Die Gartenlaube (1891)/Heft 9
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Nr. 9. | 1891. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Eine unbedeutende Frau.
Während die Gesellschaft in den eleganten Räumen Barrenbergs bunt durcheinander wogte, saß Antje ganz allein an einem Marmortischchen und blätterte in einem Jagdalbum. Sie wäre so gern daheim geblieben, aber sie hatte keinen stichhaltigen Grund zu diesem Verlangen. Ihre Mutter weilte nicht mehr auf Sibyllenburg, die saß einsam in dem alten Herrenhause in der Heimath, und das Kind war noch so klein. Antje hatte ihm nachmittags, als sie aus der Stadt zurückgekehrt war, ein Bäumchen angezündet, und vorhin, als sie fort fuhr, da hatte es sich schon müde gespielt und schlief, sie brauchte daher nicht zu Hause zu bleiben. So war sie denn hier, einsamer noch als die ferne Mutter, mit ihrem schweren, bewegten Herzen. Das Lachen und Plaudern um sie her hörte sie nicht, die vielen Menschen sah sie nicht, – sie blätterte in dem Buche und erblickte doch nichts weiter als immer dasselbe, was sie seit heute früh vor Augen hatte: ein schönes Mädchengesicht, zwei kleine Hände, die einen Hut zurechtrückten auf dunklem seidigen Haar, und – die eine Hand war ohne Handschuh. Dann sah sie wieder Leo und sah einen winzigen Handschuh, der aus seiner Tasche fiel, und hörte sein kurzes, befangenes: „Wie komme ich denn dazu?“
Antje war thöricht, recht thöricht! Sie schalt sich selbst so und konnte dennoch nicht loskommen von ihrem Grübeln, von dieser kleinen, an sich so unbedeutenden Geschichte. Sie wünschte, sie dürfte eine Menschenseele ihr eigen nennen, der sie vertrauensvoll sagen könnte, was sie quälte, die ihr ins Gewissen reden, die ihr vorhalten würde: „Antje, auf welch häßlichen Wegen schickst Du Deine Gedanken spazieren“ – – Wenn sie sich nur ein Herz fassen könnte, zu ihm selbst zu reden! Aber ein merkwürdig beklommenes Gefühl überkam sie bei der Vorstellung, wenn sie ihn fragen würde: „Leo, sei nicht böse, mir ist so angst – ich – lache mich nur aus, ich bin, glaube ich – ein wenig eifersüchtig auf die kleine Spanierin – – sag’ mir einmal, daß das alles dummes Zeug ist –“
Sie ward bei diesem Gedanken glühend roth, ihre Finger zitterten und das Herz klopfte ihr, als würde sie von jemand über etwas Unrechtem ertappt.
„Wie ist’s denn, Frau Antje,“ ertönte da die Stimme Maibergs neben ihr, „ich fand noch gar nicht Gelegenheit, Sie zu fragen, was Leo zu dem Verkaufe seines Bildes gesagt hat?“
Sie sah ihn überrascht an. „Hat denn Leo diese Nachricht schon bekommen?“
„Ja freilich! Heute früh.“
Antje fühlte ihr Herz plötzlich stillstehen, und ihre Augen waren groß und starr geworden.
[134] „Er sagte mir kein Wort davon,“ kam es fast heiser von ihren Lippen.
Maiberg verwünschte sich selbst, daß er sie gefragt hatte; ganz verlegen stand er vor der jungen Frau. „Er wird es schon noch melden,“ zwang er sich zu scherzen, „vielleicht will er Sie mit der Nachricht überraschen. Aber, hören Sie doch, es klingelt, die Bescherung geht an – – es ist doch eine eigenthümliche Idee, sich an solchem Abend mit einer Herde fremder Menschen zusammentreiben zu lassen – ich hatte es mir so anders gedacht!“
Sie antwortete nicht. Wieder hatte sie jenes Automatenhafte an sich, als sie neben ihm den saalartigen Raum betrat, in dem ein strahlend heller Baum erglänzte. Maiberg, der sie verstohlen beobachtete, erschrak fast über den Ausdruck ihrer Augen. Sie stand dann zwischen den andern und hörte das scherzhafte Gedicht an, das Melly Benken als Engel mit großen weißen Flügeln, auf einer Erhöhung stehend, deklamirte. Aber Antje vernahm nur den Klang der Worte, den Sinn faßte sie nicht. Ihre Finger umschlossen später einen kleinen Gegenstand, den ihr besagter Engel in die Hand gelegt hatte; sie danke auch dafür und wußte es kaum. In ihr klang es nur immer wieder: „Er sagt mir nichts – mir! Ich besitze sein Vertrauen nicht, ich bin ihm nichts mehr, gar nichts, war ihm vielleicht nie etwas!“ Und dann überkam sie eine unsagbar schmerzliche Sehnsucht nach ihrer Mutter, nach der Vergangenheit, nach dem Frieden ihrer Jugend. Mitten unter diesem Lachen, Sprechen, Jubeln sah sie sich eintreten in die traute Stube daheim, um der alten Frau in die Arme zu flüchten – „Mutter, da bin ich wieder!“
„Darüber wird sich Leonie freuen,“ sagte eine Stimme zu ihr, und Maiberg hielt ihr lächelnd eine drollige Gummipuppe hin, die der Weihnachtsengel ihm in die Hand geschoben hatte.
Leonie! Ihre Kleine! – Der Bann war gebrochen; dankbar blickte sie den Sprecher an.
„So ist’s recht!“ lobte er. „Was haben Sie denn da?“ Sie sahen jetzt beide auf ein keines Spinnrad aus Elfenbein und lasen den Zettel, der daran hing. Da stand:
„Ein Weib, das spinnen und kochen kann,
Beglückt am meisten ihren Mann.“
Antje lächelte; es war die Handschrift der Baronin, und Antje kannte deren gelegentliche Ausfälle gegen das „Hausfrauengethue“, wie sie es nannte.
Die Stimmung war durch den Champagner eine sehr lustige geworden; Maiberg stand und saß wie eine Schildwache neben Antje. Leo Jussnitz hatte eine Puppe, als Spanierin angezogen, bekommen und ein boshaftes Verschen dazu, das er rasch zerriß; eben näherte er sich seiner Frau.
„Entschuldige, Antje,“ sagte er und nahm Maiberg am Arm „Bitte,“ sprach er dann außer dem Bereich ihres Ohres zu diesem, „stehe nicht ewig neben meiner Frau, sie lernt sonst nie, selbständig zu sein, und außerdem ist die Baronin boshaft.“
„Ich wüßte nicht, was ihre Bosheit mit Deiner Frau und mir zu schaffen hätte?“
„Ich habe sie eben verspürt – damit genug! Die Baronin ist überhaupt von einer fürchterlichen Stimmung, verlangte eben allen Ernstes von mir, ich sollte heute abend das Bild der Spanierin hier zeigen – wer um alles in der Welt mag sie auf diese neue Laune gebracht haben!“
„Laß es doch holen!“ gab der Doktor gleichmüthig zur Antwort.
Leos Gesicht färbte sich purpurroth. „Ich will nicht!“
„Aber warum tust Du denn überhaupt so heimlich mit dieser Arbeit?“ forschte Maiberg. „Heute früh wärst Du am liebsten grob geworden gegen Deine Frau und mich, als wir kamen, und wärest es sicher auch geworden, hätten wir die junge Dame noch oben bei Dir getroffen.“
„Ich liebe keine Störungen, am allerwenigsten durch Antje.“
„Hm!“
„Wie?“
„Ich meinte eben – sag’ mal, Leo, weß Geistes Kind ist denn dieses hübsche Mädchen?“
„Eine Landsmännin aus Altwedel, die Tochter unseres Nachbars; ich kannte sie, als sie vier Jahre alt war. Allerdings ist sie hübsch, sonst würde ich sie nicht malen.“
„Deine Frau und sie schauten sich an, als hätten sie noch nie etwas von einander gewußt.“
„Das ist auch durchaus nicht erforderlich; ich male das Mädchen, und damit gut!“
„Leo,“ flüsterte Maiberg und zog den sehr verdrießlich Aussehenden in eine Fensternische. „nimm es auf, wie es gemeint ist, als das Wort eines rechtschaffenen Freundes: fange keine Romane an wie früher!“
„Was fällt Dir ein?“ brauste Jussnitz auf.
„Sag’, Leo, weiß die Kleine, daß Du verheirathet bist?“
„Wozu denn? Ich habe ihr nichts von meinen Privatverhältnissen erzählt, absichtlich nicht; ich würde dann nicht umhin können, sie Antje vorzustellen, und das will ich nicht. Du kennst die Gründe.“
„Aber, Leo, Du bist doch der gewissenloseste Kerl, den die Welt trägt! Denkst Du denn nicht daran, daß Du bei dem täglichen Verkehr mit so einem jungen Ding, das kaum das Köpfchen aus dem heimischen Neste gesteckt hat, ein – –“
„Nun, was denn?“ fragte Jussnitz.
„Daß sie zum Beispiel eine unglückliche Neigung zu Dir fassen könnte, Dich – –“
„Dagegen würde meine Vermählungsanzeige sie auch nicht schützen.“
„Das möchte ich denn doch nicht behaupten, mein Bester,“ antwortete Maiberg.
„Nun, sie kann sich ja, bevor sie ihr Herz an mich verschenkt, nach mir erkundigen,“ erwiderte verdrießlich Jussnitz, dem Freunde den Rücken wendend und sich zu der Baronin niederbeugend, die ihm herausfordernd die Hand hinhielt und sagte:
„Wetten Sie, daß ich Ihnen morgen ganz genau sagen kann, wie groß das Bild ist, das Sie jetzt malen, wie Ihre Spanierin dasteht, von welcher Farbe das spitzenbesetzte Röckchen ist – wetten Sie, Herr Jussnitz?“
„Ich kann doch unmöglich eine Wette halten,“ erwiderte er, „von der ich überzeugt bin, daß Sie sie verlieren!“
„Ich verliere nicht!“
„Nun, schön! Um wie viel Uhr morgen früh soll ich das erfahren, Baronin?“
„Bestimmen Sie!“
„Um sechs Uhr.“ sagte er scherzend.
„Angenommen! Bitte, Ihre Hand – Barrenberg, schlag’ durch!“
„Was ist der Preis der Wette?“ fragte Barrenberg, der hinzutrat.
„Irgend ein nettes kleines Geschenk,“ erwiderte die Baronin lächelnd. „Wie wär’s, Jussnitz, mit einer Kopie von dem besagten Gemälde? Ja – das wollen wir festhalten!“
Und damit tauchte die kleine weiße Gestalt wieder in dem Schwarm der Gäste unter. Im Nebenzimmer begann jemand einen Straußschen Walzer zu spielen, und schon im nächsten Augenblick tanzte Nelly Benken mit Lieutenant Osten, und die übrigen folgten mit der Hingebung, wie eben nur die Jugend tanzt.
Es mochte vielleicht eine Stunde verflossen sein, als die Musik mitten in einem Ländler jäh abbrach. Antje, der sich die redselige alte Obristin in grünem Sammet zugesellt hatte, um ihr von der traurigen Thatsache zu erzählen, daß sie drei Männer begraben habe, achtete gar nicht auf das Sprechen ihrer Nachbarin; es war ihr unverständlich wie das Murmeln eines Springbrunnens. Da verstummte auch die Frau in Grün und die Stimme der Baronin klang aus dem Nebenzimmer herüber, hastig, aufgeregt:
„Bitte, meine Herrschaften, alle hier herein, die Jugend will lebende Bilder improvisiren – nur einige, und ganz rasch, noch vor dem Essen!“
Die alte Dame schob ihren Arm in den Antjes. „Kommen Sie, Frau Jussnitz, das ist so mein Fall, oder – wirken Sie selbst mit? Dann freilich –“
„Nein,“ sagte Antje, neben ihr gehend.
Da innen hatte man die sehr breiten Flügelthüren nach einem dritten Gemache geschlossen; die jungen Mädchen und einige Herren waren dahinter geschlüpft, man hörte Lachen und Kichern. Ein Diener rückte der Thür gegenüber die Stühle zurecht für die Zuschauer, unter denen sich auch Jussnitz und Maiberg befanden. Vorn in der ersten Reihe saß Antje zwischen der Generalin und der jungen eleganten Witwe des Jagdfreundes, die ganz offen aussprach, daß diese improvisirten Bilder und Charaden ihrer Erfahrung nach meistens recht kläglich auszufallen pflegten.
[135] „Finden Sie nicht auch?“ fragte sie Antje.
„Ich habe selten Gelegenheit gehabt, derartiges zu sehen,“ erwiderte diese.
„Ich beneide Sie,“ seufzte die schöne Frau, „man wird hier in den Gesellschaften förmlich überfüttert damit.“ –
Die Flügelthüren öffneten sich und zeigten erst ein Weihnachtsbild, wobei der Engel Melly wieder seine Rolle spielte.
Dann kam eine Lurley, die auf einer Sofalehne saß und von dort hinunterschaute zu Lieutenant von Osten, der in einer großen altdeutschen Truhe ruderte. Nelly Benkens Goldhaar war dabei reizend zur Geltung gebracht und trug dem Bilde ein lautes „Bravo!“ ein.
„Spanische Tänzerin nach Jussnitz!“ verkündigte jetzt die Stimme der kleinen Baronin.
Jussnitz zuckte lächelnd die Schultern und blickte Maiberg an. „Es ist doch –“ Was er noch sagen wollte, blieb ihm in der Kehle stecken, denn dort stand ja –
Ein Ah! der Bewunderung flog durch das Zimmer, dann eine Pause stummen Schauens, Bewunderns. Nur Antje wandte die Blicke von dem Frauenbild ab und schaute zu ihrem Mann hinüber; der hatte den Kopf etwas vorgebogen und starrte das schöne Geschöpf dort an, überrascht, entzückt.
Hildes leichte Gestalt hob sich von einem Hintergrunde dunkler Blattpflanzen ab. Sie stand etwas erhöht, genau so wie auf dem Bilde, die Linke in den Falten des blaßgelben Röckchens, den Fächer in der Rechten; den Oberkörper halb zurückgewandt, zeigte sie dem Beschauer voll ihr schönes Antlitz mit den verschleierten, dunkeln, lockenden Augen; hinter den rothen lächelnden Lippen blitzten die kleinen weißen Zähne hervor. Regungslos stand sie da, nur die Ohrringe zitterten leise und verkündeten die mühsam beherrschte Ruhe.
Langsam schlossen sich die Flügelthüren wieder, und nun brach der Jubel über das Gesehene hervor. Vorläufig erntete die Baronin alle Komplimente und wurde mit Fragen bestürmt; aber sie schien nicht Zeit zu haben, dieselben anzuhören, sie eilte zu Jussnitz. „Helfen Sie mir Fräulein von Zweidorf überreden, daß sie zum Essen dableibt – sie weigert sich!“
Er folgte ihr willenlos. „Baronin,“ sagte er, „warum thaten Sie mir das an?“
Sie schob ihn ohne weiteres in das Zimmer, wo Hilde wie erschöpft auf einem Fauteuil saß.
„Ich danke Ihnen, es ist besser, ich gehe,“ erwiderte sie schroff auf das neue Zureden der Baronin, „meine Tante erwartet mich; bitte, lassen Sie mich fort!“
„Sie haben recht, Fräulein von Zweidorf,“ sagte Jussnitz hinzutretend, „ich werde Sie nach Hause begleiten. Wie um alles in der Welt ist es gekommen, daß Sie hier diese – Gastrollen geben, in einem Kreise, in dem Sie niemand kennt?“
Das Mädchen blickte ihn trotzig an und schwieg.
„Seien Sie doch kein Spielverderber, Jussnitz,“ bat Barrenberg, „bei Gott, es sieht komisch aus, wenn Sie Fräulein von Zweidorf veranlassen wollen, jetzt fortzugehen.“ Und ihn beiseite ziehend, raunte er ihm zu: „Begreifen Sie doch, meine Cousine kommt in den Verdacht, eine durchaus nicht gesellschaftsfähige Schönheit eingeschmuggelt zu haben, und das ist mir meiner Gäste wegen höchst unangenehm.“ Und kurz entschlossen trat er zu Hilde, bot ihr den Arm und sagte: „Gestatten Sie mir, daß ich Sie mit den Herrschaften bekannt mache.“
Antje stand währenddem inmitten eines Kreises Neugieriger.
„Ich bitte Sie, Frau Jussnitz, warum haben Sie uns noch nie mit diesem Stern bekannt gemacht?“ fragte Lieutenant von Osten schmollend.
„Ist sie verwandt mit Ihnen?“ forschte die Schauspielerin.
„Mein Gott, welche Ueberraschungen die Baronin ausdenken kann! Waren Sie im Komplott, Frau Jussnitz?“ rief ein anderer.
„Es war eben ein Scherz, wie ihn die gute Erlach liebt,“ sagte die schöne Witwe und zuckte die Achseln, „wer fragt danach, auf welche Weise sie ihn zum Gelingen gebracht hat! - Vielleicht ist es ihre Schneiderin, oder irgend jemand derartiges!“
Die vier Generalstöchter nickten einander bedeutungsvoll zu, als wollten sie bekräftigen, was da eben gesagt worden war. Melly Benken aber sprach ganz offen aus, daß es wahrscheinlich Papa nicht ganz angenehm sein werde, wenn er erfahre, daß Nelly der Cousine Erlach bei einem ihrer tollen Streiche geholfen habe. „Papa war so dagegen, daß wir herfuhren,“ schloß sie, „nun haben wir es! Hoffentlich bringt Onkel die Spanierin schleunigst wieder dahin, wo Irene sie hergeholt hat.“
Antje blieb ganz stumm. Aus ihrem Schweigen glaubte man annehmen zu können, daß auch sie irgend etwas nicht in Ordnung finde.
Da theilte sich der Kreis, und Hilde von Zweidorf erschien am Arme Barrenbergs, bleich, aufgeregt, mit starrer Kopfhaltung, und ihr Kostüm nahm sich in diesem Augenblick kokett, komödienhaft aus.
Antje hielt mit beiden Händen ihren Fächer umklammert, wieder wie heute früh fanden sich die Blicke jener beiden, groß und forschend, und nun flüsterte Leo seiner Frau ins Ohr: „Ich bitte Dich, nimm Dich des jungen Mädchens anl“
„Thue es nicht! Thue es nicht!“ rief es in ihr, „drehe ihr den Rücken zu, und sie ist unmöglich, unschädlich für immer!“ Einen Augenblick, einen kurzen Augenblick nur stand sie, den Kopf stolz zurückgebogen, Hilde gegenüber, sie sah die eigenthümlichen Mienen der Gäste, mit denen sie das Mädchen betrachteten, sah, wie Osten keck das Monocle ins Auge klemmte und wie die Obristin die Lorgnette am langen Stiel zur Hand nahm – und im nächsten Augenblick war Antje einige Schritte auf Hilde zugetreten und hatte ihre Hand ergriffen.
„Ich freue mich herzlich, Sie heute abend wiederzusehen, liebes Fräulein; Sie haben uns allen, und besonders meinem Mann und mir, eine reizende Ueberraschung bereitet – nicht wahr, Leo?“ Sie wendete das über diese Lüge erröthete Gesicht ihrem Gatten zu.
Er betheuerte, das sei ihm ganz aus der Seele gesprochen, und erzählte, daß er Fräulein von Zweidorf bereits gekannt habe, als sie erst so groß – er wies mit der Hand einen halben Meter über ben Erdboden – gewesen sei.
Die beiden Damen standen noch Hand in Hand, aber Hilde hatte die Augen niedergeschlagen vor dem Blick der jungen Frau. Erst der Diener, welcher meldete, daß aufgetragen sei, brachte Leben in diese Gruppe.
Jussnitz und Osten erschienen gleichzeitig vor Hilde, um ihr den Arm anzubieten, Jussnitz mit nervösem Gesicht, Osten mit jener eifrigen Ritterlichkeit, vermöge welcher gutherzige Menschen ein Unrecht sühnen wollen, auch wenn sie es nur gedacht haben. Hilde schlug die Augen nicht empor; sie trat einen Schritt zurück und erfaßte dort wie tastend einen Arm, der sich ihr gar nicht geboten hatte. Verwundert blickte Maiberg zu der kleinen Hand hinunter, die ihn berührte. Dann lächelte er, bettete sie behutsam auf seinen schwarzen Tuchärmel und ging neben ihrer Besitzerin, die schüchtern wie eine Bachstelze trippelte, in den Speisesaal. Osten folgte ihnen auf dem Fuße, um wenigstens den andern Platz neben ihr zu gewinnen.
Jussnitz saß neben der Baronin; sie blitzte ihn listig an mit ihren dunklen Augen.
„Sie haben Fräulein von Zweidorf keinen Dienst geleistet,“ sagte er kurz.
„Pah!“ erwiderte sie laut, sich von ihm abwendend und Antje ansehend, „man muß nicht alles für sich allein haben wollen, lieber Jussnitz. – Sagen Sie mir, Frau Jussnitz, wo hielt denn Ihr Mann Fräulein von Zweidorf versteckt? Haben Sie auf Sibyllenburg heimliche Verließe?“
„Sie werdett es ja wissen, liebe Baronin,“ erwiderte Antje „da Sie die junge Dame herführten.“
Die Baronin lachte, daß ihr die Thränen in die Augen traten. „Lassen Sie es sich nur von ihr selbst erzählen, wo ich sie entdeckt habe.“
Antje antwortete nicht. Sie sprach mit ihrem Nachbar weiter, aber ihr war so schwindlig, daß sie nicht wußte, was sie sagte und tat; nur das eine hatte sie klar erkannt: sie durfte jener Fruu da drüben um keinen Preis zeigen, wie ihr zu Muthe war.
Endlos dünkte sie dieses Essen, und so ausgelassen lustig auch alle waren, Antje war es nicht und Hilde auch nicht. Der mochte es gehen wie Antje. Mein Gott, welch ein unseliger Sturm hatte sie hierher verschlagen!
Und endlich, endlich hatte man das Eis gegessen, die Knallbonbons verpufft und man rückte nun die Stühle. Antje schlüpfte unbemerkt in den Ankleideraum und beauftragte einen Diener, ihren Mann zu rufen.
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[137] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.
[138] Er kam, verdrießlich und mißgelaunt. „Du willst fort?“ fragte er.
„Ja!“ antwortete sie.
„Ich muß vorher noch Fräulein von Zweidorf nach Hause begleiten.“
„Du?“
„Wer sonst?“
„Gut!“ sprach sie fest, „aber gestatte, Leo, daß ich mitfahre und dann gleich weiter mit Dir, ich bin nicht imstande, länger hier zu bleiben.“
Er lachte kurz auf. „Wenn es Dir Vergnügen macht!“ antwortete er, „ich werde auch Maiberg noch zu dieser Extrapartie einladen.“
Sie erröthete jäh; in diesem Augenblick hatte sie nicht an Eifersucht gedacht, sie empfand nichts weiter, als das Verlangen von hier fort zu kommen.
Nach wenigen Minuten saßen sie in dem Landauer. Antje fühlte noch die leise schmeichelnde Abschiedsberührung der Baronin auf ihrem Arme. „Es ist wirklich außerordentlich nett von Ihnen, Frau Jussnitz, daß Sie so mütterlich für die Kleine sorgen.“
Alle Rechte vorbehalten.
Unschuldig verurtheilt!
Von den Opfern falscher Anzeigen sind sicher diejenigen die bemitleidenswerthesten, denen das eigene Kind als falscher Zeuge entgegentritt. Nachdem wir unseren letzten Artikel (Nr. 1 dieses Jahrgangs) mit einem Fall beschlossen, wo der Leichtsinn von ein paar Schulmädchen genügt hatte, um einen Unschuldigen durch falsche Aussage in Schmach und Unglück zu bringen, beginnen wir heute mit einem Beispiel, das ein Kind als falschen Ankläger der eigenen Eltern zeigt. Diese Art Fälle sind keineswegs so selten, wie man glauben sollte; schon in Hexenprozessen der früheren Jahrhunderte findet man diese tragische Erscheinung: es ist, als ob das Entsetzen beim Bestehen eines scharfen Verhörs auf die Kindesseele einen so überwältigenden Eindruck machte, daß sie das Opfer einer Art von Suggestion wird, in welcher sich ihr die Furcht, die Eltern könnten das Verbrechen begangen haben, in Ueberzeugung verwandelt.
Am 8. August 1856 brannte das Haus des Bauern Hans Heinrich Sidler in Weinhof bei Ottenbach, Kanton Zürich, ab. Der Verdacht der Brandstiftung konnte nicht auf den Eigenthümer fallen, weil derselbe die mit verbrannte ganze Ernte nicht versichert hatte. In dem Hause wohnten aber weiter die Eheleute Jakob und Elisabeth Sidler mit ihrem fünfzehnjährigen Sohn Gottfried. Die Familie war arm und nährte sich von Seidenweberei für Lohn. Auch ihnen war ihre ganze Habe mit verbrannt. Es stand aber fest, daß das Feuer angelegt sein mußte. Da zeigte nach einiger Zeit die vierzehnjährige, in dem Orte Ottenbach wohnende Katharine Dubs an, daß sie auf Anstiftung der letztgenannten Sidlerschen Eheleute das Haus angezündet habe. Sie sei öfters in deren Wohnung gekommen; am Tage vor dem Brande nun habe sich die Frau Elisabeth Sidler darüber entrüstet gezeigt, daß ihr der Hauseigenthümer, Hans Sidler, ein Darlehn von fünf Franken abgeschlagen habe. „Sie sagte,“ gab die Dubs an, „ich solle das Haus anzünden, daß diese Sidlers auch nicht mehr hätten wie sie.“ Anfangs habe sie sich geweigert, dann aber auf längeres Zureden sich entschlossen, der Aufforderung zu folgen, und habe nun das niedrige Strohdach des Schweinestalls mit Schwefelhölzern angezündet. Zu diesem Zeugnisse des gut beleumundeten Kindes trat dann noch das des eignen Sidlerschen Sohnes Gottfried. Er erklärte vor der Polizei und dem Untersuchungsgerichte, sein Vater habe ein der Fabrik, für welche er arbeitete, gehöriges Stück Seidenzeug entwendet und verkauft. Und da habe die Mütter erklärt, das Haus müsse fort, damit der Diebstahl nicht herauskäme. (Es sollte damit wohl gemeint sein: damit man sagen könne, das Zeug sei mit verbrannt.) Darauf habe der Vater erwidert: „Laß das nur! Ich will’s schon besorgen.“
Infolge dieser Angaben wurden beide Eheleute gefänglich eingezogen. Sie betheuerten laut weinend ihre Unschuld; da aber Katharine Dubs mit ihrer Aussage ja sich selbst als Brandstifterin bezeichnete, die ihrer Strafe entgegensah, und andererseits man nicht annehmen konnte, daß der Sohn die eignen Eltern fälschlich beschuldigen würde, so wurden die Jakob Sidlerschen Eheleute vom Schwurgericht in Zürich wegen Anstiftung zur Brandlegung zu mehrjährigem Zuchthause und das von ihnen „verführte“ Kind zu einem Jahr Gefängniß verurtheilt. Im Zuchthause betheuerten die beiden Verurtheilten noch fortwährend ihre Unschuld. Die Aufwärterinnen nahmen wahr, daß die Frau Sidler halbe Nächte durch weinte und den Himmel laut anflehte, ihre Unschuld an den Tag zu bringen, oder sie von ihren Leiden zu erlösen. Der Vater Jakob Sidler behauptete, daß von einem Diebstahle von Seide gar nicht die Rede sein könne, da erst am Brandtage sein ganzer Vorrath von der Fabrik nachgewogen und für richtig befunden worden sei. Diese Umstände bewogen den Anstaltsdirektor, den Sohn Gottfried ins Gebet zu nehmen. Er ließ ihn kommen und erfuhr nunmehr, daß der Knabe erst durch einen übereifrigen Polizeibeamten, der ihm gesagt habe, er komme drei Jahre ins Zuchthaus, wenn er’s nicht gestehe, veranlaßt worden sei, seine Eltern zu beschuldigen. Andererseits fiel es auf, daß Katharine Dubs, die bisher ein gesittetes Betragen an den Tag gelegt hatte, im Zuchthause allerlei Bosheiten und schlimme Streiche verübte. Als man sie frug, warum sie dies thue, erklärte sie, sie könne nicht mehr gut thun, sie finde keine Ruhe mehr, da sie die Sidlers vor Gericht falsch angeklagt habe. Sie habe das Haus selbst aus freien Stücken angezündet. Sie habe kurz vorher ein Feuer in einem Nachbarorte gesehen und dabei gedacht, sie wolle das Haus des Bauern Sidler anbrennen; der sei ein reicher, aber harter Mann. Sie sei der Ansicht gewesen, es werde allen Leuten recht sein, wenn sie das Haus anzünde. Nunmehr wurde das frühere Urtheil umgestoßen, das Ehepaar freigesprochen und Katharine Dubs statt zu einem zu drei Jahren Gefängniß verurtheilt. Auch der Sidlersche Sohn Gottfried erhielt seine Strafe wegen falscher Anzeige.
Daß die Hilflosigkeit eines unter falscher Anschuldigung oder falschem Verdacht stehenden Menschen diesen schließlich zu solcher Verzweiflung bringt, um in einem falschen mildernden Geständnisse sein Heil zu suchen, gehört ebenfalls nicht zu den Seltenheiten. In dem nachfolgend erzählten Falle erlangte der Beklagte sogar durch solches falsches Geständniß seine Freisprechung.
Am Sonntag den 4. Juni 1884 früh sechs Uhr wurde das Bahnwärterehepaar Nacke von Neustadt a. Aisch in dem an der Bahnstrecke Würzburg-Nürnberg einsam im Walde gelegenen Wärterhäuschen aufgefunden, die Frau mit eingeschlagener Schädeldecke todt auf dem Boden hingestreckt, der alte Bahnwärter Nacke stieren Blickes mit stark geschwollnem Kopfe, aber noch lebend im Bette sitzend. Da der letztere mit seiner Frau oft im Streite gelegen hatte, so fiel sofort der Verdacht auf ihn selbst. An einen Raubmord war ja nicht zu denken, denn wer hätte sich einen armen Bahnwärter zu einem solchen ausgesucht! Nacke stellte jedoch den Mord an seiner Frau hartnäckig in Abrede, obwohl man von allen Seiten auf ihn eindrang, er solle doch ein Geständniß ablegen. Als er schließlich einsah, daß ihm sein Leugnen doch nichts helfen würde, da der Verdacht zu schwer auf ihm lastete, verfiel er in der Angst seines Herzens auf ein eigenthümliches Mittel, welches ihm wohl von andrer Seite nahegelegt worden war, denn er selbst war geistig nicht sehr geweckt. Er gestand auf einmal ein, daß er sein Weib getödtet habe, behauptete aber, daß er sich der jungen kräftigen Frau gegenüber, mit der er in Streit geraten sei, seines Lebens habe wehren müssen. Danach würde er in Nothwehr gehandelt haben, was ihn straflos machte, und dies Geständniß konnte ihm somit das Leben retten. Seine eigne schwere Verwundung ließ die Angabe in der That glaubhaft erscheinen. Und wirklich, die Rechnung stimmte! Nacke wurde vom Geschwornengericht in Nürnberg zwar der Tödtung seiner Frau für schuldig erklärt, aber, da er die That aus Nothwehr verübt habe, von der Strafe freigesprochen. Allgemein galt er jedoch immer als der Mörder seiner Frau.
[139] Inzwischen war in einer dem Thatorte nahegelegenen Mühle ein dreifacher Raubmord verübt worden, ohne daß man den Thäter entdecken konnte. Unter den dieser That Verdächtigen wurde auch ein gewisser Johann Adam Dauth genannt, der Pathensohn eines Schuhmachermeisters Hauch; zu diesem Hauch äußerte nun eines Tages der Schuster Assold aus Neustadt, er könne den Dauth wegen einer andern Sache unters Richtbeil bringen. Derselbe habe ihn bewegen wollen, eins der Wärterhäuschen am Walde auszuplündern. Er sei aber nicht darauf eingegangen. Hauch zeigte die Sache an; das Gericht nahm eine Haussuchung bei Dauth vor und fand bei ihm die dem Nacke gehörige Uhr, welche dieser seit der Unthat vermißte. Dauth wurde verhaftet, leugnete anfangs, gestand aber dann zu, die Frau Nacke thatsächlich gemordet und bei dem Mann dasselbe beabsichtigt zu haben, und zwar, wie die Untersuchung weiter feststellte, aus schnöder Gewinnsucht. Er hatte nämlich erfahren, daß an jenem 3. Juni Nacke sein Monatsgehalt als Bahnwärter ausgezahlt erhalten hatte. Daß dieser letztere dem Tode entgangen, war nach Angabe der Aerzte auf den Umstand zurückzuführen, daß der Mörder dem in der niedern Thür stehenden Manne mit dem großen achtzehn Pfund schweren Hammer nicht recht hatte beikommen können. Rührend war es dabei, wie Nacke trotz seiner schweren Kopfwunde noch seinen Dienst bei dem herankommenden Eisenhahnzuge verrichtet, seiner verwundeten Frau Umschläge gemacht und sich dann bluterschöpft ins Bett gelegt hatte.
Dauth wurde wegen Raubmords zum Tode verurtheilt; ein Urtheil, das er kalt und ohne eine Miene zu verziehen entgegennahm. –
Viele Angeschuldigte sehen sich angesichts der auf sie eindringenden Verdachtsumstände auf die Führung des Beweises ihres „Alibi“ beschränkt, d. h. auf den Nachweis, daß sie sich zu der Zeit, als die That geschah, irgendwo anders als am Orte der That befanden, also dieselbe unmöglich begehen konnten. Dieser „Alibibeweis“, der in den Untersuchungen eine große Rolle spielt, ist immer schwer zu führen, da die Zeugen fast nirgends mehr irren und sich widersprechen als da, wo es sich um die Angabe der Zeit und deren Feststellung nach Stunden und Minuten handelt.
So wurde ein vor dem Schwurgerichte zu Naumburg anfangs der fünfziger Jahre verhandelter Fall in der Fachpresse viel besprochen.
Am 23. Mai 1852, einem Sonntage, begab sich der Förster Ollermann von seiner einsam im Forste gelegenen Behausung mit Tagesgrauen – also gegen vier Uhr morgens – ins Revier, um Wilddieben aufzulauern. Zwölf Stunden später wurde er in einem längs des Fußweges sich hinziehenden Graben, eine Viertelstunde vom Forsthause entfernt, erschossen aufgefunden. Neben der Leiche lag außer Mütze und Tabakspfeife ein Notizbuch. In diesem las man mit der noch zwischen den Blättern liegenden Bleifeder geschrieben die Worte: „Seyffert hat mich geschossen; Ollerm –“ und dann noch einmal auf der nächsten! Seite: „Seyffert hat mich gesch–“. Der damit als Thäter Bezeichnete konnte kein andrer sein als der wegen Wilddieberei bereits bestrafte herrschaftliche Schußjäger Bernhard Seyffert in Collenbey. Hatte doch Förster Ollermann demselben vier Wochen vorher in der Schenkstube zu Collenbey zugerufen: „Seyffert, kommen Sie mir nicht wieder zu nahe mit Ihren Consorten!“ Die Handschrift im Notizbuche rührte zweifellos von der Hand des Försters her. Seyffert wurde verhaftet, bestritt jedoch, die Täterschaft und berief sich darauf, daß er am Sonnabend von neun Uhr abends bis zum andern Morgen sieben Uhr zu Hause und bis sechs Uhr im Bette gewesen sei. Es wurde hierauf auch festgestellt, daß er um sieben Uhr früh mit seinem Hausherrn Kaffee getrunken hatte, während seine Hauswirthin bezeugte, daß sie ihn um sechs Uhr früh in seinem Bette aufrecht sitzend bemerkt habe. Sie hatte durchs Schlüsselloch geschaut, um nachzuforschen, ob Seyffert noch nicht aufgestanden sei, nachdem sie unmittelbar vorher auf die Uhr gesehen hatte, um zu erfahren, ob es Zeit sei, den Kaffee zu kochen. Im Laufe des Vormittags war Seyffert zu Hause anwesend; hatte er also den Mord vollbracht, so mußte er nach Vollendung desselben schon um sechs Uhr früh nach Hause zurückgekommen sein, sich ausßezogen und wieder ins Bett gelegt haben. Da nun der Mord nicht vor vier ein viertel Uhr morgens geschehen sein konnte, indem der Förster um 4 Uhr seine Wohnung verlassen hatte und der Thatort von der Försterei noch eine Viertelstunde entfernt war, so hatte Seyffert höchstens anderthalb Stunden Zeit gehabt, um seine Wohnung rechtzeitig, das heißt noch einige Zeit vor sechs Uhr, zu erreichen. Nun betrug aber die Entfernung zwischen dem Orte Collenbey und dem Thatorte zwei bis zweieinhalb Stunden. Gleichwohl wurde Seyffert vom Naumburger Schwurgerichte zum Tode verurtheilt, weil man offenbar das Hauptgewicht auf das in dem Notizbuche von der Hand des sterbenden Ollermann geschriebeite Zeugniß legte, einem alten Erfahrungssatze folgend, daß ein Sterbender angesichts des Todes keine Lüge sage.
Die Hinrichtung des Seyffert, der beharrlich die Thäterschaft in Abrede stellte, wurde bereits vorbereitet, als die Nachricht kam, daß der Nachfolger des Försters Ollermann auf demselben Revier, nur etwa 70 bis 100 Schritte weiter vom Forsthaus, ebenfalls von einem Wilddieb erschossen worden sei. Jetzt wurde die Vermuthung laut, daß beide Mordthaten wahrscheinlich von einer und derselben Person verübt worden seien. Bevor aber der neue Mörder, den sein eigner bei der That anwesender Sohn verrathen hatte, weiter über diese Frage vernommen werden konnte, endete er sein Leben durch Selbstmord. Es fehlte sonach an einem neuen Beweismittel, das nöthig war, um die Wiederaufnahme der Untersuchung zu begründen. Man sah nur unter diesen Umständen von einer Vollziehung der Todesstrafe ab und wandelte dieselbe in lebenslängliches Zuchthaus um. Da aber Seyffert ich Zuchthause die Betheuerung seiner Unschuld hartnäckig fortsetzte und Spuren einer Gemüthskrankheit zeigte, so wurde nach Verlauf einer fünfjährigen Strafzeit seine Entlassung aus dem Zuchthause bewilligt und dabei von dem befürwortenden Gerichte die Unklarheit seiner Schuld ausdrücklich anerkannt.
Aus diesem Falle geht auch recht eindringlich hervor, mit welcher erdrückenden Belastung ein Zeugniß wirkt, das als letztes Wort eines Gemordeten in die Gerichtsakten kommt. Dies ist die Form, in welcher eine falsche Anschuldigung in den meisten Fällen jeder Berichtigung spottet. Im Falle des ermordeten Försters Ollermann, wo das Zeugniß des Sterbenden schriftlich erfolgte, blieb die Möglichkeit ausgeschlossen, daß der wirkliche Mörder, seines Opfers Handschrift nachahmend, die Denunziation selbst in das Notizbuch geschrieben hätte. Aber konnte nicht der Sterbende im Zwielicht der Morgendämmerung das Opfer einer optischen Täuschung geworden sein? Wenn wir uns vergegenwärtigen, daß Ollermann den Seyffert, dem er das Wildern legen wollte, erst wenige Wochen vorher verwarnt hatte, daß er diesem gerade in jener Morgenfrühe aufzulauern im Begriff gewesen, so gewinnt diese Erklärung eine hohe Wahrscheinlichkeit.
Daß ein Mann von seiner eigenen Frau fälschlich als Mörder bezeichnet wird mit jener Unwiderruflichkeit der letzten Worte eines Sterbenden, dürfte sich wohl als der Gipfelpunkt einer erdrückenden Anklage der hier geschilderten Art erweisen. Dieser Fall hat sich in neuerer Zeit in Elberfeld ereignet. Er hat auch sonst Aehnlichkeit mit dem vorher erzählten. In der Zeitschrift „Nord und Süd“ hat er erst kürzlich von seiten des vielgenannten Rechtsanwaltes Dr. Fr. Friedmann in Berlin, welcher die Ermittelung unschuldig Verurtheilter sich zur besondern Aufgabe gemacht hat, eine nähere Beleuchtung erhalten. Wir meinen den Fall Ziethen-Wilhelm. Zwar paßt derselbe in sofern nicht unter die von uns gewählte Ueberschrift, als die Unschuld des verurtheilten Ziethen nicht durch Richterspruch erwiesen ist. Aber dieser Fall bestätigt in ganz besonderer Weise die Schwierigkeit der Feststellung der Schuldfrage, die Unsicherheit des menschlichen Urtheils, die Gewalt des Zeugnisses von sterbenden Lippen. Wir glauben deshalb, daß eine gedrängte Wiedergabe des Thatbestands unsern Lesern nicht unwillkommen sein dürfte, wobei wir stenographischen Aufzeichnungen aus der Hauptverhandlung und dann dem oben angeführten Artikel folgen.
Der Barbier Albert Ziethen besaß in der Bachstraße in Elberfeld ein Haus, worin er das Barbiergeschäft und zugleich eine Restauration betrieb. Am 25. Oktober 1883 war er nach Köln gefahren, wie er das in letzter Zeit an jedem Donnerstage in der Woche zu thun pflegte. Er kehrte dann gewöhnlich mit dem Abendzuge um elf Uhr drei Minuten wieder heim. An dem genannten Tage hörte der im Hause wohnende Handelsmann Frenzel, wie Ziethen etwa um 11 Uhr. 20 Minuten die Treppe herauf kam und das auf demselben Stockwerk wie Frenzel [140] schlafende Dienstmädchen Johanne Pasche mit dem Ausrufe weckte, seine Frau liege drunten in der Gaststube in ihrem Blute. Es sei Ihr die Hirnschale eingeschlagen. Die Magd, später auch Frenzel, sowie andre Hausbewohner gehen hinunter und finden in der Wirthsstube die Frau Ziethen am Boden liegen. Sie hatte eine große klaffende Wunde an der Stirn, die Kniee waren hinaufgezogen, die Kleider in Unordnung, die Zöpfe lagen abgerissen auf der Diele. Auf dieser war eine große Blutlache sichtbar, in welcher der zerbrochene Aufsteckkamm der Frau lag.
Frenzel nahm den Kopf der Frau in die Arme; sie röchelte schwer, war aber noch am Leben; Ziethen selbst eilte auf Veranlassung der Anwesenden zum Doktor und zur Polizei. Auf die von dem hinzugekommenen Wachtmeister an die Frau gerichtete Frage, wer sie geschlagen habe, nannte sie erst den Färber Roßbach, dann aber bezeichnete sie wiederholt ihren Mann als den Thäter. Auch als man sie ins Krankenhaus schaffte, wo sie noch bis zum dritten Tage, in einem schlafähnlichen Zustande lebte, nannte sie auf Befragen immer ihren Mann als den Thäter. Von Ziethen war es bekannt, daß er seine Frau, die ein sanftes versöhnliches Wesen besaß, vielfach körperlich mißhandelt hatte und ihr ein keineswegs treuer Ehegatte war. So hatte er auch einem Mädchen die Ehe versprochen, eben jener, welche er am Nachmittag des 25. Oktober in Köln besucht hatte. Der Verdacht gegen ihn war also nahestehend und dringend, und man nahm ihn in Haft. Ziethen leugnete aber hartnäckig, die Frau gemordet zu haben. „Wenn ich verurtheilt werde“, erklärte er, „so werde ich unschuldig verurtheilt, meine Unschuld muß sich herausstellen. Ich habe nur einen Zeugen, das ist die Uhr, die muß es bekunden, daß ich’s nicht gethan habe?“
In dieser Beziehung ergab nun die Beweisaufnahme folgendes: Ziethen war mit dem Kölner Abendzuge angekommen. Ein Zeuge hatte ihn auf dem Bahnhof gesehen, wie er raschen Schrittes nach Hause lief. Der Zug hatte an dem Tage fünf Minuten Verspätung, war also 11 Uhr 8 Minuten angekommen. Die Entfernung vom Bahnhofe nach Ziethens Behausung betrug acht Minuten. Ziethen wäre also gegen 11 Uhr 16 Minuten zu Hause eingetroffen, hätte sonach zur Ausführung des Verbrechens nur 4–5 Minuten gebraucht.- Ein Zeuge will ihn sogar 11 Uhr 20 Minuten schon wieder auf der Straße gesehen haben.
Wenn man aber auch einige Minuten noch zugiebt, was mußte in dieser Kürze nicht alles geschehen sein! Zeugen aus der Nachbarschaft hatten gehört, daß schon kurz nach 11 Uhr die Pumpe in dem Ziethenschen Hofe zweimal gezogen wurde. Ferner fand man Tags daraus in der Wirthsstube den Hammer, mit dem der Mord nach dem Befunde der Wunde offenbar verübt worden war, in einer Schublade liegen. Der Hammer war gereinigt, der Stil abgeschabt, die blutigen Spähne lagen noch auf der Erde. Sonach mußte Ziethen gleich bei seiner Nachhausekunft mit der Frau angebunden, sich mit ihr in einen Kampf eingelassen – es lagen außer den Zöpfen noch die Geldtasche der Frau und einige Markstücke am Boden – dann sie mit dem Hammer wiederholt den Kopf geschlagen, sich und den Hammer an der Pumpe gereinigt, den Stiel des Hammers mit einem Messer abschabt – so später konnte er’s nicht thun, da er noch an dem Abende verhaftet wurde –, dann sich in das obere Stockwerk und von da wieder zurückbegeben haben! Die Geschwornen legten indeß diesem Alibibeweis kein Gewicht bei. Ziethen wurde am 2. Februar 1884 des Gattenmordes für schuldig erklärt.
Gleichzeitig mit Ziethen war aber dessen achtzehnjähriger Lehrling August Wilhelm wegen Betheiligung an dem Verbrechen mit in Haft genommen worden. Derselbe war an jenem Abende, als der Polizeiwachtmeister seinem Lehrherrn das Verbrechen auf den Kopf schuld gab, aus erster Ecke, in welcher er unbeachtet kauerte, aufgesprungen Und hatte ausgerufen: „Wie können Sie das wagen, Ziethen war der Mörder nicht!“ Auch hatte die Frau Ziethen mit einer Handbewegung angedeutet, daß Wilhelm beim Mord zugegen war. Er wurde indeß freigesprochen, da ja für ihn jeder Beweggrund, an dem Morde theilzunehmen, zu fehlen schien.
Ueber sein Verhalten an jenem Abende wurde übrigens noch folgendes festgestellt: Um zehn Uhr abends begab sich das Dienstmädchen Pasche zur Ruhe. Da waren im Gastraume noch die Frau Ziethen, Wilhelm und der jüngere Lehrling August Volherg anwesend. Der letztere forderte Wilhelm, mit dem er zusammen in einer Kammer schlief, auf, ebenfalls zu Bett zu gehen, aber Wilhelm erklärte, er wolle erst noch einmal ausgehen. Nach zehn Minuten kehrte er zurück, und nun gingen beide hinauf in ihm Kammer. Während Volberg rasch einschlief, schlich Wilhelm sich wieder fort, denn er erschien ein Viertel nach zehn Uhr in der Wohnung einer Frau Kesting, mit deren Tochter er ein Verhältnis hatte. Da das Mädchen aber nicht zu Hause war, entfernte er sich nach fünf Minuten wieder. Um halb elf Uhr betrat er die Wirthschaft von Wilhelm Faßbender und ließ sich einen Cognak geben, wobei dem Wirthe das aufgeregte Wesen des jungen Menschen auffiel; auch das Dienstmädchen Pasche hatte schon bemerkt, daß er angetrunken war. Nachdem er den Cognak rasch getrunken hatte, entfernte er sich wieder und kehrte in die Schlafkammer zurück. Gegen drei Viertel auf elf Uhr erhob er sich dort abermals und ging hinab in die Wirthsstube, in welcher sich die Frau Ziethen nach Schluß der Gastzeit ganz allein befand. Ein Viertel nach Elf hörte die neben der Kammer der Lehrlinge wohnende Frau Romann, die um elf Uhr zu Bett gegangen, aber noch nicht eingeschlafen war, wie die Treppe knarrte und jemand in Strümpfen heraufkam und in die Kammer trat. Es war Wilhelm, die Zeugin hörte, wie er seine Stiefel hinsetzte. Nicht lange danach hörte sie, daß Ziethen die Magd rief. Sonach wäre festgestellt, daß Wilhelm sich in der Zeit von drei Viertel auf elf Uhr bis ein Viertel nach elf Uhr mit der Frau Ziethen allein in der Wirthsstube befunden hat. Weiter ist der Umstand zu erwähnen, daß der Lehrling Volberg, als er infolge des Rufs seines Herrn aufstand, um hinunter zu gehen, das Taschenmesser des Wilhelm offen auf dessen Koffer liegen sah. Er knickte es zusammen und nahm es mit, um es später dem Wilhelm wieder zu geben. Das Messer ist aber in Verlust gerathen und daher nicht untersucht worden.
Die erkannte Todesstrafe wurde an Ziethen nicht vollstreckt, sondern in lebenslängliches Zuchthaus umgewandelt. „Von dem Tage seiner Verurtheilung an“ – wir lassen jetzt Dr. Friedmann in dem angezogenen Aufsatze in „Nord und Süd“ selbst reden – „hörte Ziethen nicht auf, in jedem Briefe, welchen er aus dem Zuchthause heraus an seine in Berlin lebenden Verwandten, einen hochbetagten Vater und einen Bruder richtete, seine Unschuld zu betheuern und dieselben immer wieder anzuspornen, alles aufzubieten, um sie zu beweisen.
„Der freigesprochene Lehrling hatte in den nächsten Jahren als Barbiergeselle Deutschland durchzogen und war schließich in Berlin angekommen; er war aus mehreren Stellen seines ausschweifenden Lebenswandels halber entlassen worden. Zur bessern Legitimation führte er einen mit ,Albert Ziethen’ unterzeichneten, höchst lobenden, natürlich von ihm gefälschten Lehrlingsschein bei sich, aber, sonst sprach er nicht gern von jener Zeit, veränderte auch seinen Vornamen und blieb unstet.
„Da, im Juni 1887, trat er mit dem Geständnisse hervor, er habe Frau Ziethen ermordet, sein früherer Meister wisse nichts davon. In Berlin von seinem Prinzipal, dem Kriminalkommissar, dem Richter verhört, blieb er zunächst bei seiner Aussage, dann aber, nach Elberfeld überführt, widerief er vor dem dortigen Untersuchungsrichter das Geständniß, um es bei einer abermaligen Vernehmung zu erneuern und ins einzelste auszumalen, wie er die seine Zärtlichkeiten abwehrende Frau kurz vor Ziethens Heimkehr erschlagen habe. Seine Bekundung, daß er den bei dem Morde benutzten Hammer gegen elf Uhr zu reinigen gesucht habe, dann nach seiner Lagerstelle geschlichen sei, um schließlich der unglaublichen Verhaftung des Meisters beizuwohnen, deckte sich völlig mit den Zeugenbeobachtungen. Ein hervorragender Berliner Kriminalbeamter wurde ausdrücklich beauftragt, sorgfältige Erhebungen darüber anzustellen, ob sich irgend welche Anhaltspunkte für eine etwaige Bestechung Wilhelms durch Ziethensche Verwandte oder Gönner ergäben. Aber der Bericht dieses Beamten spricht unumwunden aus, daß nichts dergleichen vorläge, daß aber zahlreiche noch unerhobene Beweise auf Wilhelms Schuld und jetzige Wahrhaftigkeit deuteten.“
Auf Grund des neuen Materials beschloß im Oktober 1887 die Strafkammer des Landgerichts zu Elberfeld die Wiederaufnahme des Verfahrens. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft wurde indeß der Beschluß wieder aufgehoben. Man hielt die Selbstbezichtigung des Wilhelm für erlogen und nicht für beweistüchtig.
Ein neues Gesuch des Vertheidigers, die Wiederaufnahme des Verfahrens herbeizuführen, welches Gesuch sich auf eine Darlegung des Vorlebens und Charakters des Wilhelm stützt, wurde ebenfalls, [141] und zwar aus formellen Gründen, verworfen, da es mehr psychologische Momente als neue Thatsachen enthielt. „So muß ich“, schließt der von dem Bewußtsein der Unschuld seines Klienten vollständig durchdrungene Vertheidiger, „die Hoffnung aufgeben, dem Verlornen zu helfen. Jeder weitere Tag verwischt mehr die Spuren des Thatbestands und kein Lichtstrahl durchbricht wohl noch die tiefe Nacht.“ Ob das in jüngster Zeit bei dem Kaiser selbst eingereichte Immediatgesuch eines Stiefbruders von Ziethen eine Aenderung dieser Sachlage herbeiführen wird, bleibt abzuwarten.
Unsre Leser werden wohl zugeben, daß hier die Beweise für Schuld und Unschuld sich mindestens die Wage halten. Wäre es formell möglich, noch einen zweiten Spruch in der Sache herbeizuführen, wer weiß, ob er dann der gleiche wäre wie der, den die Geschwornen in Uebereinstimmung mit der öffentlichen Meinung am 2. Februar 1884 gefällt haben! Fr. Helbig.
Emin Pascha und Casati.
Noch hat sich die Aufregung nicht gelegt, welche Stanleys Buch über seine Expedition von der Westküste Afrikas nach dem Albertsee zur Rettung Emin Paschas in allen Ländern Europas und Amerikas geweckt hat, noch sind der Aerger und die Enttäuschung nicht verwunden, welche die Rivalen Deutschlands
im Wettbewerb um die Kolonisirung Ostafrikas durch Emin Pascha erfuhren, als er nach seiner Genesung in Sansibar, statt in die Dienste der Engländer oder des Kongostaates zu treten, seine Kräfte dem Deutschen Reiche zur Verfügung stellte: und schon hat der kühne Mann wieder die Fluthen des Victoria-Nyanza befahren, hat er an dessen Ufern der Wissenschaft und dem Welthandel, aber auch der Kolonialmacht Deutschlands neue Stationen und Bollwerke errichtet.
Während er aber auf solche Weise die gegen ihn von Stanley erhobene Beschuldigung, ein Mann ohne Unternehmungsgeist und entschlossener Thatkraft zu sein, sofort nach Herstellung seiner schwer gefährdeten Gesundheit aufs glänzendste durch Entschlüsse und Thaten widerlegt hat, die überzeugender wirken, als es auch die gründlichste Vertheidigung in geschriebener Rede vermöchte, hat der Italiener Casati nach der Rückkehr in seine lombardische Heimath Muße gefunden, der Welt in einem Buche ausführlich zu erzählen, was er im Laufe seines zehnjährigen Aufenthalts in Aequatoria mit Emin zusammen oder doch wenigstens im Bezirk von dessen Wirksamkeit Großes und Grausiges, Schönes und Schreckliches erlebt hat.
„Zehn Jahre in Aequatoria und die Rückkehr mit Emin Pascha“ (Bamberg, C. C. Buchner) ist der Titel des Buchs, das gleichzeitig mit dem italienischen Original in alle europäischen Hauptsprachen übersetzt und mit reichem Bilderschmuck versehen soeben erscheint. Das außerordentliche Interesse, das man dem Werke des Capitano Gaëtano Casati entgegenbringt, entspricht der Bedeutung, welche gegenwärtig Ostafrika und seine fruchtbaren Hinterländer nicht nur auf dem Gebiete der geographischen Forschung, sondern auch im Bereiche der internationalen hohen Politik genießen. In Deutschland ward dieses Interesse noch erhöht durch die allgemeine persönliche Theilnahme für Emin Pascha und die Hoffnung, der italienische Reisegefährte Emins auf der beschwerdereichen Wanderung unter Stanley von Kawalli nach der Ostküste werde die „Ehrenrettung“ des Paschas übernehmen gegenüber den unverdienten Herabsetzungen, mit welchen Stanley das widerstrebende Opfer seines Rettungseifers in dem Buche vom „dunkelsten Afrika“ bedacht hat.
Diese Erwartung wird durch Casatis Werk jedoch nur zur kleineren Hälfte befriedigt. Wohl weiß er außerordentlich viel von den Begebenheiten und Ereignissen zu erzählen, welche in den verschiedenen Theilen der Provinz unter den eingeborenen Stämmen sich vollzogen, während Emin unter dem Drucke des Vordringens der Mahdisten seine militärische Macht erst in Ladò und dann weiter südlich in Wadelai konzentrirte. Obgleich lange Zeit ohne andere Beziehung zu Emin Pascha als die eines Schutzbefohlenen, wie sie dem Verhältniß eines unabhängigen Forschungsreisenden aus Europa zu dem europäischen Statthalter in dem Gebiet seines Forschens naturgemäß entspricht, hatte er schon frühe wiederholte Gelegenheit, Kenntniß von manchen politischen Maßnahmen des gelehrten Gouverneurs zu erhalten. Nach Stanleys Ankunft und namentlich auf der Rückreise wurde das Verhältniß intimer. Casatis Mittheilungen über Stanleys Handlungen und Unterlassungen bestätigen durchaus, daß Stanleys Expedition zum Entsatz Emins in so hilfsbedürftigem Zustand am Albertsee ankam, daß die vor allem nöthige Hilfe, statt von Stanley geleistet zu werden, von diesem beansprucht werden mußte.
Sie bestätigen weiter, daß Stanley, nachdem er die ihm anvertraute Hilfstruppe erst getheilt, dann die Vorhut in unbegreiflicher Verblendung durch völlig fremde Urwaldwildniß gezwängt und dabei im Kampf mit ihren Gefahren mehr als die Hälfte der Männer geopfert hatte, sich besser von Emin hätte an die Küste zurückführen lassen, statt diesem auf der Reise jedes Führerrecht zu bestreiten. Sie bestätigen schließlich, daß Emins Lage erst durch Stanley, sein langes Ausbleiben, das Zurücklassen der halben Mannschaft und der für Emin bestimmten Vorräthe in Jambuja, seine wiederholte Abreise und langsame Wiederkehr eine so gefährliche und verzweifelte wurde, wie sie schließlich war, als Stanley endlich bereit stand, mit Emin und seinen Truppen den Marsch an die Ostküste anzutreten. Casati zeigt, daß Emin gerade im Begriffe war, im Süden seiner Provinz an Macht zu gewinnen, was er im Norden infolge des siegreichen Vordringens der Mahdisten eingebüßt hatte, daß er mit dem mächtigsten Negerkönig im Seengebiet in Beziehungen stand, die ihm den schon von [142] Junker benutzten Weg nach Uganda und damit nach der Ostküste offen hielten, als gerade die Ankunft Stanleys das Vertrauen dieses Königs zu Emin erschütterte. Das Buch klärt uns darüber auf, daß Emins Weigerung, ohne die ihm anvertrauten ägyptischen Soldaten und Beamten Stanley zu folgen, nicht nur auf dem Treugefühl eines Führers zu seiner Truppe beruhte, sondern noch erhöht ward durch das bei Emins gelben und schwarzen Untergebenen bestehende Mißtrauen, die Hilfe Stanleys werde nur den Weißen zugute kommen, während sie sich selbst überlassen blieben. Dieses Mißtrauen, welches mit ängstlich eifersüchtigen blicken Emin umlauerte, das Verlangen seiner Truppe, er, der Pascha, der sie in ihre isolirte Lage gebracht, müsse auch ihr weiteres Schicksal theilen, versetzte ihn im Bunde mit den edlen Eigenschaften seines Herzens in jene Lage des Zuwartens und der Ablehnung, die Stanley auf Emins vermeintlicher Energie- und Planlosigkeit zu erklären gesucht hat, während ihre weitere Ursache doch in Stanleys Unfähigkeit lag, Emin sammt seinen Schutzbefohlenen die von diesem mit Recht erwartete Hilfe unbedingt und rechtzeitig zu gewähren. Auch Stanleys Doppelspiel, in welchem er an Emin bald als Bevollmächtigter des Khedive, bald als Vertreter des Kongostaats, bald als Agent der Britisch-ostafrikanischen Gesellschaft mit sich widersprechenden Rathschlägen und Anerbieten herantrat, geht aus Casatis Darstellung deutlich hervor.
Aber bei dieser Gelegenheit zeigt sich auch, daß Casati selbst kein einwandfreier Zeuge ist. Auch er schiebt dem Pascha für sein Zögern Beweggründe unter, die ihn als eitel, planlos, eingebildet und phantastisch erscheinen lassen, ohne doch dafür stichhaltige Beweise zu bringen. Durch sein ganzes Buch zieht sich der Vorwurf, daß Emin durch die hartnäckige Ablehnung der guten Rathschläge, die er – Casati – ihm gegeben, all sein Unglück sich selbst zugezogen. daß er ihm nicht genügend Vertrauen geschenkt und es unwürdigen Rathgebern zugewendet habe. Es ist daher ganz falsch, wenn der deutsche Prospekt zu dem Werke von dessen Autor sagt: er habe Emins volles Vertrauen genossen und sei mit diesem in den Jahren des gemeinsamen Aufenthalts in Aequatoria „durch die Bande der innigsten Freundschaft auf das Engste verknüpft“ gewesen.
Diese Ausdrücke entsprechen ebensowenig dem Sachverhalt wie die Versicherung, das Buch enthalte Emins Ehrenrettung. Trotz des sichtlichen Bestrebens, gegen den von ihm als Forscher und Mensch aufrichtig verehrten Mann gerechter zu sein als Stanley, trotz der scharfen Vorwürfe, die er dem letzteren wegen seines Verhaltens gegen den Pascha macht, steht er selbst unter dem Einfluß persönlicher Verstimmung und Voreingenommenheit, wenn auf sein eigenes Verhältniß zu dem berühmteren und bedeutenderen Genossen im Felde der Afrikaforschung die Rede kommt. Und diese Verstimmung hat ihren guten Grund.
Casati war sichtlich bestrebt, nachdem die gefährliche Lage im offenen Land Emin veranlaßt hatte, den italienischen Forscher von seinem Studiengebiet in den sicheren Schutz seiner Residenz zu laden, auf die Regierung des Gouverneurs Einfluß zu gewinnen. Während Dr. Junker aus dem von Norden her bedrohten Ladò die Rückkehr südwärts über Uganda antrat, blieb Casati bei Emin und suchte sich nützlich zu machen. Es stellte sich dabei sehr bald ein scharfer Gegensatz der Ansichten heraus: Casati schwärmte für offenen Kampf gegen die Mahdisten, Vereinigung der Kräfte zu diesem Zweck in den nördlichen Stationen; im Falle der Ablehnung dieses Plans war er für einen geschlossenen Rückzug in nordwestlicher Richtung durch die Gebiete friedlicher Negerstämme, deren Sinnesart ihm bekannt war. Emin dagegen, der bei der hoffnungslosen Lage des von dem Mahdi eroberten Sudan nicht an die Möglichkeit glaubte, eine freie Bahn in nördlicher Richtung nach dem Unternil zu finden, setzte seine ganze Hoffnung auf die südlichen Stationen und eine den offenen Kampf vermeidende Politik, die sich durch kluge Verhandlungen mit dem Negerkönig von Unjoro den Weg nach den Missionsstationen in Uganda offen hielt. Auf diesem Weg allein erhielt er denn auch Nachrichten und Weisungen aus Sansibar, Kairo und Europa, auf diesem Weg allein erwartete er die Hilfe, die er sich erbeten, auf diesem Weg allein hatte er Aussicht, ohne nutzloses Vergeuden seiner Kräfte und zweckloses Blutvergießen im Nothfalle einen Rückzug nach Sansibar unter Verzicht auf fremde Hilfe durchzuführen.
In alledem scheint er uns das Richtige getroffen und mehr Klugheit und Ueberlegung entfaltet zu haben als der heißblütige, kampflustige Italiener. Daß seine Politik zweimal gestört und durchkreuzt wurde durch den Ausbruch von Feindseligkeiten zwischen Unjoro und Uganda, während deren er es weder mit der einen Partei noch mit der anderen halten konnte, weil er es mit keiner verderben durfte, dies waren unvorhergesehene Schicksalsschläge, denen auch der vorsichtigste Stratege nichts entgegenstellen kann als Geduld und Ruhe im Erwarten besserer Umstände. Und in der Entfaltung von Ruhe und Geduld an der Spitze von aufgeregten Truppen, die täglich mit Unbotmäßigkeit drohten, hat Emin in jenen Jahren – ein zweiter Fabius cunctator – um so Bewunderungswürdigeres geleistet, als er mit dieser Zurückhaltung eine rastlose Thätigkeit verband, um die Zeit zum Besten der Civilisirung der von ihm beherrschten Gebiete und für wissenschaftliche Erforschung ihrer allgemeinen Lebensverhältnisse nach Kräften auszunutzen.
Uebrigens muß, nachdem Emin einmal sein Hauptquartier von Ladò nach Wadelai verlegt hatte, dem thatenlustigen Kapitän die „südliche“ Politik Emins schließlich doch in dem Grade eingeleuchtet haben, daß er freiwillig im Dienste derselben einen wichtigen Auftrag übernahm. König Tschua von Unjoro, auch Kabrega genannt, sprach in den Verhandlungen, die Emin selbst mit einem persönlichen Besuch bei ihm eingeleitet hatte, den Wunsch aus, daß ein Vertreter Emins seinen ständigen Aufenthalt in Dschuaja, seiner Residenz, nähme. Tschua hatte versprochen, den Boten, die Emins Briefverkehr über Uganda mit Sansibar vermittelten, offenen Weg durch sein Land zu gewähren. Zur Ueberwachung dieses Verkehrs sollte ein Beamter Emins nach Dschuaja kommen. Casati erbot sich zur Uebernahme dieses Postens und wurde von Emin mit der wichtigen Aufgabe betraut. Er entfaltete im Anfang mit gutem Erfolg die trefflichen Eigenschaften seines mannhaften, energischen und für den Verkehr mit den stets mißtrauischen Schwarzen auch theilweise recht glücklich veranlagten Wesens. Als er aber Ursache fand, in den guten Willen des gewaltthätigen, waffen- und ländergierigen Negerdespoten die stärksten Zweifel zu setzen, als er allerlei Intriguen desselben entdeckte und sich selbst umspäht und umlauert sah von geheimen Beobachtern, schließlich gar von nächtlich seine Wohnung umschleichenden Meuchelmördern, da betrat auch er den Weg der List und Intrigue, ließ durch von ihm Bestochene die Berathungen des Königs belauschen, forderte dann dessen Haß durch Drohungen heraus und gerieth dadurch mit diesem in Konflikte, die nicht nur ihn, Casati, beinahe das Leben kosteten, sondern auch die Interessen Emins aufs Spiel setzten.
Emin, der durch Boten erfahren hatte, daß Casati mit seinen Getreuen sich unter dem Fluche des Blutbannes auf der Flucht nach der Grenze am Albertsee befände, rettete ihn zwar, indem er mit seinem Dampfer das Ufer absuchte, aber der Gerettete sah sich als „Gefallener“ begrüßt, gefallen in der Gunst Emin Paschas. Er habe die Lage der Regierung durch seine überaus schroffe Haltung erschwert, die Beziehungen zu dem Könige von Unjoro und den Großen leichtsinnig und starrköpfig behandelt, die Zukunft der Statthalterei untergraben: das war das Urtheil Emins, welches den Flüchtling am Bord des „Khedive“, nachdem die Freude über seine Rettung schnell verstummt war, empfing. Casati fühlte sich im Innersten gekränkt, er nahm den Tadel mit Schweigen auf. Das peinliche Verhältniß wurde auch nicht behoben durch Emins spätere Erklärung, er habe inzwischen den König Tschua durch unmittelbare Verhandlung wieder zu versöhnen gewußt. Erst der gemeinsame Aerger über das Verhalten des bald danach endlich in Kawalli am östlichen Ende des Sees eingetroffenen Stanley knüpfte wieder das Verhältniß zwischen beiden Männern fester und brachte über der gegenseitigen Verstimmung wärmere Empfindungen zur Blüthe.
Eine vollkommen unparteiische Beurtheilung Emin Paschas und der Art, wie er sich als Statthalter des Khedive unter den schwierigsten Umständen in Aequatoria behauptet hat, bietet also auch Casatis Buch nicht. Die so wünschenswerthe völlige Aufklärung ist auch nach Lage der Dinge nur von Emin Pascha allein zu erwarten. Der Hauptwerth des Casatischen Buches besteht dagegen in der Fülle von sorgfältig gesichtetem, klar dargestelltem Material wissenschaftlicher Beobachtungen, die er mit seltenem Forscherglück und echtem Forscherernst während seines zehnjährigen Aufenthaltes in Aequatoria gesammelt hat. So gründlich und so umfassend wie er hat noch kein Forscher die Naturverhältnisse, die Kulturzustände in den so verschiedenartigen Landstrichen und unter den vielen, von den arabischen Sklavenhändlern bedrängten Negerstämmen [143] Aequatorias erforscht. Durch seine erwähnte diplomatische Sendung erhielt er die Gelegenheit, die Zustände eines kulturell sehr hochstehenden, bisher fast unbekannten Negerstaates bis ins einzelne kennenzulernen. Bei dem Interesse, das gerade das fruchtbare Ländergebiet zwischen dem Albert- und Viktoriasee und damit die beiden großen Reiche von Unjoro und Uganda. gegenwärtig für die deutsche Kolonialpolitik haben, sind die inhaltlichen Kapitel, die von Casatis Aufenthalt beim König Tschua handeln, für die Gegenwart von größter Bedeutung. Mit Staunen erfahren wir, daß hier neben grausamen Gewohnheiten und ekelhaften Sitten sich im Betriebe der Landwirthschaft und blühender Gewerbe sowie in vielen Staatseinrichtungen ein Kulturzustand spiegelt, wie man ihn am wenigsten bei den wilden Bewohnern von Ländergebieten erwarten konnte, die bis vor kurzem der europäischen Kultur gänzlich entrückt waren. Nicht minder interessant sind die Ergebnisse seiner Forschungen im Uellethal, die jenen späteren Erlebnissen vorausgingen. Sie bildeten die eigentliche Aufgabe, die ihn Ende 1879 zum Verlassen der Heimath veranlaßt hatte, als die Redaktion des römischen „Esploratore“ von Gessi Pascha aus dem Sudan den Wunsch erhielt, sie möchte eine geeignete jüngere Kraft zur eingehenden Erforschung des seiner Verwaltung unterstellten Gebietes ihm senden.
Gaëtano Casati war damals 41 Jahre alt. Als Sohn eines Arztes in Lesmo (Brianza) geboren, hatte er sich der militärischen Laufbahn bei den Bersaglieri gewidmet und mit seinem Bataillon elf Jahre lang dem abenteuerreichen Beruf obgelegen, die südlichen Provinzen Italiens von den Briganten zu säubern. Dann war er zwei Jahre lang Lehrer an der Normalschule der Bersaglieri und nach dem Feldzug von 1866 trat er in die topographische Abtheilung des Instituts ein und nahm Theil an der Anfertigung der großen Generalstabskarte von Italien. Diese Thätigkeit steigerte sein Interesse für die geographischen Wissenschaften; er wurde Mitarbeiter des „Esploratore“ und über dem Lesen von Berichten der italienischen Entdeckungsreisenden aus fernen Ländern regte sich bei ihm die Lust, in ihre Reihen zu treten. Die zehn Jahre in Aequatorial-Afrika haben ihn inzwischen in die allererste Linie derselben gestellt und sein Werk über jene zehn Jahre wird sich als dauerndes Denkmal seiner Verdienste wie seiner temperamentvollen, ehrlichen, tapferen Persönlichkeit bewähren, gerade weil es auch deren Fehler und Schwächen in naiver Offenheit enthüllt.
Es ist in einem lebhaften, anschaulichen Stile geschrieben; namentlich in den Kapiteln, die seine aufregenden Erlebnisse am Hofe von Dschuaja bei König Tschua schildern, ist die Darstellung voll dramatisch wirkender Kraft. Die Schilderung des Lebens in der Residenz dieses viehzüchtenden Monarchen gehört zu den fesselndsten Abschnitten der neuesten Afrikaforschung überhaupt.
Da sitzt der finstere König und entwirft seine Pläne, er vergiftet seine unbequemen Minister, mordet die Großen, um mit den „Kleinen“ zu regieren; um ihn sammelt sich seine Prätorianerwache, meist entlaufene Soldaten und Sklaven aus den Nachbarländern. Die höchste Ehre, die er einem Gaste erweist, ist die Ceremonie des gemeinsamen Milchtrunks; denn seine Rinderherden sind sein Stolz und die Milch ist ihm das vornehmste Getränk trotz der großen Rolle, welche das berauschende Bananenbier bei seinen Gelagen spielt. Ein Krieg mit Uganda bricht aus und Menschenopfer werden dargebracht. Fünf Tage lang dröhnt in der Residenz unheimlich die große blutbefleckte Pauke, ahnungslose Wanderer werden unterwegs aufgegriffen und zur Opferbank geschleppt – und am fünften, am letzten Opfertage steht der König mit der Lanze in der Hand und vor ihm defllieren die Großen des Reiches – er berührt einen von ihnen mit der Spitze des Speeres und sein Haupt rollt unter dem Opferbeil zur Erde. Das ist der Hintergrund zu dem Ränkespiel, welches gegen Casati an diesem Hofe geschmiedet wird. Der Gesandte muß in der Nacht Wachen um sein Haus stellen, und siebenmal vereitelt er die Ueberfälle der vom Könige ausgesandten Meuchelmörder! Endlich wird er ergriffen, qualvoll an einen Baum gebunden und verhöhnt, und während man seine Habe raubt, seine Tagebücher vernichtet, entscheidet über sein Schicksal das „Scherbengericht“ der Häuptlinge. Man schenkt ihm das Leben, verbannt ihn aber, da er sich gegen Unjoro verschworen habe, aus dem Lande. „Keine Nahrung, keine Führer!“ so lautet der Befehl des Königs an sein Volk. Verflucht vom Könige, verurtheilt vom Gericht der Großen, verfolgt von den Negern, deren Dörfer er berührt, flieht nun Casati nach dem Ufer des Albertsees und leidet Qualen und Demüthigungen ohne Zahl, bis er auf dem Dampfer Emins Rettung findet. H. P.
Truggeister.
(8. Fortsetzung.)
Als Margold mit seinem ehemaligen Herrn durch die stille Nacht dahinwandelte, dachte er unwillkürlich an Bertl, an die Unterredung am letzten Abend im alten Anwesen an der Landstraße, an das Erscheinen des Herrn Theodor auf der Hochzeit des Hans bei Arnold, das doch offenbar nur Bertl galt. Gewiß dachte der alte Brennberg jetzt nach solchen Veränderungen auch ganz anders über das Verhältniß der Kinder.
Lachend erzählte er dem Freiherrn den Vorgang bei Arnold, wie der junge Herr sich so vartrefflich mit Bertl unterhalten, daß das Mädel heute noch den Kopf davon voll habe. Es sei aber auch ein Mädel zum Verlieben, er begreife selbst nicht, wie er zu einem solchen Kinde komme, er habe ihr oft Unrecht gethan, jetzt sehe er selbst ein, daß sie zu Besserem geboren sei, als auf der Landstraße ihr Leben zu verarbeiten; ihr zuliebe schon wolle er noch in seinen alten Tagen mit der Zeit gehen und sein Vermögen vermehren, sie sei dann ein reiches Bürgermädchen wie jedes andere, Fräulein Berta Margold, dessen sich kein Mann zu schämen habe.
Der Baron hörte schweigend zu. Ein seltsamer Gedanke kam ihm: wie, wenn er sich rächen würde an seinen hochmüthigen Standesgenossen? Sie mußten sich jetzt schon rechtschaffen ärgern
über seinen „Aufsichtsrath“, über seine glänzenden Aussichten. Wenn er nun auch noch seinen Sohn, den schönen, reichen, in kurzer Zeit vielleicht einmal sehr reichen Offizier, nach welchem diese hochnäsigen klugen Dämchen schon längst ihre Angeln auswarfen, plötzlich einem einfachen Bürgermädchen, einer Bertha Margold zum Manne gäbe – das wäre eine Rache, ein Hohn! O, der alte Brennberg ist nicht so auf den Kopf gefallen, der alte simple Landjunker! Er sieht ganz wohl euer heimliches Augenblinzeln und Zuwinken, euer höhnisches Lächeln, er ist ein ganz pfiffiger Kopf, auch ohne Theater und Musik und Litteratur und wie das Zeug alles heißt, auf das ihr euch soviel einbildet! Name – Tradition – Standesehre – pah! – er wurde ausgelacht, wenn er in diesen Kreisen nur davon redete. Geld und wieder Geld war die Losung. Der reiche neugebackene Baron Anspacher spielte die erste Violine in der Gesellschaft wie bei Hofe, und diese Gesellschaft selbst fand es ganz natürlich, daß er von seiner goldenen Höhe herabsah auf sie sammt ihren alten vornehmen Wappenschildern, ihren gepanzerten und gepuderten Ahnen. Das Gefühl, sein ganzes Leben lang genarrt worden zu sein, an Dinge geglaubt, für Dinge geschwärmt zu haben, die schon längst vermodert, begraben waren, stieg heiß in Brennberg auf, während Margold sprach; mit Mühe hielt er sich zurück, dem Alten seinen Sohn geradezu anzubieten.
„Nur abwarten, Margold, und nichts übereilen,“ begann er in herzlichem Tone; „daß Deine Tochter ein reiches Mädchen wird, dafür werden ich und der Stefanelly jetzt sorgen, und dann steht ihr jedes Haus offen. O, wir leben in einer großen Zeit – wir hätten sie bald übersehen, eine Zeit, in der nichts mehr unmöglich ist. Ich fühle ihren Geist mich durchdringen, wie ich es nimmer für möglich gehalten hätte. Nur abwarten, Margold, abwarten!“
Der alte Gärtner wußte genug. Es schwindelte ihm zwar bei dem Gedanken – aber es war so, der Herr von Brennberg-Schönau machte sich mit dem Gedanken vertraut, daß die Bertl seine Schwiegertochter werden könnte.
Sie waren mittlerweile vor dem Hause Margolds angelangt, Christian sagte ihm wie einem guten Freunde gute Nacht und lud ihn ein, ihn bald zu besuchen.
Margold starrte lange noch der hageren Gestalt nach, die balb im Dunkel verschwand, bald grell beschienen im Lichtkreis einer Laterne auftauchte, immer kleiner und kleiner, bis sie endlich [144] ganz unerkennbar ward. – „Eine große, große Zeit“ – klang es in sein Ohr. – Ja, da unten zwischen den flammenden Lichtern der endlosen Straße verschwand die gute alte Zeit, – der kaffeebraune Rock, die Stiefel mit gelben Stulpen, der gnädige Herr, das alte Schönau mit dem wohlgepflegten Park, all die unvergeßlichen Stunden voll Arbeit, Treue und Liebe. – –
Bertl lebte seit jenem Heimgang am Arme Theodors nur noch der Zukunft. Sie war praktisch veranlagt, gewohnt, alles am rechten Ende anzufassen. Die frische Arbeit ihrer Jugend im väterlichen Garten hatte nicht nur ihre körperliche, sondern auch ihre seelische Muskulatur gefestigt; schwärmerischem Sinnen konnte sie nicht lange nachhängen.
Sofort erkannte sie, was ihr vor allem noth thue, welchen Weg sie einschlagen müsse, um zum Ziele zu gelangen. Sie mußte dafür sorgen, daß die schnell aufgeloderte Leidenschaft in Theodors Herzen feste Wurzeln schlage, daß er mit dem Bekenntniß derselben offen, ohne Opfer vor alle Welt treten könne, und das war nur dadurch zu erreichen, daß sie sich auf die Bildungsstufe seines Lebenskreises schwang. Mit raschem Blick hatte sie während ihres kurzen Aufenthaltes in der Stadt erkannt, daß dies gar nicht so schwer sei, wie sie einst gefürchtet hatte, daß diese Bildung eine ganz auffallende Aehnlichkeit mit den kostbaren Häuserfronten des neuen Stadttheiles hatte, deren Pracht und Ueppigkeit sie noch vor kurzem mit kindischer Bewunderung angestarrt hatte. Wenn sie aus dem Hause trat, so sah sie eben gegenüber eine solche Front entstehen und ergötzte sich herzlich an dem Zusammenleimen der mächtigen Riesen unter dem Thoreingang, die ihr einst eine solche Achtung eingeflößt hatten, an dem Aufkleben der kühnen Gesimse – die reinste Konditorarbeit! Und wenn alles fertig war, stand das Volk davor und reckte die Hälse nach all’ der Pracht und Herrlichkeit, obwohl es sich hundertmal von der Hohlheit derselben überzeugt haben mußte.
Vor allem galt es das Studium der modernen, äußeren Erscheinung. Bertl hatte Geschmack, Sinn für Form und Farbe, die Blume war ihre Lehrmeisterin; was diese ihr früher gewesen, das war jetzt ihre Toilette. Ihr widmete sie sich mit derselben Hingabe, nur mit dem kleinen, vorderhand noch unmerklichen Unterschiede, daß Blumen in einem geheimnißvollen duftigen Seelenrapport stehen mit der liebevollen Pflegerin, die Gemüthsthätigkeit steigern, Kleider und Stoffe dagegen, todte Hüllen, auf Kosten des Gemüths alle Sinne für sich in Anspruch nehmen, magnetisch nach außen ziehen, ab von dem verlassenen leeren Herzen.
Doch das geht nicht so rasch bei einem Mädchen von so gesunden Anlagen, wie Bertl sie besaß, besonders wenn der Beweggrund ein rein seelischer – die Liebe ist!
Aber Bertl blieb dabei nicht stehen; sie schämte sich nicht, einen Kursus in einer Töchterschule mitzumachen, und sie ertrug geduldig die Spöttereien der um ein bedeutendes jüngeren Mitschülerinnen. Der Klaviersturm, welcher die vornehmen Viertel der Stadt förmlich durchbrauste, ließ ihr auch Unterricht auf diesem Instrumente nöthig erscheinen.
Sie kannte den Treibhausbetrieb, seine wenn auch unnatürlichen und immer etwas krankhaften, so doch raschen Erfolge, und nur um letztere war es ihr zu thun. Sie lachte selbst dazu, erkannte wohl die Werthlosigkeit all dieser Bestrebungeu, erblickte aber eine zwingende Nothwendigkeit darin; hatte sie ihr Ziel erreicht, dann fort mit dem unnützen Ballast, zurück in die frische freie Ursprünglichkeit ihrer Jugend, auf das Land unter die lieben Blumen, in den duftigen Wald, die wogenden Felder – o, sie hatte jetzt schon Heimweh danach und malte sich das alles so schön aus an seiner Seite, wie sie ihn bekehren, wie sie mit ihm die Stadt fliehen wollte.
Der Vater schüttelte den Kopf zu diesen gewaltsamen Veränderungen, doch war in ihm selbst so viel vor sich gegangen, so viel anders geworden, daß er auch Bertl keinen Vorwurf machen konnte. Am allerunheimlichsten aber fühlte sich jetzt die Mutter; Bertl wurde ihr von Tag zu Tag fremder, ihr Mann zog auch seine besonderen Wege, die neue ungewohnte Lebensweise, das ewige Grübeln, welches bei ihr an die Stelle der Arbeit getreten war, machte sie mürrisch, streitsüchtig, Hans bekam sie überhaupt nicht mehr zu sehen. Dieser verkehrte nur noch mit „noblen“ Leuten, hatte einen flotten Einspänner und war den ganzen Tag in Geschäften als Agent und, wie man sagte, stiller Theilhaber Stefanellys unterwegs. Seine schöne Frau Loni machte Toilette wie eine Gräfin und wollte von der alten derben Frau Schwiegermutter nichts wissen, sie rechnete dieselbe nicht mehr zu ihrer Gesellschaft. So war Frau Margold verlassen in der neuen fremden Welt; sie sehnte sich von allen wohl am meisten zurück nach dem Häuschen an der Landstraße, wo sie glückliche zufriedene Jahre verlebt hatte – aber sie hütete sich wohl, davan etwas merken zu lassen.
Margold war dem Beispiele Weinmanns gefolgt und hatte das eben vollendete Nachbarhaus erworben. Er sprach noch immer von dem Gartengeschäft, das er errichten wollte, wohl um sich selber zu beruhigen, traf aber keine Anstalten dazu.
Die Wände des neuen Besitzthums waren noch feucht, die Handwerker noch im Hause, und schon war alles um guten Zins vermietet an „schöne“ Leute.
Im Vorderhaus wohnte ein Regierungsbeamter mit Familie, ein berühmter Maler mit einer fürstlichen Einrichtung, eine Offiziersfamilie, ein junger Arzt, zu ebener Erde hatten sich zwei Geschäfte eingerichtet, im Hinterhaus war eine Schlosserwerkstätte, darüber ein photographisches Atelier und Margolds eigene Wohnung, von welcher er noch zwei kleine Zimmer an eine alte Frau, eine Registratorswitwe, mit zwei Töchtern abtrat, die mit Blumenmachen, Kleidernähen und anderen weiblichen Arbeiten ihr Brot verdienten.
Alles war ausgenützt, alles Zureden Bertls, doch im Vorderhaus Wohnung zu nehmen, war vergeblich geblieben; Margold fühlte sich heimischer in dem einstöckigen Anbau, der ihn an das alte Häuschen an der Landstraße erinnerte, und der Arbeitslärm in der Schlosserwerkstätte that ihm ganz wohl, das war seine Atmosphäre. Das Vorderhaus betrachtete er als sein Kapital; es selbst zu beziehen wäre ihm gleichsam wie ein Angreifen desselben erschienen, vor dem er eine ängstliche Scheu hatte; er hatte ja auch in seinem Garten früher die feinsten theuersten Gemüse, die kostbarsten Pflanzen gepflegt. aber auf seinen Tisch kam nur Sauerkraut und Kohl, vor seinem Fenster, in seinem Privatgärtchen wuchsen nur Reseda und ungefüllte Pelargonien. Seit er verkauft hatte, wurde er das bange Gefühl nicht los, das ganze Geld könnte ihm unter den Händen zerrinnen, ein Gefühl, welches ihm auch der Kauf des Hauses nicht benahm. Die Sicherheit des bebauten fruchtbaren Bodens, an die er ein ganzes Leben gewohnt war, fehlte ihm und mit ihr der ruhige Schlaf nach arbeitsvollem Tag.
Auch Frau Margold war in Bezug auf die Wohnung ganz auf seiner Seite gewesen. Da wurde ihr doch wieder die unentbehrliche angenehme Stunde am Brunnen. Die Mägde kamen und brachten Neuigkeiten, die Schlossersfrau wurde bald ihre Vertraute, und abends kam man zusammen mit dem Strickstrumpf; auch die Frau Köhler, die Registratorswitwe, verschmähte es dann nicht, nach Feierabend herabzukommen mit ihren zwei Töchtern, der Therese und der etwas verwachsenen Lili. Frau Margold hatte zwar ein lebhaftes Vorurtheil gegen das „hochmüthige Beamtenvolk“, das selbst in der hellen Not noch seinen Stolz bewahrte wie eben diese zimperliche Frau Köhler und ihre Töchter; aber sie liebte einmal solch eine altgewohnte Hausplauderei und am Ende spielte sie als die Hausbesitzerin doch die erste Rolle.
Bertl mit ihren Hoffnungen und Kämpfen, mit ihrer blühenden, von Tag zu Tag sich edler entwickelnden Schönheit war jetzt eine fremdartige Erscheinung in dieser Umgebung, von welcher sie absichtlich sich möglichst fern hielt, um nicht wieder in ihren Bann gezogen zu werden.
Theodor schmeichelten die opferfreudigen Bestrebungen Bertls, die nur ihm galten und von der Heftigkeit und Wahrheit ihrer Leidenschaft zeugten, und es war mehr als ein flüchtiges Verlangen nach dieser herrlichen Mädchenblüthe, was ihn immer wieder zu ihr trieb. Schon erregte die neue strahlende Erscheinung Bertls Aufsehen, da und dort wurde sie mit Theodor gesehen, er wurde bestürmt mit Fragen. Und indem dieser den Bescheid gab, sie sei ein wohlhabendes Bürgermädchen, die Tochter eines Hausbesitzers in der Vorstadt, ein hochanständiges, vortreffliches Mädchen, verschaffte er ihr ein für allemal eine Stellung, die ihm gestattete, unbehindert mit ihr zu verkehren.
Nur die Besuche im Hinterhaus waren für ihn peinlich. Vorn wohnte ein höherer Offizier seines Regimentes, dessen Gattin, Mutter zweier heirathsfähiger Töchter, jeden derselben in ihrem schwarzen Buche verzeichnete. Der alte Margold machte trotz seiner stillen Zukunftspläne immer ein argwöhnisches bitteres
[145][146] Gesicht, wenn Theodor kam, die Schlossergesellen stießen sich an und lachten, und auch die Mutter störte mit ihrem aufdringlichen Wesen, so herzlich gut sie es auch meinte. Da mußte Aenderung geschaffen werden um jeden Preis. –
Es war um die Karnevalszeit. Bertl fühlte sich reif, in die Welt zu treten, sich sehen zu lassen, sie brannte darauf, Theodor auf offenem Kampffelde entgegenzutreten, ihm zu zeigen, daß sie es mit jeder Nebenbuhlerin aufnehmen könne. Die Liebe erweckte in ihr den Ehrgeiz, zu glänzen. Auch der Geliebte hegte den gleichen Wunsch, obwohl er sich selbst nicht bewußt war, warum. War es der knabenhafte Stolz, mit dem schönen Mädchen sich seinen Kameraden gegenüber brüsten zu können? Trieb ihn die Neugierde, sie in der neuen Umgebung zu sehen und prüfend zu vergleichen, oder gingen seine Gedanken weiter? Wollte er sie allmählich immer mehr zu sich heraufziehen, bis sie, ohne Aufsehen zu erregen, neben ihm stehen könnte als seine Gattin?
Er dachte an all das und lachte zuletzt darüber. Vor allem wollte er sie nicht entbehren bei seinen Karnevalsfreuden, die ihm alle schal dünkten ohne sie. Die Mutter wurde zu Rathe gezogen; sie begriff selbst, ohne daß sie dabei besonderes Weh empfand, daß sie nicht geeignet sei, mit ihrer Tochter auf einem öffentlichen Balle zu erscheinen, und nach langem Nachsinnen kam ihr ein vortrefflicher Gedanke: Frau Räthin Stürmling, welche im ersten Stockwerk des Vorderhauses wohnte.
Bertl lachte sie aus: das wäre gerade die rechte, die stolze Frau, die daher komme, wie eine Fürstin gekleidet, und ihre eingebildete Tochter, das Fräulein Irma, das die Nase rümpfe, wenn es an einem der Hinterhausbewohner vorüber müsse – wie die Mutter nur auf den Gedanken komme!
Doch diese ließ sich nicht davon abbringen.
„Ich weiß, was ich weiß,“ sagte sie pfiffig. „Alles Schwindel in der Stadt, mein Alter hat eigentlich ganz recht. Da wohnen viele Leute, wunderschon eingerichtet, kommen daher im ewigen Sonntagsstaat und schauen herab auf unsereinen in der Schürze, und wenn man hineinschaut, ist’s nichts als ein glänzendes Elend! Ich sage Dir, Bertl, Du gehst mit der Frau Räthin, laß mich nur machen, und brauchst Dich nicht zu sorgen, daß die nicht hinkommt, wo die feinen Leute sind – die versteht’s! Mein Gott, der arme Herr Rath, er thut mir leid, so oft ich ihn sehe. Ein freundlicher, lieber Herr, aber man sieht ihm die Sorge an um den theuren Haushalt. Freilich, was will er denn machen? ‚Standesrücksichten‘ nennen’s die Quälerei ’s ganze Leben durch, und auf das hin wird dann drauf los gewirthschaftet von solch einer Frau!“
Frau Margold liebte nicht umsonst die Stunde am Brunnen im Hofe. Da erfuhr sie die Geschichten aller ihrer Miethsparteien; das ganze Haus war für sie wie aus Glas, sie sah in die innersten Gemächer, in jede Schüssel, es gab keine Geheimnisse für sie.
Frau Räthin Stürmling war noch eine schöne stattliche Frau, trotz ihrer fünfundvierzig Jahre; ihr einziger Fehler war nur, daß sie nicht einen Baron Anspacher, sondern einen Rath Stürmling mit fünftausend Mark Gehalt und geringem Vermögen geheirathet hatte, sie wäre sonst eine Zierde der großen Welt geworden. Doch das Zeug dazu steckte einmal in ihr, das wurde ihr nur zu oft von Schmeichlern gesagt, und so mußte sie doch einigermaßen ihrer natürlichen Bestimmung nachkommen. Ihr Gatte war ein guter Ehemann, der in den ersten Jahren nach seiner Verheirathung dem schönen, abgöttisch verehrten Weibe nichts versagen konnte, später nichts mehr versagen durfte, obwohl die wachsenden Wünsche der Gattin in keinem Verhältnisse standen zu der Steigerung seines Gehalts. Ständige pekuniäre Wirren, ein verzweifeltes aufreibendes Ringen, die Ehre des Standes aufrecht zu erhalten, sich keine Blöße zu geben, die von oben herunter übel vermerkt werden könnte, den äußeren Schein zu wahren – das war die unausbleibliche Folge davon.
In den Augen der Welt lebte das Ehepaar Stürmling in himmlischem Frieden. Der früh ergraute Scheitel des Rathes, seine gebeugte Gestalt fielen nicht auf, man schob es auf den anstrengenden Beruf, auf das rastlose Leben der Großstadt. Unter dem Vorwande, sein schwächliches Töchterchen Irma könne die Luft und den Lärm der Stadt nicht ertragen, war er in dies neue Viertel gezogen, wo die Miethen noch verhältnißmäßig niedrig waren.
Fräulein Irma sollte nun heuer zum ersten Male die Bälle besuchen in Begleitung der Frau Mama, welche sich schon lange nach diesem Zeitpunkt gesehnt hatte, um die Stätte ihrer früheren Erfolge wieder aufsuchen zu können. Der Beginn des Karnevals und der Termin des Miethzinses fielen aber diesmal bedenklich zusammen. Die umfassenden Vorbereitungen der Frau Räthin hatten bereits die Kasse des Hausherrn erschöpft und Rath Stürmling war verzweifelt, als der gefürchtete Tag kam, ohne daß er sich trotz aller Anstrengung die nöthigen Mittel verschaffen konnte – und doch war’s der erste Termin in diesem Hause. Das Gefühl der Schande drückte ihn zu Boden, und zum ersten Male seit langer Zeit trat er vor die Gattin mit ernstlichem Vorwurfe. Frau Stürmling lächelte über die Engherzigkeit ihres Gemahls. Das käme ja in den besten Familien vor; außerdem sei sie ja ganz schuldlos, die Zukunft ihres Kindes müsse ihr wichtiger sein als eine augenblickliche kleine Verlegenheit. Heutzutage müsse man vor allem den Schein wahren, dürfe man sich nicht in die Karten sehen lassen, besonders wenn man eine heirathsfähige Tochter habe, sonst sei alles verloren. Er solle die Regelung der Angelegenheit nur ihr überlassen, Frau Margold sei eine ganz verständige Frau, die werde das alles wohl begreifen.
So kam es, daß Frau Margold eines Tages von der Frau Räthin im Stiegenhaus auf die liebenswürdigste Weise angesprochen wurde und daß sich die Frau Räthin lebhaft nach der Frau Margold schöner Tochter Bertha erkundigte, die ja geradezu Aufsehen mache in der Stadt.
„Ja, ja, die Kinder! Was thut man nicht alles für sie, Frau Margold! Meine Irma wird heuer zum ersten Male die Bälle besuchen – Gott, man hat ja auch seine Jugend genossen! Aber was das heutzutage für Geld kostet! O, wie glücklich preise ich Sie, daß Sie davon nichts wissen – aber was will man machen, man wird gezwungen dazu in unserer Stellung – – was ich sagen wollte, Frau Margold –“ die Frau Räthin strich sich dabei mit den kleinen Händen über den kostbaren Pelzbesatz – „es wird Ihnen wohl nichts daran liegen, wenn mein Mann Ihnen die Miethe erst in einem Monat übersendet, nicht wahr? Es ist ja nur eine Kleinigkeit – aber was die Irma uns heuer kostet! horrend! Na ja, nicht wahr, Frau Margold?“
Mit einem liebenswürdigen Lächeln beendete sie das Gespräch, ohne die Antwort abzuwarten, vor welcher der gewissenhafte Rath Nächte hindurch gezittert hatte.
Frau Margold glaubte nun, diesen Umstand benutzen zu können: wenn die Räthin Bertl unter ihren Schutz nähme, dann sollte es mit der Miethzahlung gute Weile haben. Und danach verfuhr sie.
Die Räthin war zwar unangenehm überrascht, als Frau Margold in einem gewissen drohenden Tone, der im Verweigerungsfalle das Schlimmste erwarten ließ, die Anfrage an sie stellte. Wie das Verhältniß an und für sich stand, war ja das Verlangen eigentlich nicht zu erfüllen. Die Tochter eines früheren Gärtners, die Tochter einer Margold in ihrer Gesellschaft an der Seite ihrer Irma! das schien ihr auf den ersten Anblick unmöglich. Doch die Frau Räthin kannte Bertl, bewunderte täglich ihr Geschick, sich zu kleiden, sich zu benehmen, sie wußte, Bertl würde ihr, was Aeußeres und Anstand betraf, keine Schande machen, und darauf kam es um Ende ja nur an. Die Eltern kannte man nicht, Bertl war einfach ein wohlhabendes bürgerliches Mädchen, wie viele heutzutage in der Gesellschaft auftraten, und – – Frau Margold durfte um keinen Preis gereizt werden.
So ging sie auf die Bitte ein, Frau Margold überbrachte triumphirend Bertl die Nachricht, und diese suchte, Thränen der Rührung im Auge, sofort die Räthin auf und küßte ihr in übersprudelndem Dankgefühl die Hand.
„Ich will Ihrer Mutter gern den Gefallen thun, obwohl man mir vielleicht einen Vorwurf daraus machen wird in meiner Stellung. Nur mache ich Sie darauf aufmerksam, daß der Eintritt in die Gesellschaft an der Seite meiner Irma für Sie seine Bedenklichkeiten hat; es ist ja nicht Ihre Schuld, daß Sie die Erziehung nicht genossen haben, wie sie sonst in unsern Kreisen üblich ist, ich möchte nur nicht verantwortlich gemacht werden für eine allenfallsig Enttäuschung Ihrerseits. Sie haben Muth, Fräulein Bertha. sehr viel Muth; es ist ein glatter Boden, den Sie betreten wollen! Was die Toilette betrifft, bitte ich Sie, vorher mit mir darüber zu Rath zu gehen, ich fürchte das Zuviel – man macht sich leicht lächerlich damit.“
[147] Die spitzen Worte kühlten mit einem Male in Berthas Brust die Begeisterung für die Räthin, und an die Stelle der flammenden Dankbarkeit trat der heiße Wunsch diese Frau sammt ihrer Tochter zu beschämen.
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In dem Zimmer der Frau Köhler herrschte fieberhafte Thätigkeit. Sie war mit ihren zwei Töchtern ganz in den Dienst Berthas gestellt.
Der Registrator Köhler, ein hoffnungsvoller Beamter, war nach zehnjähriger glücklicher Ehe das Opfer einer Epidemie geworden und hatte seine Frau mit zwei Töchtern in den dürftigsten Verhältnissen hinterlassen. Ein schwerer Lebenskampf begann. Das eine der beiden Mädchen, Lili, litt noch dazu an einer Verkrümmung des Rückgrates und war nur mit der sorgsamsten Pflege über die Kinderjahre hinwegzubringen gewesen. Trotzalledem verlor die entschlossene Frau weder Muth noch Stolz und rang sich mit ihrer Hände Arbeit durch, bis die zwei Mädchen mit erwerben konnten. Jetzt hatte sie, Dank den eifrigen sechs Händen, mit Nahrungssorgen nicht mehr zu kämpfen, aber ein bitteres Weh saß ihr in der Brust, denn die freudlose düstere Jugend ihrer Mädchen ging ihr schwer zu Herzen.
Lili machte ihr in dieser Beziehung weniger Kummer, ihr körperliches Leiden hätte sie von vornherein von den Freuden der Welt mehr oder minder ausgeschlossen, und sie zeigte auch keinerlei Sehnsucht danach. Mit immer heiterem Sinn trug sie ihr hartes Los unermüdlich, unbeirrt, mit inniger Liebe an der Mutter hängend. Aber die ältere, Therese! Sie war ein bildhübsches, stattliches Mädchen, und sie konnte dem Mutterauge die gewaltsam unterdrückte, stetig wachsende Sehnsucht nach Glück und Freude, die in jeder jungen Brust keimt, nicht immer verbergen.
Frau Köhler versuchte ja alles, um diesem natürlichen Gefühl ihrer Tochter gerecht zu werden, aber was konnte sie thun bei rastloser Arbeit, ohne den Schutz eines Mannes? Die sommerlichen Sonntagsausflüge, der vereinzelte Besuch eines Theaters trugen eher dazu bei, den Drang nach Freiheit und berechtigtem Lebensgenuß in Theresens Innerem zu verstärken, als daß sie ihn gestillt hätten.
Es war der letzte Abend vor dem Beamtenballe, auf welchem Bertl an der Frau Räthin Stürmling und ihrer Tochter Irma Seite ihren Eintritt in die große Welt feiern sollte. Bertl war in der Stadt, die letzten Einkäufe zu besorgen, nach ihrer Rückkehr sollte Generalprobe sein, und noch war nicht alles fertig. Die drei Frauen arbeiteten unermüdlich, kein Wort wurde gesprochen. Die Nähmaschine klapperte, die Stoffe rauschten unter den fleißigen Händen.
Lili summte leise ein Lied, während sie Mohnrosen formte. Frau Köhler blickte während der Arbeit forschend auf Therese, die oft schwer aufseufzend die dunkelbraunen Haare aus der Stirn strich. Die Arbeit brannte unter ihren Fingern – wenn sie das alles für ihre Therese machen dürfte! Sie fühlte es, daß das junge Mädchen auf demselben Gedankengange sich befand. Bertha, die Tochter dieser ungebildeten Frau Margold, ging morgen auf den Beamtenball, wurde dort gefeiert, und Therese, die Tochter eines Beamten, ebenso schön, ebenso freudebedürftig, mußte unterdessen am Nähtische sitzen! Es war nicht Neid, was sich in ihr regte, sie hatte Bertha, das offenherzige schöne Kind, wirklich gern, und auch die derbe Ehrenhaftigkeit der Frau Margold wußte sie zu schätzen, aber sie litt unter ihrer Lage wie unter einem ihr widerfahrenen Unrecht, sie empfand einen Haß gegen das Schicksal, das sie so vernachlässigte, einen Widerwillen gegen diese Räthin Stürmling, die ihr, der armen Standesgenossin, unbedingt abgeschlagen hätte, was sie Frau Margold aus unlauteren Gründen, wie sie richtig ahnte, genehmigte. Für sich verlangte sie ja nichts mehr von diesem Leben. Das stolze Bewußtsein, sich ehrenhaft durchgerungen zu haben, genügte ihr vollkommen. Sie hatte die Arbeit lieb gewonnen, fand für sich eine Freude darin und sehnte sich durchaus nicht danach, in die alten Kreise zurückzukehren, die sie im Unglück nicht mehr gekannt hatten; ihre Tochter Therese dereinst von einem tüchtigen Handwerksmann, welchem Fache er auch angehöre, heimgeführt zu sehen, war ihr innigster Wunsch. Darum billigte sie auch nicht das Streben Bertls, aus ihrem Stand herauszukommen, sie verwarf entschieden deren Verhältniß zu Theodor von Brennberg und machte daraus weder Bertl selbst noch ihrer Mutter gegenüber ein Hehl.
Der Sohn des Schlossermeisters Bergmann im Hinterhause, ein hübscher tüchtiger Mann, hatte, wie Frau Köhler nicht entging, ein Auge auf Therese geworfen, und auch diese schien ihm nicht abhold. Aber es machte den Eindruck, als sei sie stark von Bertl beeinflußt, als schäme sie sich vor ihr der aufkeimenden Neigung zu dem jungen Schlosser, seit sie wußte, daß ein Offizier, ein Herr von Brennberg, gewissermaßen Bertls Verlobter war.
„Das gute Fräulein Bertha wird sich auch täuschen,“ begann plötzlich die Registratorswitwe, ihre Arbeit unterbrechend, „trotz aller Toilette wird man doch dahinter kommen, wer sie ist; gerade weil sie schön ist, wird man nicht ruhen mit Fragen und Forschen – und dann nutzt es ihr alles nichts, das Gärtnerkind werden sie nicht dulden.“
„Das sag’ doch nicht, Mutter,“ entgegnete Therese, ihr brünettes, fein geschnittenes Gesicht mit den rehbraunen Augen erhebend. „Du sprichst noch von Deiner Zeit; heutzutage fragt kein Mensch danach. Wenn ein Mädchen schön ist und wohlhabend wie Bertl, dann ist alles ganz recht. Das gefällt mir von unserer Zeit, daß sie keine so schroffen Unterschiede mehr kennt; das Kind eines Gärtners zu sein ist doch keine Schande!“
In Frau Köhlers Auge blitzte es freudig auf.
„Gewiß ist es keine Schande, aber eben deshalb soll man es auch nicht zu verbergen suchen, daß man ein Gärtnerskind ist, und sich nicht in einen andern Stand unter dem Mantel einer Frau Stürmling eindrängen, in einen Stand, wo man noch immer dieselben Vorurtheile hegt wie früher, nur mit dem Unterschiede, daß man einem schönen Gesicht und einer guten Mitgift zuliebe seine Grundsätze leichter verleugnet. Ein tüchtiger Handwerksmann, der die Hände zu rühren weiß, der sein Geschäft versteht, der lacht sie doch alle aus, die Herrschaften mit ihren unzähligen Bedürfnissen, die in keinem Einklang stehen zu ihren Einnahmen, mit ihrem kummervollen Scheinleben, zu dem sie verdammt sind. So eine Meisterin wie die Bergmann zum Beispiel, glaubst Du, die würde mit der Frau Räthin tauschen? Die wäre schön auf den Kopf gefallen! O, das Glück sieht oft recht rußig und garstig aus und das Unglück recht schön und glänzend, merke Dir das, Therese!“
Das Mädchen erröthete tief und beugte sich wieder über die Arbeit.
„Ei, da bin ich ja am Ende ein Glückskind!“ sagte lachend Lili.
„Du bist es auch,“ entgegnete die Mutter, „weil Du zufrieden bist mit Deinem Los und unter Dich, nicht über Dich blickst. Darin liegt das ganze Geheimniß.“
In diesem Augenblick trat Bertl ein mit der Frau Stürmling, welche Musterung halten wollte, ob ihr Schützling morgen auch ihrer würdig gekleidet sein würde. Die Räthin grüßte Frau Köhler und die Mädchen mit einem mitleidigen „Guten Abend“ und bat dann Therese, das Kleid Bertls anzuziehen, damit sie und Bertl den Gesammteindruck kennenlernten.
Verdrossen zögerte Therese; sie war keine Probirmamsell. Aber die zärtliche Bitte Bertls bestimmte sie, nachzugeben.
Therese sah reizend aus in dem duftigen meergrünen Gewande, das ihren Nacken, ihren feingeformten Arm frei ließ; trotz des peinlichen Gefühles, das sie empfand, betrachtete sie sich selbst mit Wohlgefallen in dem Spiegel. Frau Köhler aber trat das Wasser in die Augen beim Anblick ihres schönen Kindes, das sie noch nie in solchem Schmuck gesehen hatte.
Bertl schlug das Herz mächtig; wie mußte sie sich erst darin ausnehmen in der vollen Beleuchtung eines Ballsaales! Der Sieg konnte ihr nicht fehlen.
Die Räthin war sichtlich verdutzt. Solchen Geschmack hatte sie Bertha, dem Gärtnerskind, doch nicht zugetraut, und trotz aller Ausstellungen, die sie machte, mußte sie ihre Zufriedenheit doch bekennen. Der Gedanke kam ihr, daß sie eine große Unvorsichtigkeit begangen habe. Bertha würde noch schöner aussehen als dieses Mädchen und ihre bleichsüchtige magere Irma gänzlich in den Schatten stellen – nein, nicht nur Irma, auch am Ende sie selbst, die sieggewohnte Frau Räthin! Das war denn doch zu viel verlangt für den Aufschub der Miethe um einen Monat.
Indessen es gab keinen Ausweg mehr und Frau Räthin mußte sich wieder mit dem Gedanken trösten, daß es doch schließlich auf das Auftreten ankomme. Aber die Prüfung von Bertls Ballstaat noch lange auszudehnen, daran hatte sie kein Interesse mehr. Sie entschuldigte sich: das Hämmern und Kreischen aus der Schlosserwerkstätte greife ihre Nerven an, und drückte ihre Bewunderung [148] aus, wie man das aushalten könne. „Glückliche Nerven, die Sie haben, Frau Köhler, ich bewundere Sie darum! Wenn Sie Ihre Freundin morgen von der Galerie aus beobachten wollen, Fräulein Therese, so verschaffe ich Ihnen gern eine Karte, Sie können vortreffliche Toilettenstudien machen; der Beamtenball ist berühmt dafür. Man will sich vom Adel und der hohen Finanz nicht ausstechen lassen, das ist der Zeitgeist, lieber bringt man die größten Opfer!“ Sie athmete schwer auf. „O dieser abscheuliche Lärm! Daß man solche Gewerbe in einem Hause duldet, wo die besten Leute wohnen.“
„Sie zahlen gut für den Lärm, den sie machen, das ist der Grund, Frau Räthin,“ konnte sich Frau Köhler, in der es gährte, nicht enthalten, zu sagen.
Die Räthin wurde feuerroth und empfahl sich schleunigst. – –
Voltaire in Pommern. (Zu dem Bilde S. 136 u. 137.) Es ist bekannt, wie eng die Beziehungen waren, welche den Kronprinzen und späteren König Friedrich den Großen von Preußen mit dem französischen Philosophen Voltaire verbanden. Trotzdem dies Verhältniß mehrfach aus den Fugen ging, wurde es doch immer wieder eingerenkt. Voltaire war zweimal, in den Jahren 1740 und 1743, zum Besuche in Sanssouci und lebte dann von 1750 ab drei Jahre lang dort, mit dem Kammerherrnschlüssel, dem Orden pour le mérite und einem Gehalt von 20 000 Franken ausgezeichnet. Schließlich kam es aber doch wieder zum Bruche und zur Verhaftung Voltaires in Frankfurt unter der Beschuldigung, daß er dem Könige Papiere mit Gedichten entwendet habe. Der Dichter hatte nur zu sehr frühere Urtheile des Königs über ihn bestätigt: „Der Mann ist nur gut, ihn zu lesen, aber sein Umgang ist zu gefährlich.“ „Voltaire ist seinem Geiste nach ein Gott, seiner Gesinnung nach ein Schuft.“ Am wegwerfendsten, aber auch am schärfsten treffend ist die Aeußerung des Königs: „Voltaire hat die Gewandtheit und Bosheit eines Affen.“
War dieser Ausspruch des Königs auch in seine weitere Umgebung gedrungen oder verglich diese auf eigene Faust den mißliebigen Philosophen mit jenem Tropenbewohner – kurz, man erzählt, ein Page, der sich für die Bezeichnung als „pommersche Bestie“ an Voltaire rächen wollte, habe auf einer gemeinschaftlichen Reise des Königs und Voltaires durch Pommern diesen, der in seinem Wagen hinterdrein fuhr, für den Affen des Königs ausgegeben. Das abschreckend häßliche Gesicht des Fremdlings verlieh dieser boshaften Ausstreuung die nöthige Unterstützung, und so geschah’s, daß der verwöhnte Liebling des Fürsten von den pommerschen Bauern thatsächlich für einen leibhaftigen Affen genommen wurde.
Wir sehen auf unserem Bilde, wie er sich zornig mit geballter Faust aus dem Wagenfenster lehnt, während er der Dorfbevölkerung wie ein seltenes Thier in einem Menageriekäfig erscheint. Die einen betrachten ihn neugierig, die anderen lachen über seine sonderbaren Grimassen und suchen ihn noch mehr zu reizen, was ihnen ohne Zweifel auch gelungen ist. †
Die Magalhãesstraße. (Zu dem Bilde S. 145.) Was für eine großartige Zeit muß das gewesen sein, jene drei Jahrzehnte am Uebergang vom 15. zum 16. Jahrhundert! Man stelle sich eine ganze Kette von neuen Entdeckungen vor, jede einzelne an Bedeutung für die geographische Wissenschaft, an Reiz für die Phantasie des lebenden Geschlechts zehnmal größer als die Durchquerung der Waldwüste Innerafrikas und die Feststellung des letzten der Nilquellseen! Columbus landet 1492 in Amerika, Vasko da Gama umschifft 1497 Afrika und Magalhães endlich durchbricht nach Westen die Grenzen des Atlantischen Oceans und fährt 1520 durch die Straße, die heute noch seinen Namen trägt, hinein in das endlose Weltmeer und giebt ihm, zum Dank für günstigen Fahrwind, den Namen „Mar pacifico“, das „Stille Meer“. Und zwei Jahre darauf kehrt das letzte übrig gebliebene Fahrzeug seiner Flottille, die „Viktoria“, mit 18 von den 239 Ausgezogenen nach Spanien zurück, das erste Schiff, „das gleich der Sonne den ganzen Erdball umkreist hatte!“ Ist es ein Wunder, daß die Geschichtschreiber der Zeit in ihren Ruhmeserhebungen über solche herrliche Thaten nicht hoch genug greifen können? „Seit Gott den ersten Menschen erschaffen, ist die erste Durchfahrt durch die Magalhãesstraße die größte Neuigkeit gewesen, die auf Erden vernommen wurde!“ schrieb der Spanier Herrera; Odysseus und die Argo erblaßten vor dem Ruhme Magalhães’ und seiner Gefährten und der Name des kühnen Seefahrers ward für würdig befunden, aus einem Sternbilde des südlichen Himmels, den „Magalhãesschen Wolken“, auf ewig zu leuchten.
Die Magalhãesstraße hat eine Länge von 600 Kilometern und windet sich in drei Abschnitten mit erst südwestlicher, dann südlicher, dann nordwestlicher Richtung zwischen dem Festland von Südamerika und den vorgelagerten Inseln – Feuerland ist die größte von ihnen – hindurch. Dem letzten dieser Abschnitte gehört die Ansicht an, die unser Bild zeigt. Hier verengt sich die Straße zwischen zahlreichen Klippen und tiefen Fjorden immer mehr und erweitert sich erst wieder gegen den Ausgang zum Großen Ocean.
„Die landschaftliche Scenerie der von düsteren Sagen umwobenen Meeresenge,“ so schreibt ein Augenzeuge, „ist ein seltsames Gemisch von Monotonie und Großartigkeit der Naturgebilde jener Zone. Ringsum starren dem Schiffe Eisberge entgegen mit tiefen undurchdringlichen Felsenspalten, mit zu Gletschern erstarrten Wasserfällen, die wie gefrorene Niagaras, wie ungeheure Klippen von blaugrünem, durchsichtigem Glas die Seiten der Gebirge und finstern Thäler überhängen. Dagegen dehnt sich das schwarze, dunkle Fahrwasser an hohen Felsen in zahllosen Windungen hin. Zuweilen führen diese Windungen in eine Bucht, die, scheinbar ohne Ausgang, von einer Mauer schroffer Felsen eingeschlossen ist, bis sich plötzlich verschiedene Kanäle zeigen, die den Seefahrer noch mehr in Verlegenheit setzen, da er, falls er fehl geht, wochenlang zwischen Klippen und Kanälen umherirren kann. .. Stets ist der Himmel von dichten Wolken umhüllt, die Atmosphäre ist trüb und beständig nebelig, die Gewässer sind von pechschwarzer Farbe wegen ihrer Tiefe und der finstern Bergschatten. .. Von den nackten, kahlen Felsspitzen aber fährt der Orkan in die Wassertiefe hinab und erzeugt daselbst jene kurzen, brechenden Wellen, die unter dem Namen der Teufelswellen bekannt und die namentlich Segelschiffen so unheilbringend sind.“
Erst in neuester Zeit hat diese Schilderung der Magalhãesstraße eine düstere Bestätigung gefunden. In ihren tückischen Felsenbuchten verlor sich die Spur des Dreimasters „Santa Margherita“ und seines Kapitäns Johann Orth, der einst den Namen „Erzherzog Johann Salvator“ geführt hatte.
Altvenetianische Taufe. (Zu unserer Kunstbeilage.) Die alten Kirchen der Lagunenstadt üben auf Künstleraugen den Zauber, daß aus ihren Schatten am hellen Mittag Gestalten vergangener Zeiten hervortauchen, wenn man still in einer Ecke ruht und mit halbgeschlossenen Augen in das Halbdunkel ihrer Nischen und Bogen hineinsieht. Auf einmal wandeln da paarweise über die uralten Mosaikplatten ernsthaft blickende Senatoren im Purpurgewand, an die Beichtstuhlgitter drängen sich schöne blonde Sünderinnen mit unbußfertig lächelnden braunen Sammetaugen, geistliche Häupter reihen sich im Chorgestühl, und durch den Weihrauchduft schimmert die Goldhaube des Dogen …
Am lieblichsten aber ist das Bild in der Taufkapelle, wo ein jüngster Sproß aus altadeligem Hause – ist’s ein Loredano, ein Pesaro oder ein Grimani? – in seiner Spitzenhülle ruhig den Segen der Kirche und die Aufnahme in die Gemeinschaft der Gläubigen verschlummert hat. Stolz hält die bildschöne Amme den kostbaren Schatz wieder auf den Armen, Mutter und Großmutter bewachen ihn mit liebevollen Blicken, während die junge blonde Tante sich noch einmal über das Pathchen beugt. Sie ist so vertieft in seinen Anblick, daß sie nicht auf die halblauten Reden hört, die dort am Taufstein, der Heiligkeit des Ortes uneingedenk, ihre schöne Base mit dem jungen Nobile tauscht. Seine brennenden Blicke sprechen deutlicher als die hastigen Flüsterworte, und aus ihren Augen strahlt die leichtlebige Heiterkeit, welche als allgegenwärtiges Element das Venedig jener Tage durchdrang, nur Freude und Genuß begehrend, mit künstlerischem Behagen im Glanz des Reichthums sich sonnend und froh nach allen Gütern des Lebens greifend …
Kein Wunder, daß die Künstler unserer Tage sich gerne zurückträumen in die schönheitsfreudige Zeit und die heute so still gewordenen Plätze und Hallen mit den Figuren wieder bevölkern, die so nothwendig in die alte Pracht gehören. Auch der Maler unseres Bildes hat das mit Glück gethan, und bei Betrachtung seiner Schöpfung wird sich mancher gemahnt fühlen an die unvergeßlichen Eindrücke, welche die wunderbare „Beherrscherin der Meere“ in ihm hinterließ.
Kleiner Briefkasten.
F. R., Hagenau i. Els. Unseres Dafürhaltens ist ein Knabe mit Elementarbildung, wenn er nicht ganz außerordentliche Fähigkeiten besitzt, nicht imstande, die französische und englische Sprache durch Selbstunterricht ordentlich zu erlernen. Der erste Grund wird unter allen Umständen von einem Lehrer zu legen sein. Später können dann die Lehrbücher nach der Methode Toussaint-Langenscheidt ihren Dienst thun.
C. L. G., Verviers. Die Ulanen der deutschen Armee zählen nach dem Schema zur sogenannten „schweren“ Kavallerie. Nach ihrer Verwendungsart aber nehmen sie Mittelstellung zwischen der „schweren“ (Kürassiere) und der „leichten“ (Dragoner, Husaren) ein. Mit der allgemeinen Einführung der Lanze wird sich der thatsächliche Unterschied zwischen den verschiedenen Klassen der Reiterei immer mehr verwischen.
P. F. in Wien. Wir wüßten schon ein Werk, das Ihren Zwecken dienlich wäre, nur müssen wir fürchten, daß Ihnen die Anschaffungskosten zu hoch sind. Es betitelt sich „Die Pflanze in Kunst und Gewerbe“, ist bei Gerlach und Schenk in Wien erschienen und kostet nicht weniger als 270 Gulden oder 450 Mark. Es ist freilich auch ein prächtiges und nach höchst zweckmäßigem Plane angelegtes Werk. Kunstgewerbliche Bibliotheken werden sich dasselbe jedenfalls anschaffen.
der Osternummer beigelegt werden wird.
Inhalt: Eine unbedeutende Frau. Roman von W. Heimburg (8. Fortsetzung). S. 133. – Bekanntmachung. Bild. S. 133. – Voltaire in Pommern. Bild. S. 136 und 137. – Unschuldig verurtheilt! Beiträge zur Geschichte des menschlichen IRrthums. Neue Folge. II. Von Fr. Helbig. S. 138. – Emin Pascha und Casati. Mit Bildniß. S. 141. – Truggeister. Roman von Anton von Perfall (8. Fortsetzung). S. 143. – Die Magalhaesstraße. Bild. S. 145. – Blätter und Blüthen: Voltaire in Pommern. S. 148. (Zu dem Bilde S. 136 und 137.) – Die Magalhaesstraße. S. 148. (Zu dem Bilde S. 145.) – Altvenetianische Taufe. S. 148. (Zu unserer Kunstbeilage.) – Kleiner Briefkasten. S. 148.