber, als sie hierher übersiedelten, ward es anders, da war es nur noch, als besitze Antje eine sehr kostbare Puppe, die sie etwa Sonntags einmal zum Spielen bekam. Leo fand es angemessen, daß Amme und Kinderfrau die Kleine warteten und daß diese, gleich einer jungen Prinzessin, nur alle Tage einige Male in reizendster Toilette der Mutter zugetragen wurde. Anfänglich war Antje geradezu trostlos darüber gewesen, indessen ihre Bitten, ihr stummes Flehen hatte Leo als Empfindelei abgewiesen; jetzt, wo das Kind größer geworden war, sie als Mutter kannte, erschien Antje diese Maßregel etwas erträglicher, wenn sie auch noch immer mit heimlich geballten Fäusten zusah, wie fremde Hände die kleinen rosigen Glieder badeten, sie in linde weiße Wäsche hüllten, und wie fremde Stimmen den Liebling in Schlaf sangen. – –
Die junge Frau lief plötzlich mit erhelltem Gesicht aus dem Zimmer und nach der Kinderstube. Die dicke Kinderfrau bereitete eben das Bad. Es roch nach feiner Seife und warmem Wasser, am Plafond brannte die Hängelampe und warf ihren Schein auf den großen bunten Teppich am Boden, der mit allerhand Spielzeug ubersät war und auf dem im Unterkleidchen ein blondes dreijähriges Kind saß. Die krausen Härchen woben sich wie ein Glorienschein um das zarte Gesichtchen.
„Maus!“ rief die junge Frau jubelnd und ungestüm vor der Kleinen niederkniend, „Goldmaus, die böse Mama hatte beinah Dein Bad versäumt!“ Und sie preßte ihre weinenden Augen in das Haar des Kindes und küßte es leidenschaftlich.
„Gute Christine, bitte, ach bitte, lassen Sie mich heute die Maus baden!“ rief sie nach einem Weilchen.
Die Alte zuckte die Achseln und brummte irgend etwas.
„Maus, wer soll Dich baden?“ fragte Antje so angstvoll, als hinge von dieser Entscheidung ihres Lebens ganzes Wohl und Wehe ab.
„Mama!“ sagte das Kind.
„Ist recht,“ gab Christine zur Antwort, „habe so wie so eine Bitte an die Gnädige. Meine Minna ist heute ins Krankenhaus geschafft worden – die Angst läßt mich alles verkehrt machen – darf ich wohl einmal nachfragen heute abend drunten im Dorfe?“
„Aber freilich, Christine! Gehen Sie nur und schicken Sie mir die Classen herauf!“
Die alte Köchin kam mit verdrießlicher Miene und fand Frau Antje lächelnd und glücklich mit dem Kinde beschäftigt, das im Wasser jauchzte und lachte. Aber sie ließ sich nicht täuschen, die langen Wimpern waren ja noch naß von Thränen. Sie hatte ihr Antje einst ebenso gewartet, sie kannte sie durch alle die Jahre ihres jungen Lebens, wie sonst nur die eigene Mutter sie kannte, und, zu der Wanne tretend, sagte sie halblaut: „Es lohnt doch nicht der Mühe, gnädige Frau, daß Sie darum weinen, in der Ehe ist ein Tag wie der andere, das ist alles dummes Zeug mit solchen Erinnerungsgeschichten.“
„Du siehst Gespenster, gute Classen; das Badewasser ist’s, das mir die Maus in die Augen gespritzt hat,“ war die Antwort.
„Jawohl, ich seh’s schon –“ murmelte die alte Frau, „es ist das Badewasser.“ Und sie nahm die Wärmflasche von dem ausgebreiteten Flanelltuch.
Und während Frau Antje das Kind abtrocknete, sagte sie über die Schulter: „Der Herr hat wichtige Geschäfte in Dresden, Classen, sonst wär er wohl gern zu Haus geblieben, bei mir und der Maus – gelt, Maus?“
„Ja freilich, wichtige Geschäfte, das ist’s ja,“ erwiderte Frau Classen, „und er dauert mich eben, daß er heute gerade –“ Das Weitere blieb unverständlich, denn sie war schon aus der Thür und konnte nicht sehen, daß mitten auf die kleine Stirn des Kindes ein paar klare Tropfen fielen, die diesmal mit dem besten Willen nicht als Badewasser erklärt werden konnten.
Antje blieb in der Kinderstube an dem Bettchen sitzen, bis die Wärterin heimkehrte. Dann ging sie hinunter in den Eßsaal, der, wie das Atelier oben, die ganze Tiefe des Hauses durchmaß. Man hatte ihm den Charakter eines altdeutschen Bankettsaales gegeben, nur mit Zuthaten von hunderterlei modernen Luxusgegenständen, die ihm etwas ungemein Wohnliches verliehen. Das Lampenlicht spiegelte sich in silbernen und Bronzegefäßen, mit denen der riesige Kredenztisch geschmückt war; vornehm reihten sich die lederbezogenen, mit goldgepreßten Künstlerwappen gezierten Stühle um den massiven Speisetisch; das Gebälk, die Täfelung zeigten prächtige Schnitzereien. Vor dem Kamin, nahe den spielenden Flammen, stand ein Tischchen gedeckt für zwei Personen – die Dienerschaft wußte, daß der Herr stets noch eine Kleinigkeit genoß, mochte er noch so spät heimkehren, und daß Frau Antje ihm Gesellschaft dabei zu leisten pflegte – mit all jenen zierlichen Tellerchen, Untersetzern, Schalen und Löffelchen, die so unnütz und doch so reizend sind. Und mitten dazwischen standen die Rosen und gaben diesem einladenden traulichen Plätzchen etwas Festliches, als wollten sie sagen: Wir blühen für zwei Glückliche!
Antje nahm die Blumen und trug sie auf ein Tischchen in den entferntesten Winkel des großen Gemaches, und dann wußte sie wieder nichts Besseres zu thun, als an das Fenster zu treten und dort hinüber zu starren, wo ein heller Schein am Horizont die große Stadt mit ihren Tausenden von Gasflammen verrieth. Die alterthümliche Standuhr im Zimmer schwang unverdrossen ihren Pendel, und Viertelstunde auf Viertelstunde verrann; Antje wußte, sie werde heute noch lange hier stehen müssen und warten, denn der letzte Zug lief erst gegen zwölf Uhr drunten im Dorfe ein, und vorher würde er nicht kommen; sie kannte die Verabredungen, die Leo zu treffen pflegte, und deren Ausdehnung.
Es war windig geworden draußen; Antje dachte, ob er wohl den Wagen an die Bahn bestellt habe. Und von dem Wagen kamen ihre Gedanken auf den Brief der Mutter, den sie heute erhalten hatte. Sie nahm ihn aus dem Schlüsselkörbchen, das sie vor sich auf das Fenstersims gestellt hatte. Zu lesen brauchte sie ihn nicht, sie wußte jedes Wort daraus. Zuerst herzliche Glückwünsche zu dem heutigen Tage, daß es der Tochter gehen möge wie der Mutter, die mit jedem Jahre inniger ihren Mann geliebt, immer mehr erkannt habe, wie er ihr Stab und Stütze sei. Dann Erinnerungen an Antjes Hochzeitstag, an die Rede des Geistlichen, an den launigen Toast des Bergraths, an den Fackelzug der Hüttenleute. Antje meinte, das Lächeln der alten Frau zu sehen: „Dochtertje, als ich heirathete, war’s doch lustiger, da gab’s Musik und Tanz, und ich mußte mit allen Gästen walzen, und das waren nicht wenige. Aber, sieh, Hochzeitsreisen kannten wir dazumal noch nicht da oben bei uns.“
Zuletzt stand noch eine Nachschrift: „Du weißt, Antje, ich mische mich ungern in Eure Angelegenheiten, aber ich möchte nicht versäumen, Euch darauf aufmerksam zu machen, daß ich es über Eure Verhältnisse finde, wenn Ihr eine zweite Equipage anschafft. Ihr könntet doch in einem Wagen ausfahren, und wenn Leo ihn allein gebraucht, bist Du doch vernünftig genug, an dem Tage spazieren zu gehen. Nichts für ungut – ich meine nur so.“
Antje fiel es schwer aufs Herz. Sie hatte dieselbe Ansicht gehabt, aber Leo wollte es so, und um die Welt hätte sie nicht sagen können wie manche Frau, die das Vermögen in die Ehe gebracht hat: „Sei sparsamer mit meinem Gelde!“ – Was ihr gehörte, gehörte ihm, er war der Herr. –
Was der Vater wohl gesagt hätte zu diesem Luxus? dachte sie mitunter, und wenn sie sich das ernsthafte ehrliche Gesicht des Verstorbenen in Erinnerung rief, dann war es ihr, als müsse sie sich für den Mann schämen, der das mit harter Arbeit Erworbene so funkelnd und flitternd in die Luft fliegen ließ für „Allotria“, des Vaters Lieblingsausdruck für unnütze Dinge. – Aber Leo ist Künstler, anders wie die andern, und sie liebte sein leichtes sorgloses Lachen, liebte sein Entzücken an allem Schönen, seine blitzenden Augen; sie gönnte ihm alle Vollblutpferde der Welt – wenn er nur zufrieden war.
Auf einmal fuhr sie empor. Ueber den Kies draußen waren Schritte geeilt, Schritte, die sie so gut kannte. Alles Blut stieg ihr zum Herzen, sie stand zitternd und blaß vor Freude mitten im Saale. „Leo!“ sagte sie leise, und ihre Augen umfaßten den Mann, der da hastig eingetreten war, das Haar feucht auf der Stirn, wie vom raschen Gehen, den Hut in der Hand, in der [24] andern einen Veilchenstrauß, einen Strauß, wie man ihn fertig im Laden kauft, arme welke Dinger. die so gern ihre Köpfchen senken würden, wenn der Draht es ihnen nur erlauben wollte.
Antje sah nicht den halb verlegenen, halb ärgerlichen Ausdruck in ihres Mannes Auge, nicht die fast verwelkten Blüthen; sie sah nur, daß er gekommen war, daß er ihr Blumen brachte, daß er den heutigen Tag doch nicht vergessen hatte.
Leo Jussnitz war an diesem Nachmittage gerade noch zur
rechten Zeit auf dem Bahnhof angelangt, um in den ersten besten
Wagen zu springen; die Pfeife des Zugführers schrillte bereits
das Signal zur Abfahrt, da riß der Schaffner noch eine Thür
auf und schob ihn hinein. Sein Jahresabonnement galt für die
erste Klasse, er befand sich in der dritten, und zwar in dieser Abtheilung
allein mit einer Dame. Zunächst hatte er ihrer nicht acht;
es war so eine abscheuliche Luft hier innen, und er trat ans Fenster,
um es zu öffnen. Ehe er es aber that, wandte er sich, den Hut
lüftend, um: „Sie gestatten, mein Fräulein?“
Der Kopf unter dem breitrandigen Filzhut hob sich ein wenig. „Bitte sehr!“ antwortete eine klare Stimme.
Leo Jussnitz warf einen flüchtigen Blick unter den schattenden Hutrand und erblickte zwei dunkle, fast unnatürlich große Augen. Das Fenster ward zur Hälfte geöffnet, und er nahm Platz ihr gegenüber und betrachtete sie. Er sah einen kleinen Mund, brennendrothe Lippen und ein zierlich geformtes Kinn. Das kurze Näschen und die zwei brennenden Augen blieben im Schatten des Rembrandthutes. Wo, um Gotteswillen, hatte er dieses Gesicht schon gesehen?
Sie senkte den Blick unter seinem Anschauen; es waren auffallend lange dunkle Wimpern, die jetzt auf der blassen Wange ruhten. Er hatte das alles schon gesehen, gerade so, und plötzlich stand vor seiner Seele das Bild des väterlichen Gartens in der kleinen märkischen Stadt, und über den Zaun aus Weißdorn, der das Nachbargrundstück von dem eigenen schied, sah ein blasses Mädchengesicht mit großen dunklen Augen, und diese Augen winkten und lockten und zogen ihn, den achtzehnjährigen Gymnasiasten, bis er an der Hecke stand und zwei schmale Hände erfaßte, die sich wie Schnee von dem dunklen Grün der Blätter abhoben. Und der Mond schien dazu, und über dem Flüßchen drüben im Schloßgarten sang die Nachtigall, und er küßte die rothen Lippen.
Aber sie konnte es nicht sein, es lagen sechzehn Jahre zwischen jener Zeit seiner ersten Liebe und heute. Und dieses junge Geschöpf da vor ihm zählte vielleicht zwanzig Jahre. Wieder sah er sie an, die Erinnerung war so lebhaft, daß sie ihn förmlich verwirrte.
„Toni von Zweidorf!“ sagte er halblaut.
Ein leises Lachen antwortete ihm. „Kennen Sie mich denn?“ fragte das Mädchen. „Aber die Toni bin ich doch nicht – ach, die gute Toni! Ich bin ja die Jüngste, die Hilde.“
„Hildegard von Zweidorf – aus Altwedel?“
Sie nickte. „Und Sie, mein Herr?“
Er nahm den Hut ab und murmelte seinen Namen.
„Sie haben die Toni wohl früher gekannt?“ fragte das junge Mädchen und drückte ihre schlanke Gestalt so behaglich wie es anging an die harte Holzwand des Wagens.
„Ja, mein Fräulein.“
„Aber dann müssen Sie mich doch auch gesehen haben!“
„Sie waren damals noch ein Kind, Fräulein von Zweidorf, und werden sich schwerlich auf den großen Gymnasiasten besinnen, der mit Fräulein Toni in die Tanzstunde ging.“
„In der That, nein! Sie sind wohl schon lange fort von Altwedel?“
„Sehr lange! Mein Vater wurde von dort nach Schlesien versetzt, und ich – –. Wohnen Sie noch immer in dem kleinen Hause an der ‚Alte‘?“
„Ja. Es ist ein so drolliges altes Haus.“
„Ach, ich fand es entzückend damals; wir wohnten nebenan.“
„Da ist jetzt eine Wollspinnerei, ein häßliches rothes Ziegelsteingebäude mit hohem Schornstein und vielen Fabrikmädchen und einer grellen Glocke, die zur Arbeit läutet.“
„Wie schade! Und wie geht es Ihren Eltern?“
„O, ich danke! Papa ist manchmal sehr kränklich und beständig verstimmt, und Mama –“ sie zuckte die Schultern - „leidet natürlich darunter; es ist immer dasselbe bei uns, mein Herr.“
„Und Fräulein Toni? Tanzt sie noch immer so gern?“
„Ach, mein Herr, tanzen, die Toni tanzen! Toni ist still und traurig geworden; überhaupt, es ist öde und langweilig bei uns,“ erwiderte sie mit einem Seufzer.
Er antwortete nicht; er sah sein Gegenüber an mit einem mitleidigen, gerührten Blick; welch trostloses Bild entrollten ihm ihre Worte! Er kannte jeden Winkel in dem kleinen Hause, das die Familie bewohnte, und er kannte in jedem dieser Winkel die Spuren von Entbehrung, Armuth und Unzufriedenheit. Der Steuereinnehmer v. Zweidorf, ehemals Offizier, hatte im Hause eines Kameraden seine jetzige Frau, die kleine Madermoiselle Bergére, kennen gelernt; sie stammte aus der französischen Schweiz und bekleidete die Stellung einer Bonne. Natürlich hatte er die Beziehungen zu dem bildschönen Mädchen anfänglich nicht ernst nehmen wollen, aber dann war doch der Augenblick da, wo er als Ehrenmann nicht mehr anders konnte. als sie zu heirathen. Der Regimentskommandeur, die Kameraden hatten Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, um ihn von diesem Schritt zurückzuhalten – er war fest geblieben, die Hand, die das Abschiedsgesuch schrieb, hatte nicht gezittert. Wie schwer es ihm wurde, das sagte er nie, nur sein verkümmertes Aussehen erzählte es, sein niedergedrücktes Wesen, seine Menschenscheu; und die Frau neben ihm litt nicht weniger. Die Aelteste, die Toni, ein bildschönes Kind, hatte wohl anfangs etwas Versöhnendes in das Herz des Mannes geschmeichelt, aber dann waren mehr Kinder gekommen, lauter Mädchen, arme Mädchen, die Sorgen wuchsen und wuchsen und die Töchter verblühten ungesehen und unbegehrt und wurden verbittert in ihrem armseligen Leben. Und sie hatten den Stolz des Vaters, sie wollten nicht heirathen unter ihrem Stande, die armen Fräulein von Zweidorf.
Leo Jussnitz kannte das ganze Elend ja aus dem eigenen Vaterhause. Und die Jüngste saß vor ihm, so schön wie einst ihre Schwester, und sah in die Zukunft mit ebenso sehnsüchtigen glückverlangenden Augen, wie diese es gethan hatte, und das nämliche Lächeln lag um den lieblichen kleinen Mund. Etwas Holdes, längst nicht mehr Gefühltes tauchte vor ihm auf, die ganze Seligkeit der ersten Jugend mit ihren stolzen Hoffnungen und ihrer thörichten, genügsamen und doch so seligen Liebesleidenschaft.
„Was willst Du denn in der weiten Welt, Toni?“ – Er hatte es laut gesprochen und wurde erst wach durch ihr herzliches Lachen.
„Ich heiße Hildegard und will zu meiner Tante nach Dresden und will –“ sie setzte sich stolz in die Höhe – „und will Malerin werden.“
„Malerin?“ fragte er lächelnd. „Lassen Sie ab davon, Fräulein Hilde, es bringt eitel Enttäuschung und Bitterkeit.“
„Aber ich habe Talent, mein Herr!“
„Ich zweifle ja nicht eine Minute daran, aber dennoch –“
„Sie können doch nicht wissen, wie meine Zukunft wird!“ schmollte sie.
„Nein; ich kenne nur meine eigenen Erfahrungen. Wenn ein Mann um die Gunst des Schicksals ringt und fast unterliegt, wie soll es da ein schwaches zartes Mädchen durchhalten? Und das Leben eines Künstlers ist und bleibt einmal ein dornenvolles.“
„Ach!“ lachte sie. „ich lasse mir nicht bange machen, denn ich will es zwar nicht berufen, aber wirklich, mein Herr, ich habe Glück, ich muß unter einem guten Stern geboren sein. Passen Sie auf, wie es wird mit mir! Ich suche einen Lehrer, einen tüchtigen, und dann bin ich unermüdlich fleißig, und dann werde ich den ersten Auftrag erhalten, vielleicht noch halb aus Mitleid, und dann setze ich all mein Können daran, das Bild gelingt, es macht Aufsehen, und eines Morgens wache ich auf und bin berühmt! – Nein, nein,“ fuhr sie fort, „ich will nichts wissen, ich will an mein Glück glauben, Unkenrufe habe ich zu Hause genug gehört. Mir kann es so nicht gehen wie den Schwestern, denn ich selbst bin anders. Bitte, bitte,“ schloß sie und legte flehend die schöngeformten Hände, von denen sie die Handschuhe abgestreift hatte, ineinander, „sagen Sie nichts, nehmen Sie mir nicht mein Vertrauen auf eine bessere Zukunft, als man sie mir bis jetzt täglich ausgemalt hat.“
Ihr blasses Gesicht hatte sich geröthet, die Augen leuchteten in einem wunderbaren Feuer.
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[26] „Nein,“ sagte er, ganz hingerissen von dieser Begeisterung, „nein, gewiß nicht! Möge Ihnen alles gelingen, was Sie sich erträumen; und wenn ich Ihnen behilflich sein kann – ich bin selbst Künstler und bekannt in Malerkreisen – zählen Sie auf mich!“
„Aber habe ich es nicht gesagt?“ rief sie. „Wenn das nicht Glück ist! Noch heute früh dachte ich, wie wirst Du es anfangen, Hilde, um in das Atelier irgend eines Berühmten zu dringen – da finde ich einen alten Bekannten von der Toni, und die Pforten stehen offen.“
„Hoffentlich nehmen Sie auch mit minder Berühmten vorlieb?“
„Sie sind Maler? Sie sind wohl derselbe Jussnitz, der die Brockenhexe gemalt hat. Ich habe das Bild in einer illustrirten Zeitung gesehen – nicht wahr? Und die Hexe hat im Original rothes Haar; die wunderbarsten Farbeneffekte, wie in der Beschreibung stand. Das sind Sie wirklich?“ Sie staunte ihn an mit weit geöffneten Augen.
„Das bin ich,“ sagte er leise, ihren Blick erwidernd.
So fuhren sie stumm ein Weilchen dahin. Welche Schönheit, welche Rasse, dachte er und studierte jede Linie des erregten Mädchenantlitzes. Ein langsameres Fahren und das Pfeifen der Lokomotive zeigten jetzt an, daß der Zug sich seinem Ziele näherte.
„Wo wohnt Ihre Frau Tante?“ erkundigte er sich hastig.
„In der Friedrichstadt, Xstraße – ist es weit?“ Sie hatte sich in ihrer schlanken Höhe aufgerichtet und langte ein Handkofferchen aus dem Gepäckraum über der Bank.
„Sehr weit!“ antwortete er.
„O weh!“ sagte sie.
Er hatte den Koffer ergriffen. „Werden Sie abgeholt?“
„Nein! Tante glaubt, ich komme erst morgen, aber ich hatte keine Ruhe mehr daheim und mochte die Seufzer und Unglücksprophezeiungen nicht mehr hören; da ging ich heute früh heimlich und ohne Lebewohl fort – ich kann so schlecht Abschied nehmen.“
Er lächelte. „Erlauben Sie mir den Koffer, ich trage ihn zur Droschke.“
„Danke, mein Herr, ich gehe, ich nehme einen Dienstmann.“
„Es ist unmöglich, Fräulein von Zweidorf, Sie müssen fahren. Auch ich habe in der Friedrichstadt zu thun; gestatten Sie mir, Ihnen einen Platz in meinem Wagen anzubieten – ich –“
„Ich danke,“ sagte sie kühl und mit der Haltung einer jungen Prinzessin.
„Ich bitte Sie darum,“ redete er zu in ehrlicher Besorgniß. „Sie haben keine Ahnung, wie weit es ist, Sie können wirklich nicht in Dresden so bei Nacht und Nebel allein umherirren. Bedenken Sie, ich bin ein alter Bekannter Ihrer Familie und darf Ihnen etwas mit Rath und That zur Seite stehen.“
Sie lachte unbefangen. „Ja freilich, wir sind Nachbarskinder, wenn ich auch nichts von Ihnen weiß. Aber ich werde Toni fragen nach Ihren Personalien – also – wenn Sie mich mitnehmen wollen!“
Der Kampf mit den Bakterien.
Noch steht die Welt unter dem überwältigenden Eindruck der großen Entdeckung Robert Kochs, noch prüfen in allen Ländern tausend Aerzte die wunderbaren Eigenschaften der geheimnißvollen braunen Lymphe, und schon kommt von Berlin eine neue Siegesnachricht. Kochs Schüler mehren den Ruhm des Meisters.
Diesmal gilt es nicht dem Tuberkelbacillus; der Forschergeist hat in den denkwürdigen Räumen des hygieinischen Instituts zu Berlin zwei andere Todfeinde des Menschengeschlechtes mit tausend Listen umstrickt; es ist ihm gelungen, ungemein wichtige Gesichtspunkte für die Heilung zweier furchtbarer Krankheiten zu gewinnen, und die Tragweite dieser neuesten Errungenschaften deutscher Wissenschaft wird sofort jedem klar, wenn nur ihre Namen genannt werden: die Diphtherie und der Wundstarrkrampf!
Zwei Schüler Kochs, Stabsarzt Dr. Behring und Dr. Kitasato aus Tokio, fassen selbst ihre Erfolge in die Worte zusammen: „Bei beiden Infektionskrankheiten ist es uns gelungen, sowohl inficirte Thiere zu heilen, wie die gesunden derartig vorzubehandeln, daß sie später nicht mehr an Diphtherie bezw. Tetanus (Wundstarrkrampf) erkranken.“
Es sind vorläufig nur Thiere, die dieser Wohlthat theilhaftig werden; aber wir sind wohl berechtigt, an solche Errungenschaften auch Hoffnungen für die leidende Menschheit zu knüpfen. Hat nicht Robert Koch sein Heilmittel auch zuerst an Thieren versucht und ist es nicht heute bereits, soweit unsere Erfahrungen reichen, die mächtigste Waffe, die uns in Bekämpfung der Tuberkulose bei dem Menschen zur Verfügung steht? Wir dürfen niemals vergessen, daß auf dem so vielgelästerten Thierexperiment sich die glänzendsten Erfolge der medizinischen Wissenschaft aufbauen. Andererseits muß man dringend vor übereilten Schlüssen aus dem Thierexperiment auf den Menschen warnen, und vor allem in der Beurtheilung der Einwirkung bestimmter Heilmittel auf Bakterien, die im thierischen Körper leben, vorsichtig sein.
Die Medizin hat erst in jüngster Zeit in der Bakteriologie eine Stütze gesucht und gefunden, und die Bakteriologie selbst wandelt erst seit etwa zehn Jahren auf festen Füßen. Aus diesem Grunde stehen wir auf diesem Gebiete nur Anfängen einer neuen Heilkunde gegenüber; eine spätere Zeit wird die reife Frucht pflücken. Welche Aussichten aber diese Anfänge eröffnen, das werden die Leser am besten aus den nachfolgenden Mittheilungen über die zielbewußten Versuche zur Bekämpfung der Diphtherie und des Wundstarrkrampfes erfahren. Die Thatsachen mögen für sich sprechen. Beginnen wir zunächst mit der Diphtherie!
Wer von den Lesern der Gartenlaube über das Wesen der Diphtherie aus einem populär-medizinischen Werke, selbst neuester Auflage, Belehrung geschöpft hat, der wird seine Ansicht ändern müssen; denn erst in allerjüngster Zeit ist das Geheimniß dieses schrecklichen Würgengels unserer Kinderwelt entschleiert worden. Das Krankheitsbild, welches uns am Leidenslager eines von Diphtherie Befallenen entgegentritt, ist allgemein bekannt. Jedermann weiß, daß eine starke eigenartige Entzündung der Schleimhaut des Rachens den Ausgangspunkt der Krankheit bildet, daß an der erkrankten Stelle ein schmutziggrauer Belag erscheint, daß zu den örtlichen Störungen, welche diese Entzündung hervorruft, sich allgemeine Krankheitserscheinungen gesellen: Fieber, Delirien, Bewußtlosigkeit. Nicht nur der Hals, der ganze Körper ist erkrankt, und wenn selbst die erste Gefahr überwunden wird, so bleiben nach der Diphtheritis noch Nachkrankheiten, vor allem verschiedene Lähmungen der Rachen-, Kehlkopf-, Augenmuskeln, der Beine oder der Arme zurück. Die tiefgehenden Veränderungen der inneren Organe entziehen sich dem Verständniß der Laien.
Man wußte längst, daß die Diphtherie eine ansteckende Krankheit sei, und vermuthete, daß sie durch Bakterien verursacht werde. Man forschte nach diesen, aber es war mit ungeheuren Schwierigkeiten verbunden, unter den zahlreichen Bakterien, die stets den Mund und Rachen bevölkern, den wirklichen Krankheitserreger zu entdecken. Erst im Jahre 1884 fand Löffler, einer der Aerzte im Kaiserl. Gesundheitsamte zu Berlin, die richtige Fährte, die er jahrelang unablässig verfolgte, bis er unzweifelhafte Beweise für die Existenz des Krankheitserregers der Diphtherie beibrachte.
Er ist ein Stäbchenbakterium oder ein Bacillus, der etwa die Länge des Tuberkelbacillus besitzt, aber doppelt so breit ist wie dieser. Er ist in dem diphtherischen Belag zu finden, entwickelt sich bei Temperaturen von 20 bis 42° C. und besitzt eine ziemlich große Lebensfähigkeit. An Seidenfäden angetrocknet bleibt er 3 bis 10 Wochen ansteckungsfähig. Noch größer ist seine Lebensdauer in den abgestorbenen Hautstückchen (Membranen), wie sie von Diphtheriekranken ausgehustet werden. Aus den kleinsten eingetrockneten Stückchen konnte Löffler noch nach 8 Wochen, aus größeren selbst nach 14 Wochen Bazillen züchten, die voll ihre giftige Wirkung ausübten. Auch in dem Rachen und Munde des Kranken halten sie sich noch auf, wenn die Krankheitserscheinungen abgelaufen sind. In einem Falle konnte Löffler noch 3 Wochen, nachdem das Fieber abgefallen war, ansteckungstüchtige Bazillen im Munde der Rekonvalescenten nachweisen.
Es wurde ferner festgestellt, daß der Löfflersche Bacillus nur der menschlichen Diphtherie eigenthümlich ist, und ähnliche auch [27] als Diphtherie bezeichnete Erkrankungen des Rachens bei Thieren und Vögeln ganz verschiedene Krankheiten sind. Unter natürlichen Verhältnissen erkranken die Thiere niemals an menschlicher Diphtherie; es hat sich aber gezeigt, daß man durch Ueberimpfung der betreffenden Bacillen auf verletzte Schleimhäute etc. bei einigen Thieren Diphtherie erzeugen kann, die alsdann je nach der Impfstelle unter denselben oder sehr ähnlichen Erscheinungen wie beim Menschen abläuft. Man erhielt dadurch werthvolles Versuchsmaterial, aber das Wesen der Krankheit blieb noch dunkel, bis die Chemie Licht in dasselbe brachte.
Die Bakterien erzeugen bekanntlich durch Zersetzung der Nahrungsböden, auf denen sie leben, verschiedenartige neue Stoffe, welche man Stoffwechselprodukte der Bakterien nennt. Auch die Hefe verhält sich ähnlich - aus dem Traubenzucker ihrer Nährlösung bildet sie Alkohol und Kohlensäure. Die Chemie hat nachgewiesen, daß auch die Bakterien Gifte erzeugen; sie hat diese Gifte rein dargestellt, und als man sie nun Thieren ins Blut brachte, da fand man, daß jene Gifte einen Theil der Symptome erzeugten, die wir sonst bei Krankheiten beobachten, welche durch die betreffenden Bakterien verursacht werden. Dadurch wurde erwiesen, daß die krankheitserregenden Bakterien den Körper sozusagen vergiften und dadurch zu Grunde richten.
Zu Anfang dieses Jahres ist es nun Brieger, der auf diesem Gebiete die umfassendsten Forschungen angestellt hat, gelungen, aus der Flüssigkeit, in welcher Diphtheriebacillen gezüchtet wurden, das wirksame Gift rein dazustellen. Es besteht aus einer weißen krümligen Masse, welche eine eiweißähnliche Zusammensetzung hat, im Wasser löslich ist und in hohem Grade giftige Eigenschaften besitzt. Es wurde darum „Toxalbumin“ genannt. Spritzt man dieses Gift Thieren ins Blut ein, so erkranken sie nach Tagen, mitunter auch nach Wochen, je nach der Größe der Gabe, unter Erscheinungen, die völlig diphtheritischer Natur sind. Wir können also auch auf diese Weise Thiere diphtheriekrank machen, ohne ihnen die Krankheitserreger selbst einzuverleiben, indem wir ihnen nur das von denselben erzeugte Gift beibringen.
Diese Versuche, auf die wir hier ausführlicher nicht eingehen können, erklären uns den Verlauf der furchtbaren Krankheit beim Menschen.
Demnach lassen sich Diphtheriebacillen an einer Stelle der Rachenschleimhaut nieder; sie dringen nur in die oberflächlichen Schichten ein, rufen hier durch den Reiz eine Entzündung hervor und erzeugen, indem sie sich vermehren, ihr Gift. Sie bleiben an derselben Stelle, sie gehen nicht ins Blut über, sie verbreiten sich nicht durch den ganzen Körper, aber das Gift, welches sie erzeugt haben, wird von den Säften aufgesogen und verbreitet sich von Organ zu Organ, wo es wie ein Ferment[1] wirkt.
Die zunächst der Angriffsstelle liegenden Zellen des Gewebes werden in erster Linie von dem Gifte durchdrungen und getödtet. Von dem Lymphstrom fortgetragen, verschleppen sie das Gift in weitere Entfernungen; so erkranken neue Stellen am Kehlkopf, in der Luftröhre etc., so dringt das Gift in die Milz, so ruft es Entzündungen in der Leber, in dem Brustfell, in den Nieren hervor; so dauert der Prozeß fort, bis der Körper erliegt, oder bis es ihm gelingt, die an der Oberfläche der Schleimhaut im Rachen haftenden Bakterien sammt der brandigen Haut abzustoßen; dann erfolgt Heilung, obwohl das Gift in den Säften noch eine Zeit lang wirken kann und die Nachkrankheiten, Lähmungen und dergl. noch zurückbleiben.
In diesem düsteren Bilde, welches wir nur flüchtig skizziert haben, giebt es noch viele nicht völlig aufgeklärte Punkte, aber das Wesen der Krankheit ist durch die deutsche Wissenschaft in den Grundzügen festgestellt worden, und darin besteht die erste große Errungenschaft, die wir auf diesem Gebiete zu verzeichnen haben. Auf ihr baut sich naturgemäß die Heilkunst auf; dem Arzte ist jetzt in dem Suchen nach Heilmitteln gegen die Diphtherie ein klarer Weg vorgezeichnet, und die Medizin hat nicht gesäumt, ihn sofort zu beschreiten. Von den vielen Heilmethoden, welche für die Behandlung der Diphtherie beim Menschen empfohlen wurden, wird man jetzt diejenigen ausbauen, welche am zweckmäßigsten sind und sich in der That bereits bewährt haben; aber der Fortschritt ist hier nur ein langsamer; denn mit Menschenleben kann man nicht experimentieren, dazu sind die Thierversuche da; durch sie wird weitere Aufklärung gegeben und auf solche Versuche müssen wir uns vorläufig beschränken.
Bei der Bekämpfung der ansteckenden Krankheiten kommt zweierlei in Frage: 1) Schutz gegen die Ansteckung und 2) Heilung der ausgebrochenen Krankheit.
Was nun den Schutz anbelangt, so bieten uns die Vernichtung der Bacillen durch Desinfizieren des Auswurfes der Kranken, der Wäsche, des Krankenzimmers u. s. w., die Sorge für Absperrung der Kranken, ein Krieg gegen feuchte Wohnungen, die Brutstätten der Diphtheriebacillen, wichtige Handhaben zur Beschränkung der Epidemie. Wir wissen aber, daß es noch einen anderen Schutz gegen anstehende Krankheiten giebt, die Schutzimpfung, wie wir sie bei den Pocken kennen. Der Geimpfte wird gegen eine Ansteckung mit dem Pockengift unempfänglich, er ist „immun“, wie man in der Wissenschaft zu sagen pflegt.
Die Immunität, welche gegen bakterielle Krankheiten den höchsten Schutz gewährt, braucht aber nicht erst durch Impfung erworben zu werden; sie kann auch angeboren sein. Es giebt Arten, welche von einer Krankheit völlig verschont werden, während andere Arten ihr erliegen. So ist z. B. der Mensch für den Typhusbacillus empfänglich, aber es ist bis jetzt nicht gelungen, ein einziges Thier typhuskrank zu machen. Für uns kommt hier nur die erworbene Immunität in Frage. Es ist erwiesen, daß man durch verschiedene Verfahren Thiere mit Erfolg impfen kann, so daß sie gegen gewisse Krankheitserreger unempfänglich werden. Ist es nun möglich, sie auch gegen die Diphtherie immun zu machen? Die Antwort darauf wird eben durch die neuesten Veröffentlichungen aus dem hygieinischen Institut von Robert Koch gegeben: Dr. Behring ist es gelungen, zunächst Meerschweinchen und Kaninchen auf fünffache Art gegen die Diphtherie unempfänglich zu machen.
Bis jetzt hat man zu derartigen Schutzimpfungen immer abgeschwächte Bakterienkulturen oder deren Stoffwechselprodukte genommen; diese Impfungen sind oft mit Gefahren verbunden, weil ein Theil der Thiere schon an der Schutzimpfung zu Grunde geht. Diese Methoden wurden auch von Behring angewandt, und zwar mit Erfolg. Wie wichtig auch diese Ergebnisse für die Wissenschaft sind, so werden sie durch eine neue von Behring geschaffene Methode erst zu einer wirklich epochemachenden Entdeckung, und diese wollen wir hier allein ins Auge fassen.
Unsere Leser haben vielleicht schon vom Wasserstoffsuperoxyd gehört. Dieser Stoff wird zum Bleichen verwendet. Reines Wasser besteht bekanntlich aus zwei Atomen Wasserstoff und einem Atom Sauerstoff; seine chemische Formel ist H2 O (Wasserstoffoxyd); verbindet sich nun Wasser chemisch mit noch einem Atom Sauerstoff, so entsteht H2 O2, das ist Wasserstoffsuperoxyd. Es ist sehr leicht zersetzlich und hält sich nur in wässerigen Lösungen; es zerfällt leicht in Wasser und freien Sauerstoff, worauf seine bleichende Wirkung beruht. Da Wasserstoffsuperoxyd auch desinfizierende Eigenschaften besitzt, so wurde es von Behring als Heilmittel gegen Diphtherie bei Thieren versucht. Er fand aber bald, daß dieses Mittel keine heilende Wirkung zeigte, im Gegentheil den Tod der infizierten Thiere noch beschleunigte.
Nun wurde die Versuchsanordnung abgeändert. Behring spritzte zunächst gesunden Thieren Wasserstoffsuperoxyd ein und infizierte sie erst einige Tage nach dieser Vorbehandlung mit Diphtheriebacillen. Nun zeigte es sich, daß diese vorbehandelten Thiere einen mehr oder weniger ausgesprochenen Grad von Immunität erlangt hatten, sie erlagen viel später dem Gifte und einige blieben dauernd gesund, obwohl ihnen eine Dosis von Bacillen beigebracht wurde, welche normale, nicht vorbehandelte Kaninchen binnen 24 Stunden tödtete!
Dies ist nun eine Thatsache, welche das größte Staunen hervorrufen muß; denn es ist bis jetzt noch niemals bekannt geworden, daß ein einfacher, fabrikmäßig hergestellter chemischer Stoff einem Thiere, welchem er eingespritzt wird, Immunität gegen eine todbringende Krankheit verschafft! Der Erfolg bei der Diphtherie ist noch nicht so schlagend, daß er die vollste Ueberzeugungskraft beanspruchen konnte; aber wir werden im nächsten Artikel erfahren, daß ein anderer ebenso einfacher Stoff Kaninchen gegen eine andere fürchterliche Krankheit, gegen den Wundstarrkrampf, völlig immun macht. [28] Wenden wir uns nunmehr den Heilversuchen Behrings zu!
Er infizierte die Versuchsthiere durch Einspritzung von Bacillenkulturen und suchte sie zu retten, indem er ihnen nachträglich verschiedene chemische Stoffe einspritzte. Es wurden gegen 30 Mittel geprüft und durch Natriumchlorid, Naphthylamin, Trichloressigsäure und Carbolsäure vereinzelte Thiere geheilt.
Am wirksamsten erwies sich Jodtrichlorid. Meerschweinchen, denen eine absolut tödliche Dosis von Diphtheriebacillen beigebracht war, wurden gerettet, wenn man ihnen unmittelbar nach der Infektion Jodtrichloridlösung einspritzte. Die Rettung war aber nur dann möglich, wenn die Einspritzung spätestens sechs Stunden nach der Infektion erfolgte.
Die überlebenden Meerschweinchen waren noch lange krank; nachdem sie sich aber völlig erholt hatten, waren sie infolge dieser Behandlung gegen Diphtherie immun und vertrugen Impfungen mit giftigen Kulturen, an denen nicht vorbehandelte Thiere in 36. Stunden starben. Bei Kaninchen erwies sich das Jodtrichlorid noch heilsam, selbst wenn die Einspritzung 24 Stunden nach der Infektion erfolgte.
Leider ist dieses Jodtrichlorid, das eine stark ätzende Wirkung besitzt, kein Heilmittel für Menschen. „Ich bin,“ sagt Behring, „durch besondere vorsichtig an diphtheriekranken Kindern angestellte Versuche zur forcierten Anwendung des Jodtrichlorids nicht sehr ermuthigt worden, und ich betone, daß ich für den Menschen kein Diphtheriemittel habe, sondern erst danach suche.“
Wenn wir uns jetzt erinnern, wie die Diphtherie beim Menschen verläuft, so werden wir wohl zu der Ueberzeugung gelangen, daß man eine Heilung oder Milderung des Krankheitsprozesses nicht allein von der Zerstörung der Bacillen, sondern auch von der Zerstörung des im Körper durch sie verbreiteten Giftes erwarten könnte, denn das Gift, welches in die Säfte dringt, verursacht die schlimmen Symptome; und in dieser Beziehung sind die Ergebnisse der von Behring angestellten Versuche von höchster Bedeutung.
Das Blut diphtherie-immun gemachter Thiere besitzt nämlich die Eigenschaft, das Diphtheriegift völlig unschädlich zu machen. Und da erwächst die hochwichtige Frage, ob es möglich ist, ein an Diphtherie erkranktes Thier dadurch zu heilen, daß man eine Blutüberleitung von einem immungemachten Thier vornimmt?
Zu welchen glänzenden Ergebnissen solche Blutüberleitungen, namentlich bei dem Wundstarrkrampf geführt haben, davon werden wir im nächsten Artikel berichten. Der Erfolg ist so groß, daß Mäuse, selbst wenn sie beinahe schon in Todeszuckungen liegen, noch mit großer Sicherheit gerettet werden können. Freuen wir uns des Erfolges und hoffen wir mit der unermüdlichen Forscherschar, daß ihre Arbeiten bald auch für die leidende Menschheit sich segensreich erweisen werden! C. F.
Tragödien und Komödien des Aberglaubens.
Der Aberglaube ist ein dumpfer Fanatismus, eine traurige Karikatur des Glaubens; sein Wesen und Wirken hat das Wort des Dichters treffend gezeichnet: „Der schrecklichste der Schrecken, das ist der Mensch in seinem Wahn“. Gewaltig und machtvoll ist der fromme Glaube, er vermag, wie ein sinniger Spruch lautet, Berge zu versetzen; nicht minder mächtig ist der Aberglaube, er zerschlägt diese Berge, er löst sie auf in unendliche Trümmer, er schafft ein wildes Chaos von Stein und Gerölle, er ertödtet das freudige Leben, er vernichtet jede heitere Harmonie. Wie freundlich malten die alten Deutschen das Wesen der Frau, das sinnige Weben ihres Geistes, den geheimnißvollen Zauber ihres Gemüths, wie erhob das Christenthum die Frau aus Noth und Elend, aus Versunkenheit und Armseligkeit zu Glanz und Größe, zu Huld und Adel! Aber als die christlich-germanische Kultur ihren Gipfel überschritten hatte, da erfand sie die Hexen und ließ die Flammen lodern um unglückliche, jammererfüllte Frauengestalten.
Wie Herrliches, Mannigfaltiges, Großartiges bietet das Walten der Natur im „alten“ Harz, wie hat die Poesie ihn verklärt in goldenen Märchen, lieblichen Sagen, unsterblichen Liedern. Rein und erhaben sind die Genüsse, die seine freundlichen Berge, seine grünen Hügel, seine rauschenden Bäche und Flüsse, seine heitern Thäler, die dunklen Tannenwälder, die die Höhen krönen, der lichtgrüne Laubwald, der sich an die Gehänge schmiegt, erwecken, und doch war das der Masse des Volkes und ist es vielfach noch nur Nebensache. Eine irregeleitete Phantasie sah in den romantischen Bergformen eine Teufelsmauer, einen Teufelsstuhl, eine Teufelskanzel, einen Hexenaltar und ein Hexenwaschbecken; die wildschönste Stelle wurde zum Schauplatz des Hexensabbaths mit seinen schauerlichen Mysterien; selbst die freundliche Anemone alpina ward zum Hexenbesen, der Brockengranit zum Hexenstein. Die liebevolle Naturbetrachtung erfreut und erfüllt das Gemüth mit freundlichen Bildern und spinnt das sinnige Märchen, der Aberglaube geht auf Abenteuer aus, auf die Jagd nach dem Unsinnigen, er läßt die Orgie reifen und auch diese noch entarten.
Der Aberglaube, „des Glaubens liebstes Kind“, ist ja so lange harmloser Art, als er gleichsam zum Privatgebrauch angewandt wird, um seinen Bekenner mit Hoffnung und Vertrauen zu erfüllen, der erlahmenden Willenskraft einen neuen Schwung zu verleihen. Der unbefangene Mensch kann solches Thun mit dem heiteren entschuldigenden Lächeln des Philosophen betrachten. Aber der Aberglaube wird gefährlich und die Quelle von Unheil und selbst Verbrechen, sobald er in seiner Anwendung auf andere Menschen die Probe auf seine eingebildete Wunderkraft leisten soll. Es gilt darum und es ist eine ernste Pflicht aller Freunde einer wahren Volksaufklärung, mit allen Mitteln dem Wahne entgegenzutreten; das soll auch im folgenden geschehen, indem wir an einer Reihe von Fällen wie in einem Spiegel die meist tragischen, hier und da zum Glück aber auch nur komischen Wirkungen dieses bösen Feindes einer gesunden Volksentwickelung zeigen. Es giebt heute keine Hexenprozesse mehr, aber an Hexen, Teufel und böse Geister glaubt man im Volke immer noch in erschreckender Weise, und dieser Blödsinn weiß auch immer noch sein Dasein zum bitteren Schaden der Betroffenen zu beweisen.
Erst jüngst ereignete sich in der Gegend von Lübeck auf einem Dorfe solch ein Fall. Es starb da ein kleines Mädchen und die Mutter desselben vermeinte in ihrem Schmerz, der Tod desselben könne nicht auf natürliche Art, sondern nur durch Behexung erfolgt sein. Eines der alten Weiber, die mit der Teufelei bösartiger Beschränktheit im Bunde sind und deren es überall, zumal auf dem Lande, nur zu viele giebt, fand sich nun bei der Unglücklichen ein und bestärkte sie in ihrer Verrücktheit. Sie kam dann gegen Geldlohn mit einem „Zauberspiegel“ und machte der Mutter ihren Hokuspokus vor, ihr darin diejenige Person zu zeigen, welche das Kind so behext habe, daß es sterben mußte. Richtig: irgend eine Fratze im Spiegel erschien der Mutter als das Gesicht derjenigen Frau im Dorfe, welche schon als Hexe verrufen war. Dies genügte, den Ruf der Bezichtigten derartig zu verschlimmern, daß sie im ganzen Dorfe verfolgt und geächtet wurde und aller gesetzliche Schutz sie nicht mehr vor der moralischen und materiellen Schädigung durch den Aberglauben ihrer Mitbürger, noch mehr wohl ihrer Mitbürgerinnen zu bewahren vermochte. Und dieser Hexenaberglauben-Bacillus überträgt sich natürlich auch auf die empfänglichen Kindergemüther und wuchert da für die neue Generation trotz aller Volksschule weiter.
Tragischer spielte der Aberglaube einem Weibe mit, das aus Eifersucht zu ihm ihre Zuflucht genommen hatte. Es war ein Mädchen vom Lande, das einen hausierenden Wiener Goldwarenhändler geheirathet hatte. Der Mann war seines Geschäftes wegen wenig zu Hause und die Einsamkeit bereitete der jungen und geistbeschränkten Frau Langeweile. Sie fühlte sich unglücklich und marterte sich damit, daß sie ihren Mann für untreu hielt. Um sich darüber Gewißheit zu verschaffen, befragte sie eine der „Wahrsagerinnen“, welche schon viel Unheil in braven Familien gewissenlos angerichtet haben. Die weise Frau gab ihrem gläubigen Opfer den Rath, daß man dem Manne den „Tritt vernageln“ müsse. Um diesen Unsinn auszuführen, besorgte sie einen rostigen „Sargnagel vom Kirchhof“, wie sie versicherte, und den sollte die junge Frau vor dem Bette ihres [29] Mannes da einschlagen, wo er beim Aufstehen und Zubettgehen den Fuß hinzusetzen pflegte. Falls er ihr untreu wäre, so würde er kraft dieses Nagels krank werden und schließlich auch sterben. Trotz dieser abschreckenden Folgen, welche der Thörin eingeredet wurden, ging sie aus den Rath ein und „vernagelte“ ihrem Mann den Tritt. Zufälligerweise wurde er nun wirklich krank. Darüber gerieth aber die Frau, die inzwischen Mutter geworden war, in große Angst und in so heftige Gewissensnoth, daß sie ihr Geheimniß dem Arzte anvertraute. Derselbe hatte schließlich mehr damit zu thun, die Frau wegen ihrer sinnlosen That zu beruhigen, als den kranken Mann wieder herzustellen. Das letztere gelang ihm, das erstere nicht. Reue und Scham machten die junge Frau gemüthskrank und sie mußte von ihrem gesundeten Mann ins Irrenhaus gebracht werden.
Ein Berliner Berichterstatter hat einmal seine Studien über die allerdings harmlosen und komischen Aeußerungen des Aberglaubens mitgetheilt, welchem sich die Mitglieder der Stammgesellschaften in den Volksküchen der Reichshauptstadt hingeben. Danach legten manche der Gäste Bedeutung darauf, ob sie auf ihrem Platz am Speisetisch die Flasche mit Wasser rechts oder links zur Hand hatten; stand sie rechts von ihnen, so fürchteten sie, daß es mit der Aussicht auf Arbeit „wässerig“ sei. Diejenigen dagegen, welche sich aufs Betteln verlegt hatten, erachteten es als übles Vorzeichen, wenn sie links stand. Diese Wasserflasche oder -kanne auf der Tafel spielt so eine große Rolle in der Volksküchengesellschaft. Sind doch andere wieder beflissen, die Kanne mit dem Henkel auf sich zuzudrehen „damit das Wasser von ihnen weggehe.“ Auch die Straße hat da abergläubische Bedeutung. Die einen wollen sie im Rücken haben, damit sie nicht „auf die Straße hinaussehen“, die andern denken umgekehrt, sie soll ihnen Aussicht gewähren, und setzen sich danach. Obdachlose oder nicht arbeitende bettelnde Personen rechts neben sich zu haben, sucht man besonders zu vermeiden, da deren Elend gleichsam ansteckende. Wirkung haben könnte.
Wenn Beelzebub den Beelzebub austreibt. so ist dies für vernünftige. Leute gewiß eine ebenso große Befriedigung, wie meistens auch ein sehr erheiterndes Schauspiel. Im Friaulschen giebt es ein besonderes Fest für diesen abergläubischen Brauch. Nach dem Städtchen Classetto ziehen an dem hierfür bestimmten Tage im Mai große Pilgerscharen, viele darunter barfuß, welche diejenigen mit sich führen, die an Nervenkrankheiten, Hysterie, Veitstanz und dergleichen leiden. Es ist nämlich für alle Welt dort und auch für die Kranken eine ausgemachte Sache, daß sie von bösen Geistern besessen seien. Aber in Classetto, diesem altgesegneten. Ort, sollen sie ihnen ausgetrieben werden. Hier bringt man die Besessenen in die Kirche, und alsbald geht die Austreibung im handfesten naturalistischen Stil vor sich. Aus lauter Barmherzigkeit walkt das gesunde Volk das kranke durch schüttelt und rüttelt es, und je mehr die Aermsten schreien, für desto erfolgreicher gilt die Kur. Endlich stürzen die Gemißhandelten ohnmächtig zusammen, und das ist der Augenblick des Triumphes für ihre Peiniger Hosianna! Hosianna! ertönt es in der Kirche verzückt aus aller Munde. Die königlich italienische Polizei, welche für diese biederen Volkssitten aus der mittelalterlichen Zeit kein rechtes Verständniß besitzt, ist zwar dieser Teufelei auch schon kräftig entgegengetreten, aber es ist wie mit dem Haberfeldtreiben in Bayern: im geheimen wird der Unsinn alle Jahre wieder fortgesetzt.
Bei einer meiner sommerlichen Niederlassungen im Bregenzer Walde erzählten die Herren des Gerichts von Bezau an der Wirthstafel unter anderem die Geschichte vom Troddeltony, die hier vortrefflich am Platze ist. Dieser Troddeltony war ein sonderbarer Bursche, der Vermögen besaß und künstlerische Liebhabereien damit befriedigte. Als er ein sehr schönes Weib geheirathet hatte, baute er sich auch ein hübsches Haus in einem Dorfe im Bregenzer Walde und schnitzelte dasselbe äußerlich selber mit Figuren gar seltsamlich aus. Nach mehreren Jahren seines ganz einsiedlerischen Lebens war er mit seinem Gelde zu Ende und wurde arm wie Hiob aus seinem Schnitzhäuschen auf die gemeine Landstraße gesetzt. Er ging fort, man wußte nicht wohin. Nur die Hirten behaupteten, ihn im Walde öfter gesehen zu haben. Endlich entdeckten ihn Forstleute in einer unwegsamen Schlucht bei dem „Zillerkampen“ unter einem überhängenden [30] Felsen, wo er sich eine Hütte aus Holz und mit Moos und Tannenreisig bekleidet erbaut hatte. Wegen Vagabundage wurde er angeklagt und blieb einige Zeit in Haft. Als man ihn freigelassen hatte, verschwand er wieder im Walde.
In einer Nacht nun stieß ein Forstmann, der „rothe Jakob“ genannt. ein boshafter Gesell, zufällig auf den ihm wohlbekannten Troddeltony.
„Heh, was machst denn? Hast Dir wieder ein Hüttle gebaut?“
„Ja,“ sagte der Tony, sich in die Brust werfend, „und diesmal spürt es keiner von Euch aus.“
„Wovon lebst denn? Vom Wildern natürlich?“
„Leben muß man doch?“
„Wenn ich Dich nun mitnehme aufs Gericht?“
„Das wirst Du nicht thun, gelt?“ bat der Bursche.
„Dummer Kerl!“ meinte darauf der rothe Jakob, „Du solltest Dich für die Gendarmen unsichtbar machen, dann könntest Du auch bei Tage gehen, wohin Du wolltest und brauchtest nicht zu befürchten, abgefaßt zu werden.“
„Unsichtbar? Wie meinst Du das, Jakob?“
Der Jäger machte ein pfiffig geheimnisvolles Gesicht und raunte dem Neugierigen zu:
„Wenn Du einer frisch vergrabenen Leiche genau um die Mitternachtsstunde das Hemd abziehst und es selber anlegst, so sieht Dich kein Teufel und kein Gendarm. Dann bist Du unsichtbar.“
Darauf ging der verschmitzte Förster weiter seines Weges durch den finstern Wald, überzeugt, daß der Tony in die Falle gehen werde, die er ihm gestellt hatte.
Am nächsten Tage verbreitete sich durch Holzschläger die Kunde, daß der rothe Jakob in die Ach abgestürzt sei und das Genick gebrochen habe. Man holte seine Leiche und begrub sie auf dem Dorffriedhof.
Nachts schlich sich ein Mann zwischen den einsamen Gräbern hindurch und blieb an der frischen Gruft des Försters hocken. Lange lauschte er in der lautlosen Finsterniß. Dann schaufelte er die Erde heraus, bis er auf den Sarg stieß“ in dem Jakob lag. Er brach den Deckel vermittels mitgebrachter Werkzeuge aus, legte ihn zur Seit und horchte dann wieder. Nichts zu sehen und zu hören aus dem vom Dorf entlegenen Friedhof. Da schlug es vom Kirchthurm Mitternacht. Sofort zog er der Leiche das Hemd ab und barg es bei sich, hob den Deckel wieder zurück, schaufelte die Erde darüber und entfernte sich hastig mit seinem Raube.
Sogleich legte er auch das Hemd des Toden über seine Kleidung und wanderte furchtlos die Landstraße ab, überzeugt, daß ihn niemand sehen könne. In dieser Nacht begegnete ihm kein Mensch: Aber nach ein paar Tagen brachten die Gendarmen den Troddeltony im Totenhemde des rothen Jakob ins Gefängniß nach Bezau, und der Verdacht, den Jäger in den Tod gestürzt zu haben, zog ihm eine lange Untersuchung zu, welche aber zu keinem Ergebniß führte.
Wie viele ähnliche Fälle, durch den Aberglauben bewirkt, spielen sich nicht geheimnisvoll in den Bergen ab! Denn da vor allem ist er in allen möglichen Arten eingenistet. Abgesehen von dem religiösen Volksbedürfniß, die Heiligen der Kirche um gut Erntewetter und Schutz des Viehs auf den Almen zu bitten, herrscht dort noch immer mehr oder weniger die Einfalt, welche die Religion mit Zaubereien in Verbindung setzt, wie es in allen Welttheilen, bei Gebirgsvölkern zumal, der Fall ist. Hat der Tiroler Schaden an seinem Vieh gelitten, so hält er es für geboten, deswegen zum heiligen Leonhard zu wallfahrten, welcher als der besondere Viehpatron verehrt wird. Wer den Sohn der Berge deswegen belächeln und an den Thierarzt verweisen würde, den würde er mißachten als einen der „Herren“, die halt keine Religion haben, und selbst alle Belehrungen aufgeklärter Geistlicher stoßen auf hartnäckigen Widerspruch im Bauernvolke. Wie dies sein Heil bei Gewitter vom Wettersegen des Priesters und nicht von solch einem Ding wie einem Blitzableiter erhofft, so auch vom Läuten geweihter Kirchenglocken die Vertreibung von Hexen und Gespenstern, die bei ihm ihr Unwesen treiben. Im Pusterthal wüthete einmal im Juli ein Unwetter. Die Meßner zweier eng benachbarten Gemeinden griffen nach den Glockensträngen, die Geistlichen hüben wie drüben nach ihrem Brevier. Eine der beiden Gemeinden wurde gleichwohl schwer heimgesucht und ihre Ernte wurde mit faustgroßen Schloßen vollständig vernichtet. Da kamen die Bauern dieses Dorfes mit zornigen Vorwürfen an ihren Geistlichen, der sich damit zu rechtfertigen suchte, daß sein Amtsbruder in der Nachbargemeinde alles Unglück herübergebetet haben müsse. Sie stutzten, fanden die Sache wahrscheinlich und begannen nun einen förmlichen Krieg mit den Nachbarn, wobei es blutige Köpfe in Menge gab.
Von ebendaher erzählt Adolf Pichler in seinen Skizzen „aus den Tiroler Bergen“ eine köstliche Hexengeschichte – aus früherer Zeit natürlich, von damals, als die Mütter noch an Teufel und Teufelsspuk glaubten, was ihre gebildeteren Töchter von heute ja nicht mehr thun, wie sie wenigstens den Fremden versichern. Ein Bua ging gewöhnlich in später Stunde an einem Heustadel vorbei zu seinem Mädel ans Fenster. Als er nun einmal um Mitternacht guter Dinge heimkehrte, sah er Licht aus den Spalten des Stadels schimmern und hörte eilte Geige drinnen spielen. Er guckte neugierig durch eine Ritze und bemerkte zu seinem schauderhaften Erstaunen auf der Diele einen rothen Hund sitzen, der emsig auf der Geige fiedelte. Allerlei Katzen tanzten dazu um ihn herum. Der Bua, nicht faul, warf einen Stein unter sie, der den Hund traf. Der Hund heulte vor Schmerz, das Licht erlosch, die Katzen aber sprangen mit wildem Geschrei auf den Störenfried los, der sich ihrer mit feinem Bergstock erwehren mußte. Eine der Katzen traf er hierbei derart aufs Maul, daß sie genug hatte und jammernd abzog. Am nächsten Morgen, es war Sonntag, ging der Held dieser Geschichte in die Kirche. Unterwegs begegnete er einem Nachbar, der ihm sagte, er müsse zum Bader, denn sein Weib habe sich in der Nacht eine Reihe Zähne eingefallen.
„Hm, Anderl, aus welcher Seite fehlen ihr denn die Zähnen?“
„Auf der rechten.“
Da sagte der Bursche überzeugungsvoll:
„Nachbar, geht lieber zu einem Pater; denn Euer Weib ist eine Hexe, ich habe sie heut’ nacht im Stadel gesehen, wo es nicht richtig ist, und habe ihr du mit meinem Stock die rechten Zähne aus dem Maul geschlagen.“
Anderl kehrte nachdenklich um und soll zu Hause nach echter tiroler Herzenslust den Teufel aus seiner Ehefrau getrieben haben.
Die hohe Obrigkeit und Gerichtsbarkeit, welche einst so viel Hexen aufgriff und ihnen mit Feuer und Schwert den Garaus machte, begnügt sich heutzutage, ihr vorkommende Hexereien nur als gemeinen Unfug oder Betrug zu bestrafen. Bei Kempten kurierte ein Bauer das Vieh und enthexte es auch, Dabei verfuhr er folgendermaßen: er machte Feuer im Kuhstall, nahm zwei Eisenstangen, brachte dieselben zum Glühen und goß Milch darüber. Die dadurch aus dem Eisen entstandene Milchhaut erklärte er für die Haut der Hexe, die somit glücklich verbrannt wäre. Dafür ließ er sich siebzehn Mark zahlen; das Gericht gab ihm aber noch drei Wochen Gefängniß dazu.
Ein Dorfrichter bei Odessa faßte dagegen die Hexerei jüngsthin immer noch mehr im alten Stile auf. Bei ihm waren Klagen gegen ein Weib eingelaufen, daß es die Kühe behexe, die darum keine Milch mehr gäben. Das böse Weib mußte. 30 Rubel Schadenersatz dafür bezahlen.
In Rußland giebt es eine Sekte, deren Mitglieder sich ihre Plätze im Himmel schon bei Lebzeiten sichern, indem sie dieselben kaufen, ersten oder zweiten Platz. Auf dem ersten können sie im Lehnstuhl sitzen oder auf einem Divan liegen; auf dem zweiten Platz giebt es nur ein Stühlchen ohne Lehne. Kürzlich ereignete es sich im Dorfe Ossipowo, daß ein armer Bauer seinen letzten Hafer verkaufte und mittels des erlösten Geldes ohne Vorwissen seines Sohnes einen Platz erster Güte im Paradiese belegte. Nach dem der Sohn es in Erfahrung gebracht hatte, nahm er den Vater gehörig vor:
„Solch ein armer Teufel nimmt nicht erster Klasse: für den ist die zweite doch gut genug!“
„Soll ich wohl“, antwortete der Vater unwillig, „wegen fünf Rubel viel Aufhebens machen und die ganze Ewigkeit auf dem Schemel sitzen, während ich nun doch auf einem Polster liegen kann?!“
Truggeister.
Margolds Stand stach vortheilhaft ab gegen seine Nachbarn durch seine Sauberkeit und durch die mit den einfachsten Mitteln erreichte Gefälligkeit der Form, noch mehr aber durch die dort feilgebotene Ware; selbst den völligen Laien mußte es auffallen, wie dort alles nach Farbe und Wirkung sinnreich geordnet war: das Aufdringliche mehr zurück, das Bescheidene, Schlichte mehr im Vordergrunde. Dann die großen und kleinen Sträuße und Kränze, welcher Geschmack bei aller Einfachheit! Sie wären einem sinnigen Gemüthe auch in der glänzenden Auslage der hauptstädtischen Kunstgärtner aufgefallen. Das Publikum, das diese beehrte, das Publikum hinter den seidenen Gardinen, welche heute morgen in Bertl so sonderbare Gedanken hatten aufsteigen lassen, kaufte allerdings nicht bei Margolds. Ihre Kunden waren ein ganz anderes, eigenes Publikum, das sich schwer unter bestimmte Begriffe fassen ließ – das Publikum der Dachstuben, der Hinterhäuser, die „kleinen Leute“ nach dem großstädtischen Ausdruck; der arme Student, der Ladenjüngling, der junge Künstler, der Arbeiter, der Unteroffizier, der mit sorgfaltiger Wahl ein Sträußcheu ersteht für sein Liebchen; die junge Frau, die mit strahlendem Antlitz ein Angebinde aussucht für irgend ein häusliches Fest, für den kleinen Liebling, für den Gatten, oder zum Schmuck des dürftigen Heims, das alte Mütterchen, das mit feuchten Augen und zitternden Lippen einen Kranz kauft für das Grab des letzten theuren Todten.
Dieses große Heer der vielgestaltigen Liebe, in dessen Panier immer und ewig die Blume prangt, zog täglich vor dem Stande Margolds vorüber. Bertl, durch deren fleißige Hände alle diese duftigen Liebesgaben gingen, kannte genau die Bedürfnisse ihrer Kunden. Sie verstand wie keine ihrer Genossinnen die Sprache der Blumen, unter denen sie aufgewachsen war, sie wußte auch die bescheidenste, werthloseste sinnig zu verwenden und so um billigen Preis den liebevollen Zweck des Käufers zu erfüllen. Und ihre Abnehmer fühlten das; sie kamen immer wieder, und die Nachbarn mit ihrer plumpen aufdringlichen Ware, mit ihren schlechten Nachahmungen der Kunstgärtnerei sahen mit scheelen Augen auf das unverschämte Glück neben ihnen, nicht ohne spitzige Bemerkungen über die schöne Verkäuferin.
Bertl betheiligte sich nicht an dem Gespräche über Weinmanns, sie war mit ihren Blumen beschäftigt, denn schon standen die ersten Kunden prüfend umher. Sie fühlte, die Arbeit war das beste Mittel gegen die dummen Gedanken, die sie jetzt so oft quälten. Sie war überhaupt nicht schuld daran, daß die begehrlichen Wünsche immer stärker sich aufdrängten, sie war ja ganz zufrieden und glücklich bei ihrer Hantierung, in dem kleinen Häuschen beim Vater, den sie so gern hatte, sie wünschte es sich gar nicht anders, die Stadt war ihr selbst zuwider, wo die armen Blumen in den staubigen Vorgärten, auf den öffentlichen Plätzen kränkelten. Der Bruder war schuld daran mit seinen verlockenden Reden und seinen Plänen von Reichthum und Wohlleben, auch die Nachbarstocher, die Loni, ihre Schulfreundin, die immer etwas Neues, Aufregendes wußte aus der Stadt, das ihr Blut so unruhig machte, und – dann noch jemand, das konnte sie nicht leugnen – der Lieutenant von Brennberg, ihr Jugendgespiele. Ihr Vater war Gärtner auf dem Gute seines Vaters gewesen, und jetzt war der junge Brennberg ihr einziger, aber ständiger Kunde aus den vornehmen Kreisen. Die treue Anhänglichkeit, die sie darin zu sehen glaubte, bestärkte nur ihre Neigung zu dem schönen jungen Manne. Er flüsterte ihr Schmeicheleien zu, deren Einfluß sie sich nicht entziehen konnte: sie sei viel zu gut für ein Gärtnermädchen; mit ihrer schönen, eleganten Erscheinung, ihrem künstlerischen Geschmack sei sie zu Besserem geboren, in der Stadt nur könne sie ihr Glück machen! Sie sei ja reich, wenn der Vater nur wolle, ein reiches Bürgermädchen, dem bei den jetzigen gesellschaftlichen Anschauungen die ganze Welt offen stehe – es war dasselbe, was ihr der Bruder heute auf dem Weg gesagt, und darum hatte es sie so gepackt. Ihre fast kokette Kleidung, die dem Vater so unnatürlich vorkam, war nur eine Folge davon; alle diese Redensarten vom Fortschritt der Jungen, mit welchen sie den alten Mann heute so gekränkt hatte, waren nur das Echo der Brennbergschen Ansichten, in ruhigen Stunden stand sie wieder ganz auf der Seite des Vaters.
Das Geschäft ging heute vortrefflich; der Aermste suchte ein Stückchen Sommer sich zu retten für den langen traurigen Winter, und Bertl war unerschöpflich in herzlichen Zusprüchen, guten Rathschlägen betreffs Behandlung ihrer Lieblinge, heiteren Bemerkungen und Anspielungen und, wenn es Noth war, kräftigen Trostesworten; sie suchte sich gewaltsam zu zerstreuen, um etwas zu verdrängen, das sich immer wieder in ihr regte.
Die Stunde vor Mittag war immer die lebendigste; Bertl konnte all den unentschlossenen, sich drängenden Käufern gar nicht mehr nachkommen; dann aber nahm der Zulauf mit einem Male ab, und sie konnte sich wieder mit dem Binden der kleinen Sträußchen beschäftigen, um die entstandenen Lücken auszufüllen. – Da kamen sie wieder, die bösen Gedanken, und zu allem Ueberfluß leistete ihr Hans noch Gesellschaft, der unterdessen seinen Gemüsehandel an der Rückseite des Pavillons beendigt hatte, und begann von dem Glück der Weinmanns zu schwärmen, seine Befürchtungen in betreff Lonis zu äußern, die ihm sichtlich näher stand, als er gestehen wollte. Er fand es zum Erstaunen Bertls ganz begreiflich, daß das Mädchen ihm von jetzt ab die Freundschaft kündigen werde, daß sie von nun ab mit dem Markt und seinem Trödelkram nichts mehr zu thun haben wolle, jetzt, da sie ebensogut wie jede andere berechtigt sei, die Dame zu spielen. Bertl meinte allerdings, eine wahre Liebe lasse sich dadurch nicht abschrecken, doch Hans, den grauen Hut im Genick, die Hände in den Hosentaschen, lachte hellauf darüber: das seien Hachinger Begriffe, die er sich schon längst abgewöhnt habe.
Bertl ging dabei die Arbeit nicht von der Hand, jeden Augenblick riß der Faden, die Rosen entblätterten sich, die Veilchen fügten sich nicht und neigten die Köpfchen nach innen – da klirrte es auf dem Trottoir, es gab ihr einen Stich in das Herz, sie wagte nicht, aufzusehen – wenn er nur heute nicht käme! Die Rose zitterte in ihrer Hand.
Hans beugte sich vor, blinzelte seiner Schwester lachend zu und zog sich pfeifend zurück.
Lieutenant Brennberg trat mit leichtem Gruß an den Pavillon.
„Guten Morgen, Fräulein Bertha! Immer fleißig und reizend, die personifizirte Flora!“
Er griff in einen Blumenkorb und suchte scheinbar nach etwas Geeignetem.
„Ich kann’s nicht ändern, es thut mir immer weh, wenn ich Sie unter all dem eckigen häßlichen Marktvolke da sehe, in dieser Bude Ihr junges Leben verträumend!“
„Verträumend! Wer sagt Ihnen denn das?“ entgegnete in verletztem Tone Bertl.
„Gewiß verträumend! Das ist doch kein Leben für ein junges, hübsches Mädchen, wie Sie sind, die in der Lage wäre, eine ganz andere Stellung einzunehmen, wenn nicht ihr Herr Papa so bockbeinig wäre. – Ah, was ist denn da mit Ihrer Nachbarin, mit der Loni? Vater gestorben?“ – Er deutete auf die geschlossene Bude Weinmanns.
„Er hat sein Anwesen verkauft um hunderttausend Mark.“
„Um hunderttausend Mark! Donnerwetter! Das ist ein Gebirge von Gemüse! Da sehen Sie es ja am besten, wie es mit Ihrem Vater stände. Er besitzt ja fast das Doppelte! Sie wissen, ich interessire mich für ihn, er zählt zu meinen liebsten Erinnerungen, der alte Gärtner Margold, und das hält nach in den Stürmen des Lebens, Fräulein Bertha!“
Er sagte die letzten Worte in einem ernsten, dem lebenslustigen Manne sonst fremden Tone.
Bertl wurde feuerroth und nestelte in den aufgeschütteten Blumen.
„Ich glaube es Ihnen, Herr von Brennberg, wir alle hegen so auch die innigste Verehrung für Ihren Herrn Vater, der so viel Gutes für uns gethan hat.“
„Ach, gehen Sie, das meine ich nicht! Gutes gethan! Ich meine, Ihr Vater sollte endlich einmal Vernunft annehmen und sich ein behagliches Alter verschaffen, wie man es ihm von allen Seiten anbietet –“
„Und macht es Ihr Herr Vater nicht ebenso? – Könnte er nicht auch ein reicher Mann sein, wenn er aus seinem Gute Baugründe machen würde? Und doch thut er es nicht!“
[32] „Ganz richtig, Fräulein Bertha, derselbe Eigensinn, ganz richtig! Aber bei Ihnen wäre der Unterschied zwischen den zukünftigen Verhältnissen und Ihren jetzigen immer noch bedeutender. Sie würden damit in einen ganz andern Lebenskreis treten. Was kümmert man sich heutzutage um die Vergangenheit!“
„Wie meinen Sie das, Herr Lieutenant? Ich denke, unsere Vergangenheit war eine durchaus ehrliche, die jeder wissen darf!“ entgegnete Bertl etwas gereizt.
„Aber, Fräulein, es liegt mir doch fern, Sie beleidigen zu wollen! Alle Achtung vor der Arbeit, dem Handwerk! Gott, heutzutage denkt man selbst in der Uniform etwas freier über diese Dinge! Aber ich meine das anders – es giebt einmal gewisse Gesetze, über die wir nicht hinaus können – ich meine, Sie treten dann in einen Lebenskreis, der – der – –“ der junge Mann zögerte – „der es jedem, wer er auch sei, ermöglicht, offen mit Ihnen zu verkehren,“ sagte er dann rasch. „Fräulein Bertha Margold, ein reiches Bürgermädchen, eine Dame – das meine ich – und – –“ er ergriff eine Rose und sog wiederholt ihren Duft ein – „und das ist mir gar nicht gleichgültig, Fräulein Bertha! Sehen Sie zum Beispiel, ich möchte jetzt noch gern mit Ihnen plaudern – aber es geht nicht – es würde sofort darüber gesprochen werden!“ Er beugte sich etwas vor und reichte ihr die Rose. „Verstehen Sie mich jetzt? – Adieu, Bertha, denken Sie darüber nach!“
In demselben gleichgültigen Bummelschritt, in dem er gekommen war, entfernte er sich, um sich in den Augen der allenfallsigen Beobachter nicht den Anschein eines absichtlichen Besuchers des Blumenpavillons zu geben. Bei den Marktweibern umher fruchtete indessen diese Bemühung wenig, sie hatten ihn und Bertl schon längst beobachtet.
„Da kann man freilich das Geschäft hinauf bringen, wenn man es so macht!“ das war der Inhalt ihrer nicht eben freundschaftlichen Bemerkungen.
Auf Bertl machten die Worte Brennbergs einen gewaltigen Eindruck. Sie waren ja gar nicht mißzuverstehen; was sie kaum zu denken wagte, das sprach er eben klar aus – er liebte sie! Er wollte sie zu sich emporheben – als – als – Aber nein, das war ja gar nicht möglich – er wollte nur mit ihr, ohne darum angesehen zu werden, verkehren – das konnte er jetzt ja nicht – Jugendfreundschaft, weiter nichts! „Das ist mir gar nicht gleichgültig!“ Wie fest er das sprach, wie bedeutungsvoll! die Freundschaft einer Gärtnerstochter war einem Lieutenant von Brennberg nicht gleichgültig! Dann war es eben keine Freundschaft, sondern – Liebe, heiße, innige Liebe! Es gab für sie kein drittes! Ihre Neigung zu dem jungen, vornehmen Mann, deren sie sich schon längst bewußt war, schlug jetzt plötzlich in hellen Liebesflammen empor. Nichts entzündet ein Mädchen mehr als das Herabsteigen des geliebten Mannes von einem wirklichen oder eingebildeten Piedestal, ihm zu Liebe. In dem Sinnes- und Herzensrausch bei diesem seligen Anblick vergißt es nur zu leicht die sorgfältige Prüfung der Beweggründe.
Bertl war nur eins klar: sie hatte jetzt die heiligste Verpflichtung, alles zu thun, um sich emporzuschwingen zu dem Geliebten, der ihr ja bereits beide Arme helfend entgegenstreckte; jede andere Rücksicht mußte verschwinden. Am Ende gab es ja gar keine Rücksicht mehr zu nehmen, der Vater würde selbst nicht mehr bei seinem Willen beharren, sobald er das Glück seiner Bertl erfuhr; er liebte sie über alles, er verehrte das Haus Brennberg – – den alten Herrn von Brennberg! – Herrn von Brennberg – o weh! den kannte sie als gestrengen, absonderlichen Herrn; er verschmähte alles Geld, das man ihm für sein altes, ihn und seine Familie kaum ernährendes Familiengut bot, und jetzt sollte sein einziger Sohn die Tochter seines Gärtners –
Doch das ist ja das Große, das Herrliche der neuen Zeit, von der man immer spricht, daß diese dummen Schranken gefallen sind, ihr muß das Alte weichen – der Herr von Brennberg – der Vater! Sie band die verwirrtesten, sinnlosesten Sträuße bei diesen stürmischen Gedanken, sie mußte über die häßlichen Dinger lachen, als sie zu sich selbst kam – da stand Hans vor ihr, der ihr schon lange zugeschaut hatte.
„Komm, Bertl, es ist jetzt Mittag, wir sperren die Bude zu und wollen uns auch einmal etwas gönnen. Ich lade Dich zu einem Diner bei Arnold ein.
Bertl sah den Bruder erstarrt an. Arnold galt für das vornehmste Restaurant der Hauptstadt.
„Na, was schaust Du? Glaubst Du vielleicht, wir dürfen dort nicht hinein? Da sitzt mancher drin und macht sich breit, der nicht die Hälfte von dem hat, was wir haben könnten. Grad extra! Ich hab’s satt, die ewige Schinderei!“
Um keinen Preis hätte Bertl unter andern Umständen je eingewilligt, sie hätte gar nicht den Muth gehabt, dort einzutreten. Heute aber willigte sie ein, ja, die Aufforderung schien ihr ganz erwünscht zu kommen, der hastigen Eile nach, mit welcher sie zusammenräumte und den Pavillon zuschloß. Sie machte vor dem kleinen Spiegel sorgfältig Toilette, sie durfte sich überall sehen lassen, nur die rothen Finger konnten sie verrathen. Hans steckte eine Rose in das Knopfloch, setzte den hellen grauen Hut gerade und bot seiner Schwester den Arm. Spitzige Reden verfolgten sie auf dem Wege durch die Stände links und rechts, aber sie fühlten sich jetzt schon beide erhaben darüber.
Zum ersten Male bummelte Bertl so ohne alle Beschäftigung und Zweck, nur zum Vergnügen, in den Straßen der Stadt herum. Es entging ihr nicht, daß die Herren ihr nachblickten, manch schmeichelhafte Bemerkung drang an ihr Ohr. Vor jedem Auslagefenster blieben sie stehen. Da blitzten kostbare Geschmeide in roth- und blausammetenen Etuis, dort war alles Erdenkliche ausgebreitet, was weibliche Eitelkeit reizen konnte, in den hohen Spiegelscheiben erblickte Bertl ihre schlanke Gestalt; wenn sie erst diese Hilfsmittel der Schönheit alle zur Verfügung hätte, da sollten sie nur kommen, diese feinen Damen alle, die da so stolz an ihr vorübergingen!
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Es war jetzt die Promenadezeit der ersten Gesellschaft, und das Restaurant Arnold lag in der Hauptstraße. Dahin war Bertl noch nie gekommen. Das war eine ganz andere Welt als in den engen übelriechenden Vierteln um den Markt herum, mit ihrem farblosen Publikum! Diese Toiletten, diese lautlos dahinrollenden, sich wohlig schwingenden Equipagen, diese prächtigen, alle Sinne in Aufruhr bringenden Auslagen, an den Ecken unzählige bunte Plakate mit verlockenden Bildern, mit Anzeigen von Bällen, Konzerten, Theatervorstellungen. Die Arbeit war hier unbekannt, sie mußte sich erschrecklich düster, schmutzig ansehen in dieser Umgebung. „Genießen“ war hier die Losung, „mühelos, rücksichtslos genießen!“ Was ihr auffiel, das waren die ernsten oder wenigstens völlig gleichgültigen, kalten Gesichter, die sie überall erblickte. Warum lachten diese Menschen nicht? Freuten sie sich nicht über ihr Glück? Sie, Bertl, glühte ja und hätte laut aufschreien mögen vor Lebenslust. Diese schöne junge Frau da am Arme des Offiziers in glänzender Uniform, die ihr entgegenkam, wie gelangweilt, wie freudlos sah sie drein! – Wenn sie einmal am Arme ihres Geliebten –
Die Sinne schwanden ihr fast bei dem Gedanken, sie hielt sich fest an dem Arm des Bruders, dem alle diese Dinge durchaus nicht mehr neu waren; er hatte sich bereits das Nichtverblüffenlassen des Großstädters zu eigen gemacht, diese erheuchelte Gleichgültigkeit gegen alles, die Bertl empörte.
Sie traten in das Restaurant Arnold.
„Guck nicht so erstaunt herum wie ein Banernmädl, man lacht Dich sonst aus!“ flüsterte ihr der Bruder zu und schritt, den Stock in der Ueberziehertasche, die Schultern emporziehend, mit kühnem Blick durch die Reihen der tadellos gedeckten Tische. Bertl folgte ihm Schritt für Schritt, schüchterne Seitenblicke werfend; ihr sonst so entschlossenes Wesen war verschwunden, es lag ein so eigenthümlich schwüler und doch so prickelnder Dunst über dem weiten Raum, gemischt aus dem Aroma feiner Cigarren, Speisegeruch und Weindunst, dem Parfüm der Damen und Herren.
Aus einem lauschigen Winkel, in welchem bereits das Gas brannte, erschallte lautes lärmendes Gelächter und Gläserklingen.
Hans wollte eben in erzwungener Achtlosigkeit daran vorbei, da rief jemand seinen Namen, und er wandte sich danach um. Ein breitschulteriger, knochiger Mann mit hochgeröthetem Antlitz inmitten einer lärmenden Gesellschaft schwenkte ein Champagnerglas gegen ihn.
„Nur ’ran, Nachbar! Kommen ja wie bestellt – es lebe die – die – Gä – Gärtnerei! Prosit, Kinder!“
[33]
[34] Er fiel auf das rothe Sammetpolster zurück, und unter schallendem Gelächter stieß man an.
Es war Weinmann, der Gärtner, der Nachbar der Margolds.
Hans wußte, was hier gefeiert wurde, und er wäre am liebsten sofort umgekehrt, denn der Neid packte ihn. Da erblickte er Loni, die Tochter, unter der Gesellschaft, sie lachte und scherzte mit einem jungen, fein gekleideten Mann – da folgte er der Einladung.
Alles war schon ziemlich angeheitert, eine Batterie geleerter Flaschen mit rothen Köpfen stand umher.
Loni war in sichtlicher Verlegenheit beim Anblick des jungen Mannes, der ihren Nachbar so scharf ins Auge faßte; sie wandte sich, um dieselbe zu verbergen, mit lauter Stimme an Bertl, welche, ganz betäubt von dem Lärm, dem schweren Weindunst, dem blendenden Lichte, sich kaum zurecht fand.
Der alte Weinmann übernahm die Vorstellung.
„Herr Bau – Baumeister Stef-f-fanelly, Herr Ingenieur Mareschall – künftiger Schwie – Schwiegersohn.“
„Papa!“ rief Loni in verweisendem Tone.
Herr Stefanelly machte ein verdutztes Gesicht.
„A was – lange G’ – G’schichten – seid fi – fidel Kinder! Heute darf man ja doch einen Spaß ma – machen!“
Man nahm Platz, ein Kellner brachte zwei weitere Gläser und schenkte ein.
Hans war empört über den angetrunkenen Alten; denn sprach er auch zu viel, so war doch etwas daran. Mareschall war die rechte Hand des Stefanelly, des Käufers des Weinmannschen Anwesens, eines der ersten Bauspekulanten M ... s. Aber Hans hatte doch bereits von der Welt so viel gelernt, um sich nichts merken zu lassen.
„Natürlich schon gehört, Herr Mar – Margold? Herr Stefanelly ist jetzt Ihr Nachbar – großes Palais – Straße Stefanelly – Sie sind doch ein verfluchter Kerl, Stefanelly –“
Weinmann drohte blinzelnd mit dem von harter Arbeit gekrümmten Finger. „Die Hachinger sollten Ihnen die Hand küssen – alle – der alte Margold – das heißt, mir sollte man sie eigentlich küssen, ich habe den Anfang gemacht, jetzt kann’s jeder – keine Kunst mehr!“
„Da irren Sie sich ein wenig,“ sagte Stefanelly, dem die Art und Weise Weinmanns sichtlich nicht angenehm war; er rückte wenigstens etwas von ihm weg. „Herr Margold hätte schon längst vor Ihnen verkaufen können, das sage ich Ihnen, aber er will nicht.“
Hans schoß das Blut in den Kopf: kein Zweifel, Stefanelly selbst hatte dem Vater schon ein Angebot gemacht, ein höheres jedenfalls wie dem Weinmann.
„Entschuldigen Sie, Herr Margold, aber ich versichere Sie,“ wandte sich der Baumeister an Hans, „ich habe noch nie eine solche Hartnäckigkeit getroffen wie bei Ihrem Vater.“
„Na, der Brennberg – bei dem langt’s auch!“ warf Weinmann ein.
„Bei solchen Leuten begreife ich es eher, die stecken einmal in ihrem Vorurtheil und all dem alten Kram, aber ein Mann wie Margold, ein Mann der Arbeit, dem jetzt das Glück in den Schoß fällt, daß der sich so gegen seinen Vortheil wehrt, das ist mir in meiner Praxis noch nicht vorgekommen. Das Gute ist nur, daß er zu seinem Glück noch gezwungen wird; einem solchen Ungeheuer wie M ... kann man keine Schranke entgegen setzen, es zerbricht sie einfach. Entschuldigen Sie meine Offenheit, Herr Margold, aber ich setze voraus, daß Sie in diesem Punkte andere, praktischere Ansichten haben als Ihr Herr Vater.“ Er betrachtete Hans von oben bis unten.
„Hab’ ich auch, aber was nützt es mir? Er fürchtet sich nun einmal vor baarem Gelde, er hat keine Ahnung, wie man damit arbeitet.“
Weinmann lachte hellauf.
„Es ist etwas daran, es ist etwas daran!“ – die hohe kahle Stirn des Baumeisters zog sich, als er das sagte, in schwere Falten – „aber ein so einfacher, solider Mann, er braucht ja nicht zu spielen – sicherste Anlagen –“
„Nein so was! Fürchten thut er das baare Geld!“ fiel Weinmann dazwischen, indem er sich wand vor Lachen. „Ich nicht! Ich nicht! Mein Lebtag nicht! Allerdings ein bißl umzugehen damit muß man verstehen, daß es auch was gleich sieht; das kann man aber auch als früherer Mann der – Arbeit – ha, da ist mir nicht bang’ – G’schmack muß man haben – da – da – zum Beispiel –“
Er spreizte seine krummen harten Finger; an dem einen steckte ein blitzender, aufdringlich gefaßter Diamant, der die Hand wie aus Erde geformt erscheinen ließ.
„Den hat mir die Loni heut’ gekauft zur Erinnerung an den Tag, d. h. die Loni – Sie verstehen schon!“ – er lachte selbstgefällig und wendete die Hand hin und her, daß sich die Strahlen darüber kreuzten – „das nenn’ ich Geschmack, und haben thut man auch was davon – ja, da ist mir nicht bang!“
Er ergriff ein Kelchglas, als packe er eine Schaufel, und trank es auf einen Zug leer.
Aus der nordamerikanischen Vogelwelt. In den begeisterten
Schilderungen der Naturpracht Westindiens, welche Columbus in seinen
Briefen und Berichten gegeben hat, ist oft von dem Gesang der Nachtigall
die Rede. Der große Entdecker war in einem Irrthum befangen: die Inseln,
die er zum ersten Male gesehen hatte, lagen nicht am Ostrande Asiens,
sondern gehörten einer „Neuen Welt“ an, und in dieser gab es auch eine
besondere Vogelwelt, in welcher andere Sängerinnen unsere Nachtigall
ersetzten. Die spanischen Ritter der Conquista, die mit Bluthunden nach
den Goldländern zogen, kümmerten sich wenig um diese Sänger des
Waldes; anders die „Pilgerväter“, die gekommen waren, um in Neuengland
den Wald urbar zu machen: sie lauschten den Liedern der Vögel,
die sich in der Nähe der Blockhütten niederließen, und sie fanden bald
jene gefiederten Sänger heraus, welche gern in der Nachbarschaft der
Menschen nisten.
Als der erste Winter, den die „Pilgerväter“ in Massachusetts zubrachten, zu Ende ging, da erblickten sie in den heimkehrenden Vögeln die Boten des nahenden Frühlings, und zu den ersten dieser Boten zählten zwei liebliche Sänger, der Hüttensänger und die Wanderdrossel. Trotz Schnee und Eis schmetterten diese Vögel ihre Jubellieder hoffnungsvoll durch den kahlen Wald, und die Pilgerväter nannten den einen, der sich durch die rothe Färbung der Brust auszeichnete, Robin (oder Robin Redbreast) und dachten dabei an das trauliche, von ihnen so sehr geliebte Rothkehlchen ihrer Heimath. Es war die Wanderdrossel, welche die ersten Gründer der Vereinigten Staaten in ihr Herz schlossen und die noch heute in den Staaten von Neuengland besonders hoch geschätzt und auf alle Weise gehegt und geschützt wird.
Auf dem Rücken blau, auf der Unterseite braun war der andere Vogel; er war noch zutraulicher als die Wanderdrossel, und die ersten Ansiedler nannten ihn „blaues Rothkehlchen“: jetzt heißt er „Hüttensänger“ oder „Blauvogel“ bei den Deutschen, „Bluebird“ bei den englisch sprechenden Nordamerikanern. Während die Wanderdrossel im Norden besonders beliebt ist, erfreut sich der Blauvogel dieser Beliebtheit überall, wozu nicht nur seine Zutraulichkeit, sondern auch seine Farbenpracht viel beiträgt: „auf dem Rücken des Himmels Aetherblau, auf der Unterseite der Erde bräunliches Gewand!“
Keiner der gefiederten Gartenbewohner zeigt eine solche Anhänglichkeit an den Menschen wie er. Er ist in der That halb zum Hausvogel geworden. Wenn im Urwalde das einfache Blockhaus des Ansiedlers entsteht, so ist er es, der, von Stumpf zu Stumpf fliegend, seine Lieder singt. Er gehört zu den nützlichen Vögeln, da er nur Insekten vertilgt, an Knospen, Beeren, Kirschen oder Trauben sich aber nicht vergreift.
Man sucht ihn darum in Nordamerika, wie bei uns den Staar, durch Nistkästen anzulocken. Leider ist diesem schönen Vogel in neuerer Zeit ein arger Feind erwachsen. Der europäische Sperling, der erst vor wenigen Jahrzehnten nach Amerika eingeführt wurde, hat sich in der Nähe der Städte, wie z. B. Chicago, ins Ungeheuerliche vermehrt und macht dem Hüttensänger den Platz streitig; in der That werden dort, wo die Sperlinge schon zahlreich sind, kaum noch Blauvögel brütend angetroffen. Der Sperling ist aber an dem Verschwinden des Blauvogels nicht allein schuld. Konrad Kretz beschuldigt in seinem Gedichte, das den Hüttensänger verherrlicht, den Rauch und Lärm der Fabriken, das Verschwinden der Wälder – kurz die Kultur und wundert sich nicht:
„Wenn die Wandervögel den Weg verfehlen,
Oder wenn mein Nachbar, der Hüttensänger,
Einen stillen Platz für die Brut sich auf dem
Lande gesucht hat,
Wo die Luft noch rein ist, wo Flocken Ruß noch
Nicht sein himmelblaues Gewand beschmutzen,
Wo die Nacht noch Nacht ist und müden Wesen
Heilsamen Schlaf bringt.“
[35] Was uns die Nachtigall ist, das ist dem Nordamerikaner der Spottvogel oder die Spottdrossel. Wie ihr Name besagt, entlehnt sie anderen Vögeln ihre Weisen. Alle diese Töne werden aber so meisterhaft zu einem Ganzen, zu einem „herrlichen Tonstücke“ vereinigt, daß man die Spottdrossel die „Königin des Gesanges“ genannt und sie selbst über die Nachtigall gestellt hat. Die Streitakten über diese Primadonnen der Neuen und der Alten Welt sind noch nicht geschlossen. Der Phonograph wird diese Fragen jedoch bald in neuen Fluß bringen, indem er den bis jetzt so schwer oder gar nicht wiederzugebenden Vogelgesang festhalten kann.
Wanderdrossel, Hüttensänger und Spottdrossel sind die ausgesprochenen Lieblingsvögel der Nordamerikaner und sind auch in unseren europäischen Vogelhandlungen zu sehen und zu hören, ja sie werden bei uns sogar mitunter mit Erfolg im Käfig gezüchtet. Die Spottdrossel allein wird alljährlich in Tausenden von Exemplaren nach Europa ausgeführt, außerdem halten unsere Vogelliebhaber noch eine große Anzahl anderer nordamerikanischer Vögel, unter denen wir z. B. nur die Kardinäle hervorheben möchten. Die Nordamerikaner beziehen dagegen Vögel von uns und neuerdings suchen sie sogar in gewissen Gegenden deutsche Singvögel einzubürgern. So ist das Interesse für die Vogelwelt diesseit und jenseit des großen Wassers rege und diesem Interesse trägt ein neues Werk Rechnung, welches in Milwaukee erscheint: „Die Nordamerikanische Vogelwelt“ von H. Rehrling (Verlag von Geo Brumder, Leipzig, F. A. Brockhaus). Das Werk ist mit farbigen Tafeln nach Vorlagen von Prof. Norbert Ridgway in Washington, Prof. A. Goering in Leipzig und Maler Gustav Mützel in Berlin geschmückt. Es ist ein Prachtwerk, aber nicht allein, wie dies so oft der Fall ist, was die Bilder, das Papier und den Einband, sondern auch was den Inhalt anbelangt. H. Rehrling kennt einen großen Theil Nordamerikas aus eigener Anschauung und er hat die Vogelwelt seiner neuen Heimath mit richtigem Verständnis, aber auch mit inniger Hingabe geschildert. Es sind wirklich „anziehende, stimmungsvolle“ Bilder, die uns hier vorgeführt werden, und für den deutschen Leser in der Heimath hat das Werk auch den Vortheil, daß in ihm die Stubenpflege der hierzu geeigneten amerikanischen Vögel eingehend berücksichtigt ist. *
Römischer Sklavenmarkt. (Zu dem Bilde S. 25.) Das Sklaventhum der besiegten Welt bildete die Grundlage der Herrlichkeit und Größe Roms und die Entwürdigung des Adels der Menschheit war ihre Voraussetzung. Das tritt uns lebendig bei dem Anblick dieses von dem Maler so charakteristisch dargestellten Sklavenmarktes entgegen. Welche herrliche Gewalten finden sich unter dieser „Menschenware“! Wie aus Marmor gehauen steht der Jüngling da, der mit gekränzten Armen seinem Schicksal heldenhaft und trotzig entgegensieht. Wie jungfräulich edel erscheint die Sklavin, welche im Gegensatz zu jenem sich dem Schmerz und der Verzweiflung überläßt über ihre auf offenem Markt zur Schau gestellte Schönheit. Tieftraurig blicken auch die anderen Sklavinnen, selbst der kleine Knabe, ein in Rom vielgesuchter Artikel, und auch die schwarze Aethiopierin, die sich an die Lichtgestalt der schönen Sklavin herandrängt.
Nur einer freut sich seines Lebens – es ist der häßliche Sklavenhändler, der, behaglich die Beine von sich streckend, sein Mahl zu sich nimmt; die Peitsche, die gerade außer Tätigkeit gesetzt ist, hat er um seinen Arm geschlungen. Seine Firma: „Storax, Sklavenhändler“ steht an der Wand.
Auch eine lebendige Anschauung von der Art und Weise einer solchen Sklavenschaustellung giebt uns das Bild. Wir sehen das hölzerne Gerüst (catasta), zu welchem eine Leiter in die Höhe führt. Die Käufer steigen hier herauf, um die Menschenware zu untersuchen. Die Verkäuflichen tragen alle am Halse eine Tafel (titulus), woraus sowohl ihr Name wie ihre Geschicklichkeit, ihre körperlichen Fehler und etwaige Vergehen angegeben sind. Krieg, Menschenraub, die strengen Rechtsbestimmungen einer harten Zeit sorgten dafür, daß es den Händlern nie an frischer Zufuhr fehlte. wie selbstverständlich auch die Kinder von Sklaven in diesem Stande verblieben. und fragen wir nach dem Preise, der für ein Stück dieser „Ware“ bezahlt wurde, so erhalten wir die verschiedensten Antworten. Für Ackersklaven zahlte der ältere Cato bis zu 1200 Mark nach unserem Gelde, schöne junge Mädchen, wie sie auf unserem Bilde zum Verkaufe aufgestellt sind, kamen von 1600 bis 4800 Mark zu stehen, während für Kinder rund 500 Mark bezahlt wurden. Sklaven mit besonderen Fähigkeiten, Schreiber, Musiker, Aerzte, Künstler etc. erzielten natürlich viel höhere, oft selbst nach unserem heutigen Geldbegriffe riesige Summen; es wird von einem gelehrten Sklaven Daphnis berichtet, der seinen Herrn nicht weniger als 700 000 Sesterzen, das sind nach unserem Gelde etwa 119 000 Mark, kostete.
Wenn wir heute die Gebiete betrachten, die einst das römische Reich bildeten, so finden wir, daß noch nicht aus allen die Geißel der Sklaverei und der Sklavenmärkte verschwunden ist. Ob es unserer Zeit, ob es dem nahenden zwanzigsten Jahrhundert wohl vorbehalten ist, den letzten Menschenverkauf, den letzten Sklavenmarkt zu verzeichnen? †
Die Feier des Dreikönigstags in Devonshire. (Zu dem Bilde S. 29) Schon sind elf der heiligen zwölf Nächte verstrichen. Nur noch der Dreikönigstag, der „twelfth-day“ oder „Zwölftertag“ Englands ist übrig. Da rüstet man sich aus den Pachthöfen in Devonshire, sich in althergebrachter Weise eine reiche Obsternte zu sichern. Begleitet von seinen Arbeitsleuten, die mit Flinten, Büchsen und alten Musketen bewaffnet sind, geht der Pächter am Abend nach der weiten Obstpflanzung. Mitten unter den Bäumen wird Halt gemacht. Der grobe Krug Cider oder Apfelwein wird niedergelegt, und jeder schöpft sich daraus sein Trinkgefäß voll Dann treten alle um den beitragenden Apfelbaum, der Pächter bringt einen feierlichen Trinkspruch auf denselben aus, und alle trinken dreimal auf das Gedeihen des Baumes. Dabei krachen die Schüsse durch seine Zweige. Ebenso feierlich, wie die Leute gekommen, kehren sie nach Haus zurück. Aber der Eingang ist ihnen verwehrt: sie finden die Thür innen verriegelt und hinter derselben vor tönt lautes Gekicher.
Es mag regnen oder schneien, stürmen und die Flocken umherblasen, daß man keine drei Schritte weit sehen kann die Frauen bleiben unerbittlich. Die Thür öffnet sich nicht eher, bis einer der Männer errathen hat, was am Bratspieß steckt. Das ist aber nicht so leicht; denn etwas Eßbares ist es sicherlich nicht.
In anderen Gegenden derselben Grafschaft geht man mit einem großen Milchtopf voll Cider, in dem Bratäpfel schwimmen, nach dem Abendessen in den Obstgarten. Jeder schöpft aus dem Topfe eine irdene Schale voll, tritt unter einen der besten Bäume und ruft:
„Heil dir, guter Apfelbaum!
Trage gut, Taschen voll, Hüte voll,
Metzen-, Scheffelsäcke voll!“
Dabei leert er seine Schale zum größten Theil, verzehrt die Bratäpfel und schüttet den Nest an die Wurzeln des Baumes, diesem zum Festschmause. A. T.
Zwei mongolische Fabeln.
Auf diese Weise machten die Drei ihre Reise mit Erfolg, als sie von unten aus von Leuten bemerkt wurden, die laut ihre Verwunderung über den gescheiten Einfall äußerten und gern wissen wollten wer denn so klug gewesen sei, daraus zu kommen. Der eitle Frosch öffnete sein! Maul und sagte: „Ich war es!“ – Damit ließ er aber seinen Halt los, fiel zur Erde und wurde in Stücke zerschmettert.
Moral: – Laß dich nicht vom Hochmuth zum Reden verführen, wenn du besser stillschweigen würdest.
Eine Schildkröte lebte in einem Brunnen. Eine andere Schildkröte, deren Heimath der Ocean war, fiel auf ihren Ausflügen ins Innere des Landes zufällig in diesen Brunnen. Die Schildkröte fragte nun ihren neuen Kameraden, woher er käme. –
„Aus dem Meere.“
Da sie vom Meere sprechen hörte, schwamm die Brunnenschildkröte ein wenig im Kreise herum und fragte: „Ist das Wasser des Oceans so groß wie dieses?“
„Größer!“ entgegnete die Seeschildkröte.
Die Brunnenschildkröte schwamm alsdann zwei Drittel des ganzen Brunnenumfanges ab und fragte, ob der Ocean so groß sei.
„Viel größer!“ sagte die Seeschildkröte.
„Nun denn,“ sagte die Brunnenschildkröte, „ist der Ocean so groß, wie der ganze Brunnen?“
„Größer!“ sagte die Seeschildkröte.
„Wenn das wahr ist“, sagte die andere, „wie groß ist denn dann der Ocean?“
Die Seeschildkröte erwiderte: „Da du noch nie ein anderes Gewässer als das deines Brunnens gesehen hast, so ist dein Begriffsvermögen sehr gering. Was den Ocean anbetrifft, so könntest du ihn niemals, selbst wenn du viele Jahre darin zubrächtest, auch nur zur Hälfte ergründen, noch auch seine Grenzen erreichen, und es ist durchaus unmöglich, ihn mit diesem deinen Brunnen zu vergleichen.“
Die Schildkröte entgegnete: „Es ist unmöglich, daß es ein größeres Gewässer als diesen Brunnen giebt, du willst nur deinen Geburtsort mit eitlen Worten herausstreichen.“
Moral: – Leute von geringer Bildung, die sich von dem geistigen Horizont hochbefähigter Menschen keinen Begriff machen können und sich ihres Wissens und ihrer Talente rühmen, gleichen der Schildkröte im Brunnen. – Dr. U.
Der „hundertjährige Kalender“ ist ein Rest der Astrologie, der sich bis auf unsere Tage erhalten hat, denn es giebt noch immer gewisse Leute, die in ihrem Kalender auch den hundertjährigen kaufen wollen. Dr. Mauritius Knauer zu Langheim in Oberfranken (im 16. Jahrhundert) war der erste Verfasser eines hundertjährigen Kalenders; gedruckt wurde ein solcher zum ersten Male erst im Jahre 1701, wo ihn Dr. Hellwig herausgab. Viele Leute glauben, der hundertjährige Kalender habe seinen Namen daher, daß er das Wetter so anzeige, wie es vor hundert Jahren war. Das ist ein Irrthum, der „Hundertjährige“ leistet mehr: in ihm wird nach astrologischen Regeln das Wetter für ein ganzes Jahrhundert vorausberechnet. Dieser Wetterprophet nimmt nach altem Ptolemäischen System die Erde als feststehend an und räumt den Planeten die Herrschaft über Jahre, Tage und Stunden ein. In der Reihenfolge: Sonne, Venus, Merkur, Mond, Saturn, Jupiter und Mars lösen sich die Wandelsterne des alten Himmelsystems in ihrer Herrschaft ab. Zu dem Herrscher ersten Ranges tritt aber in gewissen Zeitabschnitten ein zweiter Planet hinzu, der den Einfluß desselben je nach seinen Eigenschaften abschwächt oder verstärkt. Nach diesen alten Lehren ist Saturnus der oberste der Planeten, ein Feind und Verderber, „giftig von Natur, kalt und trocken“. Die Sonne ist ein freundliches Gestirn, sein Gegensatz. Der Mond ist kalt und windig, Jupiter feucht und warm, Mars heiß und trocken, Venus und Merkur sind kalt. – Wer Lust und Zeit hat, solche astrologische Berechnungen näher kennen zu lernen, der kann dies aus der lehrreichen, für weitere Kreise bestimmten Zeitschrift „Das Wetter“ (Verlag von Otto Salle, Braunschweig) erfahren; Freunden des „Hundertjährigen“ und Anhängern vieler abenteuerlicher Wetterpropheten der Neuzeit möchten wir die Zeitschrift dringend zum Studium empfehlen. Sie werden daraus lernen, wie man „wirkliche“ Wetterprophezeiungen anstellen kann und wie weit unser Wissen und wie weit unser Aberglauben reicht. *
[36] Das Elternhaus Robert Kochs. (Mit Abbildung.) Es ist ein freundliches Städtchen im Oberharz, Klausthal, wo Robert Koch, der Mann, dessen Name heute auf aller Lippen ist, geboren wurde. Der Bergmann ist der nächste Landsmann Kochs, und wie jener in den Schacht hinabsteigt, die Erze zu fördern, so ist auch Koch, ein getreuer Sohn des heimathlichen Bodens, tief eingedrungen in die verborgenen Gänge und Adern der Wissenschaft, ihr kostbares Erz zu entringen.
Das Haus, welches unsere Abbildung darstellt, ist das Elternhaus Kochs, die Stätte, an welcher er seine Kindheit und Jugend verlebte und an welche der große Forscher eine so treue und liebevolle Anhänglichkeit besitzt, daß er es sich nicht nehmen ließ, das schlichte Gebäude, dem es doch nicht an traulich anheimelndem Reize fehlt, wieder in seinen Besitz zu bringen. In dem Haus, in welchem Robert Koch geboren wurde und welches aus Anlaß seiner Geburtstagsfeier am 11. Dezember vor. Jahres mit einer Gedenktafel geziert wurde, haben Kochs Eltern nur kurze Zeit gewohnt, ehe sie sich das hier abgebildete käuflich erwarben. Der Wanderer aber, der hier vorüberzieht, wird ergriffen von einem Schauer der Verehrung, als fühlte er die geistige Nähe desjenigen, der die Stätte geweiht hat für alle Zeiten.
Eine neue Beschäftigung für Damen, und dazu eine sehr lohnende, ist – die Buchbinderei. Wie oft bedürfen die zierlichen Handarbeiten einer „Montirung“ durch Karton und Plüsch oder Leder, wie schwer aber ist es, in dem fabrikmäßigen Buchbindergeschäft der Großstädte einen Handarbeiter zu bekommen, der solche Dinge wirklich geschickt macht! Das haben die Frauen längst beklagt, nun aber sind sie auf dem besten Wege, sich selbst zu helfen. An verschiedenen Orten beginnt man mit dem Buchbinderunterricht und erlebt überall sehr erfreuliche Erfolge, so in Karlsruhe, wo der unermüdliche badische Frauenverein neben seinen anderen Fachschulen auch eine für Buchbinderei errichtet hat. Der Zudrang zu diesem Kurs ist ein so großer, daß Anmeldung schon lange vor Semesterbeginn noth thut. Die Mädchen und Frauen fangen mit einfachen Büchereinbänden und Kästchen für den täglichen Bedarf an, allmählich aber schreiten sie fort bis zu den theuren und reizenden Luxusdingen in Plüsch und Goldleder, Mappen, Rahmen, Ständer für den Schreibtisch u. s. w., wobei die malenden unter ihnen natürlich in der angenehmen Lage sind, ihr ganzes Wert eigenhändig herzustellen. Als ernsthafter Erwerbszweig kann diese nette Fertigkeit wohl weniger in Betracht kommen, weil die private Handarbeit den Wettkampf mit der fabrikmäßigen Herstellung nur ausnahmsweise aufnehmen kann. Aber als Erweiterung der Kenntniß und Geschicklichkeit, als Anregung zur wirklich nutzbringenden Thätigkeit kann sie gewiß warm empfohlen werden. Es wäre zu wünschen, daß auch andere Städte dem Karlsruher Beispiel folgten durch Eröffnung ähnlicher Kurse an ihren Gewerbeschulen. Sie würden gewiß dieselbe Theilnahme finden! Br.
Woher stammt das Wort „Kaviar“? Darauf wissen Gelehrte und Feinschmecker keine Antwort, deshalb behilft man sich mit mehr oder weniger gesuchten Erklärungen. Tatarisch, wie die meisten Wörterbücher angeben, ist das Wort entschieden ebensowenig als türkisch, es steht auch als Fremdling innerhalb aller europäischen Sprachen. Keine Wurzel aus dem Alterthum haftet ihm an: auf den eingehenden Küchenzetteln der römischen Schwelger fehlt der Kaviar gänzlich, obwohl schon der alte Herodot die großen Störe des Dnjepr kennt und nennt. Auch das ganze Mittelalter beobachtet ein tiefes Schweigen über die heute so gesuchten und köstlichen Fischeier. Erst in einer Abhandlung von Platina, Hofmeister des Papstes Pius II., 1458 kommt zum ersten Male das Wort Kaviar vor, um sich von da an häufig in italienischen Schriftstellern zu finden. Der Kaviar war für die Menschheit entdeckt. Diese Thatsachen zusammenfassend, begründet W. Joest (Zeitschrift für Ethnologie 1890, Heft III, Berlin, Asher u. Co.) eine Vermuthung, die sicher Beachtung verdient. Demnach stammt der Name von Kapha-Theodosia, dem durch Jahrhunderte größten Handelsplatz am Schwarzen Meer, wo der Fischeierkauf in großem Maßstabe vor sich ging, wo auch die italienischen Händler den aus den Flüssen gebrachten Kaviar erstanden, um ihn dann nach dem Westen, nach Byzanz, Griechenland, Italien zu verschiffen.
Er stützt diese Annahme unter anderen guten Gründen auch mit Analogien. Korinthen z. B. wachsen nicht in Korinth selbst, ebensowenig als Smyrna-Feigen in Smyrna. Marsala, Portwein und Malvasier tragen ebenso nur den Namen ihrer Ausfuhrorte wie der Mokka, welcher erst mehrere Tagereisen hinter Molka gebaut wird.
Man muß gestehen, daß in Ermanglung irgend welchen sprachlichen Anhaltspunktes für den Begriff „Fischeier“ in dem Worte Kaviar diese Ableitung von dem Ausfuhrorte eine einleuchtende Erklärung darbietet.Br.
Briefe mit unvollständigen Aufschriften. Die Findigkeit der Jünger Stephans wird im Deutschen Reiche allgemein gerühmt, und es ist bekannt, daß der Spürsinn derselben namentlich in den großen Hauptstädten oft auf eine harte Probe gesetzt wird. Welchen Aufwand beamtlicher Thätigkeit die Ermittelung solcher Adressen in Berlin verlangt, darüber werden folgende Mittheilungen gemacht. Es gehen in Berlin täglich etwa eine halbe Million Postsendungen ein: darunter befinden sich im Durchschnitt 10000 Briefe mit unvollständigen Adressen. Das Nachschlagen der 10000 Namen im Adreßbuch erfordert täglich 333 Arbeitsstunden und bildet die dauernde Thätigkeit von 33 Beamten bei zehnstündiger Dienstzeit. Mehr als 30 Namen können in der Stunde nicht nachgeschlagen werden, da es unter diesen Namen viele so verbreitete giebt, daß sie mehrere Seiten des Adreßbuchs füllen. Außerdem benutzt die Post auch anderes Material zur Ermittelung unzureichend bezeichneter Wohnungen: ein Oberpostsekretär, zehn ältere Beamte, fünfundzwanzig Sortirer und ein Postschaffner sind damit beschäftigt. Und doch werden täglich 2000 Briefe und 200 Drucksendungen als unbestellbar an die Aufgabeorte zurückgeschickt. †
Kleiner Briefkasten.
M. M. in München. Vielfachen aus unserem Leserkreis geäußerten Wünschen folgend, lassen wir die Hefte der „Gartenlaube“ nicht mehr aus Halbheften, sondern wieder, wie früher, aus Nummern zusammenstellen.
Inhalt:
[Anm. WS: Inhaltsverzeichnis des vorstehenden Heftes, nicht transkribiert]
- ↑ * Fermente oder Enzyme nennt man organische Körper, welche innerhalb bestimmter Temperaturgrade in kleinen Gaben verhältnißmäßig große Mengen anderer organischer Körper in neue Körper umzuwandeln vermögen. So ist z. B. das Pepsin des Magens ein Ferment, welches unlösliches Eiweiß verdauen hilft.