Die Gartenlaube (1891)/Heft 10

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1891
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Nr. 10.   1891.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Eine unbedeutende Frau.

Roman von W. Heimburg.
(9. Fortsetzung.)

Man fuhr schweigend dahin durch die endlos scheinenden stillen Gassen; dann fingen einzelne Uhren an, die zwölfte Stunde zu schlagen – der Christmorgen war angebrochen.

„Und Friede auf Erden!“ flüsterte Antje, und sie tastete heimlich nach der Hand ihres Mannes und schob ihre heißen schmalen Finger in seine Rechte. Nur ein einziger herzlicher Druck, und alles wäre gut gewesen. Aber nichts antwortete ihr. Er ließ es nur ruhig geschehen, das war alles. Langsam zog sie ihre Hand zurück.

Hildegard neben ihr rührte sich nicht, bis der Wagen vor dem kleinen Hause der Tante Polly hielt.

Eilig sprang Leo hinaus und half dem Mädchen aussteigen.

Oben war noch Licht im Wohnstübchen, und als Leo die Schelle zog, klirrte ein Fenster der guten Stube.

„Bist Du es?“ rief die vor Aufregung kaum erkennbare Stimme der Frau Berger.

„Ja, Tante!“

„So? Nun, da gehe nur wieder hin, wo Du bis jetzt gewesen bist! Mit uns zweien ist’s vorbei, und – daß Du es weißt, ein Brief an Deinen Vater ist schon unterwegs!“

„Tante!“ schrie das Mädchen entsetzt auf.

Aber droben war das Fenster zugeschlagen und die Lampe ausgelöscht worden.

Leo Jussnitz zuckte die Achseln. „Was ist da zu thun?“ sagte er, „Tante Polly ist schwer erzürnt. Steigen Sie wieder ein und kommen Sie mit nach Sibyllenburg.“

Antje hatte sich aus dem Wagenfenster gebogen. „Um Gotteswillen, was sind das für Menschen, zu denen sie gehört!“ fuhr es erschreckend durch ihr Herz; sie sah jetzt, daß das Mädchen wie verzweifelnd an der Schelle riß.

„Tante! Tante!“ scholl die bebende Stimme durch die Nacht.

„Man will sie, scheint es, nicht hinein lassen,“ sagte Maiberg ruhig.

„So geben Sie es doch auf! Meine Frau wird sich freuen, wenn Sie mit uns fahren,“ ertönte draußen die Stimme Leos, „Sie werden doch einsehen, daß wir unmöglich eine öffentliche Nachtruhestörung verursachen dürfen!“

Antje rückte schweigend auf die andere Seite des Wagens. und im nächsten Augenblick sank die zitternde Gestalt des Mädchens neben sie in die Kissen, schluchzend vor Zorn und Beschämung.

„Ihre Tante hat sich geängstigt um Sie. Das genügt bei einem Temperament wie das ihre, die Härte zu erklären,“ tröstete Jussnitz. „Ich werde ihr morgen schreiben oder selbst zu ihr gehen – vorläufig sind Sie unser Gast.“

Der Kutscher fuhr wie rasend. Es war kälter geworden und auf den Scheiben des Wagens zeigten sich leichte glitzernde Eisblumen, wenn er an einer Laterne vorüberflog.

Ernst Julius Hähnel.
Nach einer Photographie von Franz Koebcke in Dresden.

[150] Innen herrschte bald eine beängstigende stickige Luft, so daß Maiberg ohne weiteres ein Fenster zur Hälfte herunterließ. Antje hatte sich fest, ganz fest in ihre Ecke geschmiegt und den Mantel eng um sich gezogen.

Wer wollte da mit in das Heiligthum ihres Hauses, wollte in den Zimmern athmen, die ihr gehörten? Was würden die klaren Augen ihres Kindes sehen müssen?

Sie zitterte am ganzen Körper, als sie über die Schwelle des Kinderzimmers schritt. „Um Gott,“ rief die alte Classen, die Wacht gehalten hatte am Bettchen der Kleinen, „wie schauen Sie aus!“ Antje hatte beim Eintritt in das warme dämmernde Zimmer des Lieblings den Pelz abgestreift und war niedergekniet vor dem schlummernden Kinde.

„Gehen Sie zu Bett!“ bat die Alte, „Sie haben das Fieber, gnä’ Frau!“

„Ja gleich, liebe Classen, nur will ich erst noch – – hole die Minna, wir müssen ein Zimmer herrichten – wir haben Besuch.“

„Du meine Güte, es muß ja zwei Uhr sein!“

„Ja, das kommt wohl so vor!“ Und Antje holte den Schlüsselkorb und stieg die Treppe hinunter zu dem Wäschespind. Im Speisezimmer hörte sie Leos Stimme; sie klang heftig und gereizt.

„Ich hätte Sie nicht für so unbesonnen gehalten, Hildegard,“ schalt er, „was dachten Sie sich bei dieser Sache? Wollten Sie mich etwa ärgern? Was sollte es sein? In welche Lage bringen Sie sich und mich!“

Antje ging zur Thür hinüber und öffnete sie ein wenig. „Bitte, Leo, sprich leiser,“ sagte sie ruhig.

Hilde saß mit bleichem, aber lächelndem Gesicht auf der Kante eines Stuhles, das Taschentuch in den Händen windend. „Es war ein Scherz,“ sagte sie und hob die Schultern.

„Sie müssen sich noch etwas gedulden, Fräulein von Zweidorf,“ sprach Antje, zu dem Mädchen gewendet, „die Stube ist noch kalt, aber bald soll alles in Ordnung sein.“

Und sie händigte dem Stubenmädchen die Wäsche ein, befahl ihr, sich zu beeilen, und versprach, Hilde mit Kleidern auszuhelfen, bis ihre Sachen geholt sein würden. Sie begleitete dann später den Gast selbst in das trauliche Zimmer, ihm in Gegenwart der Dienerin angenehme Ruhe wünschend.

Sie selbst hatte keine. Schlummerlos lag sie die ganze Nacht und lauschte auf das Wehen des Windes und das Knarren der Aeste draußen in den hohen Bäumen, auf das Hin- und Herwandern ihres Mannes nebenan. Wenn er jetzt gekommen wäre, freundlich mit ihr gesprochen hätte über das Geschehene, wie gern würde sie ihm alles geglaubt haben; aber auch jetzt machte er nicht einmal den Versuch einer Aufklärung.

Er hatte vorgegeben, nicht müde zu sein; aber Antje wußte, er wollte nur allen Erörterungen aus dem Wege gehen. Sie hörte, wie er sich endlich auf ein Sofa warf und eine Weile nachher, als er sie eingeschlafen glaubte, hereinkam. Ihre Hand zuckte, sie hätte sie ihm so gern hinüber gereicht und gebeten: „Habe Vertrauen zu mir, Leo, laß es so nicht weiter gehen!“ – doch sie fand nicht den Muth dazu.

Aber auch Hilde schlief nicht. Sie hätte so gern geweint und fand doch keine Thränen, sie war so arm geworden in dieser Weihnacht. Sie war empört und gedemüthigt bis aufs äußerste, und sie haßte diese junge Frau, die an einer Stelle stand, die ihr gebührte.

Die Baronin hatte es im Wagen der Nichte erzählt, als sie mit Hilde vom Atelier wegfuhren; sie hatten französisch gesprochen in dem Glauben, Hilde verstehe das nicht, sie, deren Mutter doch eine Französin war. Im höchsten Grade unbedeutend sei diese Frau, hatte die Baronin gesagt, unbegreiflich, daß ein so reizender Mensch wie Jussnitz sie habe wählen können! Natürlich habe es sich auch gerächt, sie lebten elend nebeneinander her; man sehe ja, wie ihn dies Phlegma, verbunden mit den engsten und einfältigsten Ansichten, nervös mache bis in die Fingerspitzen. Das einzige, was ihn noch an seine Frau fessele, sei ihr Geld – armer Mensch! –

„Armer Mensch!“ sagte jetzt auch Hilde halblaut und rang ihre zitternden Finger ineinander. Dann aber ballte sie die Hand zur Faust und aufschluchzend rief sie: „Schlecht ist er, so schlecht! – O, ich einfältiges, thörichtes Geschöpf!“ Und sie erschrak vor dem Tone ihrer eigenen Stimme.




„Fräulein von Zweidorf hat Kopfschmerzen,“ meldete das Stubenmädchen am andern Morgen, als man sich etwas später als sonst zum Frühstück im Speisezimmer zusammenfand.

Antje ließ fragen, was man ihr zum Frühstück bringen dürfe, ob Thee oder Kaffee. Die Antwort lautete, Fräulein von Zweidorf danke für alles.

Antje hatte eben den Thee bereitet und füllte dem Doktor Maiberg und Leo die Tassen. Sie stand an dem Tischchen, das den silbernen Kessel trug, in einem sehr einfachen Morgenkleide aus dickem weißen Lodenstoff, und die Wintersonne, die in breiten Streifen durch die Fenster fiel, umgab die lichte Gestalt mit einem blendenden Schimmer. Sie hatte den Herren eben noch den Rücken gewandt, nun kam sie herüber und nahm Platz zwischen ihnen.

„Du hättest wohl die Pflicht, nachzusehen, wie es Fräulein von Zweidorf geht?“ sagte Leo ungeduldig, „sie scheint doch krank zu sein.“

„Ich war vorhin schon bei ihr,“ erwiderte die junge Frau, „sie ist nicht krank, sie ist nur sehr erregt. Auf alle meine Fragen bekam ich die Antwort, man solle ihre Kleider von der Tante holen lassen, sie wolle mit dem nächsten Zuge abreisen.“

„Abreisen?“ fragte Leo, und das geröstete Brot zerbrach in seinen Fingern. „Wohin?“

„Zu ihren Eltern, meinte sie.“

„Das ist ja sehr erfreulich für mich und mein Bild,“ erklärte er. „Und was sagtest Du, wenn ich fragen darf?“

„Ich redete ihr zu, doch vorerst eine Aussöhnung mit ihrer Tante zu versuchen –“

Jussnitz verzog sein Gesicht.

„– aber sie gerieth in eine förmliche Empörung über diese Zumuthung,“ fuhr Antje fort, „nannte ihre Verwandte eine ganz ungebildete Person, von der sie tödlich beleidigt sei, und bat sich dann Feder und Tinte aus, um an ihren Vater zu schreiben.“

„Ich werde nachher zu der biedern Frau Polly fahren,“ erklärte Leo. „Hilde hat recht, sie kann nicht wieder zu ihr, die Ungezogenheit heute nacht hatte einen sehr starken Stich ins Waschweiberhafte! Abreisen aber darf deshalb Fräulein von Zweidorf nicht, mein Bild soll nicht unter ihrem kindischen Trotz leiden. Darum habe die Güte, Antje, noch einmal zu ihr hinauf zu gehen und sie einzuladen, daß sie unser Gast bleiben möge bis – – nun, wir werden ja sehen. In einer Stunde fahre ich – Maiberg, Du kommst doch mit? – Also, Antje, ich möchte eine endgültige Antwort haben.“

Antje hatte an ihm vorüber gesehen; das silberne Löffelchen in ihrer Hand zitterte leise. „Ja!“ antwortete sie dann, als Leo fertig war.

„Du darfst natürlich nicht das Bild als Hauptsache angeben,“ fuhr er belehrend fort, „Du sagst eben nur, wie sehr wir uns freuen würden, sie einige Zeit hier zu behalten; hast Du verstanden?“

Diesmal antwortete Antje nicht. Sie erhob sich, nahm ihren Schlüsselkorb und verließ das Zimmer.

„Deine Frau sieht recht blaß aus,“ bemerkte Wolf.

„Das thut sie immer, wenn ihr irgend etwas nicht paßt; ich habe mich daran gewöhnt, es nicht mehr zu sehen.“ Und Leo nahm die Zeitung, und den Rauch seiner Cigarre behaglich einziehend, fügte er hinzu. „’s ist im Grunde eine unglaublich komische Geschichte; man kann es nicht ausdenken, was Frauen alles erfinden, um sich gegenseitig zu ärgern. Der ganze Streich der Erlach ist eigentlich gegen Antje gerichtet – na, sie hat sich diesmal noch mit leidlichem Anstande aus der Patsche gezogen.“

„Mit leidlichem Anstande? Sie hat sich benommen wie eine richtige, wackere Frau, die sie auch ist,“ versetzte Maiberg und gab dabei seiner Theetasse einen ärgerlichen Stoß. Er dachte an Leos Worte von gestern abend, die ihm verboten, beständig neben Antje zu stehen, und er wurde roth gegen seinen Willen. Dann erhob er sich. „Mit Deiner gütigen Erlaubniß,“ sagte er sehr ruhig, „werde ich nicht mit nach Dresden fahren.“

„Weshalb denn nicht? Wir wollten im Englischen Garten mit Barrenberg frühstücken.“

„Ich danke Dir – ich habe wirklich nicht Lust, mich schon wieder unter fremde Leute zu stürzen.“ Und mit einem sehr ernsthaften Ausdruck seiner blauen Augen nahm er dann [151] ebenfalls ein Zeitungsblatt, stellte sich ans Fenster und begann zu lesen.

In diesem Augenblick trat Antje ein.

„Nun?“ rief Jussnitz ihr entgegen.

„Sie wird bei uns bleiben, Leo.“

„Ah, wirklich!“ sagte er nachlässig und faltete ganz gegen seine sonstige Gewohnheit die Serviette zusammen, indem er bemerkte: „Ich werde also das Bild hier fertig malen.“

Antje machte sich irgend etwas an dem Tisch zu schaffen; es war, als habe sie die Worte ihres Mannes nicht gehört. Dann faßte sie abermals nach ihrem Schlüsselkörbchen, um ihren Hausfrauenpflichten nachzugehen. In der Thür wandte sie sich noch einmal um und sagte: „Fräulein von Zweidorf wünscht Dich zu sprechen, Leo, bevor Du nach Dresden fährst; sie erwartet Dich in meinem Salon oben – ich gehe nachher in die Kirche. Du bist wohl zum Mittagessen wieder zurück, denn ich möchte nicht gern den Leuten bescheren ohne Dich.“

Er murmelte irgend etwas, was wie eine Zustimmung klang, dann war sie verschwunden.

„Classen,“ sagte sie unten in der Küche, „das Fräulein wird längere Zeit hier im Hause bleiben.“

Die alte Frau blickte ihre Herrin prüfend an, aber aus dem stillen Gesicht war nicht zu lesen, ob ihr der Besuch eine Freude sei oder eine Last. „Ist recht,“ sagte sie, „aber ich würd’ so ’ne Schauspielerin nicht in meinem Hause behalten!“

„Sie ist keine Schauspielerin, Classen,“ erwiderte Antje müde und sah von den großen Weihnachtsstollen auf, an die sie theilnahmslos Zettel mit den Namen der künftigen Eigenthümer geheftet hatte; „sie ist eine Jugendfreundin meines Mannes, und der malt sie jetzt, weil sie so sehr hübsch ist.“

„Seine Freundin? Zu was braucht einer eine Freundin, wenn er so eine Frau hat!“ brummte sie vor sich hin und begann ärgerlich, ihre großen Töpfe und Pfannen zu rücken. „Wenn eine gut ist und gefügig,“ murmelte sie weiter, „dann ist’s ein schönes Ding, aber zu gut und zu nachgiebig, das ist – –“ Was sie noch halblaut denken wollte, ging in dem Respekt unter, den sie vor der jungen Hausfrau hatte. „Die bringt ihre Gutheit noch zu Schaden!“ seufzte sie und sah ihr nach.

Antje begann, in ihrem Schlafzimmer den Anzug zu wechseln, da sie ja zur Kirche gehen wollte. Sie gab dabei nicht acht darauf, daß die Thür zu dem Rokokozimmer etwas offen stand. Sie hatte Eile, denn es war ein weiter Weg, und sie fühlte das Bedürfniß, zu Fuß zu gehen in der frischen Winterluft; auch wollte sie Maiberg nicht warten lassen, der gebeten hatte, sie begleiten zu dürfen.

Da schlug auf einmal ihres Mannes Stimme an ihr Ohr.

„Etwas hat mir ja das Fest doch auch gebracht, Hilde.“

Eine lange Pause folgte, dann sprach er weiter, so langsam und deutlich, daß der jungen Frau auch nicht die leiseste Nüance verloren ging. „Ich habe ein Bild verkauft in Berlin; was sagen Sie dazu, Hilde? – Hilde, freut Sie das nicht? Sie hatten ja doch sonst immer eine so wohlthuende Theilnahme an meinem Schaffen? Mich verlangte gestern schon, Ihnen das zu erzählen, aber Sie waren ja so gleichgültig, so ungebärdig, daß ich – so dürfen Sie nicht wieder sein, Kind, es schmerzt mich. Sagen Sie, freut es Sie nicht?“

„Gewiß freut es mich; ich gratulire Ihnen zu diesem Erfolg,“ klang es eiskalt zurück.

„Hilde! Mein Gott, Hilde!“ – unendlich weich und fremdartig klangen diese wenigen Worte in Antjes Ohr, sie fühlte, so konnte nur einer sprechen, der bis ins tiefste Herz getroffen war. – „Hilde, nicht diesen Ton, er ist nicht echt, nicht wahr!“

Antje stützte sich plötzlich fest auf die Platte ihres Toilettetisches; ihr schmales weiches Gesicht hatte in diesem Augenblick einen ganz verzerrten Ausdruck. Da – da war es wirklich, was sie gefürchtet – der Beweis, daß sie – seine Frau – ihm nichts mehr war. Gewaltsam hielt sie das Schluchzen zurück, das sich ihr in die Kehle drängte; dann lief sie hinüber in die Kinderstube und warf sich neben der Kleinen auf die Kniee.

„Maus!“ stieß sie athemlos hervor, das zierliche Geschöpfchen an sich pressend. „Maus, es darf nicht sein, es kann nicht sein wir wehren uns, Maus, wir wehren uns!“ Und mit bebenden Lippen wiederholte sie noch einmal: „Wir wehren uns, wir geben ihn nicht her, den Papa.“

Und als die Kleine, vor der ungewohnten Heftigkeit der Mutter sich fürchtend, zu weinen begann, tröstete sie das Kind mit sanfter Stimme, aber sie hatte dabei immer nur das eine Wort: „Wir geben ihn nicht her, den Papa, nein, nein!“

„Nicht hergeben, Papa!“ wiederholte treuherzig die beruhigte Kleine, der die dicken Thränen auf den Bäckchen standen, „nicht hergeben, lieben Papa!“




Tante Polly war in der Christnacht nicht aus den Kleidern gekommen. Die kleine Person hatte sich die Wirkung ihrer Worte erst klar gemacht, als es unten vor dem Hause still blieb und nicht zum dritten Male von der reuigen Sünderin die Schelle gezogen wurde, was sie mit Bestimmtheit angenommen hatte. Sie machte nach einer Viertelstunde vergeblichen Wartens leise das Fenster auf und lauschte hinaus; aber nichts rührte sich. Sie rief mit unwirscher Stimme: „Bist Du noch immer da?“

Niemand antwortete. „Hilde!“ rief sie noch einmal barsch, dann milder und hastig. „So antworte doch, sei nicht noch so verstockt obendrein!“

Alles blieb still.

Da stieg die alte Frau mit pochendem Herzen, den Hausschlüssel in der Hand, die Treppe hinunter und schloß vorsichtig die Thür auf. „Hilde!“ – Die Straße lag einsam und menschenleer.

„Gerechter Gott!“ murmelte Tante Polly, indem sie die Hausthür wieder schloß und rathlos in dem kalten finstern, nach Küchenkräutern duftenden Flur stehen blieb, „gerechter Gott, wo mag sie sein? Wenn sie sich nun etwas angethan hat aus Angst vor dem Vater – wenn sie etwa gar in die Elbe gesprungen wäre –“

Tante Polly bekam einen nervösen Angstzustand; sie tastete sich bis zu der Schlafkammer der Büdchenbesitzerin und klopfte. „Frau Hernicke, machen Sie auf, es ist ein Unglück geschehen!“

Die große Gemüsehändlern kam erschreckt, mit einer Lampe in der Hand, zum Vorschein. „Du liebe Güte, guteste Frau Postsekretärin, was ist’s denn?“

Tante Polly war kreidebleich. „Hernicken,“ jammerte sie, „meine Hilde ist fort – denken Sie doch nur! Sie ist gleich nach der Bescherung davon gerannt und läßt mich in der Todesangst bis um zwölf Uhr sitzen, und wie sie endlich läutet, hat mich der Zorn gepackt und ich habe hinuntergerufen, sie könnte bleiben, wo sie bis jetzt gewesen sei. Das hat sie sich in den Kopf genommen, und nun ist sie fort. Wenn sie nur nicht in die Elbe gesprungen ist, weil ich sagte, ich hätte an ihren Vater geschrieben – – Ach, ich Unglücksvogel, was fang’ ich an?“

„Aber, hören Sie, gute Frau Bergern, das war auch nicht recht von Ihnen – lieber Himmel, die wird wohl ’neingehuppt sein –“

Tante Polly zitterte am ganzen Leibe, als die Frau gutmüthig fortfuhr: „Ja, nun weiß ich auch keinen andern Rath, als daß wir abwarten müssen, ob sie sie finden. Die, die ins Wasser gegangen sind, kommen immer erst nach drei Tagen wieder hoch. Na, gute Frau Bergern, und nu man nich so obenaus; ich will Ihnen ein Tässchen Dhee kochen, damit Sie sich beruhigen. Ach lieber Gott, was man so erleben kann an den Kindern!“

„Aber, Frau Bergern,“ rief jetzt eine Knabenstimme aus dem Büdchen selbst, wo der älteste Sohn der Frau schlief, „lassen Sie sich doch keine Angst machen, das Fräulein ist ja fortgefahren mit dem Herrn, der manchmal zu Ihnen gekommen ist –“

„Ach, erbarme Dich!“ schrie Tante Polly, „wär’ sie doch lieber ins Wasser gegangen! Ach, ich armes Geschöpf! Nun werden die Eltern sagen, ich hätte sie in die Schande gejagt!“

„War’s denn ’ne Droschke?“ fragte die Hernicke ihren Sohn.

„Nein, eine feine Privatchaise war’s, und den Kutscher hab’ ich auch gekannt, der heißt Bormann und ist früher beim Fuhrherrn Lehrbeck gewesen, und jetzt dient er auf Sibyllenburg da draußen.“

„Sibyllenburg?“ stammelte Tante Polly, „Sibyllenburg? Wer wohnt denn da? Ich muß morgen hin – ist’s denn sehr weit? Wie komme ich denn da ’naus?“

Und nun beschrieben Mutter und Sohn umschichtig die Lage von Sibyllenburg und den Weg hinaus, und eines widersprach dem andern. Tante Polly wußte schließlich nur soviel, daß um acht Uhr ein guter Zug gehe und daß sie dann noch ein gutes [152] Stück zu Fuß wandern müsse. Und sie bat mit matter Stimme die „gute Hernicken“, sie solle sie doch nicht verlassen in dieser Nacht, denn sie sähe in allen Ecken so gräuliche Gestalten und sie könnte ja gar nicht ausdenken, was sie machen sollte, wenn die Hilde etwas Schlechtes gethan hätte und gar etwa nicht wieder mit her wollte.

Die gutmüthige Büdchenbesitzerin stieg auch richtig mit hinauf in die Wohnung der Frau Postsekretärin; die beiden würdigen Damen machten sich Feuer im Ofen und machten sich Kaffee, und die Hernicken erzählte der jammernden Bergern die unglaublichsten Geschichten von der Schlechtigkeit der heutigen Welt, von der Leichtfertigkeit der jungen Leute in so großen Städten. Dazwischen suchte sie warme Sachen zusammen für die Fahrt morgen früh, und Tante Polly weinte und klagte sich an und ihre Thränen fielen in die große Kaffeetasse, die sie mit zitternden Händen immer wieder an die Lippen brachte, obgleich sie vor Kummer kaum mehr imstande war, zu schlucken.

Um sieben Uhr früh gingen sie alle beide auf den Bahnhof. Die arme kleine Tante hatte rothe Augen vom Weinen und eine rothe Nase von der Kälte und sah so alt und vergrämt aus wie noch nie. Und wie sie so dahin fuhr in den kalten Weihnachtsmorgen hinein, da hielt sie im Muff die Hände gefaltet und bat den lieben Gott, er möge ihre Heftigkeit und Unduldsamkeit nicht gar zu hart strafen. Ja, sie hatte in ihrem Zorn gestern nicht bedacht, daß es so recht der Tag gewesen wäre, wo Liebe und Milde hätten walten müssen; unser Herrgott hat seinen sündigen Kindern das Heil gegeben, und sie selbst – so ein sündiges Menschenkind – hatte richten und strafen wollen, hatte vielleicht gar eine ihr anvertraute Menschenseele in lebenslanges Elend gebracht!

Aber wer konnte denn auch denken, daß sie gleich meinte, man wollte sie im Ernst nicht einlassen?

(Fortsetzung folgt.)




Die Noth der Weber in der Grafschaft Glatz.


An Schlesiens Südrand liegt, eingesprengt in das böhmisch-mährische Land, die Grafschaft Glatz, eine von Südosten nach Nordwesten sich erstreckende, von der Neisse durchflossene Hochebene, die fast ringsum von Gebirgen umschlossen ist; da liegen rechts der Neisse gegen Südost das Glatzer Schneegebirge und das Reichensteiner Gebirge und links der Neisse das Habelschwerdter und das Heuscheuer Gebirge, am nördlichsten Ende das Eulengebirge, sie alle ausgezeichnet durch landschaftliche Reize und deshalb auch viel besucht von dem Strom der Sommerfrischler.

Aber was immer wieder aus jenem Gebirgslande hinausdringt in die Welt, was seinen Namen vor jedem Ohre erklingen läßt und die Theilnahme des ganzen deutschen Vaterlandes für dasselbe wachruft, das sind nicht die entzückten Berichte empfänglicher Wanderer, nicht die stattlichen Fremdenlisten von Gasthöfen und Kurorten – es sind Nothschreie über Nothschreie, Hilferufe einer schwer leidenden, fast buchstäblich am Hungertuche nagenden Bevölkerung. Die Thäler jener nördlichen Randgebirge sind bewohnt von überaus armen Leuten, die sich zu einem großen Theil von der Handweberei nähren. Aber Ursachen, von denen unten noch die Rede sein soll, beschränkten und verkümmerten den ohnehin schon kärglichen Verdienst, immer wieder mußte das öffentliche Mitleid und werkthätige Menschenliebe den mit dem Gespenst des Hungers ringenden Webern beispringen – und auch heute ist es wieder so! Der dauernde Nothstand hat wieder einen Höhepunkt erreicht, der schnelle, ausgiebige Unterstützung erheischt, der aber auch von neuem die Gedanken ernstlich auf die Frage lenkt: wie ist das Uebel, das hydragleich immer von neuem wächst, an der Wurzel zu fassen, wo liegen seine tiefsten Quellen? Denn mit dem Sammeln und Spenden von Liebesgaben allein ist’s hier offenbar nicht gethan, hier müssen andere Mittel zur Heilung gesucht und gefunden werden!

Es ist auf eine Eingabe hin, welche die Weber des Eulengebirgs an den Kaiser richteten und in welcher sie ihre bedrängte Lage schilderten, die Untersuchung der Zustande in jenen Gebirgsthälern von berufener Seite in Angriff genommen worden. Inzwischen aber hat die „Gartenlaube“ es für ihre Pflicht gehalten, die Blicke ihrer Leser auf jenen traurigen Fleck menschlichen Elends zu lenken und ihrerseits das Mögliche zur Linderung der augenblicklichen Noth zu thun. Sie hat sich deshalb an einen Mann gewandt, der mitten unter der nothleidenden Bevölkerung lebt, ihre Verhältnisse durch und durch kennt, weiß, wo sie der Schuh drückt, und mit an der Spitze der praktischen Hilfsbewegung im Glatzer Lande steht, Herrn Pastor Ernst Klein in Reinerz. Sie hat sich an ihn gewandt mit der Bitte, eine wahrheitsgetreue Schilderung des Loses seiner Landsleute für die Leser der „Gartenlaube“ zu entwerfen, und in erfreulichster Weise hat Herr Pastor Klein dieser Bitte entsprochen. Wir geben ihm selbst das Wort, indem wir seinen Bericht hier folgen lassen. Er schreibt:

Einer Aufforderung der „Gartenlaube“ folgend, bitte ich dich heute, lieber Leser, mit mir in eine der schönsten und doch elendesten Gegenden unseres deutschen Vaterlandes, in der zur Zeit viele Thränen vergossen werden, viele Menschenseelen in Hunger und Kummer und Verzweiflung von einem Tage zum andern dahinleben, zu wandern.

Wir betreten eines der Weberdörfer, deren es in den nördlichen Randgebirgen der Grafschaft Glatz, im Eulen-, Heuscheuer- und Mensegebirge (dem nördlichsten Theil des Habelschwerdter Gebirgs) viele Hunderte giebt. Blasse, frierende Kinder kommen uns mit dem erwachenden Morgen entgegen, mit halbnackten Füßen waten sie durch den fußtiefen Schnee. Sie gehen zur Schule; noch haben sie nichts gegessen, wohl aber schon stundenlang gespult. In der Stube drin sitzt der Vater, fleißig über seine Arbeit gebeugt, der Webstuhl rasselt und klappert, das Schiffchen fliegt. Nun reißt der Faden – er wird geknotet mit einem tiefen Seufzer: „Ach, wenn der Garnausgeber den Fehler nur nicht bemerkt! Er hat solch scharfen Blick, er ist so streng jetzt; jüngst hat er uns zwei Mark vom Wochenverdienst abgezogen und dem alten Nachbar hat er für seine vierzehntägige Arbeit gar nichts gezahlt und ihm auch keine Arbeit mehr gegeben; das Geschäft, so sagte er, gehe jetzt zu schlecht, da könne er nur die besten Weber brauchen.“

Der Webstuhl rasselt weiter, die Mutter und Großmutter sitzen am Spulrad, die kleineren Kinder schreien, sie frieren, sie hungern. Der Mittag naht, die älteren Kinder kommen nach Hause, sie müssen die alte Großmutter ablösen, emsig geht die Arbeit weiter, endlich – 10 Tage lang dauerte sie – ist sie fertig. Der Vater geht bei sinkender Sonne zum Garnausgeber. Wie gut, daß er wenigstens nahe wohnt! Manche verlaufen sich auf dem Wege zu ihm und irren Stunden lang umher, kostbare Zeit! Doch, ach, der Herr Ausgeber ist jetzt nicht zu sprechen.

„Seien Sie schön gebeten, lieber Herr, wir haben nichts zu essen,“ fleht der Arbeiter.

„Kommen Sie morgen wieder, ich hab’ jetzt keine Zeit!“

Traurig geht der Vater heim, traurig hören die Seinen die Schreckenskunde. Am nächsten Morgen steht der Vater wieder vor dem gestrengen Herrn. „Zeigt die Arbeit her! Da ist ein Fehler, da wieder einer! Das Stück kann ich nicht brauchen! Seht, daß Ihr es wo anders verkauft und mir das Garn, das ich Euch dafür gab, bezahlt!“

Ja, wer wird das Stück kaufen? Lange läuft der Aermste umher, endlich bekommt er bei einem Kaufmann einige Groschen dafür, die kaum hinreichen, den Ausgeber zu befriedigen. Die angestrengte Arbeit einer Woche ist verloren! Und Frau und Kinder, was soll aus ihnen werden? Geh zum Krämer, sagt man dem Mann, borg bei ihm Brot, du kannst es ihm ja später abzahlen! Ja, wird er ihm aber auch borgen? Ach ja, er borgt –!

Klopfenden Herzens geht der Vater heim. Noch einmal ist der Hunger gestillt. Wie aber weiter? Der Weber läuft von Haus zu Haus; endlich, endlich findet er nach vielem Bitten bei einem neuen Herrn neue Arbeit. Doch die Bedingungen sind strenger, der versprochene Lohn niedriger als gewöhnlich!

Aber vielleicht läßt sich der Ausfall durch doppelten Fleiß einholen. Wieder rasselt der Webstuhl, rollt das Spulrad, von morgens

[153]

Der Tod des Grafen von Mansfeld.
Nach dem im Besitze des Crefelder Museumsvereins befindlichen Oelgemälde von Robert Forell.

[154] um 4 bis abends um 10, 11 Uhr sitzt die Familie bei eifriger Arbeit. Indessen wächst die Schuld beim Kaufmann, denn Brot, Kartoffeln, Kohlen, Petroleum und Stärke „zur Schlichte“ müssen doch da sein. Nach 8 Tagen ist die neue Arbeit beendet. Tadellos! Fünf Mark ist der Lohn! O welche Summe! Doch sie langt ja nicht einmal hin, die Schuld beim Kaufmann zu tilgen. Und wie soll es weiter gehen?

Weißt du, lieber Leser, wie? Unter Hunger und rastloser Arbeit, unter Thränen und stets wachsender Schuld dahin, daß das letzte kleine Eigenthum des Armen verpfändet, versteigert wird. Und dann –? O, die Noth in der wunderschönen Grafschaft Glatz schreit, besonders in diesem Winter, zum Himmel.

Eine größere Versammlung erfahrener Manner hiesiger Gegend übergab mir vor kurzer Zeit folgendes Gutachten: „Der Weber verdient bei 16- bis 17 stündiger täglicher Arbeit wöchentlich höchstens 6 Mark, durchschnittlich 4 Mark, dabei müssen ihm 1–2 Personen spulen helfen. Davon geht ab – den Zeitverlust bei Abholung und Ablieferung der Ware nicht gerechnet – eine wöchentliche Auslage (Stärke zur Schlichte) im Betrage von 50 Pfennigen. Zur Handweberei werden gewöhnlich nur solche Garne geliefert, die zur Verarbeitung auf der Maschine nicht mehr verwendbar sind. Daher müssen die leicht reißenden Fäden häufig geknüpft werden. Der Weber verliert dadurch Zeit und hat dabei noch für oft unvermeidliche Fehler, die infolge des Knüpfens eintreten, bei Ablieferung der Waren Abzüge zu erleiden. Dieselben machen für das Stück, welches etwa eine Woche Arbeit erfordert, 50 Pfennige, auch 3 Mark, ja sogar oft den ganzen Betrag des Wochenlohnes aus! In letzter Zeit finden manche Weber überhaupt keine Arbeit mehr.“

Woher aber diese Noth, diese fürchterlichen Zustände? Woher? Wir suchen die Gründe kurz zusammenzufassen:

1) Gegen die Konkurrenz der Maschine kann die Handarbeit der hiesigen Weber natürlich nicht aufkommen.

2) Das jetzt hier lebende Webergeschlecht ist großentheils zu entnervt, geistig verkümmert, verkrüppelt, kränklich und energielos, um aus eignem Entschlusse sich ein neues Arbeitsfeld zu suchen. Für eine verfeinerte Handweberei, die von der Maschine nicht geliefert werden kann, müßte es erst mit „energischem Hochdruck“ wie z. B. durch Verleihung von Prämien erzogen werden. Solcher Hochdruck hat aber in hiesiger Gegend seit Jahrzehnten gefehlt. Für gröbere Arbeiten, Waldwegebau, Steinindustrie, selbst für Knechts-, und Dienstmädchenarbeit, ist die hiesige Bevölkerung zum großen Theil zu schwach. Daher helfen die sonst wohlgemeinten Vorschläge, die Weber sollten in arbeiterarme Gegenden nach Pommern, in die Lausitz u. s. w. übersiedeln, nur herzlich wenig, ganz abgesehen davon, daß der Glatzer ungemein zäh an seiner Scholle hängt. Es ist auch unglaublich, wie viel halb unb ganz Blödsinnige, Epileptische, Zwerge, Cretins, Verkrüppelte u. s. w. in den elenden Hütten der hiesigen Gegend wohnen. Eine Statistik würde darüber erschreckende Aufschlüsse geben.

3) Die Mac-Kinley-Bill in Amerika und sonstige Umstände haben auf dem europäischen Markte einen Ueberfluß von gewebten Stoffen angehäuft. Die wenigen Fabrikanten, die in unsrer Gegend noch arbeiten lassen, thun es jetzt vielfach nur aus Barmherzigkeit.

4) Einige der zwischenhandelnden Garnausgeber haben nicht immer das Herz auf dem rechten Flecke. Es ist eine bekannte Thatsache, daß manche in kurzer Zeit reich geworden sind. Wovon?

5) Eine Erhöhung aller Lebensmittelpreise, eine spottschlechte Kartoffelernte – schon jetzt haben die Leute zum großen Theil ihre Saatkartoffeln fürs Frühjahr, ebenso auch ihr Saatgetreide, verbraucht – ein überaus strenger Winter haben die schon beständig schleichende Noth zum Ausbruch gebracht.

Giebt es denn aber gar keine Hilfe? Giebt es wirklich keinen anderen Ausweg, der Noth ein Ende zu machen, als den, der neulich allen Ernstes vorgeschlagen wurde: „Gebt das jetzt lebende Webergeschlecht auf, laßt es verhungern, sterben, je schneller, desto besser!“ O nicht doch! Noch ist zu helfen! Aber es muß schnell und durchgreifend geschehen. Nicht halb, nicht widerwillig, nicht zögernd! Ich mache folgende Vorschläge zur Linderung der augenblicklichen und der dauernden Nothlage:

1) Die Privatwohlthätigkeit errichte, wo nur angängig, Volksküchen, in denen Speisen zu niedern Preisen oder ganz umsonst abgegeben werden. Mitte Dezember habe ich in Reinerz eine solche Küche gegründet und die besten Erfahrungen gemacht. Schon habe ich 300–400 tägliche Mittagsgäste.

2) Die Privatwohlthätigkeit, vielleicht unterstützt durch außerordentliche Staatsbeihilfe, durch Gaben von Vereinen u. s. w., errichte Stationen, in denen zu niedern Preisen oder ganz umsonst Hülsenfrüchte, Mehl, Brot, auch Kohlen und im Frühjahr Saatkartoffeln und Getreide vertheilt werden! In Reinerz habe ich solch eine Station ins Leben rufen können. Täglich werden darin 40–80 Arme auch aus der fernen Umgegend bedacht. Natürlich ist hierbei eine genaue Kontrolle aller Gabenempfänger dringend geboten. Vertrauensausschüsse in allen umliegenden Ortschaften, bestehend aus den Schulzen, Lehrern und je einem Mitglied des Ortsarmenverbandes, welche die Armen acht- oder vierzehntägig vorschlagen, haben sich bei mir bis jetzt sehr gut bewährt. Man frage aber nicht, woher die Mittel nehmen! „Bittet, so wird euch gegeben!“ Ich habe die Wahrheit dieses Wortes schon oft erfahren und hoffe, auch fernerhin nicht enttäuscht zu werden.

3) Privatleute, Gemeinden, Kreise setzen Prämien aus für jeden Weber, der
a) sein Kind einer anderen Beschäftigung zuführt – der Kreis Waldenburg ist hierin vorangegangen;
b) nachweist, daß er selbst eine verfeinerte Weberei (Jacquardweberei) gelernt oder gelehrt oder eine Zeitlang betrieben habe;
c) nachweist, daß er einen Jacquardstuhl sich gekauft hat, und dabei sich verpflichtet, ihn innerhalb von etwa fünf Jahren nicht zu verkaufen;
d) zu einer andern Beschäftigung übergeht und darin bleibt.

Wenn solches Unternehmen erst im Gange ist, würden sich bald noch neue Gesichtspunkte und manche Verbesserungen finden.

4) Der Staat bewillige größere Kapitalien, aus denen Hypotheken zu billigem Zins oder ganz umsonst mit der Möglichkeit einer Tilgung an verschuldete Weber, die zugleich Häusler sind, geborgt werden.

5) Der Staat beginne endlich mit einigen in den Nothstandsgegenden schon längst geplanten Eisenbahnen. Vor allem empfiehlt sich hier für meine Gegend die Eisenbahn: Rückers – Reinerz – Nachod. Auch eine Theilung des Kreises Glatz wird vielfach empfohlen und dringend befürwortet. –

Mit manchen andern Vorschlägen, z. B. dem, daß der Staat (oder auch Privatpersonen, durch eigens angestellte und beaufsichtigte Garnausgeber in direkte Verbindung mit dem Weher trete, daß verschiedene Chausseen gebaut, daß den Webern die Wohlthaten der sozialen Gesetzgebung zutheil werden, halte ich vorläufig noch zurück. –

Die außerordentliche Noth erfordert außerordentliche Mittel. Nicht gezagt, nicht gezweifelt! Es muß geholfen werden! So, wie es jetzt steht, kann es nicht bleiben. O, daß alle, die diese Zeilen lesen, sich gedrungen fühlten, nach ihren Kräften rathend, helfend, gebend einzutreten! Zum Empfange von Gaben u. s. w. bin ich stets bereit. Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen!

Reinerz, im Februar 1891. Ernst Klein, Pastor.     

*      *      *

Soweit unser Gewährsmann. Wir aber schließen uns aus vollem Herzen seiner Bitte an. Die „Gartenlaube“, welche sonst, wenn es sich um die Hilfe in plötzlichen öffentlichen Nothständen handelte, die schöne Aufgabe des Gabensammelns der rascher und darum zweckmäßiger wirkenden Tagespresse überlassen mußte. stellt sich in diesem Falle jedem, der sein Scherflein für die schlesischen Weber spenden möchte, gerne zur Verfügung; sie will mit sammeln und den Ertrag ihrer Sammlung an den Ort ihrer Bestimmung gelangen lassen. Möge ihre Bitte nicht ungehört verklingen, möge sie einen Widerhall wecken in den Herzen der Hunderttausende, welche sich um die „Gartenlaube“ scharen in den Herzen der Hunderttausende, welche ihre Mildthätigkeit schon oft in so glänzender Weise erwiesen haben! Die Redaktion.     




[155]
Der Zonentarif.

Brandons Plan ist der Kern des Eisenbahnwesens der Zukunft,“ so stand im Jahrgang 1868 der „Gartenlaube“ zu lesen, und der Plan, den sie im Auge hatte, das war der „Passagierporto“–Plan, den eben damals der Engländer Raphael Brandon in einer Schrift öffentlich dargelegt hatte, der Plan, wonach der Mensch um drei Pence oder rund 30 Pfennig von einem Ende des britischen Inselreichs bis zum andern befördert werden sollte, so gut wie um einen Penny der Brief. Es hat lange gedauert, bis die Prophezeiung der „Gartenlaube“ in Erfüllung ging, obgleich bald nach Brandon in Deutschland der unermüdlich rührige Perrot für denselben Gedanken eintrat und andere, wie Hertzka (1884) und Engel (1888), ihm folgten; indessen sind wir heute doch schon so weit, daß wir sagen können, sie ist in Erfüllung gegangen.

Aber es war nicht das britische Inselreich, welches den ersten Schritt auf der neuen Bahn that, wie es den ersten in der epochemachenden Umwälzung des Briefportowesens gethan hatte. Auch das Deutsche Reich nahm nicht die Führung auf dem Felde der Verkehrspolitik, wie noch im Jahre 1888 nach Erscheinen des Buches von Eduard Engel ein optimistischer Plauderer in der „Gartenlaube“ gleichsam als selbstverständlich sich ausgemalt hatte. Oesterreich-Ungarn ist das Land, das Kühnheit genug besaß, den lange nur litterarisch vertretenen Gedanken im großen praktisch zu erproben, und es fand seinen Nachfolger in keinem der Staaten, die man als die vornehmsten Träger der europäischen Kultur zu betrachten pflegt, sondern in dem erst jetzt allmählich an die Kulturwelt sich anschließenden Rumänien – gewiß eine sonderbare Erscheinung!

Freilich, Brandons Gedanke war doch nur der Kern derjenigen Einrichtungen, die heute in Oesterreich und Ungarn eingeführt sind und die wir bis auf weiteres als Mustervorlage des modernen Eisenbahnwesens betrachten dürfen. Unter dem überwältigenden Eindruck von dem Siegeslaufe, den Rowland Hills „Pennyporto“ durch die Welt nahm, hatte Brandon die wesentlichen Unterschiede zwischen der Personen- und Briefbeförderung übersehen und war in ein undurchführbares Extrem verfallen. Die Kosten bei der Beförderung von Briefen bestehen lediglich aus denjenigen, welche bei der Uebernahme und Abgabe der Briefe auflaufen; während der Beförderung selbst erwachsen der Post so gut wie gar keine neuen Auslagen, und mit Rücksicht darauf konnte das Briefporto unabhängig von der Länge der Beförderungsstrecke einheitlich bemessen werden. Da ferner das geringe Gewicht und der kleine Umfang der Briefe es gestatteten, die Beförderung einer nahezu unbeschränkten Anzahl derselben mit den vorhandenen Betriebsmitteln zu bewältigen, so stufte man das Briefporto innerhalb eines Postgebiets nur einmal nach dem Gewichte ab. Anders bei der Beförderung von Personen! Die Kosten bei der Uebernahme und bei der Abgabe sind hier sehr geringe, dagegen wachsen sie während der Beförderung mit jedem Stücke zurückgelegten Wegs infolge des Aufwands an Brennmaterial, Abnutzung der Wagen und Lokomotiven, des Eisenbahnoberbaus, infolge von Wechsel des Personals, der Wagen und Maschinen und dergleichen. Die Eisenbahnen können daher unmöglich bei der Bemessung des Fahrpreises die Länge der Beförderungsstrecke außer acht lassen, wie dies bei der Briefpost geschieht. Auch ist die Leistungsfähigkeit der Bahnen hinsichtlich des Personenverkehrs eine verhältnißmäßig viel beschränktere, die Anlageverhältnisse, die Menge der Betriebsmittel und dergleichen ziehen hier genau umschriebene Grenzen.

Wenn nun aber die Eisenbahnen von der Berechnung ihrer Fahrpreise nach der zurückzulegenden Entfernung nicht abgehen können, was ist denn dann beim Zonentarif anders als seither? Worin liegt das Neue, das Epochemachende?

An und für sich ist das grundsätzliche Verfahren durchaus dasselbe wie bisher. Nach wie vor wird sich aus den zwei Faktoren: Personenzahl und Entfernung, die Berechnung der Reisekosten des nach der Sommerfrische strebenden Familienvaters ergeben. Vor allem ist der Begriff der Billigkeit durchaus nicht untrennbar mit dem des Zonentarifs verbunden. Es lassen sich die theuersten Zonentarife sogut denken wie die billigsten. Der Zonentarif ist zunächst nichts als eine, wie man sagt, „verkehrstechnische“ Einrichtung. Man berechnet nicht mehr den Preis für jede einzelne Entfernung, für jede Station besonders, sondern man bildet Gruppen, die je für sich gleichartig behandelt werden. Was man erreicht, ist eine erhebliche Vereinfachung des Verwaltungs- und Rechnungsapparats, und damit allerdings auch schon soviel, daß man die Fahrt „billiger geben“ kann. Ob man das thut oder nicht, ist wieder eine Frage für sich, die mit dem Zonentarif selbst nichts zu schaffen hat.

Thatsächlich haben nun allerdings die beiden großen Bahnverwaltungen von Oesterreich und Ungarn mit der Einführung des Zonentarifs, jede in ihrer Weise, eine ganz bedeutende Herabsetzung der Fahrpreise verknüpft –, und das hat dem Zonentarif die Herzen erobert und läßt ihn als erstrebenswerthes Gut überall da erscheinen, wo er noch nicht eingekehrt ist.

Die österreichischen Staatsbahnen waren die ersten, welche den Weg der Reform mit einem praktischen Versuche betraten und in geschäftsmännisch vorsichtiger Weise im Sommer 1889 zunächst auf den Wiener Lokalstrecken einen Zonentarif mit sehr ermäßigten Sätzen einführten. Ihnen folgten die ungarischen Staatsbahnen, welche am 1. August 1889 auf allen ihren Linien eine durchgreifende Neugestaltung des Personenbeförderungswesens ins Leben riefen, eine That, welche die Augen der ganzen civilisirten Welt auf sich zog wie selten ein Ereigniß friedlicher Natur. Das Beispiel Ungarns und der eigene gelungene Versuch veranlaßten dann wieder die österreichischen Staatsbahnen, am 16. Juni 1890 einen Zonentarif mit außerordentlich herabgesetzten Fahrpreisen auf ihrem gesammten, nahezu 7000 km umfassenden Bahnnetze in Kraft treten zu lassen.

Sehen wir uns die beiden Systeme etwas genauer an.

Bei dem österreichischen Tarife werden die Entfernungen in nachstehender Weise in Zonen eingetheilt:

die ersten 50 Kilometer in fünf Zonen zu je 10 km;
die folgenden 30 km in zwei Zonen zu je 15 km;
die nächsten 20 km bilden für sich eine (die achte) Zone;
die Entfernungen von 100 bis 200 km sind in vier Zonen zu je 25 km zerlegt;
die Entfernungen über 200 km sind fortlaufend in Zonen von 50 km zusammengefaßt.

Diese Zonen (das griechische Wort zoné bedeutet eigentlich „Gürtel“) werden von jeder Station aus gezählt und müssen als konzentrische Kreise mit der betreffenden Station als Mittelpunkt gedacht werden. Für alle innerhalb eines solchen Zonenringes befindlichen Stationen der verschiedenen Linien liegt an der Ausgangsstation nur eine einzige, die Zonenziffer und die Namen der entferntesten Station in jeder Richtung tragende Fahrkarte auf. Es läßt sich leicht ermessen, welche Vereinfachung des Fahrkarten- und des Rechnungswesens damit erzielt wurde, indem die Stationen an Stelle der früher geführtem großen Menge der verschiedenartigsten Kartengattungen nur noch für so viele Zonen Fahrkarten besitzen, als erfahrungsgemäß für ihren Verkehr benötigt werden. Kleinere Stationen kommen z. B. meist mit acht Zonen aus, größere führen achtzehn bis vierundzwanzig Zonenkarten.

Als Tarifgrundlage und zugleich als kilometrische Einheitstaxre für die 3. Klasse Personenzug wurde die kleinste gangbare Münzeinheit des Landes, der Kreuzer, gewählt; das heißt für jeden Kilometer Bahnfahrt wird für eine Person 1 Kreuzer [1] in der 3. Klasse Personenzug berechnet, was eine 50prozentige Ermäßigung gegenüber den früheren Sätzen bedeutet und dem Tarife für die 4. Wagenklasse auf den preußischen und sächsischen Staatsbahnen gleichkommt.

Für die 2. Klasse ist der doppelte Betrag, 2 Kreuzer, für die 1. Klasse der dreifache, 3 Kreuzer, als kilometrische Grundtare festgesetzt. Bei Schnellzügen erfahren die Taren aller drei Klassen einen Zuschlag von 50 Prozent. Die Fahrpreisermittelung erfolgt nun in der Weise, daß die Schlußentfernung einer Zone mit der Grundtare der betreffenden Wagenklasse multiplizirt wird.

Es kostet also zum Beispiel:

eine Fahrkarte 3. Klasse Personenzug für die 8. Zone (81–100 km) 100 x 1 = 100 Kreuzer oder 1 Gulden;
eine Fahrkarte 1. Klasse Schnellzug für die 12. Zone

[156] (176–200 km) 200 x 3 = 600 Kreuzer oder 6 Gulden. Dazu Schnellzugszuschlag von 50 Prozent = 3 Gulden, macht zusammen 9 Gulden.

In welchem Maße die Herabsetzung gegen die früheren Taxen der österreichischen Staatsbahnen und die noch bestehenden fremden Bahnen sich geltend macht, zeigen nachstehende Beispiele: von Prag nach Wien kostete die Reise in der 3. Klasse Personenzug 7 Gulden 10 Kreuzer, heute kostet sie 3 Gulden 50 Kreuzer; von Wien nach Lindau in der 1. Klasse Schnellzug früher 43 Gulden 40 Kreuzer, heute 33 Gulden 75 Kreuzer; von Wien nach Salzburg in der 2. Klasse Personenzug früher 9 Gulden 60 Kreuzer, heute 7 Gulden. – Eine Reise von Breslau nach Stettin kostet in den drei Wagenklassen 33 Mark 50 Pf., 24 Mark 90 Pf. und 17 Mark 40 Pf.; nach dem österreichischen Zonentarif gerechnet würden die Fahrpreise 24, 16 und 8 Mark betragen. Von Berlin nach Königsberg ist heute der Schnellzugsfahrpreis 3. Klasse 27 Mark 80 Pf., nach dem österreichischen Zonentarife würde er sich auf 18 Mark belaufen.

Die größte Ermäßigung haben die Taxen der 3. Klasse Personenzug erfahren; hierfür war der Umstand entscheidend, daß 3/4 aller Reisenden diese Wagenklasse benützen; es kommt somit die Wohlthat des billigen Tarifs vornehmlich den unbemittelteren Volksklassen zugute. Dadurch, daß die Anfangszonen nur kleinen Umfang haben und erst die späteren an Ausdehnung zunehmen, ist dem Verkehr auf kurze Strecken, zwischen benachbarten Orten, bedeutender Vorschub geleistet, indem in allen Fällen zu den genau nach der Kilometerzahl berechneten Preisen nur ein kleiner Zuschlag, wie er durch die Zone bedingt ist, gezahlt werden muß; wer z. B. 41 Kilometer durchfährt, zahlt für 50 Kilometer (5. Zone), also nur für 9 Kilometer mehr; wer dagegen 201 Kilometer zurücklegt, zahlt für 250 Kilometer (13. Zone), also für 49 km mehr, als bei kilometrischer Berechnung zu zahlen sein würde.

Das Einfache und Natürliche dieser Preisbildung, die Klarheit und Uebersichtlichkeit des ganzen Tarifbaues, die es jedermann ermöglichen, sich die Fahrpreise rasch selbst zu berechnen, müssen als außerordentliche Vortheile dieses Tarifes bezeichnet werden. Indem auch die zahllosen, für verschiedene Fälle eingeführten Fahrpreisermäßigungen - mit Ausnahme derjenigen für Kinder, für Personen, die auf Kosten öffentlicher Behörden befördert werden, und endlich für Arbeiter, welche nur die halben Zonenfahrpreise bezahlen – aus dem neuen Tarife ausgeschieden wurden, findet eine durchaus gleichmäßige und gerechte Behandlung aller Reisenden statt; auch dadurch ist in die Gebahrung wesentliche Klarheit gebracht worden.

Als eine wichtige Einrichtung muß endlich hervorgehoben werden, daß die Zonenkarten nicht allein bei den Kassen der Bahnhöfe, sondern auch in Gasthäusern, Tabaktrafiken, bei Kaufleuten u. dergl. im voraus gelöst werden können; denn die Zonenkarte behält, solange sie nicht vom Schaffner durchlocht ist, ebenso wie eine ungestempelte Briefmarke ihre Gültigkeit und wird auch für beliebige Strecken ausgegeben. So kann man z. B. einem Freunde mit der Einladung zu einem Besuche die für die Herreise gültige Fahrkarte senden, oder mit einer von Bregenz nach Salzburg reichenden Zonenkarte eine Sommerferienreise als sinniges Geschenk auf den Weihnachtstisch legen.

Beim Tarife der ungarischen Staatsbahnen bestehen 14 Zonen, welche ebenfalls von jeder Station aus gezählt werden. Die erste Zone umfaßt 25 Kilometer und ist wieder für sich in 2 Unterabtheilungen für den sogenannten „Nachbarverkehr“ zerlegt; es folgen 10 Zonen von je 15 Kilometern Umfang und 2 Zonen zu 25 Kilometer; die 14. Zone dagegen umfaßt alle Entfernungen über 225 Kilometer. Es gelangt damit das Prinzip des Personenportos in bedingter Form zur Geltung, nämlich nur für jene Fälle, als in einer Fahrt mehr als 225 Kilometer zurückgelegt werden. Diese Maßnahme findet darin ihre Erklärung, daß bei den früheren hohen Tarifen der ungarischen Staatsbahnen auf Entfernungen über 200 Kilometer fast gar kein Verkehr stattfand, und einen solchen wollte man nun, wenigstens innerhalb der Grenzen Ungarns, ins Leben rufen. Die Fahrpreisermittelung erfolgt nicht so systematisch, wie beim österreichischen Tarife, sondern es sind für die einzelnen Zonen bestimmte Fahrpreise in runden Ziffern festgesetzt; bis zur Entfernung von 225 Kilometern sind sie im Durchschnitte etwas höher gehalten als jene der österreichischen Staatsbahnen, deren Sätze erst durch den Preis der 14. Zone, welche unter Umständen auch Entfernungen bis zu 1000 Kilometern in sich begreift, unterboten werden. Bei Benutzung der Karten für die 14. Zone besteht übrigens die Beschränkung, daß, wenn die Reise naturgemäß über die Landeshauptstadt Budapest führt, die Fahrpreise nur bis zu und von dieser gerechnet und hier neue Karten gelöst werden müssen. Einerseits liegt es also in der Absicht des ungarischen Tarifs, den Verkehr auf große Entfernungen zu entwickeln, und andererseits, diesen Verkehr nach der Hauptstadt, dem Mittelpunkte des politischen und wirthschaftlichen Lebens des Landes, zu lenken.

Und nun der Erfolg?

Daß sich mit der Einführung von so bedeutend billigeren Fahrpreisen, wie sie der neue Tarif in Oesterreich-Ungarn gegenüber dem alten der Bevölkerung bot, die Zahl der beförderten Personen ganz bedeutend steigern werde, das war als sicher vorauszusetzen. Die Statistik der ungarischen Staatsbahnen ergiebt nach Dr. Perrots „Monatsschrift für Eisenbahnreform“ folgende abgerundete Zahlen:

Vom 1. August 1888 bis 1. August 1889 wurden Fahrkarten gelöst 5685000;

vom 1. August 1889 bis 1. August 1890 wurden Fahrkarten gelöst 13456000.

Das bedeutet also eine Steigerung der Zahl der beförderten Personen auf annähernd das Zweieinhalbfache. Man sprach wohl vom „Reiz der Neuheit“, der bei diesem riesigen Aufschwung auch seine Rolle spiele; aber die Statistik hat diesen Erklärungsversuch fürs erste beseitigt, denn es liegt die offenkundige Thatsache vor, daß die Verkehrssteigerung bis heute, nach anderthalb Jahren, eine ununterbrochene geblieben ist. Während nämlich die Zahl der beförderten Personen sich vom 1. August 1889 bis 1. August 1890 auf rund 131/2 Millionen belief, betrug sie nach vorläufiger Feststellung im Kalenderjahre 1890 bereits 141/2 Millionen; ja, wenn man noch genauer sein will, kann man die fünf Monate August bis Dezember 1889 mit den entsprechenden Monaten von 1890 vergleichen. Die letzteren weisen ein Mehr an beförderten Personen von 1200000 auf – ein Beweis, daß der Reiz des neuen Tarifs doch sehr nachhaltig wirkt. In Oesterreich wurden während der ersten 31/2 Monate nach Einführung des Kreuzerzonentarifs 4 Millionen Personen mehr befördert als in der gleichen Periode des Vorjahrs; also auch hier ist alle Aussicht, daß die auf dem ungarischen Boden gemachten Erfahrungen sich bestätigen. Die Einnahmen der Bahnen aber blieben nicht nur nicht zurück hinter den früheren, sondern wiesen sogar recht erkleckliche Zunahmen auf: sie stiegen in Ungarn beispielsweise von 9424000 Gulden in dem Jahr vor der Einführung des Zonentarifs auf 11452000 Gulden in dem ersten Zonentarifjahr, während das Kalenderjahr 1890 vollends eine Einnahme von 12311000 Gulden zu verzeichnen hat.

Das sind die zahlenmäßigen Erfolge des Zonentarifs. Wichtiger noch, wenn auch vorläufig oder überhaupt nicht in Ziffern auszudrücken, sind die mittelbaren Vortheile, die Erweiterung und Belebung des Verkehrs, Hebung des Handels und der Betriebsamkeit, Ausdehnung des Gesichtskreises für einen erheblichen Theil der Bevölkerung. Wir nennen sie Erfolge des Zonentarifs, ohne dabei zu verkennen, daß ebendieselben Erfolge jeder andere entsprechend billige Personentarif auch erreichen könnte. Nur insofern, als eben die Einführung der „Zonen“ Gelegenheit zu Ersparnissen an den Betriebskosten und dadurch mittelbar zur Herabsetzung der Fahrpreise giebt, stehen die hervorgehobenen Segnungen in einem ursächlichen Zusammenhang gerade mit dem „Zonentarif“. Ob die billigeren Tarife auf diesem oder auf anderem Wege ermöglicht werden, das ist eine Frage. die erst in zweiter Linie in Betracht kommt. In erster Linie steht und muß stehen bleiben, daß die Verbilligung des wichtigsten aller Verkehrsmittel überhaupt durchgeführt wird. Hoffen wir, daß das Deutsche Reich nicht zu lange mehr hintanstehe in der Durchführüng dieser zeitgemäßen Reform. Schon schweben Verhandlungen zwischen den verschiedenen deutschen Bahnverwaltungen, die es nur noch als Frage der Zeit erscheinen lassen, daß auch dem deutschen Volke diese Wohlthat zu Theil wird, eine Wohlthat, die sich augenscheinlich am allerbesten für den Wohlthäter selbst rentirt. W.     




[157]

Ernst Julius Hähnel.

Am 9. März feiert in Dresden E. J. Hähnel, mit Rietschel der Hauptbegründer der Dresdener Bildhauerschule, seinen achtzigsten Geburtstag. Ein Leben, wie es nur wenigen Auserwählten der Kunst gegeben wird, reich an Thaten und Erfolgen, liegt hinter ihm; vor ihm nach menschlichem Ermessen ein rüstiges und immer noch schaffensfreudiges Alter.

Im Jahre 1871 zu Dresden als Sohn eines Gutsbesitzers geboren, verlebte er hier die Zeit der Kindheit in einer halb ländlichen Umgebung. Seine künstlerische Begabung machte sich bald in allerhand zeichnerischen und malerischen Thaten Luft, so daß ihn schon im zwölften Jahre der Vater mit der Ausmalung eines Gartenhäuschens betrauen konnte. Der griechische Freiheitskampf erfüllte damals die Herzen aller Begeisterungsfähigen. Nichts lag also näher, als daß der junge Künstler die acht Felder des Raumes mit acht edlen Griechen füllte, die über acht Türken den Sieg davontrugen. Baare acht Gute Groschen waren der Lohn dieser ersten That.

Die Musengruppe aus dem Bacchuszug.
Nach einem Lichtdruck im Verlag der Gilbersschen Hof-Verlagsbuchhandlung in Dresden.

Als es galt, einen Beruf zu ergreifen, hätte sich der Jüngling natürlich am liebsten der Malerei zugewendet. Dem sorgenden Vater schien das aber doch eine zu brotlose Kunst. So widmete sich der Sohn denn zunächst der Baukunst. Fünfjährige Studien, die ihn schließlich nach München führten, vermittelten ihm eine eingehende Bekanntschaft mit der Antike; der übliche Unterricht im Ornamentmodelliren aber brachte ihm die Kenntniß der Arbeitsweise des Bildners, die ihn mehr und mehr anzog. Was Wunder, daß er nun auch der zweiten Muse untreu wurde und sich zur dritten wendete! Als er München verließ, war er innerlich wohl schon Bildhauer. Gleichwohl ging er erst in Florenz, wohin er nun seine Schritte lenkte, völlig zur Plastik über.

Hier, unter dem mächtigen Eindruck der Bildwerke des klassischen Alterthums und der Renaissance, und später in Rom, wo er zwei Jahre in direktem und indirektem Verkehr mit Cornelius, Genelli, Thorwaldsen u. a. verlebte, bildete und klärte sich Hähnels Kunstanschauung. Das Ergebniß war jene köstliche Vereinigung griechischen Schönheitssinnes mit moderner Empfindungsweise, die all seinen Werken eigen ist. Jener Stil, der so unverkennbar in der Antike wurzelt und doch ein durchaus Neues, Eigenthümliches giebt.

Als Hähnel nach der Rückkehr aus Italien und einem zeitweiligen Aufenthalt in München im Jahre 1838 von Semper zur bildnerischen Ausschmückung des Theaterbaues nach Dresden berufen wurde, fand er zum ersten Mal Gelegenheit, seine reiche Begabung an größeren Arbeiten zu bethätigen. Er that es in einer Weise, die bei einem jungen Künstler mit Bewunderung erfüllen muß. Die moderne Kunst hat nicht viel aufzuweisen, was sich z. B. dem hier abgebildeten prächtigen Bacchuszug, mit dem er die Attika schmückte, in Hinsicht auf klar monumentale und doch lebendig bewegte Komposition, edlen Linienfluß und geistvolle Beziehungen an die Seite stellen läßt. Das Werk ist leider beim Brande des Theaters mit zu Grunde gegangen, doch harren die wohlerhaltenen Gipsmodelle der Auferstehung in einem edleren Material.

Raphael.

Von nun an reihte sich Werk an Werk. Eine gewonnene Konkurrenz brachte den Auftrag zum Beethovendenkmal für Bonn, an dem neben der trotzig in sich abgeschlossenen bedeutenden Auffassung der Hauptfigur besonders die herrlichen Reliefs der Phantasie, der Kirchenmusik und der Symphonie bemerkenswerth und weitbekannt sind. Es folgte das Standbild Karls IV. für Prag mit Figuren der vier Fakultäten, die in ihrer Herbheit und Strenge Corneliusschen, fast Overbeckschen Einfluß zu verrathen scheinen. Durchaus Hähnelsche Eigenart verräth die eine trinkende Schlange ruhig und scharf beobachtende Hygieia. – So vorzüglich Hähnel monumentalen Aufgaben gerecht wurde, wie sie ihm im Verlaufe der Zeit noch in den Denkmälern für Schwarzenberg, den Herzog Wilhelm von Braunschweig, Leibniz, den König Friedrich August von Sachsen und Theodor Körner gestellt wurden, so liegen doch seine schönsten Erfolge da, wo seiner reichen Phantasie freier Spielraum gelassen war, in zweiter Linie aber da, wo er die Bildnerei der Schwesterkunst Architektur dienstbar macht. Die Forderungen nach künstlerischem Maßhalten und streng plastischer Auffassung, welche die letztere an die Bildnerei stellt, waren ihm innerliches Bedürfniß und wurden darum von ihm niemals als Zwang empfunden. Glänzende Beispiele einheitlichen Zusammenwirkens beider gab Hähnel im äußeren Schmuck der Wiener Hofoper mit den Pegasusgruppen und den fünf Figuren der Loggia, besonders aber in der geistvollen bildnerischen Ausstattung des Semperschen Museumsgebäudes am Zwinger in Dresden, in die er sich mit Rietschel theilte. Die wunderbar schön und einfach komponirten Zwickel der Fensterverdachungen, die Füllungen und die freien Figuren des Mittelbaus gehören zu den vornehmsten Werken, welche die Neuzeit überhaupt hervorgebracht hat. Der Raphael, an dem der Künstler unermüdlich gebessert und wieder gebessert hat und von dem eine Marmorkopie im Leipziger Museum und in der Nationalgalerie steht, ist in seiner hoheitsvollen stillen Harmonie vielleicht die edelste Verkörperung Hähnelscher Kunstweise.

Es würde die Grenzen dieses Gedenkblatts überschreiten, wenn man versuchen wollte, seinem Schaffen in allem, was er hervorgebracht hat, auch nur annähernd gerecht zu werden. Mannigfache bedeutungsvolle Arbeiten wie die Gestalten am Zwingerpavillon und der Dreikönigskirche in Dresden, vor dem Theater und am Museumsgebäude in Leipzig, eine Reihe nur um ihrer selbst willen geschaffene Figuren und Gruppen – es sei nur an die groß aufgefaßte Eva mit Kain und Abel erinnert – und endlich zahlreiche Büsten und Reliefs können nur aufgezählt werden.

Alles in allem wird es genügen, um ein Bild zu geben von der großartigen künstlerischen Thätigkeit des nunmehr Achtzigjährigen. Die allen Aeußerlichkeiten vornehm abgewandte Persönlichkeit Hähnels und der – man könnte sagen – aristokratische Zug, welcher durch seine Kunst geht, sind Ursachen, daß sein Name den breiteren Schichten des Volkes nicht so geläufig geworden ist, wie er sollte, während ihm auf der anderen Seite schon 1859 die seltene Auszeichnung eines Ehrendoktors der Universität Leipzig zutheil wurde.

Man möchte wünschen, alt seinem Ehrentage alle seine Werke beieinander sehen zu dürfen; dann erst würde man recht erkennen, welche Summe von Schönheit ihm zu danken ist. Friedrich Offermann.     




[158]

Ein Sklavenaufstand vor zweitausend Jahren.

Von J. Mähly.


Wenn wir von dem Standpunkt unserer heutigen Anschauungen aus auf die Skavenaufstände im alten Rom zurückschauen, fühlen wir uns versucht, in ihnen das Aufleuchten einer höheren Auffassung von der Würde des Menschen, eine gewaltsame Auflehnung gegen die moralische Erniedrigung, welche für unser Gefühl in dem Begriff der Sklaverei liegt, zu erblicken. Und doch ist dem nicht so; die Befreiungsversuche jener kühnen Häuptlinge Ennus, Athenio, Spartacus, welche am Ende des zweiten und Anfang des ersten Jahrhunderts vor Christi Geburt die Sklaven in Massen zur Erhebung gegen ihre Herren riefen, wurden nicht im Dienste der Menschenwürde unternommen, die Opfer, welche in dem Kampfe auf Seite der Sklaven fielen, sind keine Märtyrer einer höheren Idee. Denn an eine Verurtheilung des Sklaventhums an sich dachte noch kein Mensch in jenen Zeiten. Die Skavenaufstände waren nichts als Gegenstöße gegen eine überaus brutale Art der Behandlung, Gegenstöße, die durch das Machtbewußtsein, welches die Masse verleiht, begünstigt waren. Denn es war eine unglaublich verrohte Zeit, eine der trübsten Perioden der römischen Geschichte, selbst die Kaiserzeit eingeschlossen, welche dieses Schauspiel der wider den Stachel löckenden Sklaven sah. Mehrere Menschenalter hindurch hatten Bürgerkriege und innere Umwälzungen den Staat zerrüttet, und die bösen Früchte einer solchen Saat, namenlose Verwilderung der Sitten, Raub und Gewaltthat auf allen Seiten, Zerrüttung der staatlichen Kräfte, blieben nicht aus.

In diese Zeit wüster Gährungen im Innern fällt nun auch die Sklavenerhebung des Jahres 73 v. Chr., deren Seele der Thracier Spartacus gewesen ist – die größte und blutigste, welche das Alterthum kennt. Sie schien eine Zeitlaug ihre Wellen sogar gegen Rom selber wälzen zu wollen, und den Bewohnern lag der Schreck in den Gliedern wie damals, als Hannibal mit seinen Scharen die Richtung gegen die Hauptstadt nahm und die Späher schon den Staub der Kolonnen in der Ferne wollten aufwirbeln sehen. Die Furcht war beidemal nicht ungegründet, und welche Greuel die entfesselten siegesberauschten Skavenhorden in der Weltstadt verübt haben würden, davon gab das Schicksal einiger kleiner von ihnen eingenommener Landstädte einen Vorgeschmack. Man weiß leider nur zu gut, was sich „regelrechte Heere“ im Siegestaumel gegen die Ueberwundenen erlaubt haben – und nun vollends diese zügellosen Horden, welche durch Mißhandlung zur Verzweiflung, durch Verzweiflung zur Empörung getrieben waren und wußten, welches Los ihnen bevorstand, wenn sie ihren Peinigern unterlagen, wußten, daß es in ihrer Hand lag, sich an diesen Peinigern zu rächen. Man kann sich denken, in welche Orgien der lang verhaltene Rachedurst ausgeborsten wäre!

Vor diesem Gedanken graute auch den Römern. Es war diesmal eine besondere Gattung von Skaven, welche sich frei zu machen suchten: sogenannte Gladiatoren (Fechter), deren trauriges Handwerk darin bestand, zur Belustigung des Volkes nach den Regeln der Kunst ihre eigenen Brüder abzuschlachten oder von ihnen abgeschlachtet zu werden. Diese Kunst wurde in „Fechtschulen“ gelernt, und in solchen häuften sich, je nach Bedarf und Angebot der „Ware“, ganze Scharen von Gladiatoren zusammen, um von ihren Herren bei dieser oder jener Gelegenheit – es gab deren bei dem grausamen, erbarmungslosen Sinn der Italiker mehr als genug – vermietet zu werden. In der Nähe besehen – es bedurfte nicht einmal scharfer Augen! – war es nichts mehr und nichts weniger als ein Handel mit Menschenfleisch. Die Summe, welche für einen verwundeten oder getödteten Fechter zu bezahlen war, wurde zum voraus festgesetzt; das Schicksal des Besiegten, ob Tod oder Leben, lag gewöhnlich in den Händen der Zuschauermenge, und zwar buchstäblich in einer Handbewegung, dem Aufheben eines Fingers, was Leben, oder dem Senken des Daumens, was Tod bedeutete. Dagegen lag es in der Hand ihres „Herrn“ und ihres Fecht- oder Drillmeisters, ihnen das Leben erträglich oder aber zu einer beständigen Folterqual zu machen; nur eines konnte auch die erbarmungsloseste Behandlung nicht versagen: genügende und kräftige Nahrung. Die Leute mußten, um eine „gesuchte Ware“ zu werden, etwas leisten können, und dieser Kraftaufwand war nur möglich bei guter Kost. Was also in dieser Hinsicht geschah, hat mit Milde oder Herzensgüte nicht das mindeste zu schaffen, sondern entsprang bloß berechnender Selbstsucht.

Eine solche Fechtschule hielt in Capua (in der Landschaft Campanien) ein gewisser Lentulus – einer von der schlimmen Sorte, der seine Sklaven das ganze Elend der Leibeigenschaft kosten ließ. Der Qualen müde, ließen diese sich von dem Thracier Spartacus überreden, aus ihrem Kerker – denn einen andern Namen verdienten ihre Wohnräume kaum – auszubrechen und sich durch die Stadt und die Landschaft durchzuschlagen. Ihr nächstes Ziel war der Vesuv, in dessen Schluchten sie sich einstweilen sicher fühlen durften. Ein glücklicher Zufall hatte ihnen unterwegs einen mit militärischen Waffen beladenen Wagen in die Hände gespielt; auch wer ihnen sonst bewaffnet begegnete, mußte sichs gefallen lassen, daß über das Mein und Dein keine langen Unterhandlungen gepflogen wurden.

Uebrigens läßt sich aus unseren Quellen kein fertiges Bild zusammensetzen; sie genügen nur zu einem Schattenriß, und auch dieser leidet an Lücken und unsicheren Linien. Ob die Schar ursprünglich bloß dreißig, oder ob sie siebzig und mehr Mann zählte, ist freilich von wenig Belang, denn jedenfalls schwoll sie schon auf dem Weg zum Vesuv zu einem ordentlichen Trupp an; gleich und gleich gesellt sich gern, und Räuber und Hirten – beides wohl auch in einer Person – ließen sich willig finden, mitzumachen. Aber was viel wichtiger ist: des Banditen- oder, wenn man lieber will, Feldhauptmanns Spartacus „Charakterbild schwankt in der Geschichte“. Natürlich! war er doch nur ein Sklave – und wer wird sich um einen solchen weiter kümmern, wenn er einmal zertreten ist! Sicher ist: er war von Anfang an Kopf und Seele des Aufstandes und blieb es; vom Rädelsführer war er zum Anführer aufgestiegen. Er verstand, als früherer Soldat, etwas vom Kriegshandwerk; freilich hatte er wenig Geschmack daran gefunden, denn er war fahnenflüchtig geworden und hatte dann als Räuber in den Bergen „ein freies Leben“ geführt, bis er schließlich wieder eingebracht und zur Strafe in die Sklaven- und Fechterjacke gesteckt worden war. Um die Bande, die unter seinem Kommando stand, eine aus aller Herren Ländern zusammengewürfelte Masse ohne Zweifel höchst ungezügelter Gesellen, Jahre lang in Zucht und Ordnung, kriegsgeübte Truppen wie die römischen im Schach und ein Land wie Italien im Bann des Schreckens zu halten, dazu bedurfte es eines nicht gewöhnlichen Maßes persönlicher Tüchtigkeit, und wenn seine Maßregeln schließlich durch Zwiespalt im eigenen Lager vereitelt wurden und sein Glück an den ehernen Heersäulen der Römer in Scherben ging, so trifft den Spartacus kein Vorwurf; es mußte, wie die Dinge lagen, so kommen, das Gegentheil wäre ein Wunder gewesen. Und es war ein Glück für Rom, für die Welt, daß dieses Gegentheil nicht eintraf. Es sei anderen überlassen, hier allerlei erbauliche oder unerbauliche (jedenfalls aber nutzlose!) Betrachtungen darüber anzustellen, was alles in jenem Falle hätte geschehen und zu Grunde gehen können oder müssen – der Eindruck, den wir vom Wesen jenes Sklavenhäuptlings empfangen, wird durch solche Ueberlegungen nicht abgeschwächt, und wenn er vollends, wie uns berichtet wird, seinen wilden Gesellen gegebenen Falles Milde und Schonung predigte und ihre Raub- und Mordlust zu dämpfen suchte, so werden wir sein ganzes Thun nicht nur begreifen, sondern sogar billigen, ja, wir werden ihm etwas wie Bewunderung kaum versagen können.

Der Bandenführer Spartacus war vielleicht – wer weiß es? – nicht nur in seiner Art und in seiner Umgebung ein Held, er verdient möglicherweise diesen Titel im besten und absoluten, nicht bloß im relativen Sinne des Wortes. Wir lesen sogar, ohne daß Grund vorhanden wäre, dieser Nachricht zu mißtrauen, daß er es gar nicht auf Plünderung und Beute abgesehen habe; er habe kein anderes Ziel verfolgt, als sich glimpflich durch Italien durchzuschlagen und sich und seinen Genossen den Weg in die Freiheit zu bahnen, diese aber, vom Glück des Augenblicks trunken und verblendet, hätten ihn gezwungen, einen andern Weg zu gehen, den des sicheren Untergangs. Hierüber ins Klare zu kommen, ist für uns unmöglich, und unmöglich war es schon für ein römisches Gehirn, einem Sklavenführer [159] gerecht zu werden. Nennt ja ein Geschichtschreiber der späteren Zeit, wo es in den Köpfen der Gebildeten doch bereits tagte und die Ahnung von der Menschenwürde, der Gleichberechtigung der Sklaven die Schatten des Wahnes zu verscheuchen begonnen hatte, die Sklaven „gleichsam eine tieferstehende Menschenrasse!“

Wir haben den Spartacus am Vesuv verlassen. Er durfte mit seinem ersten Erfolge zufrieden sein. Ein römisches Corps von 3000 Mann, das sich die geplagten Bewohner der Landschaft zum Schutz erbeten hatten, besetzte den einzig benutzbaren Zugang zum Berg und glaubte, die Bande durch Hunger mürbe machen zu können. Plötzlich aber sah es sich in seinem Lager überrumpelt und nahm, mehr vom Schrecken als vom Feinde übermannt, nach allen Seiten hin Reißaus. Die Sklaven hatten sich mit Todesverachtung – sie hatten ja nichts als ein elendes Leben zu verlieren – bis auf den letzten Mann über jähe Abhänge heruntergelassen; die Leitern zu diesem Wagestück waren aus wilden Reben geflochten. Für Spartacus war dieser Sieg ein ungeheurer Erfolg – aus seiner Bande wurde in kurzer Zeit ein Heer, das trotz mangelhafter Ausrüstung den Römern bereits auf freiem Feld die Stirn bot, und wiederum mit Glück. Der Prätor Varinius, der mit einem regelrechten Heere in Campanien eingerückt war, hatte nicht bloß mit dem Feinde, sondern mit der Feigheit und Unbotmäßigkeit seiner eigenen Leute zu kämpfen. Eine Abtheilung seines Heeres wurde von den Sklaven überrumpelt und zersprengt, der Befehlshaber war im Bade überrascht worden und mit Mühe der Gefangenschaft entgangen, um bald darauf im Treffen zu fallen. Der Höchstkommandirende, Varinius, hatte keinen besseren Erfolg, bloß daß er mit dem Leben davonkam, aber auch dies nur mit genauer Noth, denn seine Liktoren und sein Pferd fielen in die Hände des Feindes; die entscheidende Schlacht, in welcher er sich bereits einem an Zahl mindestens ebenbürtigen Heere gegenübersah, wurde zu einer vollständigen Niederlage.

Mehr und mehr schwoll das Heer des Spartacus an; – er war für Tausende und Abertausende zum Erlöser geworden. Jetzt erachtete er den Augenblick für gekommen, durchzubrechen, aber die unselige Verblendung seiner Leute trug über die bessere Einsicht des Führers den Sieg davon.

Schon jetzt bekam die Einheit einen Riß; die Germanen (Kelten?) machten sich unter Anführung eines gewissen Krixus vom Hauptheere los und zogen ihre eigenen Wege – ins Verderben. Am Garganusgebirge in der Landschaft Apulien wurden sie von den römischen Truppen eingeholt und bis auf ein Drittheil aufgerieben. Was mit den Ueberlebenden geschah, verlautet nicht; jedenfalls wurde kein Gefangener verschont; die Römer verfuhren in diesem Kriege, der ja in ihren Augen solchen ehrlichen Namen nicht einmal verdiente, ebenso summarisch als grausam: sie schlugen die Gefangenen, nach bestehendem „Brauch“, ans Kreuz, und die Sklaven hielten Gegenrecht. Spartacus brachte dem Andenken des gefallenen Bandenführers Krixus, obschon dieser sich von ihm losgesagt hatte, Menschenhekatomben: dreihundert gefangene Römer fielen als Opfer bei dem Leichenspiele! Auch damit vergalt er gleiches mit gleichem, denn den Manen der römischen Großen bluteten ja der Sitte gemäß die Gladiatoren im Zweikampf.

Das durch den Wegzug der Kelten und Germanen geschwächte Heer des Spartacus ergänzte sich indessen wieder durch stets erneuten Zuzug, und auch das Glück blieb dem Führer treu. Es folgte ein Sieg auf den andern über regelrechte Römerheere, und als es ihm gelungen war, über den Apennin vorzudringen und den Statthalter des „diesseitigen Galliens“ (das heißt des nördlichen Italiens) nachdrücklich aufs Haupt zu schlagen, war der Freiheit eine Gasse gebrochen, ja mehr als eine! Aber das Ungestüm seiner Banden drängte Spartacus auf den Weg nach Beute, nach Rom.

Damit war der Anfang vom Ende gegeben. Zwar wenn er wirklich über ein „Heer“ von 120000 Streitern geboten hätte, wie ein Geschichtschreiber fabelt, so wäre trotz mangelhafter Bewaffnung und trotz Indisciplin ein Erfolg immerhin noch möglich, wenn auch nicht wahrscheinlich gewesen – stand doch selbst Hannibals kühner Geist unter günstigeren Umständen von diesem Wagniß ab! Aber jene Angabe ist eine Uebertreibung ins Maßlose, wie überhaupt die Ungenauigkeit bei Zahlenangaben eine Eigenthümlichkelt der ganzen antiken Geschichtschreibung ist. Dagegen kommt bei Spartacus ein Charakterzug zum Vorschein, der von ungewöhnlicher Einsicht zeugt: sein weitschauender Blick ließ ihn ahnen, daß die größte Gefahr für sein Unternehmen in der Habsucht und Beutegier seiner Bande lag; darum hatte er nach Einnahme der reichen See- und Handelsstadt Thurii dafür gesorgt, daß seine Leute kein edles Metall, sondern nur Eisen und Kupfer in die Hände bekamen.

In Rom machte man, als die Lage nun selbst für die Hauptstadt kritisch geworden war, außergewöhnliche Anstrengungen. Der Ehrgeiz nach Kriegslorbeeren war verraucht, denn die bisherigen Heerführer waren, wenn überhaupt, ohne solche zurückgekehrt! Marcus Crassus, der eine der Prätoren, mußte als Feldherr mit außerordentlichen Vollmachten ausgerüstet werden; nach seiner Vereinigung mit den schon im Feld stehenden Truppen der Konsuln zählte sein Heer nicht weniger als acht Legionen, das heißt gegen 50000 Streiter.

Crassus hatte bisher wenig Gelegenheit gehabt, als Heerführer zu glänzen; aber er kannte doch, wie die meisten römischen Großen, das Kriegshandwerk aus eigener Praxis und rechtfertigte jetzt das in ihn gesetzte Vertrauen vollkommen. Möglich, ja wahrscheinlich, daß man seine Kriegstüchtigkeit unterschätzt, wenn man sie nach seinen späteren Mißerfolgen gegen die Parther beurtheilt: das war ein Kampf „mit des Geschickes Mächten“ wie der Napoleons in Rußland, und Napoleons Lorbeer ist weder durch den Brand Moskaus noch durch die Schneestürme der russischen Steppe im mindesten versehrt worden. Crassus trat sofort mit eiserner Strenge auf. Eine Abtheilung, die sich unter dem Unterfeldherrn Mummius feig gezeigt hatte, ließ er dezimiren, das heißt, er ließ jeden zehnten Mann hinrichten. Es gelang ihm dann – wir wissen freilich nicht wie – den Spartacus von der nördlichen Richtung weg gegen Süden zu drängen, dem Meere zu. Die Lage des Sklavenführers muß jetzt schon eine bedenkliche gewesen sein, sonst hätte er schwerlich den Plan gefaßt, einen Theil seiner Mannschaft nach Sicilien zu werfen, um dort den Feuerbrand, der vom letzten Sklavenaufstand her unter der Asche noch immer fortglomm, zur neuen Flamme zu entfachen. Kilikische Seeräuber, die dort kreuzten, sollten gegen eine Summe Geldes den Transpart besorgen. Der Plan war gut: wenn er glückte, so waren die Römer zu einer Theilung ihrer Streitkräfte gezwungen. Aber er scheiterte an der Treulosigkeit der Piraten; diese nahmen das Geld an, die Mannschaft aber nicht auf und segelten von dannen. Hatte Crassus hier die Hand im Spiele gehabt und den Verrath „honorirt“? Er war ja der reichste aller Römer! Sein Grundbesitz, seine Unternehmungen und Fabriken, worin Tausende von Sklaven beschäftigt waren, seine Kapitalien, deren Zinsen das Doppelte und Dreifache der heute geltenden Rente abwarfen, brachten ihm Jahr für Jahr riesige Summen ein. Es verlautet zwar nicht, daß er von seinem Ueberfluß großmüthig gespendet habe; wenn er aber gegen die Korsaren freigebig gewesen ist, so geschah dies ja auch in seinem Interesse. Was er jetzt unternahm, um dem Feind den Rückweg nach dem mittleren und nördlichen Italien zu versperren, war ein großartiges Werk: er zog da, wo die Halbinsel am schmalsten ist, zwischen dem Tyrrhener Meer und dem Tarentinischen Meerbusen einen Wall von dem einen zum andern und einen Graben, 15 Fuß hoch und ebenso breit, in einer Längenausdehnung von 300 Stadien, das heißt ungefähr 7 geographischen Meilen! Diese zu erstürmen konnte dem Spartacus nicht einfallen, er mußte suchen, in aller Stille und unbeachtet hinüberzukommen.

Die Natur kam ihm zu Hilfe. Im Schneegestöber einer Winternacht gelang es ihm, eine Strecke des Grabens auszufüllen und seine Mannschaft, wenigstens zum Theil, hinüberzuschaffen. Jetzt war es Crassus, der ins Gedränge kam, so sehr, daß er vom Senat dringend einen Nachschub großer Heeresmassen verlangte.

Da kam unverhofft Unterstützung von ganz anderer Seite her, als er sie erwartet hatte: aus dem Lager der Feinde. Wiederum die alte Uneinigkeit und wiederum die Germanen und die Kelten, die sich zu einem Sonderbund unter eigenen Anführern zusammenthaten! Die Strafe für diesen Abfall ließ nicht auf sich warten. Zwar am „Lucanischen See“ erschien Spartacus gerade noch zu rechter Zeit, um die Abtrünnigen vom Untergang zu retten, in einem zweiten mörderischen Treffen aber, wo es dem Crassus gelungen war, sie mit seiner ganzen Heeresmacht zu fassen, wurden sie bis auf den letzten Mann zusammengehauen: 12300 Mann stark fielen sie an Ort und Stelle, wo sie gestritten hatten, nur zwei hatten den Rücken gewandt und den Todesstreich von hinten erhalten. Spartacus übte zwar Vergeltung, indem [160] er einen ihm nachrückenden Unterfeldherrn des Crassus bei Petilia (in Bruttium, dem heutigen Calabrien) aufs Haupt schlug, aber dieser Sieg hatte schlimmere Folgen als eine Niederlage, denn seine vom Erfolg berauschten Scharen zwangen ihn auch jetzt wieder, seinen Feldzugsplan zu ändern und, statt sich auf die Vertheidigung zu beschränken, zum Angriff gegen die Römer vorzugehen. Er wandte sich gegen die Ostküste, Brundusium (Brindisi) zu, vielleicht in der stillen Hoffnung, von dort noch zur See zu entkommen.

Unterwegs, man weiß nicht wo, stießen die beiden Heere aufeinander. Crassus hatte alles drangesetzt, den Entscheidungsschlag möglichst rasch zu führen, um den Ruhm nicht mit einem andern theilen zu müssen; er wußte, daß sein Nebenbuhler Pompejus mit seinem aus Spanien zurückkehrenden siegreichen Heere von Norden her bereits im Anzuge war. Auch Spartacus soll dies gewußt und dem Crassus Friedensvorschläge gemacht haben. Letzteres ist bei der Lage der Dinge und der Natur der beiderseitigen Streiter – hier Römer, dort entlaufene und verwilderte Sklaven – kaum glaublich. Vor der Schlacht stieß Spartacus im Angesicht der Front sein Pferd eigenhändig nieder, zum Zeichen, daß er, wenn geschlagen, nicht zu fliehen, sondern zu fallen gedenke. In der Schlacht suchte er auf Crassus einzudringen; trotzdem er zwei Hauptleute niederstreckte, gelang es ihm nicht, er sank, von einem Speere in die Hüfte getroffen, ins Knie, kämpfte weiter und starb endlich unter den Streichen der Feinde einen ehrlichen Soldatentod. Seine Scharen hatten sich nicht so muthig gezeigt. Wer nicht fiel, floh, die meisten den Bergen zu, wo sie verfolgt und theils niedergehauen, theils gefangen genommen wurden. Ueberdies erging durch die ganze Provinz eine Menschenhetze; es sollte die letzte Faser des wuchernden Krebsgeschwüres vertilgt werden. Auch der Schrecken wurde als Heilmittel angewandt: was in der Schlacht und auf der Flucht nicht vom Schwert getroffen wurde, büßte am Kreuz. An der großen Landstraße, die von Capua nach Rom führte, hingen nicht weniger als 6000 Unglückliche an den Marterpfählen: es waren die nach der Schlacht Aufgegriffenen.

Ein solches Mittel kann aber nicht auf die Länge, über die Lebenden hinaus noch auf kommende Menschengeschlechter, wirken. Wenn also Rom fortan von Sklavenaufständen großen Stils verschont geblieben ist, so müssen die Ursachen anderswo liegen. In der Milde der römischen Statthalter gewiß nicht – denn diese trieben sogar freie Landsassen zur Empörung wohl aber in den gut geschulten und gut verpflegten Heeren, die unter ihrem Kommando standen, allerdings auch an dem langsam, aber stetig sich vollziehenden Fortschritt der Ideen von Menschenwerth und Menschenwürde, die ja zuletzt auch die Religion „der Schwachen und Geknechteten“ geschaffen haben.

Die Riesenaufgabe, an deren Verwirklichung sich unser Jahrhundert abmüht, die Idee einer sich friedlich und mit Staatshilfe vollziehenden gesellschaftlichen Ausgleichung und Wiedergeburt, ist von den Alten nie auch nur geahnt, geschweige erfaßt worden. Auch der große Sklavenkrieg ist zunächst nicht aus dem Keime einer Idee herausgewachsen, er ist schlechterdings ein kraftvoller Rückschlag der Selbsthilfe des Gepeinigten gegen den Peiniger.




Truggeister.

Roman von Anton von Perfall.
(9. Fortsetzung.)


Endlich war der lang ersehnte Ballabend angebrochen. Bertl war den Tag über in nervöser Unruhe gewesen; aber das bange Gefühl, die Angst vor einem Mißlingen schwand immer mehr mit der vorrückenden Zeit, eine prickelnde, siegesbewußte Kampflust erfüllte sie, hob ihr ganzes Wesen und verlieh ihr doppelten Reiz.

Jetzt war alles bereit. Das ganze schimmernde Rüstzeug lag ausgebreitet in der engen Stube und bildete einen sonderbaren Gegensatz zu der bürgerlich einfachen, fast ärmlichen Einrichtung.

Frau Köhler und ihre beiden Töchter waren um Bertl beschäftigt, in der Ecke saß regungslos in stummer Bewunderung all der Herrlichkeiten Frau Margold, die große Hornbrille auf der Nase, die Augen feucht vor Rührung.

Lili ordnete die rothen Mohnblumen im schwarzen Haar Bertls, Therese steckte das duftige Kleid zurecht; keine Spur von Bitterkeit, von geheimem Neid spiegelte sich auf ihrem Antlitz, nur die reine Freude an der gelungenen Arbeit.

Bertl stand still, feierlich wie ein geschmücktes Opfer vor dem vom Photographen entlehnten hohen Standspiegel und zitterte vor ihrer eigenen Schönheit. Ein mächtiges Lebensgefühl durchströmte sie, machte ihre Pulse fliegen, gab ihrer weißen Haut eine herrliche blühende Farbe. Sie war überzeugt, daß die Frau Räthin bersten würde vor Neid bei ihrem Anblick. Aber was kümmerte sie die Frau Räthin – nur für Theodor wollte sie schön sein! Sie wollte ihn heute ganz und für immer in ihre Fesseln schlagen, und sie traute sich’s zu, sie war sich der ganzen Macht ihrer Weiblichkeit bewußt.

Kaum war das Kunstwerk vollendet, die letzte Nadel gesteckt, da riß Frau Margold das Fenster auf und ließ einen förmlichen Schlachtruf gegen die Werkstatt erschallen; das ganze Haus mußte ihre Bertl sehen, wie sie zum Balle ging. Die Schlossermeisterin war schon darauf vorbereitet, sie wartete nur auf den Ruf, der auch in den verschiedenen Küchenräumen vernommen wurde.

Alles drängte in die enge Stube, die Meisterin, der Meister, der alte Margold, dem es seit Wochen unheimlich war in seiner Wohnung, die Mägde aus den verschiedenen Stockwerken, die Freundinnen vom Brunnen.

Leises Flüstern, andächtiger Ausdruck der Bewunderung wurde hörbar. Die Augen auf ihre eigene Pracht gesenkt, die tadellosen Arme hochgehoben, die Wangen geröthet, so stand Bertl da und genoß den ersten Triumph des heutigen Abends. Selbst den alten Margold packte der Anblick, er war stolz auf sein schönes Kind und vergaß den Verdruß, den ihm die vielen Kosten und das seiner Ansicht nach schwindelhafte Eindrängen in die vornehme Gesellschaft bereitet hatten. Warum sollte das nicht eine Frau von Brennberg geben, eine gnädige Frau, was unterschied denn dies schöne Kind von den andern, Höhergestellten? Wo war da ein Merkmal niederer Geburt zu sehen? Es war am Ende doch wirklich ein altes Vorurtheil aus einer längst vergangenen Zeit, welches ihm diese Verbindung immer wieder, so oft er darüber nachdachte, unnatürlich erscheinen ließ.

Georg, der Sohn des Schlossermeisters Bergmann, ein kräftig gebauter Mann mit dem Anflug eines rothen Bartes um die frischen Lippen, war auch heraufgekommen, den Hammer noch in der Faust. Er stand unter der Thür, aber er schien sich wenig um die geschmückte, angestaunte Bertl zu kümmern, sein Auge ruhte sinnend auf Therese, deren bescheidenes, dunkles Kleidchen ganz umwallt war von der meergrünen Robe Bertls.

Die geschäftige Lili, die immer noch da und dort etwas zu bessern hatte, zupfte ihre Schwester lächelnd; Theresens Blick wandte sich nach der Thür, dunkle Röthe schoß den weißen Hals hinauf, die Schere entglitt ihren Händen.

„Respekt, Fräulein Therese, das ist eine feine Arbeit, das kann unsereiner auch beurteilen!“ unterbrach der junge Mann die feierliche Stille, indem er näher trat. „Aber man traut sich kaum, es anzuschauen, so dünn und fein ist das Zeug. Das wird eine Lustbarkeit werden, Fräulein Bertha! Warum geht denn die Frau Mutter nicht selber mit?“

„Das geht ja nicht, Herr Georg, in eine so feine Gesellschaft! Was glauben Sie denn! Da müßt’ ich mich gut ausnehmen!“ fiel Frau Margold ein.

Georg machte ein verdutztes Gesicht und sah auf den alten Margold, der den Blick zu Boden senkte und sich in den Haaren kraute.

„Ah so! Entschuldigen Sie, das verstehe ich nicht. Aber wissen Sie was, da mache ich einen Vorschlag: die Frau Köhler und ihre beiden Töchter kommen nachher zu uns hinunter. Die Mutter macht einen guten Punsch, der Bartl spielt uns eins auf der Zither und die Werkstatt ist der Tanzboden. Da werden der

[161]

Die Sennerin Mirl.
Nach einem Gemälde von Th. v. d. Beek.

[162] Herr und die Frau Margold auch nicht nein sagen. Was meinen’s dazu, Fräulein Therese? Gar fein ist es freilich nicht da drunten, aber es wäre doch auch eine kleine Faschingsfreude, meinen Sie nicht, Fräulein Therese?“

„Von Herzen angenommen, wenn die Mutter nichts dagegen hat,“ erwiderte Therese unter allgemeiner Zustimmung.

Bertl fühlte eine Regung des Mitleides: Therese, die mehr Berechtigung hatte als sie, diesen Ball zu besuchen, mußte sich mit der Einladung zu einer Tanzbelustigung in der Werkstatt begnügen! Wie hart doch das Schicksal ist! Bertl warf Therese einen bedauernden Blick zu.

„Trösten Sie sich,“ sagte sie, „ich werde der Frau Räthin keine Ruhe lassen, das nächste Mal müssen Sie mit.“

„Ich danke Ihnen,“ erwiderte diese. „Ich habe gar kein Bedürfniß danach, im Gegentheil, so zufällige gesellige Unterhaltungen im Haus sind mir viel lieber als glänzende Feste, wo ich doch als Fremde betrachtet werde. Sie würden der Frau Räthin nur lästig fallen damit.“

Georgs Antlitz leuchtete vor Vergnügen bei diesen Worten und er warf dem Mädchen einen dankbaren Blick zu.

Die Frau Räthin schickte herüber, es sei Zeit zur Abfahrt. Begleitet von der Schar der bewundernden Hausgenossen schritt Bertl über den Hof zur Räthin.

Diese konnte ihre unangenehme Empfindung nicht verbergen beim Anblick der in Schönheit strahlenden Bertha. Wie mager und kümmerlich nahm sich doch, mit Bertl verglichen, trotz der reichen Toilette ihre Irma aus. Der Rath verschwand neben seiner stattlichen Frau, deren schweres crêmefarbiges Stoffkleid ihre noch immer tadellose Figur vortheilhaft hob; nur das breite rothe Ordensband mit einem Kreuz in weißem Email und Gold, das er an seinem Halse trug, lenkte das Auge auf die schwarze unscheinbare Gestalt. Er hatte sofort das Unpassende in dem Antrag der Frau Margold erkannt, nachdem derselbe aber einmal angenommen war unter den obwaltenden Verhältnissen weiter nichts zu machen. Als er jetzt Bertha in der Fülle blühender Jugend erblickte, da schweifte sein Auge bekümmert hinüber zu Irma mit dem blutleeren Antlitz, dem krankhaft nervösen Zug um den kleinen zierlichen Mund und, was ihm am wehesten that, dem nüchternen kalten Blick gegenüber dem lebensvoll strahlenden, freudeerregten Berthas. Dort eine strotzende lachende Frucht, vollgereift am gesunden Stamm durch freie Sonnenkraft, hier eine früh kränkelnde, in erschlaffender Treibhauswärme aufgezogene Blüthe – und welche Opfer hatte er gebracht!

Endlich hatte die Frau Räthin die letzte Hand an ihre Toilette gelegt. Man stieg in den Wagen. Vom Hofe her tönten Accorde einer Zither, welche gestimmt wurde – das war Bartl, der Zitherspieler, der sich für den Abend rüstete. „Arme Therese!“ dachte Bertl wieder.

Der Rath sah nur noch mit dem Kopf aus den Wolken heraus, in welche seine drei Göttinnen ihn hüllten, selbst das rothe Band war begraben.

Frau Räthin gab unterwegs Verhaltungsmaßregeln, zupfte an Irma herum und besprach mit ihrem Manne, unter welchem Titel Bertha eingeführt werden sollte; man beschloß, sie als die Tochter eines wohlhabenden Gutsbesitzers auszugeben, der sein Anwesen mit einem Hause in der Stadt vertauscht habe und jetzt hier lebe. Die Mutter sei leidend, der Vater menschenscheu, ein zurückgezogenes Leben gewohnt.

Bertha empfand eine tiefe Scham bei diesen Auseinandersetzungen; das Bewußtsein eines häßlichen Betruges, der hier gespielt wurde, des Verrathes an ihren Eltern, an sich selbst, kam ihr und ein augenblicklicher Ekel erfaßte sie, Ekel an dieser verlogenen Welt, der sie entgegenfuhr. Ihre ehrliche Abkunft wurde wie ein Schandfleck durch eine Lüge verhüllt, dieser schon ergraute. gutmüthige Ehrenmann mit dem schönen Orden um den Hals fuhr mit seinem festlich gekleideten Weib zu einem Ballfeste und nahm das tief unter ihm stehende Gärtnerkind mit, um einen Aufschub seiner dem Vater schuldigen Miethe zu erreichen.

Lüge! Nichts als Lüge! Und im Dunkel des Wagens tauchte vor Bertl das kleine Häuschen an der Landstraße auf, der wohlgepflegte Garten, ihre Blumen, die einfache Mahlzeit an dem runden Tisch im Kreise der Ihren, die so vortrefflich schmeckte nach arbeitsvollen Stunden.

Da hielt der Wagen an einer elektrisch beleuchteten Halle. Ein reich galonnirter Diener öffnete den Schlag, mit einem raschen Sprung war Bertl draußen, die Vision verschwunden, vor ihr hob sich die breite teppichbelegte Treppe in strahlendem Licht wie die Jakobsleiter, von der sie gelernt hatte in der Schule zu Haching, und hinauf wallten plaudernd, lachend Damen in hellen Ueberwürfen, langen geheimnißvoll rauschenden Schleppen, Herren mit besternten Fräcken, in strahlenden Uniformen; schwere Wohlgerüche strömten herab, alles Licht, Duft, Glanz! Ein Zittern durchschauerte ihren Leib: dort oben hinter der riesigen Flügelthür, welche sich lautlos öffnete und schloß, wartete ihrer der Geliebte, um sie zu empfangen in seiner Welt, der sie einst auch gehören sollte.

Die Spiegelwände zu beiden Seiten strahlten ihr Bild zurück. War das wirklich sie, die Bertl Margold? Nein, sie war es nicht mehr, wie der bunte Falter die ärmliche Raupe nicht mehr ist, aus der er auferstanden.

Die Flügelthür schloß sich auch hinter ihr; ein Gewoge von Farben, Stoffen, Tönen und Düften nahm sie auf. Aber ihr Blick forschte nur nach ihm, nach Theodor. Warum empfing er sie nicht am Eingang des Paradieses?

Die Räthin und Irma waren sogleich von Bekannten umschwärmt, sie trafen von allen Seiten prüfende, fragende Blicke; sie sah die Paare, die Damen untereinander flüstern; eine beschämende Angst befiel sie: gewiß hatte man sie erkannt, „die Bertl vom Stande Nummer sieben“, und gleich wird eine an sie herantreten und sie hinausweisen aus diesen Räumen, in welche sie sich eindrängte.

Doch im Gegentheil: die Herren, welche ihr die Räthin zugleich mit Irma vorstellte, indem sie die unterwegs getroffene Abmachung Wort für Wort einhielt, waren überaus freundlich und galant gegen sie, ja, es entging ihr nicht, daß Irma um ihretwillen jetzt schon vernachlässigt wurde. Die Frau Räthin war bald von älteren Herren so in Anspruch genommen, daß sie die Jugend sich selbst überlassen mußte, der Herr Rath stand festgebannt in gekrümmter Linie vor einem Herrn, der einen großen glitzernden Ordensstern vorn an der Brust trug und mit Excellenz angeredet wurde. So befand sich Bertha auf einmal allein in dem eigenthümlich rauschenden, nur von gedämpften Lauten durchtönten Gewühle, aber sie fühlte sich durchaus nicht verlassen, sie dachte nicht mehr an die Vergangenheit wie im dunkeln Wagen; nur kam ihr jetzt plötzlich der komische Gedanke, alle diese geschmückten, geputzten Menschen hätten am Ende ihre Miethe nicht bezahlt wie die Räthin. Auch an Theodor dachte sie für den Augenblick nicht. Jede Befangenheit schwand, sie war sich bewußt, daß sie mit keiner Bewegung sich etwas vergab.

Unter den Herren herrschte große Aufregung. Einige hatten Bertha als die neue Schönheit erkannt, mit welcher Herr von Brennberg in Beziehung stand, zugleich erinnerte man sich aber auch der Auskunft, die er über sie gegeben hatte: ein reiches Bürgermädchen von tadellosem Rufe. Das klang sonderbar zurückhaltend; man fragte die Frau Räthin, mit welcher die Dame gekommen war, und auch ihre Erklärung machte den Eindruck des absichtlichen Verbergens. Warum kam das Mädchen nicht mit seinen Eltern? Die Ungewißheit schlug zu ihren Gunsten aus; ihrem Aeußeren, ihrem ganzen Wesen nach konnte man unmöglich auf die wahren Gründe ihres etwas geheimnißvollen Erscheinens kommen.

Der Name Margold klang zwar vielen bekannt, manche kannten das Mädchen selbst vom flüchtigen Sehen, doch in einer Großstadt wie M ... hatte dies nichts zu sagen. Man suchte schließlich in ihr etwas ganz Besonderes, eine reiche Erbin, die unerkannt bleiben wollte. Weiß Gott in welcher Ecke fielen die Worte: „aus Westindien, Amerika“ – wohl von einem Spaßvogel ausgesprochen – und im Nu machten sie die Runde; „etwas Ausländisches“ war den meisten „gleich an der Dame aufgefallen“.

Bertha hatte gewonnenes Spiel. Jede allenfallsige Unschicklichkeit, jedes ungehörige Wort, jede auffallende Gebärde, Dinge, die ja trotz ihres gesellschaftlichen Talentes nicht zu vermeiden waren, galten jetzt als pikant, echt westindisch oder amerikanisch.

Die Frau Räthin war empört über die unerwartete Wendung der Dinge. und in ihrem Aerger darüber war sie nahe daran, [163] alles zu verrathen; aber davor hütete sie sich doch, es stand für sie dabei zu viel auf dem Spiele.

Man wartete jetzt nur noch auf Herrn Lieutenant von Brennberg, welcher allein imstande war, nähere Auskunft zu geben. Daß er kam, war ja außer allem Zweifel, er wäre ja ein Thor gewesen, hätte er sich einen solchen Ausbund von Schönheit und Reichthum wegkapern lassen.

Und er kam, ahnungslos, seine Bertha als schüchterne Balldebütantin an der Seite der Frau Räthin vermuthend, absichtlich etwas später, um keinerlei Abmachung ahnen zu lassen. Wie erstaunte er aber, als er das entzückende Geschöpf erblickte, voll Anmuth, mit jener Sicherheit, die Schönheit und Geist verleiht, umschwirrt von Herren, die sich in Schmeicheleien erschöpften.

„Haben Sie die Westindierin schon gesehen – die Amerikanerin? Großartig! Ein Millionenweib!“ riefen ihm die einen zu; „jetzt müssen Sie heraus mit der Sprache, wir haben auch ein Recht darauf! Wer ist sie? Woher? O, Sie wissen alles, Sie täuschen uns nicht länger!“ drängten die andern.

Einerseits war es ihm peinlich, so wider seinen Willen in den Mittelpunkt der Gesellschaft gerissen zu sein; er hatte sich das Zusammensein mit Bertl heute abend ganz anders gedacht. Anderseits genoß er aber den Triumph Berthas mit, seinem Stolz war geschmeichelt und er war selbst hingerissen, bezaubert von der überraschenden Erscheinung.

Bertha war trotz aller Gewandtheit doch noch zu sehr Neuling auf diesem Boden, um, wie es sich gehört hätte, das mächtige Aufwallen ihres Herzens bei Theodors Anblick zu verbergen; sie las ihren Erfolg, ihren stürmischen Sieg in seinen Augen, und so traten sich beide mit verrätherischen Blicken, unter einer mächtigen Bewegung ihres Innern entgegen, welche die ganze Umgebung mitfühlte wie sich entladende Elektricität. Und das erregte Aufsehen, fast Anstoß.

Im Ballsaal ist jede Wahrheit, jedes echte Gefühl verboten. Und wenn es sich schon der feinen Sitte zum Trotz regt in einer Brust, so verlangt man doch wenigstens, daß keine Blutwelle es verräth. Man rümpfte die Nase. „Echt amerikanisch! Er wenigstens hätte sich mehr beherrschen sollen.“ Man fühlte sich überflüssig neben diesen beiden und zog sich zurück.

Bertha achtete nicht darauf, und sie lief Gefahr, im Sturm ihrer Leidenschaft sich ganz zu verrathen.

Der Tanz begann und nahm sie mit ihm auf seine Wogen – seliges Schweben, trunkenes Vergessen!

Ihr Auge leuchtete, ihr ganzer Leib athmete Lust; ja sie gab sich so sehr dem Vergnügen hin, daß es unangenehm auffiel, es fehlte ihr die gemessene Ruhe, die wohleingeschulte mädchenhafte Zurückhaltung ihrer Genossinnen, welche die im Innern angefachten Gluthen mit kühler Beherrschung bedeckt.

Jetzt zweifelte man erst recht nicht mehr an ihrem Ausländerthum, wie man schon den sonderbaren Empfang Herrn von Brennbergs auf diese Rechnung geschriebeu hatte; sie meinte es gewiß nicht so ernst, die Südländerinnen sind einmal so; man gewann wieder Hoffnung und war begierig, diese leidenschaftliche Tänzerin auch einmal im Arme zu haben, so eine Gelegenheit gab sich auf dem Beamtenballe lange nicht mehr.

Und Bertha war nicht spröde in ihrem Wonnegefühl, sie fand gar keine Zeit mehr, zu ihrer Beschützerin, der Frau Räthin, zurückzukehren, welche ihren Freunden und Verehrern gegenüber nicht verhehlte, wie sehr sie es bereue, in ihrer Gutmüthigkeit dieses Fräulein in die Gesellschaft eingeführt zu haben. Die Eltern seien brave anständige Leute, aber Parvenüs, die nicht hereinpaßten.

„Parvenüs!“ Da hatte man es ja: irgend ein steinreicher Pflanzer, ein Minenbesitzer, der einst als armer Teufel ausgewandert und jetzt goldbeladen zurückgekehrt war und seine alten Tage in Ruhe verleben wollte; es gelang der Räthin auch auf diesem Wege nicht, den Nimbus, der sich um Bertha gebildet hatte, zu zerstören. Die Tochter eines fraglichen Abenteurers, der an irgend einem Weltende durch irgend welche zweifelhafte Mittel sich Reichthum erworben hatte, erregte kein Bedenken, die „Gärtnerstochter aus Haching“ aber hätte einen Schrei des Entsetzens hervorgerufen, und diese drei Worte durfte die Frau Räthin um ihrer selbst willen nicht sprechen, so sehr sie ihr auf der Zunge brannten.

Als sich die Familie des Raths während der Tanzpause zum Essen begab, mußte nach Bertha erst lange gesucht werden; endlich kam sie, von Lieutenant Brennberg begleitet, welcher wohlweislich zuvor einige Touren mit Irma getanzt und so den Unmut über seine hinterlistige Verabredung mit Bertha, deren Werkzeug die Räthin gewesen war, beschwichtigt hatte; der Ansicht der letzteren nach beabsichtigte der junge Baron ja nichts anderes als eine oberflächliche „Liaison“ mit dem Bürgermädchen, nach Art aller Lebemänner, von ernstlicher Absicht konnte keine Rede sein. Ihr moralisches Gefühl war darüber nicht verletzt, und sie hätte ihm das alles gern verziehen, auch für die nächste Zeit ein Auge zugedrückt. wenn er zum Dank dafür ihre Irma zur Frau von Brennberg gemacht hätte.

Die Champagnerpfropfen knallten, die strenge Etikette lüftete etwas den grauen Mantel, und da und dort blitzte es darunter gar schelmisch auf.

Selbst der Herr Rath vergaß seine Sorgen und hörte auf, die Flaschen mit den rothen Köpfen, welche sich vor ihm schrecklich mehrten, zu zählen, selbst für ihn saßen frohe süße Hoffnungsgeister in den aus der Tiefe der Kelchgläser aufsteigenden Perlen und umschwirrten, aus ihrer Haft befreit, sein graues Haupt.

An seinem Tische herrschte das regste Leben. Er fühlte sich jetzt seit langer Zeit zum ersten Mal wieder frei auf der Brust, seine schöne Frau entzückte ihn wieder, er freute sich, sie so gefeiert, umschwärmt zu sehen, und für ein leises Zulächeln, einen Blick, ein Anstoßen vergaß er allen Kummer, den sie ihm bereitet hatte. Auch seine Besorgniß, daß die Mitnahme Berthas ihm Unannehmlichkeiten bereiten könnte, war geschwunden. Unzählige Herren mußte er ihr vorstellen, und die ewig wiederholte Lüge von der Gutsbesitzerstochter kam ihn gar nicht mehr schwer an.

Da tippte ihn plötzlich jemand auf die Schulter – er blickte um und fuhr jäh in die Höhe, sein glückliches Lächeln verschwand, das kümmerliche Amtsgefühl legte sich wieder in die Falten seines Gesichts.

Die Excellenz mit dem Stern, sein Minister, Graf Derwitz, sein höchster Vorgesetzter, stand vor ihm, ein stattlicher Herr mit schneeweißem, stramm gewichstem Schnurrbart; sein dunkles durchdringendes Auge blitzte in heiterer Weinlaune.

„Herr Rath, haben Sie die Güte und stellen Sie mich einmal Ihren Damen vor!“ sagte er, mit einem Blicke auf Bertha, der diese erbeben machte.

Schöpfte er Verdacht, wußte er am Ende alles? Ihn belügen, war gefährlich, ihm die Wahrheit sagen, noch gefährlicher, denn der Minister hielt alles auf die Wahrung des Standesbewußtseins unter seinen Beamten und war durchaus nicht demokratisch gesinnt.

Der Rath warf einen fragenden, verzweifelten Blick auf seine Gattin, als suchte er dort Hilfe. Aber sie achtete nicht auf ihn.

„Excellenz sind zu gnädig! Meine Frau – meine Tochter Irma –“ er machte eine Pause, vielleicht genügte das der Excellenz.

Vergebliche Hoffnung! Der Minister blickte immer noch auf Bertha, er mußte sie vorstellen.

„Fräulein Bertha Margold, eine Freundin meiner Tochter,“ stotterte er.

Die Excellenz ging geradenwegs auf das Mädchen zu, sie interessirte sich offenbar für die Erscheinung.

Bertha hatte keine Ahnung von der Bedeutung dieses Mannes und benahm sich infolgedessen ganz unbefangen. Das schien den Minister nur zu reizen; er nahm mit einer leichten Verbeugung neben ihr Platz, richtete der Form halber einige Worte an die Räthin und zog dann sofort Bertha ins Gespräch.

Der Rath saß wie auf Kohlen; der Orden brannte ihn auf der Brust, er sah ihn schon herabgerissen von diesem Manne mit dem weißen Schnurrbart, sich selbst pensionirt.

Jetzt erkannte auch die Räthin die Gefahr und suchte die Excellenz abzulenken – alles vergeblich.

Der vornehme Herr kehrte immer wieder zu Bertha zurück, drückte ihr seine Verwunderung aus, sie heute zum ersten Male in der Gesellschaft zu sehen, sie sei wohl erst seit kurzem in der Stadt; der Name klinge ihm bekannt.

(Fortsetzung folgt.)


[164]


Blätter und Blüthen.

Mondwechsel und Witterung. Es giebt noch immer Leute, welche nach dem Monde schauen und erwarten, daß sein Wechsel einen Witterungsumschlag bringen werde. Sie bleiben dabei mit ihren Prophezeiungen hinter Falb zurück, denn Falb hatte z. B. für das Jahr 1890 zusammen 125 kritische Tage angesagt, so daß er mehr Treffer erzielen mußte als die Mondwechselpropheten, die im Jahre 1890 nur 49 mal sich auf Mondwechsel berufen konnten. Dem Mond soll sein Einfluß auf das Wetter nicht geschmälert werden. Wie steht es aber mit der Beziehung des Mondwechsels zum Witterungsumschlag? Man hat sich schon vor Jahren die Mühe gegeben, alle in Berlin im Laufe von hundert Jahren gemachten Beobachtungen daraufhin zu prüfen, und fand folgendes: Bei Neumond änderte sich das Wetter 461 mal und blieb 674 mal gleich; beim ersten Viertel änderte es sich nur 409 mal und blieb 921 mal unverändert; bei Vollmond trat 475 mal Veränderung ein, aber 756 mal blieb das Wetter dasselbe, und beim letzten Viertel beobachtete man 398 mal eine Veränderung und 838 mal keine; d. h. der Witterungsumschlag trat bei Mondwechsel in 100 Jahren 1743 mal ein und 3189 mal nicht ein. So verhielt sich der Mond im achtzehnten Jahrhundert, und ebenso verhält er sich im neunzehnten Jahrhundert, aber es wird noch im zwanzigsten Jahrhundert Menschen geben, welche dem Mondwechsel gar geheime Kräfte zuschreiben werden. *     

Der Tod des Grafen Ernst von Mansfeld. (Zu dem Bilde S. 153.) Er war ein Mann, groß geworden im Kriegshandwerk, der richtige Sohn einer waffenklirrenden Zeit. In Deutschland und Italien, Ungarn und den Niederlanden, überall wo es Händel gab, hat er gefochten und alle Höhen und Tiefen des Soldatenlebens am eigenen Leibe kennengelernt. Die Wogen des Dreißigjährigen Krieges warfen den gefürchteten Söldnerführer hin und her, vor seinen Banden zitterten bald Böhmen, bald das Elsaß, bald die friesische Küste oder die Oberpfalz.

Sein letzter Kriegszug war sein abenteuerlichster. Am 25. April 1626 von Wallenstein an der Dessauer Brücke geschlagen, warb er mit fast zauberhafter Schnelle, unterstützt durch französische Hilfsgelder, in der Mark Brandenburg ein neues Heer von 12000 Mann, zog 5000 Dänen unter Ernst von Weimar an sich und brach mit diesem in aller Heimlichkeit aus seinem Hauptquartier zu Havelberg auf, um in die Erblande des Kaisers einzufallen und Wallenstein von dem in Niedersachsen stehenden dänischen Hauptheere abzuziehen. Aber die Uneinigkeit der beiden Führer führte wiederholt zu Trennungen, und Mansfeld zog schließlich allein, von den Truppen des Friedländers stetig verfolgt, bis nach Ungarn, wo er sich mit Bethlen Gabor vereinigte. Als aber dieser seinen Frieden mit dem Kaiser machte, war Mansfeld wieder auf sich selbst angewiesen. In dieser Noth entließ er sein Heer und faßte den Plan, sich mit wenigen Begleitern durch türkisches Gebiet nach Venedig und von dort weiter nach Savoyen, Frankreich oder England zu retten. Aber es kam anders; in einem bosnischen Dorfe – die Berichte lassen nicht genau erkennen, wo – erkrankte er, so daß er die Weiterreise einstellen mußte. Als er – es war im November 1626 – sein Ende herannahen fühlte, da raffte er sich von seinem Krankenlager auf, ließ sich Kleider und Harnisch anlegen und von zwei Dienern ans Fenster führen. Hier erwartete er stehend, auf die Schultern seiner Getreuen gestützt, mannhaft den Tod, der ihn auch bald ereilte. Sein Leichnam wurde nach Spalato in Dalmatien gebracht und dort begraben.

Das Spuckfläschchen – nichts Neues! „Es ist schon alles dagewesen; es giebt nichts neues unter der Sonne!“ Dieser Spruch des weisen Ben Akiba trifft auch auf das Spuckfläschchen zu, welches wohlmeinende Aerzte jetzt einführen möchten. Bekanntlich ist der eingetrocknete Auswurf der Lungenschwindsüchtigen eine der vornehmsten Ursachen der Ansteckung und Verbreitung der Seuche. Darum eifern die Aerzte gegen die Unsitte der Lungenkranken, ins Taschentuch zu spucken, und verlangen entschieden, daß der bacillenhaltige Auswurf noch im feuchten Zustande vernichtet werde. Man kann diese Mahnung nicht oft genug wiederholen! Einige Aerzte empfehlen nun, daß Lungenkranke Spuckfläschchen bei sich tragen. Manchen erscheint eine solche Neuerung undurchführbar – aber das Spuckfläschchen ist nicht einmal eine Neuerung! Marco Polo aus Venedig, der gegen das Ende des 13. Jahrhunderts Asien bereiste, sagt über die Chinesen: „Bequemlichkeit, Sauberkeit, Ruhe, Ordnung geht den Chinesen über alles. Bevor sie die Halle betreten, legen sie die Stiefel, in denen sie gekommen sind, ab und ziehen andere von weißem Leder an, um die schönen Teppiche nicht zu beschmutzen. Auch führt jeder einen zierlichen Spucknapf bei sich, in welchen er spuckt, denn niemand wagt es, den Boden zu verunreinigen, und hat er in das Gefäß gespuckt, so legt er den Deckel wieder darauf und macht eine Verbeugung.“ *     

Die Sennerin Mirl. (Zu dem Bilde S. 161.) „Kreuzdividomine!“ sagen die Burschen der ganzen Gegend, wenn der Mirl Name genannt wird. Das besagt im gebirglerischen Deutsch so viel als der „Superlativ der Bewunderung“ in der Gelehrtensprache. Dem Geißbuben wie den Holzknechten und dann die Rangleiter hinauf bis zum reichen Jungbauernsohn pocht das Herz, wenn sie auf die Himmelreichalm kommen. Hat auch seinen Grund, das Herzklopfen! Einem so bildsauberen Dirndl kann man nimmer begegnen im Oberland, für wirkliche Schönheit ist der Gebirgler von Geburt auf äußerst empfänglich. „Zu der Mirl in Hoa(n)garten gehen,“ das ist der Inbegriff des Herrlichsten geworden, was es im Oberlande giebt. Aber die Sache hat ihre Haken. Mit dem Hinaufgehen auf die Himmelreichalm ist’s nicht allein gethan. Der Bergwanderer muß, wenn’s kein Fremder ist, schon der schönen Mirl auch zu Gesicht stehen und darf bei Leib nicht glauben, solch ein Almröserl wachse für einen jeden. Nein, es „wachst“ vorderhand überhaupt nicht für einen andern, und der Rechte zum „Almröserlbrocken“ ist noch nicht gekommen. Aber glücklich ist ein jeder, wenn er nur einen guten Morgen geboten bekommt auf der Himmelreichalm. Ja, die Alm hat was vom Himmel, seit die Mirl droben ist als Sennerin! Und ihr Schmarrn, o, wie gut schmeckt der, vom Rahm gar nicht zu reden, den man dazu kriegt als Trank! Und wie sauber ist die Alm, seit die schöne Mirl heroben haust! Wohl ist sie die Bauerntochter selber, aber deswegen greift sie doch die Arbeit an wie die geringste Magd; Arbeit schändet nicht, und deshalb geht die Mirl auch in der landesüblichen Zwilchhose zum Melken. Bloß erlaubt sie sich als die reiche Bauerntochter, den ersten Rahm für ihren Kaffee abzuschöpfen. Daß der Kaffee bei der Mirl der beste ist auf drei Stund’ im Umkreis, das wissen alle Burschen, und es versteht sich von selber. Und ’s Vieh erst! Das ist eine Rasse, der Stolz des Eigenhoferbauern und der Mirl auch. Man muß es sehen, mit welcher Liebe die Sennerin es pflegt und wie die Blaßl, ’s Scheckl etc. an ihr hängen. Die beste Sennerin weit und breit wird neidlos die schöne Eigenhofer Mirl allerwärts genannt, und wahr ist’s auch – Kreuzdividomine! Arthur Achleitner.     



Inhalt: Eine unbedeutende Frau. Roman von W. Heimburg (9. Fortsetzung). S. 149. – Ernst Julius Hähnel- Bildniß. S. 149. – Die Noth der Weber in der Grafschaft Glatz. S. 152. – Der Tod des Grafen Ernst von Mansfeld. Bild. S. 153. – Der Zonentarif. S. 155. – Ernst Julius Hähnel. Von Friedrich Offermann. Mit Abbildungen S. 149 und 157. – Ein Sklavenaufstand vor zweitausend Jahren. Von J. Mähly. S. 158. – Truggeister. Roman von Anton von Perfall. (9. Fortsetung). S. 160. – Die Sennerin Mirl. Bild. S. 161. – Blätter und Blüthen: Mondwechsel und Witterung. S. 164. – Der Tod des Grafen Ernst von Mansfeld. S. 164. (Zu dem Bilde S. 153.) – Das Spuckfläschchen – nichts Neues! S. 161. – Die Sennerin Mirl. S. 164. (Zu dem Bilde S. 161.)


In dem unterzeichneten Verlage ist soeben erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:

W. Heimburg’s
Gesammelte Romane und Novellen.
Illustrierte Ausgabe.
Erster Band: „Aus dem Leben meiner alten Freundin.“

Die Band-Ausgabe von W. Heimnurg’s Schriften erscheint vollständig in 10 Bänden
à 3 Mark elegant geheftet, 4 Mark elegant gebunden.


Inhalt: Aus dem Leben meiner alten Freundin. – Lumpenmüllers Lieschen. – Kloster Wendhusen. – Ursula. – Ein armes Mädchen. – Das Fräulein Pathe. – Trudchens Heirat. – Im Banne der Musen. – Die Andere. – Unverstanden. – Herzenskrisen. – Lore von Tollen. – Aus meinen vier Pfählen. – Nachbars Paul. – Am Abgrund. – Unsere Hausglocke. – Unser Männe. – Jascha. – In der Webergasse. – Großmütterchen. – Auf schwankem Boden u. s. w.

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Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

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