Die Gartenlaube (1891)/Heft 3
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Nr. 3. | 1891. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jussnitz und Hilde suchten eine Droschke und fuhren miteinander
dahin; er saß ganz stumm an ihrer Seite und kam sich wunderlich
vor neben dieser fremden und doch so altvertrauten Persönlichkeit; die
Vergangenheit war lebendig in ihm geworden. Was hatten die
Jahre, besonders die letzten, für einen Philister aus ihm gemacht!
Die Zeit des Jugendübermuthes, der Schwärmerei, der Begeisterung
und der tollen Streiche zog vor seinem Auge vorüber
in verlockenden Bildern. Toni von Zweidorf! Es lag etwas
Veilchenduftiges in der Erinnerung an diese erste Liebe, und die
weiche Frühlingsstimmung überkam ihn wieder mächtig in diesem
Augenblick.
Seine Begleiterin war entzückt von dem Elbstrom, den vielen Lichtern, die sich in dem dunklen Wasser spiegelten, von dem ganzen Leben und Treiben der Großstadt. Sie hatte hundert Fragen, die er beantworten mußte. Als endlich die Straßen stiller, die Beleuchtung mangelhafter wurde, sagte sie enttäuscht: „Ich fürchte, Tante wohnt am Ende der Welt!“
In diesem Augenblick hielt der Wagen vor einem einstöckigen kleinen Hause, das zwischen großen, drei und vier Stockwerke messenden Gebäuden wie ein Zwerglein stand. Im Erdgeschoß war ein Verkaufslokal, das sich bei näherem Hinzutreten als ein sogenanntes „Büdchen“ auswies, das heißt als ein Laden, wo Gemüse, Eier, Butter, Käse und saure Gurken zu haben sind, und dem nicht gerade verführerische Düfte entströmten, als Jussnitz die Thür öffnete, um zu fragen, ob in diesem Hause Frau Sekretär Berger wohne.
Eine ungeheuer dicke Frau, die aus einer so kleinen Thür getreten war, daß man gar nicht begriff, wie sie hatte durch schlüpfen können, trocknete sich die Hände an der Schürze und fragte: „Sie seien wohl gar schon die Nichte von der Bergern? Ih! Das thut mir aber sehre leid, die is Sie zum Dheekränzchen, ich weeß aber werklich nich, bei wem das heite is.“
Hilde von Zweidorf lachte belustigt auf. „Was soll ich denn aber anfangen bis dahin?“ rief sie. „Kommt Tante sehr spät nach Hause?“
„Mehrschendeels erst um elf herum, Freileinchen; aber Sie können ja bei mir warten, oder erlauben Sie, die Frau Bergern legt manchmal den Schlüssel unter die Strohdecke vor der Stubenthür, ich will Sie doch gleich mal nachsehen.“
Der gefällige Koloß verschwand, man hörte ihn eine ächzende Treppe hinauf- und nach einem Weilchen wieder herunterkeuchen. „Es thut mir sehre leid, diesmal hat sie ihn wo anders hingethan, aber wenn Sie bei mir warten wollen –“
„Verwahren Sie den Koffer des Fräuleins,“ unterbrach sie Jussnitz, auf dessen Gesicht ein unbehaglicher Ausdruck lag, „und kommen Sie indeß mit mir, Fräulein von Zweidorf. Sie müssen wenigstens etwas essen, und dann ist ein Gang durch die Straßen immer noch besser, als hier in diesem Duft zu warten.“
Er fügte das letzte in französischer Sprache hinzu, und sie antwortete ebenso mit tadelloser Aussprache:
„Allerdings! Der Eintritt in meine Zukunft scheint nicht glänzend, mein Herr; ich erlebe die erste Enttäuschung. Tante schrieb von einer freundlichen Vorstadtwohnung, und ich dachte an eine Allee alter Bäume und an ein Gärtchen vor der Thür – o Wirklichkeit, wie häßlich bist Du!“
Sie nahm seinen Arm, den er ihr bot, und schritt mit ihm durch die Straßen.
Einen Augenblick hatte er die Idee, irgend ein vornehmes Restaurant aufzusuchen, dann aber trat er mit ihr in ein ihm unbekanntes Lokal der Friedrichstadt; es war völlig menschenleer. Sie saßen sich dort gegenüber am sauber gedeckten Tischchen und konnten sich bei heller Gasbeleuchtung endlich ganz deutlich betrachten.
Hilde gewann nur noch, als sie den Hut abgenommen hatte und die schön geformte Stirn sichtbar ward; man sah ihr an, daß die Lage ihr Freude machte. „Bitte, erzählen Sie mir,“ bat sie und nahm ein wenig kaltes Fleisch, „wohnen Sie in Dresden oder außerhalb der Stadt?“
„Außerhalb,“ erwiderte er.
„O, ich glaube, ich würde die Stadt selbst vorziehen. – Ist Ihr Atelier schön, darf ich es sehen?“
Es flog etwas wie ein Schatten über seine Stirn. „Sie dürfen es sehen, natürlich, und ich hoffe, recht oft! Vielleicht versuchen Sie es, bis Sie einen besseren finden, mit mir als Lehrer?“
Sie legte Messer und Gabel hin und reichte ihm die Hand über den Tisch. „Wie liebenswürdig Sie sind, aber – ich landschaftere ja!“
„Ich auch nebenbei; auch sage ich ja nur: bis Sie einen besseren finden. Und dann habe ich zugleich einen Wunsch: ich möchte Sie malen, Fräulein Hilde – ich darf doch Hilde sagen als alter Nachbarssohn?“
„Versteht sich! Und wissen Sie, daß ich mich jetzt ganz deutlich Ihrer erinnere? Sie haben ja alle Tage der Toni Fensterparade gemacht! Ich saß mit den Schwestern auf der Schwelle unserer Hausthür, und dann grüßten Sie hinauf, wo Toni am Fenster stand.“
„Aber, ich bitte Sie,“ wehrte er ernsthaft, „mein Weg führte dort vorüber, und als Tanzstundenherr hat man doch die Verpflichtung, zu grüßen.“
„Ah so! Das ist richtig!“ Sie lachte wieder. „Und malen wollen Sie mich?“ Es klang ein mühsam unterdrückter Jubel aus ihrer Stimme.
„Wenn Sie gestatten –“
„Warum nicht?“
„Aber Sie müssen mir erlauben, das Bild in die Ausstellung zu schicken,“ sagte er hastig.
Sie erröthete vor Freude. „Wirklich?“ fragte sie.
„Ist es Ihnen unangenehm?“
„O bewahre! Auf der Straße sehen mich die Leute ja auch an!“
„Schön! Ich komme in den nächsten Tagen zu Ihrer Frau Tante.“
Hilde war fertig mit Essen. „Was beginnen wir nun?“ erkundigte sie sich und setzte den Hut mit der alten geknickten Straußenfeder, der ihr gleichwohl außerordentlich gut stand, vor dem Spiegel auf.
„Wir sehen uns die Schaufenster vielleicht ein wenig an, wenn Sie nicht zu müde sind.“
Nein, sie war nicht zu müde, gar nicht! Sie zog die schwarzen gewobenen Handschuhe an, aus denen hier und da eine rosige Fingerspitze hervorguckte, und ließ sich von Herrn Jussnitz den eng anschließenden Mantel aus billigem Lodenstoff, der in seiner Neuheit gar nicht so übel aussah, anziehen und nahm den Muff. Er war von schwarzer Katze oder gefärbtem Kaninchen. Dann erklärte sie sich bereit.
Sie benutzten die Pferdebahn bis zum Postplatz und drängten sich dann durch die Menschen auf dem hell erleuchteten Trottoir. Er ward nicht müde. mit ihr vor den Schaufenstern stehen zu bleiben, deren jedes sie in Entzücken versetzte. Sie hatte ja noch nie eine größere Stadt gesehen. Vor einem Juwelierladen, in dem Edelsteine von allen Farben leuchteten, da war sie mit ihren bewundernden Ausrufen am Ende; sie stand mit großen Augen und halb geöffneten Lippen da. Jussnitz kam es vor, als lege sich über das kindlich schöne Gesicht ein verlangender sehnsüchtiger Ausdruck.
„Was kostet wohl so ein Ding?“ fragte sie endlich und deutete mit dem Finger auf eine kleine Brillantbrosche.
„O, ein paar tausend Mark!“ antwortete er.
„Ein paar tausend Mark? Unmöglich!“
Das war viel mehr, als das Jahresgehalt ihres Vaters betrug, von welchem eine große Familie leben mußte.
„Aber, sagen Sie,“ fuhr sie fort, wieder neben ihm gehend, „wieviel bekommt man für ein Bild, wenn man ‚berühmt‘ ist?“
Er lächelte ein wenig; ihre Augen sahen so fieberhaft erregt aus. „Wenn man ‚berühmt‘ ist, so viel man will, Fräulein Hilde.“
„Mehr, als solch eine Brosche kostet, viel mehr?“ fragte sie.
„Gewiß!“
Sie seufzte tief auf.
„Ich muß Sie jetzt nach Hause begleiten,“ begann er nach langem Schweigen; er hatte plötzlich Eile. Sie folgte ihm ohne [39] Antwort zur nächsten Droschke, und stumm fuhren sie zurück bis nach dem kleinen Hause der Tante.
„Ich warte bei der Frau, oben ist noch alles dunkel,“ sagte Hilde. „Haben Sie Dank, Herr Jussnitz, und – bitte, bitte –“
Er stand, den Hut in der Hand, neben ihr vor dem Eingang zum Gemüseladen. „Befehlen Sie über mich, Fräulein Hilde.“
„Bitte, bitte, vergessen Sie Ihr Versprechen nicht und kommen Sie zu uns wegen – wegen des Unterrichts.“
„In drei Tagen komme ich.“
Er fühlte noch einen dankbaren Druck der kleinen Hand, dann war sie in der Thür verschwunden, und Jussnitz sah durch die Glasscheiben, wie die dicke Frau das schöne Mädchen in das hinter dem Laden befindliche Stübchen nöthigte.
Die Droschke hatte gewartet. „Fahren Sie in die Z.Straße Nummer dreizehn,“ rief er, „aber rasch, wenn Sie sich ein gutes Trinkgeld verdienen wollen!“
Der Kutscher brummte irgend etwas, denn die Z.Straße befand sich so ziemlich am entgegengesetzten Ende der Stadt. Dann hieb er auf sein Thier ein und das Gefährt holperte davon. Nach einer halben Stunde fuhr der Wagen nicht mehr auf dem Pflaster, die vereinzelten Gaslaternen strahlten ihr Licht gegen die Bäume einer alten prächtigen Allee, und hinter herbstlichen Bosketten tauchten einzelne Villen auf. Am Ende dieser Gartenstraße hielt der Wagen, Jussnitz sprang heraus und berührte die elektrische Klingel an der schmiedeeisernen Thür, und während er wartete, bis man ihm öffnete, suchte er das Haus dieses Grundstückes zu erspähen. Es mußte sehr tief im Garten liegen, denn er vermochte nur ein Wirrniß von blattlosen Bäumen, von Sträuchern und grünen Edeltannen zu sehen, zwischen denen sich der Weg verlor. Endlich kam ein Laternchen daher geschwankt in der Hand einer alten Frau.
„Wer ist denn da?“ scholl es schon von weitem ziemlich verdrießlich.
„Hier ist ein Atelier zu vermiethen?“ antwortete Jussnitz.
„Jawohl, aber es ist nur von morgens neun Uhr bis nachmittags fünf Uhr zu besehen.“
„Ich will es nicht sehen, ich will es miethen.“
Die Alte, die jetzt erst die Thür aufgeschlossen hatte, hielt die Laterne hoch und leuchtete dem Fremden ins Gesicht, den sie für halb verrückt hielt.
„Sind Nebenräume dabei?“ fragte er.
„Ein Wohn-, ein Schlafzimmer und noch ein Kämmerchen.“
„Schön! – Wer wohnt sonst im Haus?“
„Niemand; höchstens im Sommer das Fräulein Brandt ein paar Wochen.“
„Gehört ihr die Villa?“
„Ja! Aber sie hat noch ein Haus in Strehlen, und alt ist sie auch schon.“
„Sie sind die Hausmannsfrau?“
„Ja, wenn Sie so wollen, aber einen Mann habe ich nicht mehr.“
„Uebernehmen Sie die Bedienung?“
„Ja, mein Herr.“
„Also, ich miethe das Atelier; in drei Tagen schicke ich Leute zum Einrichten. Hier ist meine Karte, und das für Sie.“
„Ohne hineinzukommen? Mein Herr, wenn Sie das Quartier sehen wollen –“ Die alte Person war plötzlich die Höflichkeit selbst.
„Ich sehe es in drei Tagen,“ antwortete er. „Gute Nacht!“
„Schönen guten Abend, mein Herr!“
Jussnitz sprang wieder in die Droschke und nannte den Namen eines bekannten Restaurants, während sich die kopfschüttelnde Alte mit ihrem Laternchen in dem einsamen Garten verlor.
Der Dahinfahrende nahm plötzlich den Hut von der Stirn, es war ihm heiß geworden. Was wollte er denn eigentlich? Er lächelte über seinen Feuereifer. Das Fieber, etwas Großes zu leisten, die alte freudige Schaffenskraft waren angesichts dieses schönen Mädchens so stark und jugendkräftig erwacht, wie er sie lange nicht gekannt hatte. Er kam sich vor wie ein Kranker, der zum ersten Male fühlt, daß er genesen kann. Malen wollte er sie, Aufsehen erregen mit seinem Bilde, und dazu brauchte er ein Losgelöstsein von allem, was ihn quälte. Er mußte dieses stille Atelier haben, denn Antje das Mädchen ins Haus bringen? Unmöglich! Antje, mit ihrer Prüderie, mit ihrer Engherzigkeit – und dieses Geschöpf, das ihn an ein scheues edles Pferd der Prairie gemahnte! Lächerlich! – Ueberhaupt, wenn er etwas leisten wollte im Porträtfach, so war es dringend erforderlich, daß er sich herausriß aus seiner seitherigen Umgebung, aus der Nähe seiner Frau. Er wollte nicht ihre erschreckten Augen sehen, wenn irgend ein Modell das Haus betrat, denn sie würde das ja nie verstehen; er hatte das längst gefühlt und deshalb längst das Atelier miethen wollen.
Seltsam – in diesem Augenblick überkam ihn etwas wie Mitleid mit seiner Frau. Sie hätte einen braven Kerl heirathen sollen, der außer ihr höchstens noch sein Contor im Kopfe hatte. Was sollte sie mit der angeerbten, anerzogenen Engherzigkeit neben ihm? Und er? Er fühlte das lähmende Gewicht einer Frau, die ihm geistig nicht ebenbürtig war, von Tag zu Tag mehr – – Ein Künstler sollte eben nicht heirathen, wenigstens nicht so. Nein, er that das Rechte, indem er das Atelier miethete, das ein Kollege innegehabt hatte, der nun für lange Zeit nach Sorrent gegangen war.
„Es ist das Rechte so,“ sagte er halblaut und trat mit aufgehellter Stirn in das vornehme Lokal, das er für gewöhnlich zu besuchen pflegte. Nur vier oder fünf Herren begrüßten ihn dort, und zwar mit verwunderten Gesichtern.
„Was zum Teufel, Jussnitz, Sie noch hier um neun Uhr abends?“ fragte ein Offizier. „Und wissen Sie auch, daß Klöden und ich uns eigentlich vorgenommen hatten, Sie heute abend zu überfallen? Der alte Freund behauptet nämlich, Sie feierten heute die Wiederkehr Ihres Hochzeitstages, er hätte es von der Baronin Erlach, die auch heute bei Ihnen zu Abend speist.“
„Thut sie auch, sie erzählte es heute früh in meinem Beisein dem Fräulein von Bardeleben!“ rief ein anderer.
Leo Jussnitz sah einen Augenblick ganz bestürzt aus. „Meine Frau liegt mit heftiger Migräne danieder,“ sagte er dann schnell gefaßt, „ich selbst hatte Wichtiges hier zu thun, will nur ein Glas Bier trinken und dann schnell nach Hause fahren. Apropos,“ sprach er weiter, das gefüllte Stammseidel mit dem silbernen Deckel zur Hand nehmend, „ich halte Sie beim Wort, meine Herren, kommen Sie morgen heraus!“
O gewiß, sie wollten alle kommen, aber Jussnitz solle noch dableiben, es sei ohnehin verteufelt langweilig, da alles auf der Hochzeit der kleinen Gräfin Mellenthien sei.
„Unmöglich!“ erwiderte Jussnitz, und nachdem er noch einiges für den anderen Tag verabredet hatte, verließ er das Lokal. In den ersten besten Blumenladen, den er noch offen fand, trat er ein und kaufte das erste beste Veilchensträußchen. Als er, den Strauß in der Hand, aus dem Laden gehen wollte, wandte er sich noch einmal und bestellte ein Blumenkörbchen, an die Adresse des Fräulein von Zweidorf, X.-Straße Nummer so und so, zu senden.
„Wünschen Sie Ihre Karte beizufügen?“ fragte die Verkäuferin.
„Nein!“ erwiderte er, das Portemonnaie wieder einsteckend.
„Aber der Herr vergessen den Veilchenstrauß!“ rief ihm das Fräulein nach.
Er kam ärgerlich zurück, ergriff die vergessenen Blumen und fuhr nach dem Bahnhofe. Im letzten Augenblick erreichte er den Zug und sprang in den Wagen.
„Wie sehen Sie denn aus, Jussnitz, sind Sie krank?“ fragte eine gutmüthige Stimme.
„Ach, Sie sind’s, Barrenberg! Durchaus nicht krank, nur etwas abgehetzt: wollte gern noch mit diesem Zuge wieder heim.“
„Waren Sie im Klub? Sicher niemand da –“
„Doch!“ Und er nannte die Namen der Herren.
„Meine Cousine ist heute abend bei Ihnen, Jussnitz.“
„Das glaube ich nicht, Barrenberg, die Baronin war gestern da.“
„Und heute hatte sie eine Einladung von Ihrer Frau Gemahlin – ich weiß es genau.“
Jussnitz lachte. „Täuschung, bester Barrenberg; sie sagte mir sogar die Sitzung ab – wegen Kopfschmerz.“
„Die kleine Lügnerin! Sie schrieb mir, ich sollte nicht heute nachmittag, sondern erst spät abends kommen; wir wollen nämlich morgen früh mit den Pferden zum Rennen nach H. Kommen Sie mit?“ fragte der stattliche Mann, in dem man unschwer den einstigen Kavalleristen erkannte.
„Es ist möglich,“ antwortete Jussnitz.
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[41] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [42] „Kommen Sie doch! Die Husaren haben uns zum Frühstück eingeladen – ich führe Sie ein.“
„Sehr angenehm – wenn irgend möglich!“ sagte er gedankenlos. Der Vetter der schönen Baronin war ihm heute abend unangenehm. Er dachte an Antje, und wie er sich entschuldigen wolle, daß er den heutigen Tag vergessen hatte. Hoffentlich war sie nicht aufgeblieben, ihn zu erwarten.
„Haben Sie einen Wagen an der Bahn, Barenberg?“ fragte er dann. Er erinnerte sich, daß er den seinigen zu einem späteren Zug bestellt hatte.
„Ich hoffe doch, Irene ist so vernünftig gewesen, mir ihr Coupé zu schicken.“
„Bitte, nehmen Sie mich mit, Barrenberg!“
„Selbstverständlich, Jussnitz!“
Der Wagen war da, und Jussnitz stieg beim Vorbeifahren in der Nähe seines Hauses ab. Als er an der Gartenmauer entlang schritt, bemerkte er Licht im Speisesaal und biß sich zornig auf die Lippen. Sie saß wirklich noch da und wartete auf ihn, und er wußte genau, wie sie ihn empfangen würde, ohne ein Wort des Vorwurfs, mit blassem Gesicht, mit stillgelassenem Wesen und in den Augen einen todestraurigen Ausdruck.
Ungestüm riß er die Saalthür auf. Da stand sie inmitten des Zimmers wie von Rosengluth überhaucht, und ihre Augen leuchteten glücklich auf, als sie den Strauß sah in seiner Hand. So sprach sie ihr zagendes „Leo!“
Sie war so anders, als sie ihm noch eben vorgeschwebt hatte, aber das machte ihm die Sache nicht leichter.
„Wie gut Du bist, Leo!“ sagte sie noch einmal und nahm die Blumen aus seiner Hand. Sie hätte gern gesprochen: „Du glaubst nicht, welch eine Wohlthat es für mich ist, daß Du da bist!“ aber sie wagte es nicht. Er sah so abgespannt und müde aus.
„Ich habe mich etwas angestrengt,“ erwiderte er, als läse er die Gedanken seiner Frau, „wollte noch gern den Neunuhrzug erreichen.“ Er goß sich ein Weinglas halb voll Rum und, sich am Tische niederlassend, fügte er hinzu. „Ich mußte heute nothwendig in die Stadt wegen – des Ateliers wegen – ich habe es gemiethet.“
Antje sah ihn an mit erschrockenen Augen, sie wußte von nichts. „Ein Atelier in der Stadt?“ fragte sie, und alle Klangfarbe war aus ihrer Stimme gewichen.
„Ja, Du weißt doch, ich will Porträtstudien machen. Soll ich etwa meine Modelle hierher kommen lassen? Das paßt mir nicht.“
„Und Du willst dann alle Tage drinnen sein, und –?“
„Ob alle Tage – das weiß ich noch nicht; es kann immerhin sein, daß ich wochenlang hinter einander weg bin, wenn ich gerade eine interessante Arbeit habe. Wird sich ja finden.“
Sie senkte den Kopf und schwieg.
„Laß doch etwas Ordentliches zu essen bringen, Antje, auf die durchsichtigen Mettwurstscheiben habe ich keinen Appetit. Speisest Du immer so großartig, wenn Du allein bist? Mich soll’s nicht wundern, wenn Du nächstens auf die Sprünge Deiner Mutter kommst und Dir eine Güte an Mehlbrei thust, sobald ich nicht daheim bin. – Franz!“ wandte er sich an den Diener, „bringe eine Flasche Röderer.“ Und gähnend fügte er gegen Antje hinzu: „Wir wollen doch auf den heutigen Tag anstoßen, Kind! Herr Gott, bin ich müde! Die Bude liegt beinahe da draußen in Räcknitz oder wie das Nest heißt.“
„So weit?“ fragte sie wie abwesend und legte die Veilchen, die wie vermodertes Gras rochen, auf den Kaminsims.
„Weit?“ antwortete er, „was heißt weit? Von hier aus vielleicht eine Stunde mit unseren Pferden.“
Eine Stunde nur! Aber Antje kam diese Stunde vor, als seien es Tausende von Meilen.
Frau Postsekretär Berger – aus dem französischen „Bergère“
war längst ein deutsches „Berger“ geworden – konnte als Muster
einer biederen Bürgersfrau, mit allen Tugenden und Mängeln
einer solchen, bezeichnet werden: gutmüthig, peinlich sauber, sparsam
bis zur Kleinlichkeit, neugierig wie eine Elster, was die Angelegenheiten
ihrer guten Nachbarn und Freunde betraf, hilfbereit bei
fremdem Unglück und unbarmherzig streng in Sachen der Moral.
Dazu kam ein etwas cholerisches Temperament, eine sehr bewegliche
Zunge und ein großer Hang für Kaffee- und Theegesellschaften,
in denen man ein rechtes Wort reden konnte unter gleichgestimmten Seelen.
Sie lebte von ihrer sehr bescheidenen Witwenpension und den Zinsen eines fünftausend Thaler betragenden Vermögens, das sie mit in die Ehe gebracht hatte, nach ihrer Ansicht ganz behaglich und erübrigte sogar noch etwas für Arme und Kranke, wenngleich sie, sobald sie um eine Unterstützung angegangen wurde, grausam schimpfte und zankte. Ihre Verwandten in der kleinen märkischen Stadt da draußen waren ihr zeitlebens ein Dorn im Auge gewesen. Sie hatte ihrem seligen Mann stets offen erklärt, daß sie so leichtfertige Leute wie die Familie von Zweidorf nicht leiden möge. Jedesmal, wenn wieder die Anzeige von der Geburt eines Kindes eintraf – und dies geschah neunmal in dem schwägerlichen Hause – erhob sie ihre Stimme und rief Himmel und Hölle zu Zeugen an, daß sie nimmermehr etwas thun werde für diese armseligen Hungerleider, daß die märkische Verwandtschaft sich sehr irre, wenn sie meine, sie, die Frau Polly Berger, geborene Trutz, werde helfen, die überflüssigen Gören aufzufüttern. „Nimmermehr! Hast’s gehört, Berger?“ schloß sie.
Ja, Berger hatte es gehört, aber er sagte nichts darauf. Er wußte ja so genau, daß innerhalb der nächsten zwölf Stunden ein Päcklein mit allem möglichen, was Noth thut für eine Wochenstube, sogar mit ein paar blanken Thalern, in ein Bündelchen Leinwand gesteckt, zur Post befördert wurde; und so ließ er sie schelten, die kleine rundliche Frau mit dem trotzigen Stumpfnäschen im Gesicht, auf der die Brille gar so schlecht festsaß. Mitunter sagte er auch wohl: „Polly, man soll nichts verreden; schau, lange lebe ich nicht mehr, und wenn Du mich dann hinausgeschafft hast auf den Friedhof, wird’s Dir doch sehr einsam vorkommen, denn Du wirst keinen haben, der Dir ruhig zuhört, wenn Du schiltst, und da nimmst Du Dir schließlich doch noch einmal so ein Zweidorfsches junges Blut ins Quartier!“
„Ich? Damit ich mich zu Schanden ärgere und sorge?“ zeterte dann Frau Polly. „Bedenke doch nur ’mal, Berger, ehe Du den Unsinn redest, was bei solchen Eltern für eine Doppelportion von Leichtsinn auf die Kinder gekommen sein muß! Da fängt so ein Mädel womöglich unter meinen ehrlichen Augen Liebschaften an wie seine Mutter, oder macht Schulden wie sein Vater – und so etwas wolltest Du mir gönnen? Berger, das habe ich nicht um Dich verdient!“ Und schließlich brach sie in Schluchzen aus. „Ich weiß ja, es ist Deine Schwester – aber – schau, Berger, ich bin doch Deine Frau, und, abgesehen von allem andern, solltest Du nicht vom Sterben reden; ich gräme mich zu Tode, wenn Du mich allein läßt in so einer falschen Welt.“
Aber er ließ sie doch allein eines Tages, und Frau Polly wollte zuerst schier verzagen in der Einsamkeit, die seinem Scheiden folgte. Es war ein Glück, daß sie so viele gute Freundinnen besaß und so gern in Kaffee- und Theekränzchen ging. Sie fand sich nach und nach in ihren Witwenstand hinein, wurde noch sparsamer, interessirte sich noch mehr für fremde Leute und hatte vollauf Zeit, von ihrem Fensterchen aus die Nachbarn zu beobachten. Zu Tode grämte sie sich nicht.
Manchmal kam allerdings die Sehnsucht über sie nach den freundlichen Lauten einer Menschenstimme, wenn sie bei schlechtem Wetter so recht verlassen zu Hause saß in der Dämmerung und strickte; aber an ein Zweidorfsches Mädchen dachte sie doch nicht.
Und nun war es trotzdem gekommen, wie der selige Berger es prophezeit: in die stille Witwenwohnung der Frau Postsekretär Berger sollte eine der Zweidorfschen Töchter ihren Einzug halten. Als eines Tages wieder einmal ein gar so sorgenschwerer Brief des Herrn von Zweidorf kam, da hatte sie erwidert, er möge ihr in Gottesnamen das Mädel, das durchaus malen lernen wolle, schicken. Freilich schalt sie sich nach ein paar Stunden selbst darüber aus; nun sei es vorbei mit dem ungenirten Leben, und, anstatt daß sie wie jetzt täglich ein halb Pfund Fleisch kaufe, müßten es fortan dreiviertel Pfund sein. Sie schwankte, ob sie nicht wegen Kränklichkeit wieder abschreiben solle; dann meinte sie aber, diese Hildegard – „welch ein verrückter hochtrabender Name! Na, wir wollen Dir die adligen Mucken schon austreiben, mein Töchterchen“ – diese Hildegard könne doch nicht den ganzen Tag malen, und es werde gut sein, wenn sie in den Morgenstunden auch etwas Praktisches treibe; auf diese Weise wäre vielleicht die Aufwartefrau, wenn auch nicht ganz zu ersparen, so doch nur noch auf eine Stunde vonnöthen. „Nun,“ tröstete sie [43] sich, „wollen’s halt versuchen!“ – Daß ihr Mitleid größer war als alle Bedenken, gestand sie sich selbst nicht ein. – –
Die gute Polly! Als sie spät abends aus ihrem Theekränzchen heimkehrte, stand in dem halbdunklen Hausflur eine schlanke Mädchengestalt neben der dicken Ladenbesitzerin. „Wie eine junge Gräfin,“ dachte Frau Polly im ersten Augenblick. Und als sich diese junge Gräfin dann als die erst auf morgen erwartete Nichte entpuppte, da ward Frau Polly, die noch eben das gesammte Kränzchen mit ihrer gewichtigen Rede beherrscht hatte, ganz kleinlaut.
Das hatte sie nicht gedacht! Sie entschuldigte sich sogar in der ersten Verlegenheit, daß sie nicht zu Hause gewesen sei, sie entschuldigte sich des Schlafkämmerleins wegen, das nach hinten hinaus lag, kaum Platz hatte für die schmale Bettstelle und förmlich erfüllt war von dem Käseduft aus der Vorrathskammer des Lädchens, die unmittelbar unter dem Zimmer lag.
Aber Hilde von Zweidorf sagte, sie sei müde, sehr müde und hoffe ausgezeichnet zu schlafen, und ihre Augen sahen dabei so glänzend aus und schienen über die mehr als einfache Umgebung so gleichgültig hinweg zu schweifen in weite, weite Fernen, daß Tante Polly meinte, sie habe so eine richtige übergeschnappte Künstlernatur als Hausgenossin bekommen, die es kaum merken werde, wenn man ihr statt Kaffees warmes Wasser vorsetze. In der That, Hilde lehnte alles, was ihr angeboten wurde, mit den Worten ab, sie sei nicht hungrig. Andererseits aber bedankte sie sich so herzlich für die Zuflucht, welche sie bei der verehrten lieben Tante Polly gefunden habe, fragte mit dem Ausdruck so rührender Theilnahme nach dem Befinden der alten Dame, daß diese, als das Mädchen in ihr Kämmerchen verschwunden war, nicht wußte, ob ihr wohl oder wehe zu Muthe sei; nur das eine war ihr klar, Hilde würde weder kochen noch nähen noch reinmachen helfen.
Im Grillparzerzimmer des Wiener Rathhauses.
Zwei Jahre etwa sind es her, seit sich im Wiener Volksgarten das Kundmannsche Denkmal für Franz Grillparzer erhebt. Als dieses Denkmal enthüllt wurde, da hat die „Gartenlaube“ (vergl. Jahrg. 1889, S. 314) der geistigen und litterarischen Bedeutung des großen Dichters Altösterrelchs eine warmherzige Darstellung gewidmet. Und heute nun, da die gesammte deutsche Welt sich anschickt, einen Grillparzergedenktag zu feiern, den Tag, an dem es hundert Jahre sind, seit der Dichter der „Ahnfrau“ das Licht der Welt erblickte – es war am 15. Januar 1791 – heute mögen die Leser im Geiste mit mir eine Stätte besuchen, die mehr als irgend eine andere geeignet ist, das Bild des Gefeierten in den lebendigsten Farben vor dem inneren Auge aufsteigen zu lassen und zum Gedächtniß an ihn die rechte Stimmung zu verleihen. Das „Grillparzerzimmer“ im Wiener Rathhause ist es, was ich meine.
Nicht auf eigenem Grund und Boden, wie Goethe, nicht einmal im eigenen Heim ist Grillparzer gestorben. Zeitlebens hat es der größte Dichter Altösterreichs zu keinem selbständigen Hauswesen gebracht. In seinen Mannesjahren fehlte es ihm an dem Muth und an den Mitteln, seine „ewige Braut“ Katharina Fröhlich zu heirathen; jahre- und jahrzehntelang lebte der Poet in den engen Verhältnissen eines Archivbeamten, und als ihm, gelegentlich seines 70. Geburtstages, durch kaiserliche Verfügung eine Erhöhung seines Gehaltes zutheil wurde, da hatte der Greis weder Lust noch Anlaß mehr, sein Junggesellenleben aufzugeben.
Er war, mit dem Eintritt des Alters, zu den Schwestern Fröhlich gezogen, hochgebildeten, in der Wiener Musikwelt mit Recht allverehrten Damen, die als Gesangslehrerinnen eine segensreiche Thätigkeit entfalteten. Die bescheidene Wohnung dieser Jugendfreundinnen Grillparzers befand sich in der Spiegelgasse; auf einer finsteren Treppe waren vier steile Stockwerke zu erklimmen, bevor man zu der kleinbürgerlichen Behausung der „Fräulein Fröhlich“ gelangte, als deren „Zimmerherr“ Franz Grillparzer alles in allem nur eine einzige, nicht allzugeräumige Stube als Wohnraum innehatte.
Durch einen schmalen Gang, in welchem ein paar Bücherschränke untergebracht waren, gelangte man in das Gemach, welches dem Poeten sowohl als Arbeits- wie als Schlafzimmer dienen mußte. Die Einrichtung dieses eigentlichen Wohnraumes, in welchem Grillparzer nach einem treffenden Worte Hans Hopfens lebte, „fast könnte man sagen wie das Thier in seiner „Muschel“, war geradezu dürftig. Altväterischer, vermuthlich ererbter Hausrath, wie er heutzutage kaum einer Studentenwirthschaft angemessen sein möchte, genügte dem anspruchslosen Wesen des Dichters.
Die ansehnlichsten Stücke der Einrichtung waren ein derber Schreibtisch und ein ledergepolsterter Armstuhl: das Bett des Dichters, ein schmales Sofa, ein Kleiderkasten und eine Kommode hätten in ihrer Armseligkeit dagegen selbst in der Zelle eines Bettelmönches ohne weiteres Platz finden dürfen. An der Wand rechts stand ein schmuckloses Klavier (sechsoktavig), auf welchem der große Freund und Kenner Beethovens und Schuberts gern und gut phantasirte. Zieraten, Bilderschmuck u. dgl. hatte Grillparzer in seinem Studierzimmer spärlich angebracht; nur dem Lorbeerzweig, den Kaiser Max von Mexiko dem Poeten einst als Zeichen der Huldigung gewidmet, und dem Ehrengeschenk, welches die Armee dem Dichter der an Radetzky gerichteten Verse „In Deinem Lager ist Oesterreich“ dargebracht, hatte Grillparzer eine Stelle auf seiner Kommode, den Bildnissen seiner Lieben und seiner Lieblinge Ehrenplätze an den Wänden gegönnt. Im übrigen genügten ihm als Sorgenbrecher und stets willkommene Hausgenossen die Geistesgewaltigen aller Zeiten und Völker, voran die über alles verehrten Werke Goethes, dann die Dramen seiner geliebten Spanier, zumal Lopes, die großen Historiker und Philosophen der Vergangenheit, die Grillparzer als unermüdlicher Leser und strenger Kritiker immer wieder vornahm, prüfte und auskernte.
So versammelte er in diesem kahlen, nur wenigen Lebenden zugänglichen Stübchen die vornehmste Gesellschaft der Jahrhunderte um sich. So ergoß sich – wie Immermann das von Goethes Arbeitszimmer bewegt sagt – eine Fülle des glänzendsten Lichtes aus dieser kleinen, weltabgeschiedenen Dachstube.
Jahrelang hat Grillparzer in dieser Kammer gehaust in streng geregelter Lebensordnung, rastlos lesend und denkend, alle Anregung nur aus dem eigenen Innern schöpfend. Zwar wandelte sich schon bei Lebzeiten des Dichters seine stille Klause zu einem Nationalheiligthum Deutschösterreichs; zwar drängten sich an seinem 75. und 80. Geburtstage Berufene und Unberufene als Glückwünschende hinzu, Vertreter aller Stände, Minister und Studenten, die Bürger der Zukunft, die Größen des Burgtheaters und die Dichter der Zeit, die Frauen Wiens und die Abgesandten der Armee. Wohl aber wurde dem Dichter nur, wenn er in seinem mühsam errungenen Weltfrieden, abgeschlossen, nur seinen Träumen und Studien leben konnte.
So zurückgezogen er aber auch hauste, dem Weltlaufe folgte er stets mit lebendigem Antheil, nicht nur in kühler Betrachtung. Die Ereignisse des Jahres 1866 thaten dem Patrioten am tiefsten weh, und als im Herrenhause die große Redeschlacht für die Aufhebung des Konkordates anhob, verließ Grillparzer seine Zelle, um als Führer des geistigen Adels von Deutschösterreich im Parlament zu sein.
Auch die letzte Krankheit überkam unseren Dichter in dem unscheinbaren Gelaß der Spiegelgasse; als der Arzt den Altersschwachen fragte, was ihm fehle, erwiderte er, dem sein herber Witz bis zuletzt treu blieb, mit launiger Selbstironie: „Junges Blut.“
Nach dem Tod Grillparzers (1872) hegten die Schwestern Fröhlich den edlen Wunsch, die Wohnstätte des Dichters der Nachwelt unverändert vor Augen zu stellen. So lange die Freundinnen des Poeten lebten, wachten sie ängstlich über seine Papiere, Bücher und Möbel. Nach dem Heimgang dieser trefflichen Damen aber trat als Hüterin ihrer Schätze die Gemeinde Wien an ihre Stelle. Mit der größten Pietät wurden im städtischen Museum des neuen Rathhauses zwei Gemächer als Grillparzerzimmer so sorgfältig als möglich der Eintheilung und Einrichtung der Wohnung nachgebildet, welche der Dichter bei den Schwestern Fröhlich innegehabt hatte.
Durch den Saal der Zünfte und die Galerie der Wiener Tonkünstler, Dichter, Schauspieler, Volksschriftsteller etc. kommt man zunächst in einen Vorraum, der mit den Bildnissen der Mitglieder der Familien Grillparzer und Fröhlich geschmückt ist. Zur Linken gelangt man in ein Gemach, das dem Flur und Bibliotheksraum der Wohnung des Poeten in der Spiegelgasse genau entspricht und das wir auf unserer Zeichnung oben rechts abgebildet finden; seine Bücherschränke sind hier unversehrt mit ihrem alten, köstlichen Inhalt zur Stelle. In Schaukästen sind aber alle Ehrendiplome und Prachtgeschenke, Miniaturen, Medaillen, Ringe und Reliquien des Dichters (seine letzte Feder etc.) ausgestellt. An den Wänden hängen (von Meister Rudolf Alt in Musteraquarellen festgehalten) Abbildungen von Grillparzers Wohnräumen; gegenüber (nach einem Aquarell [44] von Reinhold) eine Sommerwohnung des Dichters in Rudolfsheim mit der Umschrift: „Heimlich sei es und stiller Schatten mäßige den Tag, daß ich gern sitzen und sinnen, dichten und denken mag.“ Auf einem Bücherspinde gewahren wir die mehr liebenswürdige Absicht der Spender als Geschmack offenbarende Vase, welche das Burgtheater dem Dichter zu seinem 70. Geburtstag als Ehrengabe stiftete.
Das altväterische Prunkstück ist mit allerhand Wiener Ansichten, unter anderem auch mit einer Abbildung des Geburtshauses unseres Dichters, geziert, ein Gebäude, das der Stift des Zeichners auf unserem nebenstehenden Erinnerungsblatt in einer Aufnahme nach der Natur veranschaulicht hat. Es ist das mit einer Gedenktafel geschmückte Haus Nr. 10 auf dem Bauernmarkt in der inneren Stadt, dessen Grillparzer in seiner Selbstbiographie (Werke, X, S. 4 ff.) gedenkt.
Grillparzers Vater, ein ehrenfester, eigenrichtiger Mann, hatte eines Abends, zufällig als Gast in die saalähnlichen Zimmer dieses Altwiener Gebäudes geladen, in diesen Räumlichkeiten das Ideal einer Behausung sowohl für seine Advokatenkanzlei als für seine Familie zu erkennen geglaubt und deshalb, nicht ohne Uebereilung, die Wohnung gemiethet. Hinterdrein freilich stellte es sich heraus, daß eine Reihe der Fenster in ein enges, schmutziges Sackgäßchen ging.
„Nur in den längsten Sommertagen fielen um Mittagszeit einzelne Sonnenstrahlen in das Arbeitszimmer unseres Vaters, und wir Kinder standen und freuten uns an den einzelnen Lichtstreifen am Fußboden. Finster und trüb waren die riesigen Gemächer. Ja auch die Eintheilung der Wohnung hatte etwas Mirakuloses. Nach Art der uralten Häuser war es mit der größten Raumverschwendung gebaut. Nächst der Küche lag das sogenannte Holzgewölbe, so groß, daß allenfalls ein mäßiges Haus darin Platz gehabt hätte. Man konnte es nur mit Licht betreten, dessen Strahl übrigens bei weitem die Wände nicht erreichte. Von da gingen hölzerne Treppen in einen höheren Raum, der Einrichtungsstücke und derlei Entbehrliches verwahrte. Nichts hinderte uns, diese schauerlichen Räume als mit Räubern, Zigeunern oder wohl gar Geistern bevölkert zu denken!“ Es hat, nach dieser Beichte Grillparzers, denn auch nicht an Stimmen gefehlt, welche auf diese ersten Kindheitseindrücke die Grundstimmung des gespenstischen Treibens im Schloß der „Ahnfrau“ zurückführen.
Durch die Seitenthür des Flurraums treten wir endlich in das Allerheiligste, das eigentliche Wohn-, Studier- und Schlafzimmer Grillparzers, das sogar diejenigen, welche bei Lebzeiten des Dichters die Schwelle seiner Klause überschreiten durften, anheimelt, als ob sie das alte Gemach Grillparzers selbst vor sich sehen würden.
Mit solcher Liebe und Treue ist das Urbild nachgeahmt, daß man fast einen Augenblick wähnen und hoffen mag, jetzt und jetzt werde der frühere Eigenthümer dieses bescheidenen und doch einzigen Hausrathes eintreten und wieder Besitz ergreifen von seinen Bücher- und Gedankenschätzen. Im nächsten Augenblick freilich überkommt uns Ehrfurcht und Wehmuth: unwiderstehlich drängen sich uns die Faustischen Verse auf die Lippen: „In dieser Armuth, welche Fülle! in diesem Kerker, welche Seligkeit!“
Mehr als einen wandelte wohl dasselbe Befremden an, welches Kaiser Franz Joseph äußerte, als er bei einem Besuch des am 24. Juni 1887 neueröffneten städtischen Museums angesichts des Grillparzerzimmers erstaunt fragte: „So einfach hat der Dichter gewohnt?“
Aber schon Jakob Grimm hat in seiner Selbstbiographie die goldenen Worte gesprochen: „Es hat mich nie geschmerzt, vielmehr habe ich oft hernach das Glück und auch die Freiheit mäßiger Vermögensumstände empfunden. Dürftigkeit spornt zu Fleiß und Arbeit an, bewahrt vor mancher Zerstreuung und flößt einen nicht unedlen Stolz ein, den das Bewußtsein des Selbstverdienstes gegenüber dem, was andern Stand und Reichthum gewähren, aufrecht erhält. Ich möchte sogar die Behauptung allgemeiner fassen und vieles von dem, was Deutsche überhaupt geleistet haben, gerade dem beilegen, daß sie kein reiches Volk sind. Sie arbeiten von unten herauf und brechen sich viele eigenthümliche Wege, während andere Völker mehr auf einer breiten, gebahnten Heerstraße wandeln.“
Wie dem auch sei: wir schulden Grillparzer trotz oder vielmehr erst recht wegen der antiken Schlichtheit seiner Lebensführung erhöhte Bewunderung. Und die Deutschösterreicher nicht bloß, alle guten Deutschen sollen das Grillparzerzimmer mit derselben heiligen Scheu betreten wie die denkwürdigen Stätten von Weimar.
– – Gerade in dem Augenblick, in welchem diese Zeilen zum Drucke gehen, kommt uns die Meldung zu, daß am hundertsten Geburtstag des Dichters in den oben geschilderten Räumlichkeiten auf Anregung des Bürgermeisters von Wien, Dr. Prix, eine Grillparzer-Ausstellung eröffnet wird. Die bedeutendsten Privat- und öffentlichen
Sammlungen in Oesterreich und Deutschland haben der Stadt Wien wetteifernd ihre Schätze zur Verfügung gestellt (Gemälde, Porträts von Grillparzer und seinen namhaftesten Zeitgenossen, Altwiener und Neuwiener Ansichten etc.). Der Zweck der Ausstellung ist, Grillparzers Lebenslauf im Bilde zu spiegeln.
Neunzig Jahre Frauenmode.
Da ist zunächst das „Journal des Dames et des Modes“, welches in Frankfurt am Main seit 1799 erschien. Es hat die besten Kupfer und schritt in der Kenntniß der Vorgänge im tonangebenden Paris den anderen Blättern entschieden voraus. Ich fand kaum eine Zeile über den Krieg. Die Modenberichte, die französischen Erzählungen und Gedichte gehen ruhig fort, ungestört vom Geschützdonner von Großbeeren, Dresden und Leipzig.
Ein zweites Blatt ist das „Journal des Luxus und der Moden“, von Bertuch und Kraus herausgegeben; es erschien in Weimar seit 1786. Der Krieg erscheint wohl in manchem seiner Berichte, aber ohne Parteinahme für die kämpfenden Völker, mehr als eine Störung im Betrieb der Modegeschäfte wie als eine nationale Sache, die alle Fasern des öffentlichen Lebens ergreift.
Gesinnungstüchtiger erweist sich die in Leipzig erscheinende „Allgemeine Modenzeitung“. Zwar die Nummer vom 19. Oktober 1813, die also gedruckt wurde, während rings um die Stadt der furchtbare Entscheidungskampf der Völkerschlacht tobte, beginnt mit einer Erzählung „Meine Schnupftabaksdose“ und fährt in alter Weise mit meist herzlich läppischen kleinen Mittheilungen fort. Aber am 2. November erscheint ein Artikel: „Was geziemt dem Manne in unseren Tagen?“, dem ähnliche voll patriotischer Begeisterung über die Pflichten der Frauen folgen. Das Modeblatt kämpft sogar dagegen, daß die Frau der Mode zu sehr, namentlich zu lang folge. Man ruft Frauenvereine auf. Man stellt in den Kupfern die Waffenkleider der siegreichen Helden dar. – Aber die Modenberichte aus Paris bleiben die alten. „Das Rosenrothe ist jetzt die herrschende Farbe!“ beginnt in dem Blatte vom 9. November der Pariser Brief. Einige Versuche, englische Modebilder zu beschaffen, werden bald wieder eingestellt. Und wenn bis 1820 der „teutsche Sinn“ der Frauen auch öfter angerufen wird, so folgt auf den Sieg der Waffen kein Sieg der Tracht. Deutschland bleibt in altgewohnter französischer Knechtschaft.
Man erfand zwar damals „teutsche Moden“. Die Burschenschafter haben sie lange getragen. Man sah auch Mädchen in einer Art Gretchenkleid, man gab sich Mühe, ein deutsches „Nationalkostüm“ zu entwerfen. Im Iahre 1848 und dann wieder 1859 wiederholten sich unter Wilhelm von Kaulbachs Leitung durch Münchener Künstler diese Bestrebungen. Aber alle endeten mit Mißerfolgen. Ein Nationalkostüm hat es eben nie gegeben und wird es bei fortschreitenden Völkern nie geben. Selbst unsere Bauerntrachten verschwinden nothwendigermeise. Das mag man vom Standpunkt der Liebe zum Eigenartigen aus beklagen, von dem des Freundes seines Volkes aus aber sollte man es nur mit Freude begrüßen. Bleibende Trachten sind Beweise des geistigen Stillstehens. Wenn erst einmal eine Geschichte des Bauernstandes geschrieben sein wird, dann wird man sehen, wie auch dieser stets mit der Mode ging, wenn er in guter Lage sich befand. Jetzt tragen die Bauern das Kleid des 16. oder 18. Jahrhunderts in mehr oder minder rein erhaltenen, meist durch Verknöcherung steif und eckig gewordenen Bildungen. Vor dem Dreißigjährigen Krieg und vor dem Verfall der alten ständischen Staatsordnungen, das heißt vor den beiden großen Zeiten der Bauernschinderei, dachte der Landmann nicht daran, sich zu tragen, wie es seine Urgroßväter gethan hatten. So ist denn ein ständiges Nationalgewand wohl möglich in China, war es bis vor kurzem vorhanden in Rußland. Aber wo die Freiheit hinkommt, wo der Fortschritt herrscht, vielgestaltiges Wollen alle Tage die Schönheitsempfindung umbildet, da leidet der Formensinn und die Formenermüdung keinen Stillstand, da schaffen beide ihr launisches Kind: die Mode!
So blieb auch das deutsche Nationalkostüm ein unerfüllter Wunsch. Unsere Frauen würden böse Augen machen, wollte man sie auf ein solches verpflichten: sie würden sich bedanken, zu tragen, was die Künstler von 1818, 1848 oder 1859 ihnen vorschreiben wollten.
Seit die napoleonische Herrschaft geendet hatte, die bourbonischen Könige wieder in Paris thronten, jene Männer wieder am Staatsruder saßen, die in schwerer Zeit der Verbannung „nichts gelernt und nichts vergessen“ hatten, verschwand nach und nach das „antike“ Kostüm. Mit vollem Bewußtsein griff man nun in der Mode wie in der Politik auf die Zeit vor der Revolution, auf die Tage der alten Königsherrlichkeit zurück.
Ein Menschenalter hindurch hatten die Frauen keine Schnürleiber oder doch nur schmale, den Körper nicht beengende Stützen der Brust getragen. Es war dies die Revolutionszeit gewesen. Seit die Freiheit durch den Kaiser eingeschränkt worden war, kam als Vorbote das corset à la Ninou auf. Seit 1820 etwa wurde es zum entscheidenden Kleidungsstück für die Mode. Wie die Männer Frankreichs ins alte Staatsrecht, so wurden die Frauen in die engen Leibchen aus der Zeit der Pompadour eingespannt. Der Rocksitz sank von der Brust langsam wieder auf die Hüften herab. Damit war die Möglichkeit gegeben, den Anzug in ein über die Schultern gezogenes jackenartiges Stück und in einen getrennten [46] Rock zu theilen, während früher die Schultern allein Träger des aus dem Ganzen geschnittenen Kleides gewesen waren. Die Gestalt erhielt einen starken Abschnitt in eine obere und eine untere Hälfte. Und da dieser Abschnitt das Neue war, begann die Mode alsbald, hastig sich daran zu machen, ihn recht entschieden herauszubilden. Der „antike“ Anzug war ein lothrecht sich aufbauender, ansteigender, die nun beginnende neue Mode drängte auf das Gegentheil, die wagrechte Entwicklung, erging sich in die Breite.
Der Uebergang vollzog sich nicht plötzlich. Der Formensinn mußte sich der neuen Anschauung erst anbequemen. Aber schon um 1825 erschienen die Frauen wie umgewechselt. Glichen sie früher einem aufrechten Strich, so wurden sie jetzt zu einem dicken, zweimal tief eingeschnürten Sacke. Als die Revolution abermals ihr Haupt erhob, als das Königthum der Bourbonen abermals abgewirthschaftet hatte, war diese Mode wieder auf ihrem Höhepunkt angelangt. Das Jahr 1830 bezeichnet eine der tollsten Ausschweifungen des royalistischen Geschmackes.
Den Kopf deckte ein Hut, dessen Breite die des Gesichtes in der Regel um das Dreifache überbot. Ein Thurm von Federn, Schleifen u. dgl. baute sich auf ihm auf. Der Hals war möglichst frei. Es kam darauf an, durch Gegensätze zu wirken, den Abschnitt möglichst entschieden zu kennzeichnen. Der Schnürleib war scharf angezogen. Die „Taille“, das künstliche Einengen der unteren Brust und der Seiten, wurde der Zeit Ludwigs XIV. und XV. nachgeahmt. Man nannte die Mode sogar nach den Maitressen dieser Fürsten. Die Pompadour, die Maintenon und die Dubarry begannen der Ninon den Rang als Vorbilder der neuen Zeit streitig zu machen. Aus der engen Taille heraus aber entwickelte sich eine außerordentliche Schulterbreite. Der Oberarm wurde mit in die Kleidformen hineinbezogen; man überlud ihn mit bauschigen Aermeln, man legte die Falten des Leibchens so, daß sie in scharf seitlich gebogenen Linien von der Gürtelmitte nach den Achselhöhlen verliefen und darüber hinaus die Aermel umspannten. Höchster Erfolg der Bekleidungskunst war aber, bei einem Gürtel von 55 cm dem Kleid in Schulterhöhe eine Breite von bis zu 80 cm in der Vorderansicht, also einen Umfang von etwa 2 Metern zu geben. Also wieder eine tief einschneidende Abtheilung der Gestalt, die jener von Hals und Hut entsprach. Von den Hüften hing ein weites, aber gleichmäßig kurzes, stark fußfreies Kleid herab. Dieses war durch gesteifte Unterröcke gestützt, so daß es weit abstand. Schon in der späteren Zeit der „Antike“ hatte man die „Volants“ erfunden. Nun wurden sie bald für fast vierzig Jahre die maßgebende Schmuckform am Rock. Volants nannte man meist gekrauste Besätze, die, einseitig an den Rock genäht, mit der freien Seite schräg von diesem abstanden. In der Regel waren sie als wagrechte Streifen an die Kleider befestigt und halfen, die Gestalt künstlich zu verbreitern. Ein solches Kleid aus dem Jahre 1830 hatte unten bereits 2 Meter Weite, ohne die Falten gerechnet. Alle Hilfsmittel schienen den Frauen recht, um breit und kurz zu erscheinen. Denn es ist eine bekannte Thatsache, daß lothrechte Abtheilungen die Gestalt verlängern, wagrechte sie verkürzen. Selbst die Füße waren durch das Bandwerk der sandalenartigen Schuhe wagrecht getheilt.
Besonders lächerlich erscheinen die Winterkleider. Der Mantelkragen, die gewaltig gebauschten Aermel – „gigots“, „Hammelkeulen“, nannte man sie – der kurze, weite Rock ließen die Figur als einen kurzen Haufen erscheinen, dessen Umrißlinie schwerlich etwas von der menschlichen Gestalt erkennen ließ, es sei denn die in sehr schmale Schuhe gepreßten Füße, die unter der plumpen halb so breiten wie hohen Masse besonders schwach und zart erschienen.
Gegen die „antike“ Tracht war die der Restauration künstlerisch ein gewaltiger Rückschritt. Dort war die menschliche Gestalt vielleicht zu offen zur Darstellung gekommen, hier siegte das Werk des Schneiders über das des Schöpfers. Die von den natürlichen Bewegungen unabhängigen Kleider erhielten einen durchaus schneidermäßigen Aufputz an Schleifen und Bändern, Rüschen und Blonden, der ganz willkürlich angeheftet werden konnte. Bei aller Weitheit war der Geschmack kleinlich und gesucht.
Das zeigte sich am auffallendsten beim Kopfputz. Man wollte die Wirkung des Hutes auch beim Ballkleide nicht vermissen und baute aus Bandwerk, Federn und Haar die absonderlichsten Kunstwerke auf den Frauenköpfen auf. Auch das 18. Jahrhundert hatte ganz unverständig hohe „Toupets“ getragen. Aber nie haben die Haarkünstler so überfeinerte Werke geschaffen wie in den dreißiger Jahren. Es erschienen große Kupferwerke mit ihren Entwürfen. Monsieur Narcisse oder Hippolyte waren weltbekannte Leute. Das „Album Grandjean, journal des coiffures et des modes“ machte große Geschäfte. Man begnügte sich nicht mit einer gleichseitigen Anordnung, sondern jede Kopfhälfte mußte ihre eigene Haarbehandlung haben. Man bildete Blumen aus natürlichem Haar und flocht ausgestopfte Vögel in dasselbe. Jede Art der Scheitelung hatte etwas zu bedeuten, diese galt für schmachtend, jene für unternehmend. Stundenlang arbeitete der Künstler an einem Kopfe, um das Meisterwerk zu vollenden. Berühmte Haarkünstler kamen am frühen Morgen, um für den Abend ihr Werk vorzubereiten. Dann hieß es den Tag über fein still sitzen, damit nicht die Blumen sich lösten, der Bau ins Schwanken kam. Aber welche Qual ertrüge man nicht, um schön zu erscheinen!
Bald nach der Revolution von 1830 begann sich aber wieder ein Wandel zu vollziehen. War bisher die Schulter als eine wagrechte Linie erschienen, so begann nun die Mode, abfallende Formen für sie zu wählen. Die Hüte wurden kleiner und erhielten eine ganz abscheuliche, aber durch Jahrzehnte mit geringen Aenderungen beibehaltene Form! Sie umfaßten nämlich das Gesicht auch seitlich in Art der Scheuleder der Pferde. Um zur Seite zu sehen, mußten die Frauen den Kopf völlig umdrehen, denn die beiden Backentheile des Hutes ragten weit über das Gesicht vor. Schattenspendend war diese „Kiepe“, sie gab auch dem Gesicht eine angenehme Rundung und bot Gelegenheit, dieses durch ihm gut stehende Farben zu verschönen. Das Gebundene, Unfreie der Zeit äußert sich aber deutlich an der geschmacklosen Form. Die Haaraufbauten verschwanden und die Künsteleien verzogen sich vom Scheitel an die Backen, so daß die Ohren meist durch Locken oder Haarwickel verdeckt wurden.
Der Schnitt des Kleides blieb der alte, aber die Umrißlinie der ganzen Figur änderte sich durch die Vorliebe für Shawls. Seit etwa 1836 beginnen diese, das Prunkstück der [47] Frauenkleidung zu werden. Während man die Bauschärmel aufgab, die Leibchen und Aermel enger, verständiger gestaltete, verbarg man die Formen wieder unter dem im Dreieck gelegten, oder später vielfach veränderten Tuch, das, nach unten auf dem weiten Rocke ruhend, dem Oberkörper die Gestalt eines Kegels gab, auf dem das mit eng anschließendem Hut versehene Köpfchen knopfartig aufsaß.
Der Juli 1839 brachte endlich die auf lange Zeit entscheidende Erfindung. Man hatte immer weiter abstehende Kleider getragen. Anfangs hatten die Volants des Rockes allein die gewünschte Form gegeben, später suchte man den Rock selbst durch weite Unterkleider zu stützen, endlich hatte man diese mit Stärke gesteift und auch ihrerseits mit abstehenden Volants gebauscht. Aber immer wieder empfand man als Nachtheil, daß die Unterkleider den beliebter werdenden schweren Stoffen keinen genügenden Rückhalt boten. Weil man jetzt oft zwei Röcke trug und den oberen nach Art der Tapeziere raffte, ferner schwere Posamenten anbrachte, so mußte ein stärkerer Widerstand gefunden werden.
Da trat im Sommer 1839 der „Crinozephir“ auf, ein Unterrock, „der gleichsam wie ein luftiges Geflecht die Damen umgiebt“. „Crin“ heißt das Schwanzhaar des Pferdes. Es waren also aus Roßhaar geflochtene Röcke, die den gebauschten Kleidern von nun an den Halt gaben. Schon wenig Wochen darauf waren sie in allen Theilen der Welt unter dem Namen „Krinoline“ in Gebrauch.
Gewöhnlich erzählt man sich, die Kaiserin Eugenie habe die Krinoline erfunden. Man ersieht aber aus der mitgetheilten Jahreszahl, daß dies nicht der Fall ist; denn 1839 war die Kaiserin Eugenie ein 13jähriges Mädchen, das wohl kaum sich mit Erfindungen auf dem Gebiete der Mode beschäftigte, jedenfalls aber keinen beherrschenden Einfluß auf die europäische Welt ausübte.
Während der ganzen Regierungszeit König Louis Philipps blieb die Krinoline das vorherrschende Kleidungsstück. Schon 1846 waren Roßhaarröcke von 2,5 Metern unterem Umfang keine Seltenheit mehr. Auf diesem glockenartigen, elastisch festen Untergrund konnte die Erfindungskraft der Frauen sich gemächlich ergehen. Die Volants blieben in alter Werthschätzung. Man vermehrte ihre Zahl, wechselte ihre Breite und Farbe. Bald stellte man sie schräg, bald wagrecht. Die „Pyramidenkleider“ zeigten Reihen von nach oben immer schmäler werdenden Sammetstreifen. „Regenbogenkleider“ waren beliebt, bei welchen die Volants in den himmlischen Farben sich abstuften. Aesthetiker fanden jene Kleider für lobenswerther, an denen von unten nach oben der Farbenton bei jedem der neun Volants lichter wurde. Die Volants nahmen auch Besitz vom Oberkörper, das Leibchen und die Aermel wurden mit ihnen besetzt. Oder man schuf Shawls und Mantillen mit mehreren Reihen Fransen übereinander, damit nur ja das Kleid in möglichst viele selbständig sich bewegende Reifen zu zerfallen scheine.
Die Krinoline bot aber auch für Doppelröcke die beste Unterlage. Vom Gürtel fielen Bänder oder Blumengewinde nieder, an denen der Oberrock aufgerafft war, um den unteren glatten oder mit Volants geschmückten theilweise zu zeigen. Die Möglichkeit zur Abwechslung war eine ganz außerordentliche, und man machte von ihr den ausgiebigsten Gebrauch. Gerade weil die Mode der Krinoline so viel Gelegenheit zu Neuheiten bot, blieb sie so lange bei den Frauen in Werthschätzung.
Sie überdauerte die achtundvierziger Jahre. Während der Revolutionszeit machte sich eine Neigung zu größerer Einfachheit geltend. Aber mit dem Hervortreten des Prinzen Louis Napoleon wendete sich die Mode, die nie republikanisch gesonnen gewesen ist, begeistert dem neuen Stern zu. Sie schien zu ahnen, daß Napoleon der rechte Mann sei, sie zu schützen. Den Modeblättern war sichtlich ein Stein vom Herzen gefallen, seit der Pariser Gesellschaft wieder ein Mittelpunkt gegeben war. Man höhnte das „Puritanisch-republikanische“ der vorhergehenden Jahre. Alle Kräfte setzten an, um nun die Modeherrschaft von Paris wieder zu vollstem Glanze zu bringen.
Vom Jahre 1851 bis 1870 hat denn auch wirklich Paris eine Macht über den Kleidergeschmack ausgeübt wie nie vorher, selbst nicht im 18. Jahrhundert. Es gab überhaupt keine Art von moderner Tracht mehr, außer der Pariser. Den Höhepunkt bezeichnet die Weltausstellung von 1867. Jahrhunderte hindurch war das Uebergewicht des französischen Gewerbes vorbereitet worden. All die vielen sich ablösenden Regierungen waren einig im Streben, dem Gewerbe alle Mittel zur Vollendung an die Hand zu geben. Der kaiserliche Hof und als dessen Mittelpunkt seit ihrer Vermählung am 29. Januar 1853 die Kaiserin Eugenie boten das, was die Mode vor allem braucht, die Möglichkeit, sich rasch geltend zu machen. Das Ineinandergreifen der verschiedenen Gewerbe war meisterhaft geordnet. Was die Zeichner entwarfen, die Webereien, die Schneider gefertigt hatten, wurde durch den Hof alsbald der ganzen Welt zur Schau gestellt. Hunderte von Federn, Tausende von Zeitungen waren voll geschäftigen Eifers, die Neuheiten als unabwendbare Forderungen des Geschmackes weit über Europas Grenzen hinaus der aufmerksam lauschenden Welt zu verkünden. Kein Hof, kein auf europäische Sitte haltendes Volk dachte daran, daß man sich der Pariser Mode entziehen, keine vornehme Frau, daß sie anders sich tragen könnte, als wie dies in den Tuilerien geschah. Alle Fürstentöchter erhielten ihren „Trousseau“, ihre Brautausstattung von der Seine, die großen Pariser Häuser hatten in allen Handelsstädten ihre Warenlager, jeder Modenkaufmann, der seinen Kunden gerecht werden wollte, mußte wenigstens einmal im Jahr in der Hauptstadt des Geschmackes sich umgesehen haben. Die Eisenbahnen schienen eigens dazu erfunden, den Geschmack der Welt an ihren Mittelpunkt zu fesseln. Sie führten ihm endlose Züge von Käufern, einen unermeßlichen Reichthum zu. Noch heute, ein Menschenalter später, ist im Handelsstande Frankreichs jene Kaiserzeit in dankbarster Erinnerung.
Das Entscheidende bei der Mode der Kaiserzeit waren wieder die Formen der Schnürleiber und der Unterröcke.
Bis etwa 1850 war das corset à la Ninon in Gebrauch, nur mit dem Unterschiede, daß die Taille immer länger, aber auch immer enger geschnürt wurde. Es entsprach in den dreißiger Jahren etwa der Form von heute. Nun aber erhielt es andere Gestalt. Der über Leib und Hüfte sich ausbreitende untere Theil wurde zu einem gebogenen, herzförmigen Teller, über dem das Leibchen in scharfem Winkel sich erhob. Die Qual, die dieser bis zum äußersten angezogene Schnürleib durch den scharfen Druck in die Seiten den Frauen verursachte, wurde noch erhöht durch die Last von Röcken, welche jener Teller zu tragen hatte. Denn immer weiter bauschten sich die Kleider. Bei dem „Genre Pompadour“ von 1850 erreichten sie schon einen Umfang von 3,5 Metern, ohne die Falten gerechnet. Die sogenannten „Englischen Unterröcke“ gestatteten noch größere Ausdehnung. Die Modezeitungen begannen schon vor der Ueberbietung zu warnen; wahrhaft vornehme Frauen, so sagen sie, schlössen sich dieser Uebertreibung nicht an. Man wählte schwere Stoffe, damit das Oberkleid allein sich halte, und legte diese so, daß sie in vorspringenden „Säulen“ niederfielen. Bei den tausend Falten, aus [48] welchen diese entstehen, hoffte man dem Umriß eine schönere Linie, weniger „Schroffheit“ zu geben. Die Krinolinen aus Roßhaar genügten auch nicht mehr, man nähte seit 1856 Fischbeinreifen oder Stahlstäbchen versteckt in die Volants der Röcke. Der Anzug erhielt eine immer wachsende Menge von Kleidungsstücken. Ueber dem mit Spitzen versehenen Beinkleid und dem Flanellrock trug eine vornehme Frau auf dem Ball als drittes Kleidungsstück den leinenen „Anstandsrock“. Er war unten 2 Meter weit (3½ Ellen) und hatte einen breiten gestickten Saum. Als vierte Schicht erschien ein bis ans Knie reichender, dicht wattirter Rock, in den drei starke Fischbeinstäbe in handbreiter Entfernung gleich Tonnenreifen eingenäht waren.
Darüber lag ein steif gestärkter weiter Leinenrock mit drei breiten gleichfalls steifen Volants, über diesem zwei Röcke aus steifer Gaze oder neuem Mull. Nun erst kam als achte Schicht das eigentliche Kleid. Die Kaiserin trug 1859 auf einem Feste ein Kleid von weißem Tüll, mit vier Röcken übereinander, jeden mit Tüll gerüscht und mit weißem Gazeband eingefaßt. Es hatte im ganzen 103 Volants. Man berechnete, daß über 600 Meter Zeug zu demselben verwendet worden seien. Und diese ganze Masse von Röcken hing an glattem Bund auf dem Teller des Schnürleibes, eine wahrhafte Last, doppelt unbequem, weil sie ihre eigene Bewegung hatte, „vor den Trägerinnen“, wie ein gleichzeitiger Bericht treffend sagt, „herzugehen schien“.
Der Erfindungssinn wurde daher immer wieder darauf hingewiesen, den weiten Röcken eine bessere Stütze zu geben. 1856 erschien der „jupon-tournure-impériale“, dessen Zweck sein sollte, zu verhindern, daß die Kleider vorn und hinten sich aufbauschten, sondern sie sollten sich „nach den Seiten von den Hüften aus entwickeln“. Also ein quergestelltes Oval sollten sie bilden. Dies war nur durch Stahlreifen möglich. Seit dem Jahre 1857 zeigen die Modeblätter auch in Deutschland neben 2,3 bis 3 Meter weiten Roßhaarröcken, die 3 bis 7 Thaler kosteten, Stahlreifröcke mit 8 Reifen zu 32/3 Thalern, 2,9 Meter weite mit 10 Reifen zu 41/2 Thalern an, ebenso 2,8 Ellen (beinahe 2 Meter) breite Flanelle zu Unterröcken. Auf den Modebildern hat schon das Kleid unten eine Breite, die der Höhe von der Fußsohle bis an das Kinn gleichkommt. Das ergäbe, ohne Falten gerechnet, einen Umfang des Rockes von fast 5 Metern. Kein Wunder, daß dieses Ungeheuer 6 bis 8 Bahnen Stoff verschlang. Auch die Länge des Kleides nahm natürlich zu. Sie stieg bis zu 1,20 Metern. Zehn Meter Stoff kostete allein ein Rock, ohne Volant, Ueberwurf, Tunique und wie sonst dessen Aufputz benannt wurde.
Die Stoffe, in welche man sich kleidete, waren anfangs leichte: Krepp, Gaze, Tüll, Blonde, im Uebermaß verwendet, sollten eine „duftleichte Toilette“ schaffen, die Frauen sollten im Festgewande aussehen, als umgebe sie ein Schleier, als seien sie der irdischen Schwere entkleidet. Die unter der Last von zahllosen Röcken Leidenden sollten „ätherisch“ scheinen, nicht an die Wirklichkeit mahnen. Die „Natürlichkeit“ war ganz bei Seite geschoben, eine andere Form des Idealismus hatte gesiegt, die der Sentimentalität, welche das wirkliche Sein für roh, unfein erklärt und etwas Besseres, Feineres, Entkörpertes dafür zu bieten trachtet. Die „antike“ Tracht hatte vielleicht zuviel Körperlichkeit geboten, bei derjenigen des zweiten Kaiserreiches sah man von der Gestalt so gut wie nichts. Denn auch die Aermel hatten meist wieder großen Umfang gewonnen oder verschwanden doch in Ueberärmeln von Tüll, Batist oder Spitzen. 1861 kamen Drahtgeflechte auch für diese auf, da sie nicht lang genug die gewünschte bauschige Steifheit sich zu erhalten vermochten. Also auch hier, durch diese „Elefantenärmel“, wie sie hießen, verschwand die Umrißlinie der menschlichen Gestalt und wurde diese von einer Stoffwolke umhüllt. Zwar ließen die schönen Frauen es sich nicht nehmen, immer wieder zum ausgeschnittenen Leibchen zu greifen, aber sie fühlten wohl, daß diesen Kleidermassen gegenüber die Gestalt mager, unbedeutend erscheine. Besonders schmächtige Frauen waren jetzt ebenso zu beklagen wie in der „antiken“ Tracht die starken.
Nach den strengen Begriffen unserer Tage war die Tracht des zweiten Kaiserreiches eine hervorragend anständige. Nicht einmal der Fuß kam zum Vorschein. Die Schuster beklagten dies laut. Die weite Röckeglocke versteckte vollständig das Schuhwerk. Oft versuchte es die Mode, die Kleider zu kürzen, aber nie brachte sie diese Absicht zum Siege. Denn sobald die Röcke nicht auf dem Boden schleiften, kam der ganze Bausch in das widrigste Schwanken: er machte seine Pendelbewegung für sich, unbekümmert um die Schritte der Trägerin, jeder Windstoß, jeder Vorbeistreifende warf ihn zur Seite, so daß er bald vorn, bald hinten sich aufbäumte.
Aber mit Mull und Tüll kann sich nur ein Mädchen oder eine junge Frau zum Tanz kleiden. Auch schwerere Stoffe mußten getragen werden. Und da bot sich denn auf der großen Röckeglocke die schönste Gelegenheit, hohe Pracht zu entfalten. Die Musterzeichnerei nahm jetzt wie zur ersten Zeit des Reifrockes im 17. und 18. Jahrhundert die Gelegenheit wahr, zu zeigen, was sie zu leisten vermochte. In schwerster Lyoner Seide wurden die reichsten Entwürfe ausgeführt. Große Blumensträuße, ganze architektonische Entwürfe mit Galerien und Zweigegerank wurden in glänzendster Färbung ausgeführt. An Posamenten, an Guirlanden von Stoff und Blumen wurde Erstaunliches geleistet. Der Stoff, der hier auf einem sich nicht mit dem Körper bewegenden Rocke ausgebreitet wurde, dessen Falten sich nicht den Gliedmaßen anzuschließen hatten, konnte fast bildartig geschmückt werden. Lange Zeit trug man daher die Kleider „ganz einfach“, wie die Modeberichte sagen, d. h. ohne Volants und Draperie, und ließ nur das künstlerisch entworfene Stoffmuster wirken. Die Webereien hatten goldene Zeiten, denn man verbrauchte nicht nur viel Zeug, sondern man gab auch aller Welt Gelegenheit, dieses aufs bequemste zu würdigen. Der Rock kleidete nicht mehr die Frauen, sondern diese trugen ihn öffentlich zur Schau.
Die Mäntel und Pelze mußten sich der Krinoline anbequemen. Auch sie erhielten formlose Weite und einen dementsprechenden Preis.
Man konnte sie doch nicht eng die Kleider umspannen lassen, da diese sich sonst seitlich ausgebauscht hätten. Man mußte sie vorn so schwer wie hinten und zur Seite machen, da sonst die Kleiderglocke aus dem Loth gedrückt worden wäre. Man war überall beengt und behindert, weil die herrische Mode von den weiten Röcken nicht lassen wollte, weil das Auge sich viel zu sehr an diese gewöhnt hatte, um nicht in jedem engeren Kleide einen Rückschritt, eine Häßlichkeit, ja etwas Lächerliches zu sehen.
Während die andern, dem Beispiele Weinmanns folgend, ihre
Gläser leerten, richtete Stefanelly sein stechendes schwarzes
Auge auf Bertl. Diese konnte den Blick dieses Mannes nicht
ertragen, sie dachte unwillkürlich bei seinem Anblick an die Kreuzspinne,
von der heute früh der Vater gesprochen hatte.
Augenblicklich war Bertl ganz allein und ungestört. Loni hielt sich jetzt in ihrer lebhaften Unterhaltung mit dem hübschen jungen Mann an ihrer Seite nicht mehr zurück, so hatte Bertl Muße, das Lokal zu betrachten, das jetzt schon in vollem Lichtglanz strahlte. Das war ein unruhiges Geflunker von Gold und Farbe: dort umfing Amor voll heißen Verlangens Psyche, oben auf der Decke raste ein Bacchantenzug, aus allen Ecken winkten üppige Figuren, Becher und Kränze schwingend; grellrothe schwellende Polster die Wände entlang, Nischen, mit schwerseidenen Gardinen verschlossen, aus denen heimliches Geflüster klang, unterdrücktes Gelächter, leises Gläserklingen – ein Glas des Bertl so ungewohnten Champagners genügte, um sie vollends zu betäuben; es war ein häßliches, nie empfundenes Gefühl, das sie jetzt durchzitterte,
[49][50] eine pochende Hitze in den Wangen, dazu der lärmende angetrunkene Weinmann, der Mann mit dem stechenden Auge, Lonis freches Benehmen –, Bertl sehnte sich hinaus in das kleine Häuschen zum Vater, zu ihren Blumen, und einen Augenblick dämmerte in ihr mitten in dem unsteten Treiben um sie her der Gedanke auf, ob das Glück dieser Welt nicht so falsch sei wie all das Gold, all der Marmor, all der Glanz im Restaurant Arnold.
Sie machte Hans schon lange ein Zeichen, daß er aufbrechen solle, doch dieser sah und hörte nicht darauf – die Spekulation war jetzt Gesprächsstoff. Weinmann schrie und schlug mit der Faust auf die Marmorplatte, daß die Gäste im Saale mit ärgerlicher Miene hereinblickten; er wolle in einem Jahr Millionär sein, es handle sich nur um die ersten Hunderttausend, das andere sei Spaß – nicht mit der Hand, mit dem Kopfe müsse man arbeiten – wobei er sich mit der rauhen Hand auf seinen knochigen Schädel schlug – ja, wenn er das früher begriffen hätte, dann führe er jetzt schon lange mit Vieren.
Stefanelly stimmte ihm vollkommen bei, indem er seine Rede größtentheils an Hans richtete. Er schilderte in den verführerischsten Farben die heutige Spekulation, die Zukunft M ... s. Sein bleiches Gesicht mit den harten Zügen röthete sich, er glaubte offenbar selbst daran. Hans horchte athemlos, Haufen Goldes flammten vor seinen Augen, der Sekt that das übrige.
Man kaufte und verkaufte M ..., ein Strom flüssigen Goldes floß durch ihre Taschen und füllte sie mit seinem kostbaren Niederschlag, die Bacchanten winkten und grinsten aus allen Ecken, Faunen, Amoretten lächelten lüstern herab auf den glühenden Hans – „komm! genieße, genieße!“
Auch Bertl lauschte jetzt; es war ja auch die Zukunft des Geliebten, ihres künftigen Gatten, von der die Rede war. Sein Bild stand wieder lebhaft vor ihr, sein Wort tönte ihr wieder im Ohr – da kam ihr plötzlich der Gedanke: ja, du gehörst ja gar nicht mehr unter diese Leute, unter diese Weinmanns und Stefanellys – wenn er dich jetzt darunter sitzen sähe! – Eine förmliche Angst befiel sie – da klirrte es draußen im Saale, sie fuhr jäh zusammen, sie sprang auf und rüstete sich zum Gehen, aber Hans hielt sie zurück. Da trat Lieutenant Brennberg, begleitet von einem Freunde, unter die grauseidene Gardine, welche die Nische vom Saale trennte. Eben wollte er bei dem Anblick der lärmenden Gesellschaft wieder umkehren, da erblickte er Bertl, die sich vergebens hinter Hans zu verbergen gesucht hatte, trat, seinem Kameraden winkend, ein und nahm mit einem kurzen und gemessenen Gruße an dem noch freien Tische nebenan Platz.
Stefanelly hatte den Eintretenden scharf ins Auge gefaßt, sprang dann plötzlich auf und machte eine unterthänige Verbeugung, die kaum erwidert wurde. Das war unangenehm, man fühlte sich auch sonst in seiner Lust gestört, besonders Weinmann, der mit seinem wankenden Haupte und verschleierten Blicke die Eindringlinge betrachtete und seinen Diamant möglichst zur Geltung brachte.
Bertl saß wie auf Kohlen, sie zitterte vor jedem lauten Worte, vor jeder Bewegung ihrer Tischgenossen; besonders Loni brachte sie zur Verzweiflung, die sofort in der auffallendsten Weise mit den Offizieren kokettirte, ohne daß dieselben im geringsten Notiz davon nahmen. Bertl war in athemloser Spannung, was Brennberg thun würde. Wenn er herbeikäme und sie begrüßte, das wäre ein Triumph vor diesem Volk!
Kaum dachte sie es, da erhob sich Brennberg, seinem Gefährten etwas zuflüsternd, und trat zu ihr, ohne die Gesellschaft weiter zu beachten.
„Sie nehmen sich ja meine Lehre sehr gut zu Herzen, Fräulein Bertha!“ sagte er. „Arnold – Champagner – das sind Fortschritte! Ich darf Sie wohl Ihrer Gesellschaft nicht entziehen! Ja, wenn ich das gewußt hätte, würde ich mir schon längst einmal erlaubt haben, Sie einzuladen. Uebrigens –“ er sprach jetzt ganz leise, sich von dem Tisch abwendend, „haben Sie sich das überlegt, was ich heute früh sagte? Es war mein voller Ernst.“
Er sah mit einem eigenthümlichen Ausdruck in das Antlitz Bertls, das jetzt in seiner Erregung doppelt schön war.
„Was Sie sprechen, vergesse ich gewiß nicht!“ entgegnete sie.
„Und noch etwas“ – er flüsterte jetzt nur noch – „gefällt Ihnen die Gesellschaft, in der Sie sich jetzt befinden?“
„Ich verachte sie!“ erwiderte Bertl.
„Das ist alles, was ich wissen wollte. Es ist schon spät, ich rathe Ihnen, rasch heimzukehren. Auf Wiedersehen, Fräulein Bertha!“
Leicht grüßend trat er zurück zu seinem Kameraden.
Bertl war es, als müßte sie sich an ihm festhalten, als müsse sie ihn anflehen, daß er sie rette aus dieser Gesellschaft, die ihr jetzt mit einem Male in ihrer ganzen Rohheit erschien. Loni machte spöttische Bemerkungen, der alte Weinmann blinzelte beleidigend, auch Stefanelly und der Ingenieur warfen ihr Blicke zu, die sie wohl verstand. Sie fühlte aus allem einen häßlichen Verdacht heraus, und sie mußte sich zurückhalten, um sich nicht offen als die Braut des Herrn von Brennberg zu bekennen. Aber bleiben durfte sie jetzt nicht mehr, ihr Geliebter würde es ihr nie verzeihen! Was lag ihr daran, wenn sich diese Leute beleidigt fühlten! Sie stand entschlossen auf.
„Wenn Du nicht mitkommst, fahre ich allein; der Vater ängstigt sich zu Tode,“ sagte sie zu Hans.
Mißmuthig stand dieser auf; er hatte sich so wohl gefühlt in diesem Element, der Gedanke an Haching war ihm jetzt fürchterlich. Brennberg sprang Bertl hilfreich bei, als sie ihren Regenmantel anzog. Dieser kleine Ritterdienst machte sie beben vor Wonne und Stolz, in diesem Augenblick gehörte sie ihm ganz. Sie schwur in ihrem Innern die heiligsten Eide.
Stefanelly sprach noch einige Worte insgeheim mit Hans, Bertl verließ mit kurzem Abschied den Tisch und warf Brennberg noch einen Blick zu, der ihm seine völlige Herrschaft über dieses Mädchenherz verkündete.
Hans war in übelster Laune. Er wäre heute überhaupt nicht mehr heimgekehrt, wenn Bertl nicht bei ihm gewesen wäre. Von dem Stefanelly, meinte er, habe er in einer Stunde mehr gelernt, als sein Lebtag in der Gärtnerei des Vaters. Er schalt auf seinen Beruf, auf den Vater, auf die Arbeit und bedauerte fortgesetzt sich selbst, daß er in solche Ketten geschmiedet sei.
Bertl hörte ihn gar nicht mehr, sie mußte sich nur alle Mühe geben, nicht zu lachen und zu jubeln, so glücklich, so selig fühlte sie sich. Die glänzende Zukunft an seiner Seite lag ja sonnenklar vor ihr, und, in ihrem vorausstrahlenden Lichte gesehen, kam ihr die eben erlebte Stunde in der abgeschmackten Gesellschaft, ihr einfältiger Bruder, das Gartenhaus in Haching, die Mutter und selbst der Vater furchtbar kleinlich vor.
Das Fuhrwerk stand im „Schwarzen Rößl“ auf dem Marktplatze, dem ständigen Absteigequartier Margolds.
Hans spannte rasch ein, denn es war schon dunkel. Schweigend fuhren sie an den jetzt geschlossenen und verlassenen Marktbuden, an den umgestürzten Ständen vorbei, an der Bretterstadt, in der sie beide ihr junges Leben verbracht hatten. Die Gesichter der Geschwister glühten vom Wein und von Erregung, und zornig hieb Hans auf den Traber ein. In der Vorstadt wälzte sich ihnen das Heer der Arbeiter entgegen, welches von den außerhalb gelegenen Bauplätzen und Fabriken kam. „Als ob es nicht voll dem Volk genug gäbe!“ brummte Hans vor sich hin. „Andere arbeiten lassen, darin liegt’s! Ja, der Stefanelly, das ist ein Mann!“
Wieder fuhren sie die neuentstandene Straße entlang, die geradeswegs zu ihrem Anwesen führte. Die noch unbeworfene kahle Häuserreihe strahlte schon im Lichtglanz, der zu jedem Fenster herausdrang – fast alle diese Häuser gehörten dem Stefanelly! War es da ein Wunder, wenn die Loni sich an den Ingenieur hing, der bei ihm ein riesiges Geld verdiente? Sie hatte es ihm ja insgeheim zugeflüstert, daß sie den Mann nichts weniger als lieb habe, aber der Vater dränge zu der guten Partie; Hans solle doch seinen Alten rasch herumkriegen, dann gebe sie dem Ingenieur sofort den Laufpaß. Hans war über solche gewissenlose Reden Lonis gar nicht empört. Nach seinen Begriffen war sie danach einfach ein schlaues, kluges Mädchen, dem er es im gleichen Falle ohne weiteres nachthun würde. Ein Ingenieur und ein Gärtnerbursche – das war ein Unterschied! Ein Ingenieur und der Sohn eines reichen Privatmannes war auch einer, aber nur einer zu seinen Gunsten. An ihm, dem Hans, war es jetzt, den Vater gehörig zu behandeln; er mußte nachgeben! Daß Bertl zu derselben Zeit denselben Entschluß gefaßt hatte, daran dachte er nicht.
Es war völlig Nacht, als die Geschwister an Margolds
Haus ankamen. Das Dorf lag schon in stiller, lichtloser Ruhe,
nur gegen Osten schimmerte über die schwarzen Felder eine röthliche
Gluth – die Stadt.
[51] Die Eltern Margold saßen eben beim einfachen Abendessen, Kraut mit Knödln, was des Alten Lieblingsspeise war; doch heute berührte er sie nicht. Das Ausbleiben seiner Kinder erfüllte ihn mehr mit Unwillen als mit Besorgniß: das war noch nie vorgekommen, wenigstens nie, wenn Bertl dabei war. Er erging sich in unzähligen Vermuthungen. Frau Margold fand dagegen nichts besonderes daran. „Die Leute sind jung,“ meinte sie, „wollen sich auch einmal unterhalten, und für Bertl ist das ja so kein Dasein mehr; das Herz thut mir weh, wenn ich das schöne Kind so dahinleben sehe!“
Diese Reden waren dem Alten stets unverständlich; er hatte es aber schon längst aufgegeben, zu widersprechen, denn am Ende geschah ja doch, was er wollte. Als er endlich das Fuhrwerk vor dem Hause halten hörte, ging er voller Grimm hinaus.
„Wo treibt Ihr Euch denn herum bis in die sinkende Nacht, daß es eine Schande ist vor den Nachbarn?“ schalt er.
„Spare Deinen Zorn, Vater, wir kommen ja eben von unsern Nachbarn!“ entgegnete Hans gereizt, das Pferd in den Stall führend.
Der Alte ging ihm nach, während Bertl sich eilig zur Mutter in das Zimmer begab.
„Was schwätzest Du da für albernes Zeug, Hans? Von den Nachbarn kommst Du? Von welchen Nachbarn?“
„Nun, vom Weinmann, der seit heute mittag bei Arnold sitzt und Champagner kneipt mit dem Stefanelly – das ist gar nicht albern – 100000 Mark! Der lacht über Dich!“
„So, lachen thut er? Laß ihn nur lachen! Wer zuletzt lacht, lacht am besten!“
„Vater, ich muß heut’ noch ein ernstes Wort mit Dir reden,“ sagte Hans, plötzlich in eine Art von überlegenem Ton übergehend.
„Du ein ernstes Wort; da bin ich wirklich neugierig – nur heraus damit!“
Hans lehnte sich auf den Braunen. „Das Geschäft, das unser Nachbar gemacht hat, muß Dir doch zeigen, was unser Anwesen werth ist, und daß es einfach eine Narrheit wäre, so weiter zu arbeiten.“
„Aha, daher bläst der Wind? Na natürlich, Champagner bei Arnold – kann mir’s denken, und der Stefanelly dazu – kann mir’s denken, wie sie Dir den Kopf vollgeschwatzt haben. Und ich sage Dir, ich arbeite so weiter, trotz aller Weinmann und Stefanelly und trotzdem Dir’s so gefallen hat bei Arnold und seinem Champagner! Das verstehst Du natürlich nicht, trotz Deiner Klugheit, an die wir Alten nicht mehr ’rankönnen – das ist eben das Elend! Könnt Ihr nicht ein paar Jahr’ noch warten, bis ich in der Grube lieg’? Ich mein, es sei nachher noch alleweil Zeit für Euch, in Euer Unglück zu rennen, und ich kann Euch nachher nimmer aufhalten –“
„Ja, was soll denn das für ein Unglück sein, wenn man, anstatt sich Tag für Tag um ein paar Groschen abzurackern, ein schönes Vermögen einsteckt, von dem man gut und sorgenfrei leben kann?“ entgegnete Hans.
„Das ist freilich an und für sich kein Unglück, ein schönes Vermögen, aber in Eurer Hand ist’s ein Unglück! Weil Ihr jungen Leut’ es nur anschaut als ein Mittel, der Arbeit ledig zu werden, gut zu leben, ohne einen Finger mehr zu rühren, deshalb ist’s in Eurer Hand ein Unglück! Es giebt kein Glück ohne Arbeit, es giebt keine Ernte ohne Saat, außer eine Teufelsernte, die unter der Hand zergeht.“
„Aber wer sagt denn, daß ich nicht arbeiten will? Giebt es denn keine Arbeit als graben und schaufeln? Mit dem Kopf muß man arbeiten, so wie der Stefanelly arbeitet! Oder ist das keine Arbeit?“ warf Hans ein.
Der Alte fuhr jäh auf, diese Bemerkung schien seine empfindlichste Seite zu treffen. „Nein, das ist keine Arbeit!“ rief er, „das ist ein Spiel, ein frevelhaftes Spiel mit dem Zufall, mit anderer Leute Glück und mit dem der eigenen Familie! Ein Spiel, das wie jedes andere den Mann durch und durch vergiftet, ein Spiel, das den Unterschied zwischen Recht und Unrecht bald verwischt und zuletzt, wenn es nicht hinein ins Zuchthaus, so doch grad daran vorbeiführt! Dir steckt der Schwindel schon im Kopf, und grad deswegen thu’ ich’s nicht! – Du bist ein Gärtner, als der bist Du erzogen, das verstehst Du; es ist ein ehrliches, gerechtes Handwerk, warum verachtest Du’s? Glaubst Du wirklich, daß so einer wie der Stefanelly besser ist als unsereiner, Hans?“
Der Alte legte seine Hand auf des Sohnes Schulter.
„Glaub’ mir auch ein bißl, gieb nicht so viel auf den äußeren Schein, ’s ist eine Krankheit heutzutage, das Jagen nach dem Glück!“
„Aber Du weißt ja nicht, um was sich’s bei mir handelt, hör’ mich doch zuerst!“
„Na, so red’!“
„Um die Loni handelt es sich, die einen andern nimmt, wenn ich das bleibe, was ich bin, ein Gärtnerbursch. Du weißt ja schon lang, daß ich ein Verhältniß mit ihr hab’.“
Der alte Margold schüttelte das Haupt. „Und Du schämst Dich nicht, mir das zu sagen, daß Du ihr zu schlecht bist, der nixnutzigen Person? Wo bleibt denn da Dein Stolz, Dein Hochmuth? Ihr seid komische Leut’, Euch studier’ ich nimmer aus. Also der Loni ist mein Sohn, der Gärtner Margold, zu schlecht, und deshalb soll ich – – kein Wort mehr, sonst packt mich der Zorn.“ Und er ging schnellen Schrittes aus dem Stall. – –
Im Zimmer erzählte unterdeß Bertl der freudestrahlenden erstaunten Mutter ihr Zusammentreffen mit Brennberg. Die schwache Frau konnte ihre Freude darüber nicht zurückhalten, sie sah in ihrer Tochter schon die künftige Frau von Brennberg und versprach Bertl ihre thatkräftigste Unterstützung. Aber beide fuhren jäh aus einander, als Vater Margold mit zorngeröthetem Antlitz eintrat.
„Ihr wart ja in einer sauberen Gesellschaft, da paßt Du hin, Bertl!“ begann er scheltend.
„Jedenfalls besser als unter Krautköpf’ und Rüben!“ meinte die Alte.
„Schweig! Ich red’ jetzt mit der Bertl,“ fuhr er jäh auf. „Hast Du Dir auch den Kopf verdrehen lassen von dem Stefanelly?“
„Aber Vater, wie kommst Du denn auf den Stefanelly? Ich habe ganz andere Dinge auf dem Herzen!“
„Oho! Auf dem Herzen? Schieß nur los, heute bin ich auf alles gefaßt!“
Bertl zögerte – begann – brach wieder ab.
„Mutter, sprich Du mit dem Vater, ich bringe es nicht heraus.“
„Na, ich mein, so was sagt sich leicht! Der Herr von Brennberg, der Lieutenant, will die Bertl heirathen. Na, Alter, darauf warst nicht g’faßt!“
Sie stellte sich mit in die Hüfte gestemmten Armen triumphirend vor Margold hin.
Der prallte förmlich zurück und hielt sich die Stirn.
„Der Herr von Brennberg, der Sohn von meinem Herrn -“
„Von Deinem Herrn? Hast Du denn einen Herrn?“ höhnte die Frau.
„Die Bertl heirathen! Ja, bin ich denn bei Verstand? Der Loni ist ein Gärtnerbursch zu schlecht, und der Brennberg – – Ja, wo hat Dir denn der Brennberg das gesagt – – ach so, auch bei Arnold, haha! – beim Champagner – und da hat Dir der Gelbschnabel so was vorgeschwatzt! – Na, den werde ich! – Und Ihr Schwachköpfe nehmt das für Ernst? Der Bertl ist halt der Champagner in den Kopf gestiegen – aber Du, Alte – Du! – Der Brennberg die Bertl! Heilige Zeit!“
„Nicht beim Champagner, Vater, hat er mir’s gesagt, am Stand hat er mich besucht – schon oft – heute aber hat er es klar ausgesprochen –“
„Daß er Dich –“ Margold brach in ein gezwungenes Gelächter aus.
„Daß er mit mir in nähere Beziehung treten möchte, was aber nicht möglich sei, so lange ich da außen bin, ein Gärtnermädel!“
„Hat er gesagt, der gnädige Herr? In nähere Beziehung treten? hahaha! Und das nennt Ihr einen Heirathsantrag? O lieber Himmel!“ Margold ließ sich ermattet auf die Bank nieder. „Ich sag’s ja immer, die Welt ist verrückt, ist aus den Angeln –“
„Es ist aber doch so,“ begann jetzt Frau Margold wieder, „wenn Du es auch in Deinen alten Tagen nicht begreifen kannst und begreifen willst; und Du wirst als Vater, der seine Kinder gern hat, ihnen nicht im Wege stehen wollen und wirst alles thun, um dieses große Glück ihnen zuzuwenden.“
„Das große Glück? – Ein großes Unglück wär’s und eine rechte Schlechtigkeit an meinem alten braven Herrn, wenn ich dazu die Hand böte – sein Tod wär’s!“
„Margold, jetzt ist meine Geduld am Rand!“ rief zornglühend die Mutter, „Du sprichst ja, als wenn sein Sohn wunder was für schlechte Absichten hätte! – Wen heirathet er denn? Ein braves, schönes Bürgermädel mit einer hübschen Mitgift, deswegen braucht der alte Herr nicht zu sterben – und wenn, dann [52] stirbt er an einer Krankheit, von der die jungen Leut’ schon lang kurirt sind – an der Einbildung!“
Bertl weinte helle Thränen, der Vater ging stürmischen Schrittes in der Stube auf und ab.
„Ja, das ist die Stadt, diese verfluchte Allerweltsgleichmacherin! Alles gleich, Häuser und Menschen! Und doch ist’s eine Lüge, eine großmaulige Redensart, und nirgends glaubt man im Herzen weniger daran als gerade in der Stadt. Es giebt keine Gleichheit, so lange es Menschen giebt, und wer es erzwingen will wie Ihr, der erzwingt sein Unglück.“
„Ich versteh’ von dem allem nichts,“ mischte sich jetzt Bertl unter Thränen ein, „ich weiß nur, daß ich von dem Mann nimmer lasse und alles thue, um die Kluft, die mich und ihn trennt, auszufüllen, und daran soll mich niemand hindern! Ich verlasse morgen Dein Haus, Vater; wenn es Dir mehr am Herzen liegt als Dein eigenes Kind – auch gut!“
Sie erhob sich mit entschlossener Miene.
„Dann gehen wir zusammen, Bertl!“ – Hans sagte das, der eben eingetreten war.
Unter der Thür blieb Bertl stehen und sah zurück auf den Vater. Aber der sprach kein Wort. Er stand am Fenster und starrte in die Nacht hinaus.
Bertl ging auf ihr Zimmer, durch dessen offene Fenster der würzige Geruch des Herbstes, aufgewühlter Erde, überreifen Obstes drang; wie kahl und dürftig ihr hier jetzt alles erschien! Die Mutter kam eilig nach. Sie mußte erst recht ausführlich erzählen hören! Die Augen der Frau Margold glänzten von mitempfundenem Glück, der Vater war ihr unbegreiflich in seiner Hartnäckigkeit; übrigens zweifelte sie nicht, daß er nachgeben werde. „Er weint unten,“ sagte sie, „und das hat er nur einmal gethan, seit wir verheirathet sind; da hat er nachher auch nachgegeben. Es war am Abend, bevor er auf mein Zureden den Dienst kündigte beim alten Brennberg, um selbst ein Geschäft anzufangen. Er muß immer gezwungen werden zu seinem Glück, er ist wie ein Kind. – Träume nur recht schön von Deinem Schatz! Gott, ist das eine glückliche Zeit!“ Sie küßte leidenschaftlich ihre Tochter und verließ das Stübchen.
Margolds sonst so stilles Haus konnte diese Nacht nicht zur Ruhe kommen. Bald da, bald dort leuchtete es hinter den Fenstern auf, zwischen den Schuppen, selbst in den Warmhäusern im Garten – wie ein unruhiger Gedanke.
„Die läßt der Neid nicht schlafen!“ meinte Loni, als sie spät in der Nacht mit dem schlaftrunkenen Vater heimkam, um zum letzten Male in dem kleinen Häuschen an der Landstraße zu übernachten.
Auf dem Standesamt. (Zu dem Bilde S. 40 u. 41.) Der Schullehrer in Oberwiesenbach hat immer eine große Freude gehabt an des Bauern Hinterhöfer blonder Veva, weil sie so schön schreiben konnte, schöner als alle die anderen Kamerädinnen. „Da, nehmt Euch die Veva zum Exempel, die schreibt wie gestochen!“ so hatte er gern den Ehrgeiz seiner Blldungsbefohlenen anzustacheln versucht.
Nun, heute hat sie Gelegenheit, ihre Kunstfertigkeit in vollem Lichte erstrahlen zu lassen! Sie hat ja ihren Namen unter das standesamtliche Protokoll zu setzen, das sie und ihren getreuen Balthasar zu rechtmäßig verbundenen Eheleuten macht. Aber merkwürdig: heute will es gar nicht recht gehen! Nicht als ob sie ihren Bräutigam nicht von Herzen gern hätte, als ob sie vor dem letzten Schritt bangte, der sie ihm zu eigen giebt. Im Gegentheil! Sie ist ihm schon lange verlobt und hat den Hochzeitstag fast nicht erwarten können! Aber trotzdem – oder gerade deshalb? – zittert ihre Hand und die Augen flimmern ihr, daß sie den Platz für ihre Unterschrift nicht finden kann und der etwas verdrießliche Standesbeamte ungeduldig zum zweiten und dritten Male mit dem Finger darauf weisen muß.
Der Bräutigam verliert die Ruhe darüber nicht; gelassen steht er
neben der verlegenen Liebsten und wartet mit männlicher Ueberlegenheit,
bis sie glücklich ins Reine gekommen ist; es schmeichelt am Ende nur
seinem Selbstgefühl, wenn seine getreue Veva über der Wichtigkeit dieser
entscheidenden Handlung etwas aus der Fassung geräth. Auch der Vater,
der alte Hinterhöfer, läßt sich nicht aufregen; aber natürlich, die zwei
Brautjungfern, die naseweisen Dinger, die können es nicht lassen, lose
Scherze mit gedämpfter Flüsterstimme auszutauschen, in ihr festtägliches
Taschentüchlein zu kichern und die Würde des Orts aufs schnödeste zu
mißachten. Das kann der Bäuerin, der Hinterhöferin, nicht gefallen!
Sie ist immer für Zucht und Ordnung gewesen, immer und überall, und
vollends heute und hier, wo ihre einzige Tochter vor dem Amt steht und
etwas so Ernstes unterschreiben muß. Mißbilligend fliegen ihre Blicke
hinüber zu den respektlosen Ruhestörerinnen; am liebsten würde sie gleich
handgreiflich dazwischen fahren, aber da das auch wieder nicht geht, so ballt sie wenigstens die Faust – um ihrem inneren Grimm doch etwas Luft zu machen. Nur einer hat seine Freude an dem Geschäker der zwei hübschen Mädel. Das ist der junge Amtsdiener, der mit seiner Aktenmappe hinter ihnen steht und wartet, bis der Akt fertig ist und er sein Trinkgeld kriegt. „Solche Gesellschaft hab’ ich nicht alle Tage!“ denkt er – und das ist angesichts der Sachlage ein sehr begreiflicher Gedanke! =
Auf der weiten Welt allein. (Zu dem Bilde S. 37.) Wie mag ihm weh ums Herz sein, dem einsamen Menschenkinde, das da am Wegrande sitzt auf schmaler beschneiter Planke und den Blick sehnsuchtverloren auf der schneebedeckten Erde ruhen läßt, während seine Hand – ist’s, um das Mitleid eines Nahenden zu erwecken oder zum eigenen Troste? – mechanisch an der Kurbel des eigenartigen Musikinstrumentes dreht und ihm seltsam melancholische Töne entlockt! Und tiefes Mitgefühl ergreift auch den Beschauer beim Anblick des bedauernswerthen Geschöpfes, das ein hartes Schicksal hinausstieß auf die winterliche Straße, dort ein kärglich Brot sich zu erwerben – allein auf der weiten Welt.
Es ist eine Savoyardin, die das Bild des Malers Professor G. Induno
uns vorführt. Ihre Heimath ist jenes großartige Bergland um den
Riesen Montblanc her, das wohl dem fernher kommenden Besucher unendliche
Reize enthüllt, aber seinen Bewohnern doch nur kümmerlichen
Unterhalt gewährt. Und so ziehen sie denn, die Knaben und wohl auch
die Mädchen, wenn der Winter kommt, hinaus in die beglückteren
Länderstriche, um sich mit allerlei Hantierung der bescheidensten Art
das Brot zu verdienen, das die Heimath ihnen versagt. Oft ist dann
ein eigenthümliches Saiteninstrument der treue Gefährte auf der Wanderschaft,
die „Gironda“, die mit ihren schlichten dünnen Tönen die Herzen
der Mitmenschen zu mildthätigem Wohlthun rührt und dem armen Spieler
oder der doppelt verlassenen Spielerin manch Scherflein werkthätiger
Menschenliebe zuführt. So ist auch das Mädchen auf unserem Bilde
gezogen von Dorf zu Dorf, von Stadt zu Stadt, rastlos, ruhelos. Der Wintersturm drang ihm durch die ärmliche Kleidung, wühlte ihm in den Strähnen des schwarzen Haares und fuhr ihm eisig um das liebliche Antlitz; aber es durfte nicht müde werden – eine kurze Rast am Wege und dann weiter, hinein in die weite Welt – allein! =
Ueberfall. (Zu dem Bilde S. 49.) Das Ende eines erregten Dramas ist es, was der Künstler uns in seinem Bilde schildert. Eine Rotte Wölfe hat einen kapitalen Hirsch überfallen und er wird ihnen eine leichte Beute, denn er war schon vorher schwer verwundet. Im Kampfe mit einem Nebenbuhler ist er, vom tödtlichen Stoß des feindlichen Geweihs in die Weichen getroffen, unterlegen; so rasch er es noch vermag, entflieht er, verfolgt vom Siegesgeschrei des Gegners.
Und nun das traurige Ende des Besiegten! Die Wölfe haben die Schweißfährte des kranken Hirsches aufgenommen und ihn dicht am Felsenhange aus dem Wundbette gesprengt. Bald ist der Hirsch gestellt, der mit niederem Kopfe die Anstürmenden abzuschlagen sucht. Aber von allen Seiten drängt’s heran und der schon Todeswunde hat nicht mehr die Kraft, sich mit dem Geweih seiner Feinde zu erwehren.
Eine Eisenbahnkirche. Während das westliche Europa trefflich eingerichtete Schlafwagen und Wirthschaftsräume auf den Eisenbahnzügen besitzt und Nordamerika auf seinen den ganzen Welttheil durchfliegenden Eilzügen alle diese Einrichtungen zur größten Vollkommenheit ausgebildet hat, ist man in Rußland auf den Gedanken gekommen, mitten im lärmenden Eisenbahnverkehr in den Zügen selbst auch der Andacht eine Stätte zu bereiten. In den Eisenbahnwerkstätten zu Tiflis ist eine Eisenbahnkirche hergestellt worden, die aus einem Wagen von vier Achsen besteht; er enthält einen kleinen Abtheil für den Geistlichen und Platz für 70 Personen, die dem Gottesdienste beiwohnen wollen. Der aus Eichenholz geschnitzte Altar befindet sich im hintern Theile des Wagens; auf dem Verdeck über demselben erhebt sich ein goldenes Kreuz. Zu beiden Seiten des Altars befinden sich Sitzplätze, die Mehrzahl der Andächtigen muß indeß stehend die Predigt anhören. Drei kleine Glocken, die harmonisch zusammentönen, sind unter der Plattform angebracht. Solche Eisenbahnkapellen sollen auf allen Hauptbahnen des russischen Reichs eingerichtet werden; sie sind indeß nur für Kriegszeiten bestimmt und sollen den Generalen, Großfürsten und ihrem nächsten Gefolge bequeme Gelegenheit bieten, ihren religiösen Gefühlen in kirchlicher Andachtsübung Ausdruck zu geben.†
Inhalt: [Anm. WS: Inhaltsverzeichnis des vorstehenden Heftes, nicht transkribiert]