Die Gartenlaube (1891)/Heft 13
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Nr. 13. | 1891. | |
Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
In ihrer lauschigen Stube saß Hilde und schrieb; das heißt,
sie hatte geschrieben und überlas jetzt nur noch einmal den Brief;
er war an ihre älteste Schwester gerichtet, die seit kurzem ihre
Vertraute geworden war. Die junge Malerin hatte sich sehr
verändert; ihr Gesicht war schmaler geworden, der Mund schien
das eigenthümliche, halb verächtliche, halb verbindliche Lächeln
nicht mehr lassen zu können, welches Leuten eigen ist, die sich
über die Thorheiten und Erbärmlichkeiten ihrer Mitmenschen
himmelweit erhaben fühlen und nur durch die Verhältnisse gezwungen
werden, ihre Ansichten für sich zu behalten. Sie hatte
etwas Beobachtendes, Abwartendes in ihrem Wesen, ihre Bewegungen
waren katzenhaft geschmeidig geworden, man erkannte
sie kaum wieder. Wenn Antje still geduldig war, so war sie
geradezu theilnahmlos in ihrem Verhalten. Fragte Leo sie, ob
sie spazieren gehen wolle, so erwiderte sie mit einem kurzen
„Gewiß!“ und marschirte tapfer neben ihm her. Sie war gerade
noch so höflich gegen ihn, daß es nicht zur Unart wurde; aber
diese Zurückhaltung, diese Kühle kleidete sie vortrefflich, denn aus
ihren dunklen Augen blitzte ein Feuer, das zu ihrem sonstigen
Verhalten einen seltsamen Gegensatz bildete. Sie wußte genau,
daß sie Leo damit quälte, beglückte, ärgerte, aber sie lebte so gelassen
dabei hin, daß jeder Mensch glauben mußte, sie ahne gar
nichts von den Stürmen, die sie heraufbeschwor. Und sie gestand
sich selbst kaum die Freude ein, welche ihr das bereitete.
[202] Wenn Leo sich wand und krümmte wie ein getretener Wurm, nun, so wog all seine Pein noch nicht das auf, was sie erduldet hatte an jenem Abend, als sie erfuhr, daß er verheirathet sei. An Antje dachte sie hierbei gar nicht. Was war ihr diese Frau? Wenn die nur die Schlüssel zur Speisekammer und zum Linnenschrank am Gürtel und ihr Kleines auf dem Arm hatte, dann war sie ja zufrieden.
Sie griff nach dem Briefblatt und las es noch einmal:
„Liebste Toni!
Quäle mich nicht mit Fragen, ich kann es nicht bestimmen, wann ich zurückkehre; Jussnitz hat das Bild noch nicht vollendet. Du weißt ja auch, daß ich hier gut aufgehoben bin.
Daß Papa der Tante Polly gründlich den verleumderischen Mund gestopft hat, freut mich herzlich Toni, Du kennst mich – als ob ich hier bleiben würde, wenn auch nur ein Atom davon wahr wäre, was sie behauptet. Es giebt eben Menschen, die nicht über den Zaun hinauszusehen vermögen, welchen Engherzigkeit und Lust an dem Gewöhnlichen um sie gezogen haben. Ich liebe Jussnitz nicht, ich schreibe es noch einmal hierher. Wie sollte ich, die Hilde Zweidorf, auch dazu kommen, mich für einen verheiratheten Mann zu interessiren? Du liebe Güte – lächerlich!
Es kann sein, daß ich einmal ganz unverhofft bei Euch ankomme – auf kurze Zeit. Ich möchte es später mit München versuchen. Also es kann sein, ich stehe plötzlich in Eurer alten Giebelstube zwischen der klappernden Nähmaschine und dem Weißzeugkorb. – Mein Gott, wie haltet Ihr es nur aus, Kinder, in dem ewigen Einerlei?
Hier ist augenblicklich zwar auch wenig Abwechslung, ausgenommen die Launen des Hausherrn. Bald will er malen: ich werfe mich in mein Kostüm und stelle mich in Positur – was eigentlich an dem Bilde noch zu thun ist, weiß ich nicht; es könnte längst in Berlin sein – und nach einer Viertelstunde findet er, daß er ‚nervös‘ ist, nicht in Stimmung, und er wünscht zu plaudern. Keine Minute später spricht er die Absicht aus, spazieren zu gehen. Wenn nicht die ‚ewige Nachtlampe‘ im Hause wäre mit ihrem schwachen, stets gleichbleibenden Schimmer, die das Gegengewicht hält gegen diese Unbegreiflichkeiten, dann würde es drunter und drüber gehen – aber so – – Herr Gott, wie kann man so grenzenlos langweilig sein wie diese Frau!
Kennst Du das Gedicht der Annette von Droste-Hülshoff ‚Die
beschränkte Frau‘? Ich sage Dir, Toni, diese Hülshoffsche Dame
war eine Heldin von Klugheit und Intelligenz gegen Frau Antje,
sie hatte wenigstens soviel Gescheitheit im Kopfe, daß sie ihres
Mannes pekuniäre Verhältnisse nicht erschwerte. Aber hier? Und
immer mit derselben freundlichen gelassenen Art. Wenn sie nur
wenigstens zur Abwechslung einmal lärmen und schelten wollte
wie weiland Dürers liebenswürdige Gattin; aber das kommt nicht
vor! Doch, was rede ich noch! Leb’ wohl, grüße die Eltern und
Geschwister!Deine Hilde.“
Als Hilde die Worte geschrieben hatte: „Wie sollte ich, die Hilde Zweidorf, auch dazu kommen, mich für einen verheiratheten Mann zu interessiren“, da hatte sie die Wahrheit gesagt. Mit der Liebe, die sie für ihn gefühlt hatte, war es vorbei seit jener großen Enttäuschung, aber an Stelle der Liebe war etwas anderes, nicht minder Leidenschaftliches getreten: der Haß, das Verlangen, ihm zu beweisen, daß sie ihn überhaupt niemals geliebt habe. Dieses Verlangen machte sie blind und taub für alles andere, jemehr sie sich bewußt ward, daß sie ihm früher doch verrathen hatte, wie wenig gleichgültig er ihr war.
In solchen Augenblicken ballten sich ihre Hände zu Fäusten und die Zornesthränen rannen ihr aus den Augen. Das waren Tage, an denen sie unberechenbar in ihren Launen erschien, an denen sie ersehnte, er möchte ihr von seiner Liebe sprechen, an denen sie ihn quälte und beglückte nur in der Hoffnung, jetzt endlich sei der Augenblick gekommen, wo sie mit stolz zurückgeworfenem Kopf vor ihn hintreten und sagen könne: „Mein Herr, was meinen Sie? Ich verstehe Sie nicht.“
Und heute, heute wäre so ein Tag gewesen. Tonis Brief hatte alles Schlimme in ihr wach gerufen; es hatte etwas darin gestanden von einem Schreiben der Tante Polly, die sich hoch und theuer verschwur, daß Hildes Herz nicht gleichgültig geblieben sei Herrn Jussnitz gegenüber. Sie war schon beim Spaziergang mit fliegendem Athem neben ihm hergeschritten, hatte mit ihm gespielt wie eine Katze mit der Maus; aber er hatte den Muth nicht gefunden, zu sagen, was Hilde ihm so gern entlockt hätte. Hilde wußte nur, daß er mit sich selber kämpfte. Einmal aber würde er sprechen, und dann würde sie noch in der nämlichen Stunde das Haus verlassen, den Wunsch im Herzen, daß er nur halb so sehr leide, wie sie gelitten!
Wohin sie gehen würde, das war ihr gleichgültig, nur mit ungebrochenem Stolz wollte sie gehen, mit lachenden Lippen und in dem Bewußtsein, daß er sie suchen werde und nicht finden, daß er krank werde vor Sehnsucht nach ihr.
Sie hatte während dieser Betrachtungen den Brief an ihre Schwester adressirt und begann, Toilette zu machen; sie wußte, daß er sie unten im gelben Salon schon erwartete. Sehr langsam kleidete sie sich an: auch das „Wartenlassen“ war eines ihrer Mittel, ihn zu quälen. Eine Viertelstunde brauchte sie, um ihre Stirnlöckchen zu brennen, und weitere zehn Minuten, um einen Strauß Schneeglöckchen an ihrem Kleide zu befestigen. Sie sah ihn im Geiste unten auf- und abgehen, immer auf und ab, und ihre Schritte, die sie nun der Thür zulenkte, verlangsamten sich noch bei dieser Vorstellung.
Sie traf ihn, wie sie es sich eben ausgemalt hatte, nur auffallend bleich. Ob es wohl von ihrer Frage herkam, die sie im Laufe des Tags gethan hatte: „Wann ist mein Bild fertig?“
Er war ihr die Antwort schuldig geblieben. Nun stand sie vor ihm in ihrem besten Kleidchen, einem einfachen aber tadellos sitzenden bordeauxrothen Tuchkostüm, ein paar weiße Blüthen an der Brust, und mit dem schönen unbewegten Gesicht, das so gleichgültig an ihm vorübersah.
„Wollen wir zu lesen beginnen?“ sprach sie müde.
Er bejahte und sie nahmen Platz auf den Stühlen, die so traulich einander gegenüber standen neben dem Kaminfeuer, das seinen Schein auf den Teppich warf.
„Wo waren wir doch stehen geblieben?“ erkundigte sie sich ein leises Gähnen verbergend.
Er hob die Schultern. „Ich weiß es nicht, Hilde, fragen Sie mich doch nicht. Ach Gott, ich höre ja gar nicht, was Sie lesen – ich –“
„Wie? Sie hören nicht, was ich lese?“
Er schüttelte den Kopf. „Nein,“ sagte er leise, „ich höre nichts, ich sehe Sie nur. Und dann frage ich mich, wie lange ich Sie noch sehe. Und Sie fragen mich, wann ist das Bild endlich fertig? – Hilde, mein Gott, ahnen Sie denn nicht, daß ich den Gedanken nicht ertragen kann, das Bild eines Tages vollendet zu wissen, eines Tages die Stelle leer zu sehen, wo Sie immer gestanden haben?“ Und er griff ungestüm nach ihren Händen und zog sie an seine Lippen und an seine Augen.
Hilde sprang auf, tödlich erschreckt. Was sie so heiß gewünscht hatte, jetzt wirkte es entsetzlich beschämend auf ihr Empfinden; sie fand kein Wort, nur einen leisen Schrei stieß sie aus und ihre Blicke hafteten auf Antje, die da wie hingezaubert mitten im Zimmer stand mit blassem vergrämten Antlitz, mit Haaren, die feucht vom Nachtthau in die Stirn fielen. Ihre großen Augen starrten Hilde eine Sekunde lang an mit schmerzlichem jammervollen Ausdruck, und unter diesem Blicke senkte das junge Mädchen das Haupt. Es war ihr nicht möglich, an Antje vorüber zu gehen; so verließ sie das Zimmer durch die entgegengesetzte Thür, die in das Theezimmer führte. Ihr war zu Muthe, als habe sie in einen Abgrund von Leid und Schmerz geschaut.
Leo aber trat auf seine Frau zu. „Was wolltest Du, Antje?“ fragte er, weicher, als er je zu ihr gesprochen. „Willst Du fort? Aengstigst Du Dich so sehr, so reise, reise in Gottes Namen!“
Er faßte nach ihrer Hand, aber die hielt Antje verborgen in den Falten ihres Kleides; sie rührte sich nicht, sondern sah ihn nur an mit dem nämlichen Ausdruck, mit dem sie vorhin Hilde angeschaut hatte.
„Antje,“ sagte er, „fasse Dich doch, es ist ja so schlimm nicht mit –“
„Womit?“ fragte sie mühsam.
„Mit Deiner Mutter! Reise, Kind; es muß hier eben gehen ohne Dich – reise –“
„Nein!“ antwortete sie, „ich reise nicht, ich habe eingesehen, daß ich – jetzt – nicht fort kann – der liebe Gott wird sich ja erbarmen!“ – Sie wollte noch weiter sprechen, aber die Stimme brach ihr in einem schluchzenden Ton.
„Antje, ich bitte Dich, nimm nicht alles gleich so entsetzlich tragisch, bilde Dir nicht immer gleich das Schlimmste ein!“
[203] „Nein! Nein!“ murmelte sie, „ich werde es überwinden!“ Und sie streckte die Hände wie abwehrend gegen ihn aus, als wollte sie sagen: „Es ist gut, sprich nicht mehr davon, sei barmherzig!“
Und sie ging die Treppe hinauf in ihr Stübchen und trat vor das Bild der Mutter. „Du wirst’s mir vergeben,“ flüsterte sie, die gefalteten Hände an ihren Lippen, „wirst’s mir vergeben, wenn ich nicht komme, ich kann doch nicht drei Menschen untergehen lassen um eines willen. Du hast ja Deinen Mann und Dein Kind auch geliebt, mehr als alles auf der Welt – Du wirst’s verstehen, daß ich auf meinem Posten bleibe.“
Und dann holte sie Papier und Tinte und schrieb zwei Depeschen, die eine an den alten Werkführer Kortmer daheim, die andere an Doktor Maiberg in Berlin, und die letztere lautete:
„Meine Mutter schwer erkrankt, ich nicht abkömmlich, könnten
Sie hinreisen – sehr dankbar. Anna Jussnitz.“
Antje kam nicht zu Tische; auch Hilde erschien nicht wieder
und blieb auf ihrem Zimmer.
So saß Leo allein an dem gedeckten Tisch, aber der Bissen quoll ihm im Munde. Schließlich ließ er das Essen und trank nur. Im tollen Wirbel drehten sich hinter seiner Stirn die Gedanken: seine Vermögensverhältnisse, das Börsenspiel, in dem er Antjes Heirathsgut ohne ihr Wissen riskirte, die Schwiegermutter, die ihm keineswegs gewogen war und ihn vermuthlich am liebsten auf Taschengeld gesetzt hätte. – Er hatte auch gar kein Glück! Schon vor Wochen hatte er dem Kunsthändler wieder ein Bild übergeben, ihm auch eine Aquarellskizze geschickt, aber bis jetzt war nichts verkauft, und ihm waren nie ein paar tausend Mark nöthiger gewesen als eben jetzt. Er hätte Hildens Bild schicken können, aber der Gedanke, sich davon trennen zu müssen, es irgend einem Kunstprotzen zu überlassen, der mit diesem Werke sein Zimmer auszierte und sich schmunzelnd die Hände rieb beim Anblick solcher Schönheit, trieb ihn in einen eifersüchtigen Zorn, der ihn beinah der Besinnung beraubte. Und dazu die angenehme Aussicht, daß die Schwiegermutter unversöhnt sterben könnte, schon den Notar hatte holen lassen, jedenfalls, um dem „leichtsinnigen Schwiegersohn“ gehörig die Hände zu binden, damit er nicht an das Kapital – –
Die Scene mit Antje – hätte er sie doch reisen lassen! Jetzt würde sie umhergehen, als sei sie die betrogenste, unglücklichste aller Frauen, würde ihn auf Schritt und Tritt eifersüchtig belauern, kalt wie Eis sein gegen das arme Mädchen, bei Tische mit unleidlicher Duldermiene dasitzen und – „kurz und gut, es ist zum Davonlaufen! Am gescheitsten thäte ich, heute noch nach Dresden zu fahren. – Wenn nur die Geschichte nicht wäre mit der kranken Schwiegermutter!“
Und nun wollte Antje nicht einmal hin! Lediglich aus Eifersucht. Einen Auftritt würde es heute abend noch geben, das wußte er genau, und es sollte auch einen geben, er wollte sich von ihr dazu reizen lassen – lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.
Und Hilde? Sie war von ihm gegangen ohne ein Wort, jeder Zoll eine beleidigte Königin. Er lachte bitter auf, nahm eine Cigarre und ging nach oben, seiner Frau eine „Scene“ zu machen. Er dachte sich, er würde sie finden mit dem Gesicht einer Märtyrerin, mit verweinten Augen und auf alle Fragen nur „Ja!“ oder „Nein!“ antwortend. Das eignete sich dann so prächtig zum Anfang, wenn er etwa sagen konnte: „Hör’ mal, liebes Kind, nachgerade habe ich nun dieses ewige Regenwetter satt! Wenn ich Dir denn gar nichts recht machen kann, wenn Du bei allem, was ich thue, etwas herausfindest, das Dich verletzt, so wollen wir ein Ende machen. Solch Leben halte ein anderer –“
In diesem Augenblick hatte er die Thür ihres Zimmers erreicht und öffnete sie. Sie saß am Schreibtisch und blickte nicht auf, so eifrig war sie mit der Feder beschäftigt. Erst als er dicht an sie herantrat, bemerke sie ihn und, die Feder in die linke Hand nehmend. reichte sie ihm die Rechte. „Verzeih, noch einen Augenblick, Leo, nur noch die Unterschrift, dann bin ich für Dich da.“
Sie hatte aufgesehen zu ihm. Ja, diese Augen, diese unergründlichen Augen waren noch voll Thränen, aber es brach ein so weher, ein so fragender Ausdruck unter den langen Wimpern hervor, daß er schlechterdings nicht zu seinem schneidigen Anfang kommen konnte. Er warf sich in einen Sessel und strich sich den Bart.
„Willst Du nicht weiter rauchen, Leo?“ fragte sie, sich umwendend, als sie bemerkte, daß er seine Cigarre weggelegt hatte, „Dir ist doch immer erst gemüthlich mit der Cigarre.“
„Danke!“ erwiderte er kurz.
„Sonst – ich habe es sehr gern, Leo, wenn Du rauchst.“
Er zuckte ungeduldig die Achseln. Er war auf alles gefaßt gewesen, nur nicht auf Freundlichkeit, und das reizte ihn jetzt unsagbar.
„Wie kommt es, daß das Kind noch wach ist?“ fragte er und wies nach der Thür, hinter welcher das Plappern der Kleinen erscholl, „und was hat die Alte aus der Küche hier oben zu suchen?“
„Die Maus wird öfter wach um diese Zeit, Leo,“ erwiderte Antje und klebte die Freimarke auf das fertige Schreiben, indem sie sich erhob. „Die Kinderfrau ist drunten im Dorfe und die Classen vertritt ihre Stelle so lange; das ist das ganze Geheimniß. – Wollen wir einmal zur Maus gehen, Leo?“
„Damit sie so recht aufgeregt wird und die ganze Nacht konzertirt – ich danke!“ erwiderte er.
„Ich glaubte, es mache Dir Freude, Leo; Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie drollig sie ist.“
„Hast Du die alten seidenen Kleider vorgesucht von Deiner Urgroßmutter?“ fragte Leo ausweichend. „Ich bat Dich schon vorgestern darum. Sie müssen anprobirt werden, falls noch etwas daran zu ändern ist.“
„Ja, Leo. Aber unter den jetzigen Verhältnissen denken wir doch wohl nicht mehr an das Kostümfest?“
„Nun, es wird sich ja alles historisch entwickeln! Im letzten Augenblick kann man keine Anzüge mehr beschaffen. Deine Mutter hat sicher wieder ein gastrisches Fieber infolge ihrer gediegenen Mahlzeiten, das ist alles; sie erholt sich schon bis zu dem Maskenball.“
„Gott gebe es!“ sagte Antje leise. Es klang so trostlos, daß er schwieg.
Es wollte sich noch immer kein Grund zum „Anfangen“ finden.
Sie nahm ihre Handarbeit und setzte sich aufs Sofa.
„Kannst Du denn nicht wenigstens die paar Minuten, die ich bei Dir bin, die Hände still halten?“
„Aber freilich – Leo! Ich dachte eben gar nicht daran, daß Du Häkeln nicht liebst.“ Sie legte die Arbeit in das zierliche Körbchen zurück und saß nun, die Hände im Schoß gefaltet, da.
„Sag’ mal,“ begann er, im Zimmer auf- und abwandernd, „wozu um alles in der Welt läßt Deine Mutter sich einen Notar holen? Sie hat ihr Testament doch schon lange gemacht! Will sie es ändern, oder was ist los? Sie wird Dich doch jedenfalls in ihre Pläne eingeweiht haben! – Wahrscheinlich wünscht sie mich ‚kalt zu stellen‘, wie man so sagt.“
„Ich kenne ihre Absichten nicht,“ erwiderte Antje.
„So? Nun, wie sie über mich denkt, weiß ich ja – ein Lump, ein Tagedieb u. s. w. – nicht wahr? Das ist so recht eigentlich auch Deine innerste Meinung, was? Du hättest eben eine gehorsame Tochter sein und Dich nicht an mich hängen, hättest Deinen braven soliden Vetter nehmen sollen, das wäre besser gewesen für Dich und für – –“
„Leo!“ unterbrach ihn ein schriller Aufschrei, „sprich das nicht aus – ich bitte Dich, nur das nicht!“ Antje war aufgesprungen, mit schreckensbleichem Gesicht, und ihre zitternden Hände faßten seinen Arm. „Für mich wäre es nicht besser gewesen,“ setzte sie hastig hinzu, „denn ich liebe Dich, aber – für Dich, Leo, das glaube ich jetzt auch – seit vorhin glaube ich es!“
„Seit vorhin? Wie so?“
„Leo, glaubst Du denn, ich sähe nicht, wie Dir Hilde –“
„Laß Hilde aus dem Spiel, ich bitte Dich dringend. Das sind einfach Hirngespinste.“
„Nein!“ sagte sie fest, „es sind keine Hirngespinste! Ich habe sie ja wachsen sehen, diese Neigung, unter hundertfältigen Qualen. Meinst Du denn, mein Herz sei ein anderes als das anderer Frauen? – Ich habe immer geglaubt, Du würdest – Du müßtest umkehren, Du müßtest Dich besinnen, aber Du –“
„Du meinst also, ich sei verliebt in Hilde?“ fragte er mit gekünstelter Ruhe.
[204] „O nein,“ erwiderte sie rasch mit dem Tone ehrlichster Ueberzeugung, „nein, Leo, für eine gewöhnliche Liebelei stelle ich Euch beide zu hoch – Du liebst sie und Du dauerst mich, Ihr dauert mich beide so furchtbar, aber,“ und sie schlug die Hände vor das Gesicht, „die Maus und ich sind doch nun einmal da, wir können doch nicht spurlos von der Erde verschwinden!“
Ein heftiges Schluchzen schüttelte sie, dessen sie eine zeitlang vergeblich Herr zu werden versuchte, und als es ihr endlich gelungen war, ging sie hinüber zu ihm. Er hatte sich vor ihr Bücherschränkchen gestellt, als mustere er die kleine Bibliothek, während er in Wirklichkeit nichts sah und fühlte, als die „abgeschmackteste Sentimentalität einer Eifersüchtigen“.
„Leo,“ begann sie, „bitte, bitte, versuche es, schenke mir Dein Vertrauen! Ich will Dir überwinden helfen, ich will Dein guter Kamerad sein, ich will alles thun – – denke an Dein Kind, es darf nicht mit seinem erwachenden Verständniß sehen, daß Du und ich – –“
Er fuhr herum in nicht mehr zu bemeisterndem Zorn.
„Willst Du mir denn dies jammervolle Leben ganz und gar zur Hölle machen?“ rief er mit kreidebleichem Gesicht. „Ist es nicht genug, daß Du meinem Beruf, meiner Eigenart, meinem ganzen Wesen nicht das geringste Verständniß entgegenbringst? Willst Du mir auch das noch nehmen, woran mein Auge als das eines Künstlers, mein Geist als der eines gebildeten Menschen Gefallen findet? Willst Du nur mit Deiner entsetzlichen Prosa das letzte Winkelchen auskehren, in das sich mein mißhandeltes Künstlerthum geflüchtet hat? Barmherziger Gott, was könnte ich sein, wenn Du nicht die Kette wärst – ja, eine Kette, eine Kette, wie sie schrecklicher kein Verbrecher mit sich schleppt!“
Er brach plötzlich ab; Antje stand da in eigenthümlich aufrechter Haltung. Sie war ihm noch nie so groß erschienen, noch nie hatte er das weiche Antlitz so erstarrt gesehen in eisiger Kälte, in unnahbarem Stolz; eine völlig andere war sie.
„Ich will keine Kette für Dich sein,“ sagte sie laut und fest, „Du bist frei, Leo, von diesem Augenblick an frei. Daß Du so an meiner Seite gelitten hast, das ahnte ich nicht. Mein Gott, ich hatte ja immer das Wort im Herzen, das Du mir sagtest in jener Stunde, als Du mich batest, Deine Frau zu werden: ‚Ich glaube, Anna, Sie könnten mich mit dem Leben wieder aussöhnen!‘ – Gewollt habe ich es, Leo, bei Gott, ehrlich gewollt – ich muß eine arge Stümperin gewesen sein, ich –“
Sie hielt sich plötzlich an der Lehne eines Sessels, der ihr zunächst stand; eine dunkle Gluth färbte ihr Gesicht. „Ich bitte nur – – es ist so furchtbar viel auf einmal – denke, daß meine Mutter jeden Augenblick sterben kann – laß es unter uns bleiben, bis sie – genesen oder todt ist; laß es die alte Frau nicht in ihrer schweren Krankheit, vielleicht in ihren letzten Augenblicken erfahren, daß ich so – so bettelarm heimkehre.“
Er wollte etwas vorbringen von Uebertreibung, von Worten, die man nicht auf die Goldwage legen dürfe, aber anstatt dessen stürzte er zur Klingel – Antje war plötzlich zusammengebrochen; sie lag mit dem Kopf auf dem Polster des Sessels, ohne Regung, ohne Laut. Er hob sie empor und trug sie auf das Sofa. Die alte Classen war herzugeeilt und wies seine nervös zitternden Hände zurück.
„Gehen Sie lieber,“ sagte sie barsch, „und lassen Sie den Doktor holen. Den Zustand kenne ich von früher her.“ Und sie bettete das schmerzverzogene Gesicht ihrer jungen Herrin tiefer und nestelte an ihrer Kleidung.
Er stand, als könne er keinen Fuß heben.
„Seien Sie so freundlich, Herr Jussnitz, und gehen Sie,“ ermahnte die Alte in nicht sehr unterthänigem Tone, „solche Ohnmacht dauert lange, ich weiß es noch von dazumal, als Sie uns für todt ins Haus getragen wurden von den Förstern – da hatte sie es zum ersten Male; dann nochmal, als Herr Frey nicht wollte, daß Sie das Kind heiratheten. Merken Sie etwas? ’s sind allemal große Alterationen. Von nichts – kommt nichts! Herr, so gehen Sie doch!“ wiederholte sie ungeduldig.
Da endlich verließ er die Stube.
DENKSPRÜCHE.
Alle Rechte vorbehalten.
Glückliches Leben.
Glückliche Stunden
Werden im Menschenleben gefunden;
Doch ein ganzes glückliches Leben
Hat’s nicht gegeben und wird es nicht geben.
Gelehrsamkeit.
Ein Mann, der vieles weiß, jedoch nur wenig denkt,
Wird wohl gelehrt genannt und ist dabei beschränkt.
Zurückgewiesenes Lob.
Es ist kein Mensch so ganz bescheiden,
Wenn er zurück das Lob auch weist,
Daß er’s nicht gerne würde leiden,
Wenn man ihn doch aufs neue preist.
Nicht zu viel auf einmal!
Wer zugleich zwei Hasen hetzt,
Kriegt nicht einen zu guter Letzt.
Russisches Sprichwort.
Fußgänger, als Begleiter
Gesell dich nicht zum Reiter!
D. Sanders.
Das Ende der Steinkohle und ihr Ersatz.
Wie sehr infolge Einführung der Dampfmaschine sowohl das gewerbliche als auch das gesellige Leben umgestaltet wurde, ist vielen unserer Zeitgenossen als Selbsterlebtes in Erinnerung. Früher wurde es als ein staunenswerthes Ereigniß mitgetheilt, daß die Schnellpost zur Reise von Köln nach Berlin nur 5 Tage gebraucht habe. Jetzt legen wir dieselbe Strecke, sanft dahingleitend auf den Eisenschienen, in 8 Stunden zurück. – Ueber die Wogen des Meeres trägt uns, trotzend dem Winde und der Strömung des Wassers, das majestätische Dampfschiff. In 6 bis 7 Tagen ist New-York zu erreichen, wozu früher, wenn’s gut ging, 6 Wochen erforderlich waren; und recht oft ging’s nicht gut, denn der Segelwind blieb aus. – Die idyllische Spinnstube ist durch große Fabriken mit riesenstarken Dampfmaschinen ersetzt, welche den Stoff zu unserer Kleidung herrichten, spinnen, weben, färben – alles mit Dampf. Mittels Dampfmaschinen von Hunderten von Pferdekräften wird unser Brot gemahlen, geknetet und dann mit Dampf gebacken. Der großartige Bedarf an Metallen, insbesondere an Eisen, wird mit Aufwendung einer bedeutenden Menge Kohle gedeckt, die zum Schmelzen, Schweißen und zur mechanischen Verarbeitung dient. Kurz – all unser Bedarf wird mit Hilfe des aus der Kohle geborenen Dampfes hergestellt. Den himmelanstrebenden Kaminen, den Wahrzeichen der Industrie,
[205][206] entsteigen die Rauchwolken und hüllen die ganze Gegend in ein dichtes Grau, und wie zu Abrahams Zeiten „steigt ein Rauch auf vom Lande wie ein Rauch vom Ofen“.
Wie ein Klang aus alten Zeiten erscheint uns das Lied:
„In einem kühlen Grunde
Da geht ein Mühlenrad
Wo ist sie geblieben die vielbesungene Mühle mit Weh und Sehnen des in die Ferne ziehenden Wanderers? Wo ist das Hammerwerk, einst am stillen Weiher in tiefer Waldeinsamkeit gelegen, wo der „Märker Eisen reckte“, wo der himmelblaue Rauch des Holzkohlenmeilers kräuselnd aufstieg und in langen blauen Streifen durch den Wald dahinzog. – Die rauhe Hand der unaufhaltsam vorwärtsstürmenden Zeit hat das alles weggefegt. Die saubere Holzkohle ist von der rußigen Steinkohle verdrängt worden; und wie die Postkutsche der Lokomotive weichen mußte, so ist das Wasser in seiner Rolle als treibende Kraft von dem durch die Kohle erzeugten Feuer weit überholt worden. Ob für immer? – Wir werden versuchen, ob wir den Schleier der Zukunft etwas zu lüften imstande sind. Und wenn auch die anheimelnde Poesie des Mühlbaches für immer verloren ist, als Betriebskraft wird der Bach wohl wieder zu Ehren kommen, wenn auch erst in ferner Zukunft.
Zur Zeit werden annähernd 450 Millionen Tonnen Steinkohle jährlich dem Schoße der Erde entführt, entsprechend einem Raume von 340 Millionen Kubikmeter. Wollte man diese Kohle zu einem Würfel formen, so würde dieser in runder Zahl 700 Meter Kantenlänge haben. Diese Größenangaben lesen sich so leicht, als ob das gar nichts wäre; wir möchten deshalb unsern Lesern behilflich sein, sich diese Größen etwas anschaulicher zu machen.
Der erwähnte Steinkohlenwürfel würde 2½ Mal so hoch sein als der viel besprochene Riesenthurm der Pariser Weltausstellung; und man müßte eine gute halbe Stunde lang gehen, um den ganzen Umfang der Grundfläche des Würfels zu umwandern.
Eine Landstraße in der Breite von 8 Metern, einen Meter hoch mit Kohle bedeckt, würde um den ganzen Erdball herumreichen.
Die ägyptischen Pyramiden werden oft als Beispiel der großen Leistungen des Alterthums bewundert; es sei deshalb noch erwähnt, daß man aus der jährlich geförderten Kohlenmenge 130 solcher Pyramiden größter Sorte würde herstellen können.
Dieser Kohlenbedarf ist jedoch nicht etwa unveränderlich, sondern er ist stetig, und zwar in erheblichem Maße, im Zunehmen begriffen, und in den letzten 30 Jahren auf das 21/2fache des anfänglichen Bedarfes gestiegen.
Bei so bedeutendem Kohlenverbrauch und bei solcher Steigerung ist es wohl gerechtfertigt, zu fragen: Kann das so weiter gehen? Sind die Kohlenvorräthe unerschöpflich? Bilden sie sich aufs neue? Wie lange reicht der Vorrath? Und, als Kernfrage: Wenn der Vorrath zu Ende ist - was dann?
Um diesen Fragen näher zu treten, bitten wir den Leser, für einen Augenblick, gleich verwunschenen Prinzen oder Prinzessinnen, sich mit uns in eine Zeit zu versetzen, die der Geologe die „Steinkohlenperiode“ nennt und die viele, viele Millionen Jahre hinter uns liegt. Ein ordentlicher Geologe rechnet nur mit Millionen, und wenn’s einmal in die Millionen geht, so kommt’s auf eine Hand voll mehr oder weniger nicht an. Also – wir befinden uns in den Steinkohlezeiten: eine warme, schwüle, mit Wasserdünsten gesättigte Luft umgiebt uns; kaum vermag die Sonne den dichten Nebel zu durchdringen, und wegen der vielen Dünste scheint der ganze Himmel ein Feuermeer zu sein. Die Erde hat sich von ihrem früher heißflüssigen und glühenden Zustande noch nicht ganz erholt, daher ist der Erdboden noch warm und strahlt fortwährend innere Erdwärme aus. Auf dem warmfeuchten Boden entwickeln sich mit erstaunlicher Schnelligkeit Pflanzen aller Art, von gar seltsamem, fremdartigem Ansehen. Himmelhohe Palmen, Lepidodendren, Sigillarien, Farren und Schlingpflanzen umgeben uns in dichtem Gewirre.
Am Abend des schwülen Tages ballen sich plötzlich die Dünste zu dichten Wolken zusammen, ein Gewitter entsteht, so heftig, als sollte die junge Welt untergehen. Krachend fallen die Waldriesen, sinken dahin, bei ihrem Untergange das dichte Gewebe von Schlingpflanzen mit sich reißend; ein wirrer Pflanzenknäuel bedeckt den Boden. Aber nur einige Tage lang sind die Spuren der Verwüstung sichtbar – dann werden die Trümmer von neuen, üppig hervorbrechenden Pflanzen überwuchert, und unter deren schützender Decke wird die Umbildung der gefallenen Geschwister in Humus und Steinkohle eingeleitet.
Im Fluge lassen wir jetzt weitere geologische Umwälzungen an uns vorüberstreichen. Die großen Lagen abgestorbener Pflanzen werden nach und nach von einer stattlichen Reihe anderer Erdschichten bis zu 500 Meter und höher überdeckt, eingeschlossen, und unter dem großen Druck derselben geht die Umwandlung in Steinkohle, wie wir sie heute vor uns sehen, allmählich vor sich.
So lehrten lange Zeit hindurch die Geologen – und es klappte auch alles so recht hübsch, denn in den schiefrigen Thonablagerungen der Kohlenflötze finden sich noch die steinernen Urkunden aus der damaligen Zeit, nämlich die Abdrücke von riesigen Blättern, Stengeln und Stämmen, so deutlich und schön, als wären sie erst gestern in Thon abgeformt worden; jedes Pflanzenäderchen ist auf denselben zu erkennen, und wo ein Baumstamm war, findet sich ein dem plattgedrückten Stamme entsprechender Rest von Steinkohle.
In den fünfziger Jahren erhielt jedoch diese Anschauung durch die Untersuchungen und Vorträge eines verdienstvollen Gelehrten, des Medizinalraths Mohr, einen bedenklichen Stoß. Dieser „böse Mohr“[1] behauptete, obwohl er selbst auch nicht zugegen gewesen sei, so sei doch die Sache viel natürlicher zugegangen. Man solle sich nur einmal die im Atlantischen Ocean, zwischen den Kanarischen Inseln und der Halbinsel Florida befindlichen, inselähnlichen Tangbildungen ansehen, die dort in dichtestem Gewirre eine Fläche von 40000 Quadratmeilen einnehmen – eine Fläche, größer als Deutschland, Oesterreich und Frankreich zusammengenommen. Diese Bildungen bestehen aus Beerentang oder Sargassum. Nach dem Absterben sinken diese Tange unter und bilden aus dem Meeresgrunde die Steinkohle. Aehnliche Tanglager finden sich im nordwestlichen Theile des Stillen Oceans, an der Südspitze Amerikas, im südlichen Polarmeere und bei den Sandwichinseln. Die Entstehung der eingelagerten Kohlenschiefer erklärt Mohr dadurch, daß sich Schlamm aus dem durch Ueberschwemmung getrübten Süßwasser niedergeschlagen habe. Durch dieselbe Ursache seien auch die erwähnten Pflanzenabdrücke entstanden, die vom Strome zufällig angetrieben worden seien. Endgültig entschieden ist die Frage noch nicht. Hat aber Mohr recht, so könnte und müßte auch zu unserer Zeit noch Steinkohlenbildung stattfinden. – Wann aber diese Neubildungen in verwendbare Steinkohle übergegangen sein werden, entzieht sich jeder Berechnung. Sagen wir also auch hier: in einigen Millionen Jahren.
Da heutzutage Bacillen und dergleichen winziges Gesindel in der Mode sind, so hat ein Herr Reinsch auf Grund sorgfältiger mikroskopischer Untersuchungen behauptet, die Hauptmasse der Steinkohle bestehe aus Zersetzungsresten von äußerst kleinen Pilzen. Eine günstige Aufnahme scheint dieser Ansicht bisher nicht zutheil geworden zu sein, und wir wollen uns mit vorstehender Erwähnung begnügen.
Von großem Interesse für die Beurtheilung der angeregten Fragen ist es aber. über die Dauer der zur Bildung der Steinkohlenlager erforderlichen Zeit sich Rechenschaft zu geben. Nach Schleiden („Die Pflanze und ihr Leben“) ist bei der üppigsten Vegetation der Tropen zur Bildung einer neun Zoll (etwa 12 cm) dicken Humusschicht fast ein Jahrhundert erforderlich. Diese Schicht wird bei der Umwandlung zu Steinkohle auf den siebenundzwanzigsten Theil ihrer Dicke, also auf etwa acht Millimeter zusammengepreßt. Danach kann man sich einen ungefähren Begriff von der Zeitdauer machen, welche die übereinanderliegenden Kohlenlager in Schlesien, die stellenweise mit den zugehörigen Schichten eine Mächtigkeit von 155 Metern haben, erforderten; sie ergiebt sich zu annähernd 2 Millionen Jahren. Viel anders werden sich [207] die Verhältnisse nicht gestalten, wenn man eine Bildung aus Tangen annimmt.
Aus dem Vorhergehenden ist leicht zu entnehmen, daß selbst im günstigsten Falle die Neubildung der Steinkohle bei weitem nicht Schritt zu halten vermag mit dem gegenwärtigen Verbrauche.
Die übrigen gebräuchlichen Brennmaterialien, wie Braunkohle und Torf, haben, wenn sie auch an und für sich beachtenswerth sind, mit der Steinkohle verglichen nur eine untergeordnete und vorwiegend nur örtliche Bedeutung.
Sollte der Bedarf an Steinkohle aber durch Brennholz ersetzt werden, so würde in wenigen Jahren der ganze Waldbestand der Erde zu Grunde gerichtet sein. Um die Leistung der jetzigen Steinkohlegewinnung durch Holz zu ersetzen, wären 1260 Millionen Festmeter frisch geschlagenen Fichtenholzes, oder 2600 Millionen achtzigjähriger Stämme erforderlich, die einen Flächenraum von 27000 Quadratkilometern einehmen würden. Bei forstmännischem Betriebe würde hierzu eine Fläche von der vierfachen Größe des Deutschen Reiches erforderlich sein. Das wäre aber nur für ein Jahr, und 80 Jahre ist der Nachwuchs unterwegs.
Ein Brennstoff, der sich in den letzten Jahrzehnten eine bemerkenswerthe Verbreitung verschafft hat, ist das Erdöl, welches sowohl in flüssiger als in Gasform verwendet wird. Im westlichen Pennsylvanien hat man eine Reihe von Bohrlöchern niedergebracht, die seit Jahren ununterbrochen brennbares Gas unter einem Drucke von 6 bis 30 Atmosphären zu Tage fördern. Allein im Bezirke von Washington werden täglich 14 Millionen Kubikmeter gewonnen. Ob diese Ausgiebigkeit von Dauer sein wird? Wer kann es wissenl Nach den neuesten Nachrichten nimmt der Ertrag so merklich ab, daß die Gascompagnie den Eisenwerken, welche sich auf das Vorkommen dieses Gases besonders eingerichtet hatten, einen Theil der bisherigen Lieferung gekündigt und dadurch die Eisenwerke in eine schlimme Verlegenheit gebracht hat.
In der Nähe von Baku in Südrußland sind zur Zeit auf einem Gebiete von 12 Quadratkilometern gegen 500 Brunnen eröffnet, deren Gesammtertrag zu 20 Millionen Kubikmeter geschätzt wird. Hier ist also ein großartiger Reichthum an Brennstoff aufgespeichert, der zu allen Zwecken der Heizung benutzt wird. Man hat dafür passende Feuerungen für Schiffskessel, Lokomotiven, Schmiedefeuer, Gießereien und für den Hausbedarf eingerichtet.
So wie man die Steinkohle als ein Ergebniß der Zersetzung von Pflanzen ansieht, so hat man Gründe, das Erdöl als aus der Destillation fetthaltiger Thierreste entstanden zu betrachten. Ist letzteres der Fall, so liegt die Aussicht auf eine über kurz oder lang bevorstehende Erschöpfung der Erdölvorräthe sehr nahe.
Sei dem nun wie ihm wolle, jedenfalls zehren wir von einem Vorrathe, welcher sich nicht oder nur ungenügend wieder ersetzt, also wie es kaufmännisch ausgedrückt werden müßte: wir verzehren das Kapital. Daraus ergibt sich die unumstößliche Gewißheit, daß eines Tages der Kohlenvorrath der Erde zu Ende geht, und daß nothwendigerweise etwas anderes an die Stelle dieses zur Zeit fast ausschließlichen Trägers der Kultur treten muß.
Man hat, gestützt auf statistische Ermittelungen, berechnet, daß in absehbarer Zeit, deren Dauer verschieden ausfällt, je nachdem man die augenblickliche Verbrauchsmenge oder die Steigerung des Kohlenbedarfs zu Grunde legt, England seinen Kohlenvorrath aufgezehrt haben wird, wenigstens so weit, daß die Gewinnung der Köhle nicht mehr lohnend ist. Bei Gelegenheit des IV. allgemeinen Bergmannstages äußerte der Geh. Bergrath Heusler seine Ansicht über die englischen Steinkohlenvorräthe dahin, daß bei der gegenwärtigen Gewinnung deren vollständiger Abbau durch eine nicht allzuferne, nicht mehr nach einer längeren Reihe von Jahrhunderten zu berechnende Zeit beschränkt sei. Infolge des alsdann erschöpften Kohlenvorrathes könne die englische Industrie nicht auf ihrer jetzigen Höhe erhalten werden.
Henry Hall, Bergwerksinspektor der vereinigten Königreiche, schätzt den Vorrath aller gewinnbaren Kohle Großbritanniens auf 100 Milliarden Tonnen. Da die englische Kohlenförderung 170 Millionen Tonnen jährlich beträgt, so würde bei gleichbleibender Gewinnung der Vorrath in 600 Jahren und bei der bisherigen Steigerung in 200 Jahren erschöpft sein. Und schon wirft das unausbleibliche Ereigniß seine Schatten voraus. Ein englischer Generalkonsul in Hamburg theilt seiner Regierung mit, daß, während die preußische Regierung den Absatz der westfälischen Kohle nach der Nordsee thunlichst zu erleichtern bestrebt sei, der Preis der englischen Kohle wegen der gesteigerten Förderungskosten stetig in die Höhe gehe, so daß der gänzliche Verlust des norddeutschen Marktes für den englischen Kohlenhandel nur eine Frage der Zeit sei. In der That, ein seltsamer Widerstreit der Interessen! – Günstiger liegen die Verhältnisse in Deutschland. Nach Heusler kann es als feststehend angesehen werden, daß das Aachener Kohlenrevier mit dem Ruhrkohlegebiete zusammenhänge, daß also im Osten und im Westen noch bedeutende Vorräthe an Steinkohlen vorhanden sind, welche im Verein mit dem Zwickauer und schlesischen Becken uns weniger ängstlich zu der Frage drängen, wie lange unsere Steinkohlenablagerung noch aushalten werde.
Nach einer Berechnung Blömckes hat ganz Großbritannien nur noch einen Vorrath von 146480 Millionen Tonnen Kohle, welcher Vorrath bei einer jährlichen Gewinnung von 163 Millionen Tonnen, wie im Jahre 1884, noch für 261 Jahre im günstigsten Falle und im ungünstigsten Falle noch 106 Jahre ausreichen würde. Dagegen schätzt derselbe Statistiker unter Voraussetzung einer jährlichen Gewinnung von rund 60 Millionen Tonnen die Dauer bis zur Erschöpfung der deutschen Kohlenbecken auf 6000 Jahre. Demgemäß könne der gegenwärtige Verbrauch in ganz Europa aus den deutschen Vorräthen durch 1500 Jahre gedeckt werden.
Zu einem anderen Ergebniß kommt Henry Hall, der die gänzliche Erschöpfung der europäischen Vorräthe in 500 beziehungsweise 200 bis 300 Jahren prophezeit.
Von den europäischen Staaten sind Ungarn und Rußland reich an Kohle. Der große Kohlenreichthum Amerikas ist bekannt. Nach Hall könnten die Kohlenlager der Vereinigten Staaten den Bedarf für die ganze Welt auf mehr als 11000 Jahre decken.
Bedeutende Kohlenlager sind auch in China und Japan, in Australien; auch ist nicht zu bezweifeln, daß Nachforschungen in Brasilien, den Laplatastaaten und in Sibirien von Erfolg sein würden. Auch in Afrika sind beträchtliche Kohlenfelder aufgefunden.
Aus allem geht hervor, das eine nahe bevorstehende allgemeine Kohlenkrisis keineswegs zu erwarten ist. Aber was machen selbst 11000 Jahre aus, verglichen mit den Aeonen, die in der Entwicklung der Erde hinter uns liegen und vor uns sich aufthürmen? Und da die Frage nicht nur im allgemeinen von Interesse ist, sondern auch in absehbarer Zeit von einschneidendem örtlichen Einflusse sein wird, wie das Beispiel Englands zeigt, so ist es geboten, schon jetzt die Mittel zu erwägen, wie die Bedrohung der Kultur der Alten Welt zu beseitigen und die Verlegung des wirthschaftlichen Schwerpunktes, etwa nach Amerika, zu verhindern sei.
„Aber wozu denn so viele Bedenken“ – wird mancher unserer Leser sagen – „warum benutzt man denn nicht Wassergas? oder Wasserstoff? Das giebt ja, wie versichert wird, eine ganz großartige Hitze; und Wasser haben wir ja genug. Und wenn das Gas verbraucht ist, haben wir doch wieder Wasser, es ist also gar kein Verlust dabei!“ – Wir wollen sehen, wie sich die Sache verhält. Der unglücklich gewählte Name „Wassergas“ hat schon manchen irre geführt; und wer etwa denkt, das Wassergas werde ohne weiteres vom Wasser geliefert und uns so auf dem Präsentirteller dargeboten, der ist im großen Irrthum. Das Wassergas muß erst, und zwar auf chemischem Wege, aus dem Wasser gewonnen werden, indem man in eigens zu dem Zwecke gebauten großen Oefen Wasserdampf über glühende Kohlen streichen läßt. Bei großer Hitze, – 1000 bis 1200 Grad Celsius sind erforderlich – geht’s dann, wie es im menschlichen Leben auch zu gehen pflegt: alte Freundschaften werden gelöst und neue geschlossen. Von den in den Ofen gebrachten Stoffen – Kohle und Wasser – zersetzt sich letzteres in seine luftigen Bestandteile, Sauerstoff und Wasserstoff. Der erstere schließt mit der Kohle Freundschaft und bildet die luftförmige Verbindung, die der Chemiker Kohlenoxyd nennt und die aus einem Theilchen Kohlenstoff und einem Theilchen Sauerstoff besteht. Der Wasserstoff lebt auf freiem Fuße. Diese beiden Gase bilden jetzt ein Gemenge, welches man – wie unsere Leser sich jetzt selbst wohl sagen werden – mit dem ganz unpassenden Namen „Wassergas“ bezeichnet. Beide Gase sind nun aber brennbar und sehr begierig, wirklich zu verbrennen. Sie entwickeln dabei eine große Hitze, wie sie zu vielen gewerblichen Zwecken verwendbar ist. Das Ende vom Liede ist, daß sich Wasser und Kohlensäure bildet. Aber – selber, ohne Kohle geht’s auch wieder nicht ab, und da der Ofen immer in starker [208] Gluth sein muß, so ist eine wirkliche Ersparniß an Kohle nicht vorhanden, dagegen ein Verlust von 20 Prozent. Die Darstellung des sogenannten Wassergases hat andere Zwecke, deren Erklärung hier aber zu weit führen würde.
Nicht besser liegt die Sache beim Wasserstoff, dessen Anwendung unsere Leser wohl schon beim Drummontschen Kalklichte kennengelernt haben, bei welchem Wasserstoff und Sauerstoff verbrennen und durch die entwickelte große Hitze ein Stückchen Kalk zu heftigem Glühen und Leuchten bringen. Vor der Erfindung des elektrischen Lichtes diente das Drummontsche Kalklicht bei mikroskopischen Schaustellungen.
Zur Zeit benutzt man zur Zersetzung des Wassers in Wasserstoff und Sauerstoff vorwiegend den elektrischen Strom. Wir dürfen aber wohl verrathen, daß bisher die Kosten des Verfahrens sehr hoch waren. Doch sind auf diesem Gebiete die besten Kräfte mit regem Eifer thätig, und es ist die Hoffnung wohl berechtigt, daß diese eigentlich erst 15 Jahre alte Technik etwas Entscheidendes zur Lösung der Kohlenfrage leisten wird. Ist erst, wie es bei der vorliegenden Frage der Fall ist, die Aufgabe klar erkannt und liegt sie nicht außerhalb der durch die physikalischen Gesetze gezogenen Grenze der Möglichkeit, so ist die Lösung fast mit Sicherheit zu erwarten. Eine einzige glückliche Entdeckung kann den Keim der Losung in sich tragen und damit eine Umgestaltung der ganzen Kraft- und Kohlenfrage herbeiführen. Hat doch vor kurzem schon Gülcher gezeigt, daß man einen kräftigen elektrischen Strom direkt aus der Gasflamme gewinnen kann. Das Ziel würde sein, die großartigste, ja genau genommen einzige Kraftquelle, die Sonne, unmittelbar dienstbar zu machen. – Doch davon später!
„Aber,“ werden unsere Leser weiter fragen, „wozu ist denn die Druckluft nach Popps System da?“ Die „Gartenlaube“ hat darüber ja selbst eine eingehende Schilderung gebracht. Luft ist doch überall umsonst zu haben, wenn auch nicht immer von der besten Sorte?“ – Das ist recht schön; aber Luft ist noch lange keine Druckluft, und um die gewöhnliche Luft in Druckluft zu verwandeln, dazu sind wieder große Einrichtungen erforderlich. In Paris sind zu diesem Zweck Dampfmaschinen mit mehreren Tausend Pferdekräften vorhanden, welche die hinter ihnen liegenden Luftpumpen betreiben. An Kohle wird nur dadurch gespart, daß jetzt eine große Kesselanlage zu speisen ist, während sonst jeder Abnehmer seinen eigenen Dampfkessel zu heizen gezwungen wäre; dafür läßt er sich die Druckluft von der Centralstelle zuführen. Also ohne Kohle geht’s auch nicht.
Ganz dasselbe Verhältniß gilt für den elektrischen Maschinenbetrieb, bei welchem ebenfalls an einer Centralstelle ein Motor, bisher gewöhnlich eine Dampfmaschine vorhanden ist, welche mittels Dynamomaschinen den elektrischen Hauptstrom erst hervorbringen muß. Dieser geht durch die Kupferdrahtleitung nach auswärts und betreibt hier die elektrischen Aufzüge, die Straßenbahnen, die Drehereien, die Bogen- und Glühlichter und wie die Verwendungen alle heißen mögen. – Also Kohle, Kohle und immer wieder Kohle!
Nun giebt es auf der Erde aber doch noch andere Kräfte, die von der Kohle unabhängig sind, so z. B. die Anziehungskraft des Mondes und, als deren Wirkung, Ebbe und Fluth. Eine große Fluthwelle bildet sich etwas nach Durchgang des Mondes durch die Mittagslinie eines Ortes, allerdings vielfach beeinflußt durch die Küstenbildung. Diese Schwankung des Meeresspiegels hat man nun in folgender Weise benutzt: Denken wir uns das Meer von einem festen Damm begrenzt, hinter welchem ein Teich liegt, der mit dem Meere durch einen geeigneten Durchlaß verbunden ist. In den Durchlaß legen wir ein Mühlrad oder eine Turbine. Bei beginnender Fluth sucht das Meer in den Teich einzudringen und treibt die Mühle. Bei Ebbe ist der Meeresspiegel niedriger als der Teich, somit strömt aus letzterem das Wasser ab und treibt wiederum das Mühlrad. Sehr schöne einschlagende Pläne sind vor kurzem in Frankreich gemacht worden.
Ungleich größern Einfluß als der Mond hat die Sonne auf unsere Verhältnisse. In der That ist sie die erste und letzte Ursache alles Lebens auf unserem Planeten. Ihr Einfluß bewirkt das Wachsen der Pflanzen, ihre Strahlen erwärmen die Luft und locken die Dünste des Meeres zum Himmel empor, wo sie mit Flügeln des Windes weiter geführt werden, um als befruchtender Regen sich wieder zur Erde zu senken.
Die Verwendung des Windes als segelschwellender Kraft ist seit grauer Vorzeit gebräuchlich. Ebenso ist die Windmühle seit Jahrhunderten bekannt und wird gern benutzt; insbesondere findet sie jetzt in der seit 15 Jahren eingeführten verbesserten Form der „Windräder“ vielfach Abnehmer. Die technische Verwendung der Kraft des Windes wird allerdings durch die sprichwörtliche Unbeständigkeit dieser Urkraft erschwert, aber wer hindert uns, die kostenlos dargebotene Kraft zu gelegener Zeit anzusammeln, sei es unter Zuhilfenahme von Wasser in geeigneten Behältern oder mittels der Elektricität in Sammlern (Accumulatoren), und sie dann nach Bedarf und Gutdünken zu verwenden.
Besser geht’s schon mit dem Wasser, da dasselbe leicht in Teichen aufzustauen ist, um jederzeit zur Verfügung zu stehen. Die Wasserkraftmaschinen sind mit allen Mitteln der Wissenschaft und Technik ausgebildet und haben einen hohen Grad technischer Leistungsfähigkeit erreicht.
Wir sind gewohnt, nur das für großartig zu halten, was sich uns äußerlich aufdrängt. Das stille Walten der Naturkräfte wird gar leicht übersehen. So entspricht z. B. die Wärmemenge, welche das Aufsteigen der Wasserdünste aus dem Meere bewirkt, nach Schleiden der ungeheuren Summe von 10 Billionen Pferdekräften, so daß auf jeden Morgen Landes eine Kraft von 79 Pferden entfällt. Wie groß die im fließenden Wasser aufgespeicherte Kraft ist, mag dadurch veranschaulicht werden, daß sämmtliche Flüsse Europas die stattliche Leistung von 300 Millionen Pferdekräften darstellen.
Allein der Fall des Niagara könnte, technisch vollständig verwerthet, gegen 15 Millionen Pferdekräfte liefern. Jetzt ist man damit beschäftigt, 120 000 Pferdekräfte zu Betriebszwecken abzuzweigen. Bemerkbar wird diese Ableitung jedoch keineswegs werden.
Aber wozu in die Ferne schweifen? Der Rhein schickt in jeder Sekunde an der deutschen Endstation Emmerich annähernd 2700 Kubikmeter Wasser dem Meere zu. In Bingen liegt der Wasserspiegel 60 Meter höher; es würde also der Rhein mit seinen Einläufen auf seinem Wege allein durch die Rheinprovinz die respektable Zahl von 21/2 Millionen Pferdekräften entwickeln können. Nach den statistischen Ermittelungen vom Jahre 1889 beträgt die Leistung der gesammten Maschinen des Königreiches Preußen 1 773 454 Pferdekräfte. Es könnte mithin der Rhein die sämmtliche Maschinenkraft Preußens ersetzen und noch auf 28% zur Vorsicht und für Betriebsverluste verzichten.
Nun sind aber Weser, Elbe, Oder u. s. w. auch nicht zu verachtende Ströme.
Gehen also die Steinkohlenvorräthe zu Ende, so nutzen wir diese Kräfte aus. Sie werden am besten durch Turbinen aufgenommen, mittels Dynamomaschinen in elektischen Strom umgewandelt und als solcher mit Hilfe starker Kupferdrahtleitung in alle Welt geschickt und nach Bedarf vertheilt.
An Ort und Stelle werden die elektrischen Ströme, ebenfalls mittels Dynamomaschinen, wieder in mechanische Kraft verwandelt und treiben Arbeitsmaschinen aller Art, Drehereien, Druckereien, Sägen und wer weiß was alles. Oder die elektrischen Ströme werden unmittelbar zum Schweißen und Schmelzen, zur Verhüttung der Metalle, zur Beleuchtung als Bogenlicht oder Glühlicht, zum Erwärmen der Zimmer und zu allen erdenklichen Zwecken benutzt. Ein Versuch mit der Uebertragung von 300 Pferdekräften auf größere Entfernung wird wohl im Laufe dieses Jahres bei Gelegenheit der elektrotechnischen Ausstellung in Frankfurt am Main gemacht werden, da das Ausstellungskomitee diese Kraft in einer etwa 175 km langen Leitung von Lauffen am Neckar beziehen will.
Schiffahrt ist nach Einführung einer so gründlichen Ausnutzung der Wasserläufe allerdings nicht mehr möglich, ist aber auch ganz überflüssig, da die elektrischen Bahnen das alles viel besser und billiger besorgen. Wer demnach noch eine Rheinfahrt mit dem Salonboote machen will, darf sich sputen.
Also nur Muth: die Elektricität in Verbindung mit der Kraft des Windes und des Wassers wird uns zur Zeit schon aus der Noth helfen. Dann kommt das Alte wieder zu Ehren und wieder heißt es:
„In einem kühlen Grunde
Da geht ein Mühlenrad.“
Nun rauschen alle Bronnen,
Nun jubelt es weit und breit:
Nach so viel Leid willkommen,
Du erloesende Osterzeit!
Truggeister.
(12. Fortsetzung.)
„Wie lächerlich!" fuhr Bertha nach einem Augenblick sprachlosen Staunens auf. „Mein guter Vater soll den Stefanelly angreifen! Wozu sollte ihm das nützen? Wer würde auch auf ihn hören, auf den alten Margold? Das klingt ja wie Hohn!“
„Du irrst Dich,“ entgegnete Theodor, „es ist so, und ich begreife ganz wohl, daß dem Stefanelly das Gerede sehr unangenehm ist. Er sagte es mir selbst und bat mich, vermittelnd einzutreten. Ein kleiner Stein kann eine vernichtende Lawine ins Rollen bringen. Irgendwo taucht ein bedenkliches Gerücht auf – einer flüstert es dem andern ins Ohr, wie ein Lauffeuer läuft es, ins ungeheure wachsend, ganze Straßen hinunter – eine Panik entsteht oft aus der unscheinbarsten Ursache, und wenn sie in diesem Falle entsteht, ist Stefanelly verloren.“
„Aber da müßte doch vor allem etwas Wahres an den Gerüchten sein, wenn sie eine so vernichtende Wirkung haben sollen.“
„Es ist immer etwas Wahres an solchen Gerüchten, in diesem Falle aber ist vielleicht alles wahr, wahrer, als Dein Vater denkt. Um so unbegreiflicher ist es von ihm, da er doch weiß, daß wir mit Stefanelly stehen und fallen. Papa hat sein ganzes Vermögen in Stefanellys Unternehmungen stecken, er ist mit seinem Namen, mit seiner Ehre an allem betheiligt; es war nicht mein Wille, daß er sich so weit eingelassen hat, aber es ist nun einmal so. – Ich muß Dich aufklären, Bertha. Wir stehen auf einem Vulkan, der jeden Augenblick zum Ausbruch kommen kann. Stefanelly ist ein verwegener Spieler, der die Schwäche seiner Zeit, die allgemeine Sucht, rasch und mühelos reich zu werden, vortrefflich auszunutzen versteht. Es ist unmöglich, daß alles bei ihm mit rechten Dingen zugeht, daß seine Erfolge alle wahre Erfolge sind, es kann plötzlich einmal fürchterlich tagen und Tausende können zu Grunde gerichtet, zu Bettlern geworden sein. Stefanelly wird dann keine Rücksicht kennen, wenn es sich für ihn darum handelt, sich selbst aus der Schlinge zu ziehen, ich halte ihn zu allem fähig – zu einem Verbrechen, wenn es sein muß, und mir bangt für meinen Vater, der viel zu ungewandt ist, um zur rechten Zeit zur Seite zu springen, wenn der Einsturz droht.“
Bertha war entsetzt von dieser ganz unerwarteten Aufklärung.
„Dann hat aber ja der Vater ganz recht, wenn er den Stefanelly angreift, vor ihm warnt!“ rief sie.
„Das hat er nicht,“ entgegnete Theodor, „deshalb nicht, weil wir nicht zu den Tausenden gehören dürfen, die ruinirt sein können, weil wir Zeit brauchen, uns allmählich zurückzuziehen. Der Vater ist seit gestern auch mißtrauisch geworden, nur einen Monat soll es halten, und wir sind außer Gefahr.“
„Und während dieses Monats gehen die andern Tausende ahnungslos zu Grunde!“ warf Bertha entrüstet ein. „Das sagst Du, ein Kavalier, der für das Wörtchen ‚Ehre‘ sein Blut vergießt, das sagt Dein Vater, der ehrwürdige Mann, in dem ich von Jugend auf den Inbegriff des Guten und Edlen verehrte, der all den Tausenden als Vertrauensmann gilt? – Nein, das glaube ich nicht. Du siehst zu schwarz, Theodor, Du klagst ihn eines Verbrechens an, dessen er nicht fähig ist.“
Theodor ging erregt im Zimmer umher.
„Verbrechen! Mäßige Dich, Bertha! Er hat ja anfangs alles im guten Glauben gethan, und jetzt nützt auch ein offenes Bekennen der Lage nichts mehr; ein Rückzug aller ist eben der Ruin aller, abgesehen davon, daß seit gestern überhaupt keine Rede mehr von einer offenen Erklärung sein kann. Bisher hat der Vater nur in seiner Unwissenheit gehandelt, geblendet von diesem Stefanelly, der Euch alle blendet, auch Dich, nur mich nicht, den leichtsinnigen, unbedachten Theodor, als der ich immer galt. Aber gestern hat der Vater zum ersten Male wissentlich eine Handlung begangen, die wirklich ein Verbrechen ist, wenn sie an das Licht kommt. Was hilft’s, daß auch hier nur seine Gutmüthigkeit, seine Vertrauensseligkeit, der verderbliche Einfluß dieses Schuftes Stefanelly daran schuldig ist! Das alles wird ihm kein Mensch glauben! ‚Der Brennberg ist ein Spieler‘, so wird es heißen, ‚er hatte große Verluste, da theilte er sich mit dem Stefanelly in die vierhunderttausend Mark‘ – –“
Bertha war fassungslos. Ihr Gatte sprach wie im Wahnsinn, wirre, grauenhafte Dinge, die sie nur errieth, nicht verstand. Der alte Brennberg, der verehrte Greis, ein Spieler! vierhunderttausend Mark, die irgendwo genommen wurden – von ihm – der Stefanelly ein Schuft – ein Betrüger! – Und sie lebte sorglos inmitten all dieses Truges. Ihr dunkles unruhiges Gefühl, das sie einst das alles ahnen ließ, hatte sie nicht getäuscht! Sie hatte es unterdrückt, gewaltsam unterdrückt, um nicht aufgescheucht zu werden aus dem üppigen Leben, das ihr so gut gefiel. Wo waren alle ihre guten Vorsätze geblieben? Hatte sie die Ermahnungen und Bitten ihres Vaters, das als Frau zu bleiben, was sie war, eine einfache, schlichte Bürgerstochter, und dadurch das Haus Brennberg zu retten, hatte sie diese Mahnungen, die sie jetzt erst ganz verstand, befolgt? – Sie trug die Schuld mit, wenn es so weit kam, wie Theodor befürchtete, und jetzt war es wohl zu spät zum Helfen. Was war nur gestern Furchtbares geschehen bei Stefanelly? Sie erinnerte sich, daß Stefanelly den Schwiegervater auf sein Zimmer nahm, daß derselbe auffallend bleich und verstört zurückkam – sie mußte jetzt alles wissen, um handeln zu können.
Und Theodor verschwieg ihr nichts, er schien die Last des Geheimnisses nicht allein tragen zu können.
Durch die umherschleichenden Gerüchte über Stefanelly, vielleicht auch durch das plötzliche Fallen der Aktien einiger der von ihm gegründeten Unternehmungen mußte, so behauptete wenigstens Stefanelly, in gewissen Kreisen eine kleine Panik entstanden sein. Man forderte in den letzten Tagen auffallend viele, mitunter bedeutende Depots aus seiner Bank zurück, es stand zu befürchten, daß diese Zurückziehungen weitere Ausdehnung annehmen würden. Stefanelly hatte sich aber nach allen Seiten in weitgehende Spekulationen eingelassen, die anvertrauten Gelder waren in der allgemeinen Geschäftskrisis, welche auch den glücklichen Stefanelly nicht unberührt ließ, nicht sofort flüssig zu machen, sie staken zerstreut in seinen Unternehmungen, in augenblicklich nur mit großem Verlust verkäuflichen Aktien – das geringste Zeichen von Schwäche, die geringste Stockung in der Auszahlung der Guthaben, und alles war verloren. Es war zu erwarten, daß die Gläubiger in Scharen kommen würden, ihr Geld zu holen, und damit war der Bankerott fertig. Nur um einige Tage handelte es sich, bis das Vertrauen wieder hergestellt war, dann konnte alles wieder gut werden. Wie aber über diese Tage hinwegkommen?
Nun lagen in dem Gewölbe des Bankhauses Stefanelly in einer machtigen eisernen Kasse unter doppeltem Verschluß der Reservefonds und die laufenden Werthe der Grunderwerbungs-Genossenschaft im Betrage von vierhunderttausend Mark. Stefanelly und Brennberg hatten die Schlüssel zu dieser Kasse, keiner konnte dieselbe ohne den andern öffnen. Stefanelly verlangte nun von Brennberg, er solle ihm die vierhunderttausend Mark stillschweigend auf vier Wochen anvertrauen, bis dahin könnten sie leicht zurückgezahlt werden, niemand wisse etwas davon, noch bringe es irgend wem Schaden.
Nach langer Weigerung und qualvollem Kampfe willigte Herr von Brennberg ein, denn mit Stefanelly war ja auch er verloren, nicht nur sein ganzes Vermögen, auch seine Ehre – sein Name! Sie gingen noch des Abends zusammen in das Gewölbe, öffneten die Kasse und nahmen die Summe heraus.
„Hält Stefanelly sein Wort, oder vielmehr, kann er es halten,“ so schloß Theodor erregt seinen Bericht, „dann ist die ganze Sache nichts als eine harmlose Gefälligkeit des Kollegen gegen den Kollegen; kann er es nicht halten, kommt die Bilanz oder werden die Aktionäre auch in das Mißtrauen hereingezogen und verlangen Revision, ehe die Summe ersetzt ist – dann ist es ein Betrug – ein Diebstahl!“
Theodor sank erschöpft auf einen Stuhl neben dem Bett.
„Dem Vater preßte die Besorgniß das Geständniß mir gegenüber heraus,“ fuhr er nach einer Weile fort, „leider zu spät, um die That verhindern zu können. Lasse ihn nicht merken, Bertha, daß Du alles weißt! Ich sollte es Dir ja nicht sagen, aber auch ich kann es nicht allein tragen, es ist mir, als wenn Du einen Rath wüßtest. Jedenfalls kannst Du Deinen Vater davon abhalten, weiter gegen Stefanelly zu wirken; es ist ja auch mir nicht denkbar, daß er allein an allem schuld sein soll, am [211] Ende gebrauchte Stefanelly nur den Vorwand, um sich aus irgend einer augenblicklichen Verlegenheit zu retten. – Gott, er wird ja zahlen, meine Angst wird grundlos sein, aber wenn ich bedenke, was sich ereignen könnte, die Schande – ehrlos – ruinirt – dem Mangel preisgegeben, die ganze Zukunft vernichtet für mich, für Dich – Bertha, ich ertrüge es nicht!“
Er war außer sich, Thränen standen ihm in den Augen und er vergrub sein Gesicht in den Kissen des Bettes.
Bertha faßte sich rasch. So gewaltig und unvorhergesehen sie auch aus ihren Träumen aufgeschreckt worden war, die ihr angeborene Thatkraft, das Bewußtsein ihrer Pflicht erwachte. Mit einem Male sah sie klar, was sie zu thun hatte, und ihr Entschluß stand fest. Trotz der schlimmen Botschaft empfand sie eine stürmische Freude in diesem Augenblick, als Theodor verzweifelnd ihr sein Herz erschloß: er liebte sie wirklich und wahr, er bedurfte ihrer im Unglück, er sah in ihr seine einzige Stütze – und er sollte sie nicht vergeblich in ihr suchen.
„Du bist ein großes Kind,“ begann sie unbefangen, indem sie ihn an sich zog und einen Kuß auf seine Stirn drückte, „Du hast mir wahrhaftig selbst angst gemacht. Gewiß ist es nicht halb so schlimm, als Du denkst, der Stefanelly wird alles in Ordnung bringen, das Mißtrauen wird sich rasch verziehen, er selbst wird vorsichtiger werden. Dein Vater zieht sich allmählich von den Geschäften zurück, läßt aber von dem häßlichen Jagen nach Reichthum, das er gar nicht mehr nöthig hat und das ihm und uns nur angstvolle unruhige Stunden bereitet. Dann kaufen wir ein kleines Gütchen, ziehen uns von aller Welt zurück und leben glücklich und zufrieden auf unserm Grund und Boden. Deine Bertha zieht wieder Blumen, bepflanzt den Garten wie früher, Du gehst auf die Jagd, reitest, besorgst die Wirthschaft, und wir sind die glücklichsten, zufriedensten Menschen. O, ich hatte das schon lange im Kopf; aber der ewige Gesellschaftstrubel ließ mich ja nicht mehr zur Besinnung kommen. Nicht wahr, so machen wir es, Theodor?“
Ihr Auge leuchtete vor inniger Liebe, sie sah das alles schon im Geiste, wovon sie jetzt sprach, die lieben Blumen, den Garten, die selige Ruhe auf dem Lande –“
„Ja, wenn es nur nicht zu spät ist, das wäre freilich schön!“ entgegnete Theodor, dem in seiner augenblicklichen Herzensunruhe das Gemälde, welches Bertha eben entwarf, wie ein Paradies erschien.
„Es ist nicht zu spät. Ich gehe sofort zum Vater und rede mit ihm über die Angelegenheit. Er wird mich auslachen, wenn ich ihm sage: ‚Der Stefanelly hat Angst vor dem altetl Margold!‘ Jetzt geh’ nur! O, ich Faulpelz, bei hellem Sonnenschein noch im Bette zu liegen. Das muß alles anders werden: auf mit der Sonne und um neun Uhr zu Bett! Ja, das geht nicht anders bei der Landwirthschaft, laß mich nur wieder in mein Fahrwasser kommen, nur wieder eigene Erde unter meinen Füßen haben, da sollst Du Wunder erleben, was ich leisten kann und wie dann das Essen schmeckt und der Schlaf. – Gott, in dem tollen Leben, das wir jetzt führen, verliert man sich ja ganz. Ich sehe mich oft im Spiegel an und frage: ‚Bist Du es denn noch? die Bertha Margold?‘ Aber ich bin es noch, ich bin es noch, Du sollst es sehen.“
In einer nervösen Hast, die ihre innere Unruhe verrieth, kleidete sie sich an. Dann eilte sie ins Nebenzimmer und zog den schweren Fenstervorhang auf, daß das helle Tageslicht voll hereinfluthete, und ihres Mannes Hand ergreifend, wies sie hinaus.
„Siehst Du dort, wie Schönau blitzt in der Sonne? Siehst Du das Thürmchen mit der leeren Fahnenstange? Wer weiß? Noch steht es aufrecht!“
Theodor legte seinen Arm um den Nacken seines Weibes und blickte traumverloren hinüber auf den glitzernden Punkt, lange, lange.
Endlich riß Bertha sich los.
„Jetzt zum Vater, dann wird sich alles aufklären.“
Theodor wollte anspannen lassen, aber Bertha nahm es nicht an; sie wäre erstickt in dem Wagen bei dem Gedanken, welche Opfer er wohl ihren Schwiegervater gekostet hatte.
Kaum war sie aus dem Hause, da war es vorbei mit ihrer vor Theodor geheuchelten Fassung. Tödliche Angst ergriff sie, und von neuem machte sie sich bittere Vorwürfe, daß sie gedankenlos, berauscht von ihrem jungen Glück, unbewußt mitgearbeitet habe an dem Verfall des Hauses, zu dessen Rettung sie sich von der Vorsehung auserkoren geglaubt hatte. Wenn es schon zu spät wäre, wenn der kurze selige Traum ihres Lebens ein entsetzliches Ende nähme, nach einem Jahr schon – der liebe Vater Christian ein Verbrecher, ein Dieb, verurtheilt, Theodor verarmt, mit entehrt! O, sie wollte ja für ihn mit Freuden wieder arbeiten, für das Brot war ihr nicht bange, noch waren ihre Arme kräftig; keine Thräne wollte sie all den falschen Freuden dieser eitlen Welt nachweinen. Aber ob er es ertragen würde? Ein Schauer überlief sie, ein entsetzliches blutiges Bild stieg vor ihr auf, wie sie es oft in Zeitungsberichten geschildert gelesen hatte.
Sie beschleunigte ihre Schritte. Der Vater mußte gewarnt werden und durfte kein Wort mehr reden gegen den Stefanelly, es wäre wirklich unverantwortlich von ihm. Sie dachte jetzt nicht mehr an die Tausende, die in ihr Verderben rannten, sie verstand davon nichts, wollte nichts davon verstehen – es galt das Leben ihres Gatten.
Der Vater war nicht zu Hause, die Mutter wie gewöhnlich bei der alten Frau Bergmann, der Schlossermeisterin. Bertha betrat die Werkstatt. Lili trug, ein Liedchen trällernd, das einen Monat alte Söhnchen Thereses umher und begrüßte den Besuch mit einem selig lächelnden Blick auf das strampelnde Kind.
„Sehen Sie nur, gnädige Frau, den herzigen Jungen! Wie er gedeiht! Gerade hier in der Werkstatt will er immer sein, der Lärm macht ihm Spaß und die leuchtenden Feuer; ich komme an gar keine Arbeit mehr mit dem kleinen Bösewicht.“ Und sie überhäufte das Kind mit Küssen.
„Sie lieben das Kleine wohl sehr?“ fragte Bertha.
„Ueber alles! Ein ganz neues Leben hat für mich begonnen, ich hätte es nimmer geglaubt, daß sie einem Menschen so alles ersetzen könnte, die Liebe zu so einem kleinen Wesen! Ich habe keinen Wunsch mehr. Warten Sie nur, gnädige Frau, Sie werden es auch bald erfahren.“
„Wo ist denn Therese?“ fragte Bertha ausweichend unter tiefem Erröthen.
„Mein Gott, sie rechnet wieder da nebenan. Das ist ja eine reine Krankheit seit einigen Monaten. Georg brachte sie eigentlich ins Haus, und wenn Ihr guter Vater, der Herr Margold, nicht wäre, der ihm keine Ruhe läßt, ich glaube, es wäre kein Geselle mehr im Hause.“
„Was für eine Krankheit denn, Lili?“ fragte Bertha ganz erstaunt.
„Spekuliren! Nichts als spekuliren, gnädige Frau! Therese kennt alle Papiere, alle neuen Unternehmungen, jeder verdiente Pfennig wird auf die Bank getragen. Ich verstehe nichts davon – es soll mehr Geld tragen als alles Arbeiten, sie will halt auch einmal reich werden wie Sie, gnädige Frau, und ich wünsche es ihr von Herzen, für meinen lieben, kleinen Maxi da wünsch’ ich es, meinen Maxi –“
Lili scherzte und schäkerte mit dem lallenden Kinde auf ihrem Arm und vergaß darüber die Spekulation und die schöne vornehme Frau neben ihr, die schwer aufathmend, den Kopf schüttelnd, auf das Zimmer der Schwester zuging.
Therese sah erstaunt von einem großen Kassabuch auf, in welches sie eben vertieft war, als Bertha eintrat.
„Ah, Bertha, findest Du es auch einmal wieder der Mühe werth, uns kleine Leute aufzusuchen? Nun, ich kann es Dir nicht verdenken, es ist gerade kein angenehmer Anblick, so eine Werkstatt, so eine ärmliche Stube, wenn man von Dir zu Hause kommt. Ich thät’ es bei Gott auch nicht!“
Bertha hatte ihre Freundin in der letzten Zeit wirklich vernachlässigt; aber dieser harte, gereizte Ton, aus dem eine nicht zu verkennende Unzufriedenheit sprach, überraschte sie sehr an der früher so herzlichen glücklichen Therese.
Dieses veränderte Wesen mußte mit der Spekulation zusammenhängen, von der die Schwester sprach; kein Zweifel, auch in diese Stätte des Friedens und der Arbeit war in der That das verhaßte Fieber gedrungen.
„Setze Dich, setze Dich, Bertha, und sei mir nicht böse über meine schlimme Laune! Das kommt so, wenn man einmal verheirathet ist. Du weißt freilich nichts davon, aber unsereines – nichts als Arbeit, Sorge und karger Verdienst! Wenn man nicht ein Sparkassenbuch bei Stefanelly hätte, man könnte sich nicht die kleinste Freude gönnen. Da wirft aber doch jedes bißchen Ersparniß seine ordentlichen Zinsen ab. Sieh, Bertha, das ist mir eine Freude – Dir wird sie freilich lächerlich vorkommen – so insgeheim in der Wirthschaft recht viel zu ersparen und damit zu Stefanelly zu gehen. Ganze Nächte denke ich darüber nach, wie
[212][213] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [214] das am besten zu machen ist. Wenn ich dann dem Georg die Zinsen bringe, das freut ihn, da schmunzelt er. Er hat es nachgerade auch satt, zu sehen, wie andere so leicht, ohne sich zu rühren, reich werden, während er sich abmüht um das tägliche Brot von morgens bis abends.“
Bertha stieg das Blut ins Gesicht bei diesen Worten Theresens. Also auch der arbeitsame brave Georg Bergmann sollte zu den Tausenden gehören, die der Untreue Stefanellys, der Vertrauensseligkeit, vielleicht der Gewissenlosigkeit ihres Schwiegervaters zum Opfer fielen, und sie sollte dem Vater verbieten, die Leute zu warnen, nur damit sie selber Zeit gewänne zur Rettung ihrer Familie, ihres Namens! Die ganze furchtbare Verantwortung, welche Christian auf sich geladen hatte, stand vor ihren Augen, die ganze Verwerflichkeit dieses Geldspieles.
„Hast Du denn gar keine Angst, diese Spekulation könnte einmal schlimm enden? Du verstehst doch nichts davon. Wie schrecklich, wenn der saure Verdienst Deines Gatten verloren ginge!“ konnte Bertha nicht umhin zu sagen.
„Wer wird denn da Angst haben,“ meinte Therese, „wenn die reichsten, klügsten Leute mitthun und ihren Namen dazu hergeben! Das wäre noch schöner, wenn es da nicht mit rechten Dingen zuginge! O, Dein Vater warnt uns auch immer, ich weiß nicht, was er gegen den Stefanelly hat; er hat schon längst alle seine Papiere verkauft. Dein Bruder Hans ist wüthend darüber, und der versteht es doch! Wir sind dem Hans wirklich zu Dank verpflichtet, er benachrichtigt uns immer, wenn ein bißchen was zu verdienen ist. Das ist übrigens gut! Du, Bertha von Brennberg, die Schwiegertochter des Aufsichtsrathes, sprichst von Angst. Wenn ich Dich nicht so genau kennen würde, müßte ich annehmen, Du gönntest mir den Gewinn nicht – doch das wäre ja rein lächerlich! Nur einen Augenblick, Bertha, ich muß nur noch rasch die Posten zusammenzählen; morgen ist Zahltag, was uns übrig bleibt, wandert zu Stefanelly. Er muß uns zu einem schönen Haus verhelfen, der Vater Georgs will nicht heraus mit dem Gelde.“
Bertha schwieg betroffen und blickte auf die rechnende Freundin. Welche Veränderung war hier vorgegangen! Wie glücklich und zufrieden war Therese oben in dem kleinen Stübchen als Nätherin an der Seite ihrer Mutter und Lilis, wie selig in ihrer Liebe zu Georg gewesen, und jetzt diese Unzufriedenheit mit ihrem Los, dieser Gelddurst, dieser geheime Neid gegen die reiche Frau von Brennberg, während die verwachsene Lili draußen fröhlich umherging, den Knaben der Schwester im Arm, Lieder singend!
Ueber den Hof nahten jetzt Georg, der junge Schlossermeister, und der alte Margold in heftigem Gespräche. Therese schlug ihr Buch zu und schloß es in den Kasten.
Lenzeszauber.
„Wer stürmt mir gegen die Pforte an,“
So ruft der Winter, der grimme Mann,
Und draußen erschallt es: „Oeffne sogleich,
Ich nah’ auf höchsten Befehl Deinem Reich;
Du sammt Deinen rauhen Vasallen
Bist endlich dem Bann verfallen.“
Der Alte lächelt. „Du prahlender Wicht,
Meines Reiches Mauern erschütterst Du nicht,
Das Thor bleibt geschlossen, Du dringst nicht ein!“ –
Da bricht durch die Spalten ein leuchtender Schein –
„Es hilft Dir kein Kämpfen, kein Ringen,
Mein Zauber, er muß Dich bezwingen.“
Da zittert der Alte, es sinkt ihm der Muth,
Er kennt die Stimme, die lichte Gluth,
Er kennt den feurigen Jugenddrang,
Der ihn schon so oft im Kampfe bezwang,
Doch will er sich nicht ergeben,
Kampf gilt es auf Tod und auf Leben.
All seine Mannen entbietet er,
Sie strömen heran mit Zacken und Speer.
Die scharfen Nadeln der Nordwind spitzt,
Des Frosts todbringende Lanze blitzt,
Doch eh’ zum Streit sie gelangen,
Schau’n plötzlich sie auf mit Bangen.
Es klingt in ihr Ohr ein Zauberton –
Die alten Recken, sie kennen ihn schon.
Gelähmt ist der Arm, der die Waffe hebt –
Das eisige Thor in den Fugen bebt.
Da fällt es … da liegt’s! Durch den Bogen
Kommt siegend der Lenz gezogen.
Um seinen Scheitel der Sonne Licht;
Aus seinem Auge die Liebe spricht,
Sein wonniger Hauch die Sehnsucht belebt.
Von seinen Lippen ein Lied entschwebt,
Und Vöglein auf leichten Schwingen
Süß ahnend es weiter singen.
Da muß dem Winter der Muth vergehn,
Hier hilft nicht länger ein Widerstehn,
Er streckt die Waffen mit seiner Schar,
Er schüttelt das Haupt; aus dem nassen Haar,
Aus des Bartes glänzenden Locken
Entfliegen die letzten Flocken.
Dann zieht er mit seinen Mannen fort.
Besiegt von des Lenzes Zauberwort:
Nun schmilzt auch das Eis, es rauscht der Bach!
Singt, Frühlingslieder, die Erde wach!
Weckt schlummernde Keime und Triebe
Und im Menschenherzen die Liebe.
Monica Brodtreiß.
Vom Gesange in der Kinderstube.
Seitdem die Musik im Hause – in der Familie wie in der Gesellschaft – eine so ausgedehnte Pflege findet, mit so regem Eifer geübt wird, ist sie leider auch zum Schreckgespenst geworden. Mancher ihrer warmen Freunde, der sie im Konzertsaal und Theater eifrig sucht, möchte ihr im Hause geradezu den Eintritt verweigern, denn soviel Freude sie ihm dort gewährt, soviel Verdruß ist ihm hier schon durch sie bereitet worden.
Der Grund dieser eigenthümlichen Erscheinung ist aus dem innersten Wesen von Ton und Klang zu erweisen, deren Einwirkung so unmittelbar erfolgt, daß wir uns ihr nur schwer, nur etwa durch eilige Flucht zu entziehen vermögen. Das Eindringen von Licht und Farbe hindern wir einfach dadurch, daß wir die Augen schließen; Ton und Klang lassen sich nicht so leicht abweisen, sie dringen selbst aus weiter Ferne und ganz gegen unsern Willen in unser Ohr und zwingen uns, ihnen zu lauschen, wenn wir es nicht vorziehen, uns so weit zu entfernen, daß die Klangwellen unser Ohr nicht mehr erreichen. Aber auch dann klingen die Töne oft noch lange in uns nach, wenn sie außen längst für uns unhörbar geworden sind.
Schon der Ton der Rede übt diese Macht auf uns aus. Einer mit klangvoller Stimme gehaltenen Ansprache lauschen wir gern, auch wenn sie weniger gedankenvoll wäre, und wir lassen uns leichter durch sie fesseln, als durch eine inhaltreichere, welcher der Klangreiz beim Vortrage fehlt.
Der Gesangston und noch mehr der Instrumentalton werden in ihrer Wirkung geradezu aufdringlich, sodaß sie uns mit zwingender Nothwendigkeit in ihren Bann ziehen und unserm Empfinden eine ganz bestimmte Richtung geben, und das ist es, was die Hausmusik auf der einen Seite beruhigend und veredelnd, auf der andern aber auch störend und ertödtend werden läßt.
Daß der Gesangston vorwiegend veredelnden Einfluß ausübt und nur bei ganz verkehrter Pflege im Hause Nachtheile bringt, ist leicht zu erweisen. Als das unmittelbare Erzeugniß innerer Erregung vom Herzen kommend, geht er auch zum Herzen des Hörers, das dadurch in Mitleidenschaft gezogen wird, wie der unmittelbare Erzeuger.
Die Wesensverschiedenheit der einzelnen Klänge macht sich schon in der Kinderstube geltend. Beim Säugling selbst ist zu beobachten, daß der Klang eines Glöckchens anders auf ihn wirkt wie der der Singstimme. Beide, Glöckchen- und Stimmklang, sind früh, wenn das Kind noch für nur wenig anderes als seine Nahrung Sinn zeigt, geeignet, seine Aufmerksamkeit zu erregen, und dem scharfen Beobachter wird es nicht entgehen, daß dabei bereits die Wirkung eine ungleiche ist. Die des Glöckchens erfolgt auch bei dem Säugling mehr blitzartig und hat fast immer eine rasche Veränderung des Gesichtsausdrucks zur Folge; das schmerzverzerrte Mündchen verzieht sich schnell zum Lächeln und selbst zum Lachen, wenn das Glöckchen ertönt, und dabei erglänzen die Aeuglein heller, als wenn der Gesangston an das kindliche Ohr schlägt, dessen Wirkung auch meist langsamer erfolgt. Es macht sich also schon hier ein größerer sinnlicher Reiz des Instrumentaltones dem Gesangston gegenüber geltend, wogegen sich dieser nachhaltiger und zugleich beruhigender erweist. Während der Ton des Glöckchens das Kind aufreizt, bei längerer Dauer sogar bis zu nervöser Erregung, besänftigt es der Gesangston, daß es selbst Unbehagen und peinigenden Schmerz im Schlaf überwinden und vergessen [215] lernt. Daß auch durch Glöckchenklang das Kind in Schlaf gebracht werden kann, ist richtig, allein es ist dies dann mehr eine Folge der Abspannung, welche der Aufregung naturgemäß folgt.
Aus diesem Gesichtspunkt betrachtet, wäre es angemessen, die Verwendung der Klingelinstrumente in der Kinderstube auf das geringste Maß zu beschränken, immer aber sind sie noch den Klappern und andern nur Geräusch verursachenden Instrumenten vorzuziehen, die jedenfalls keinen vortheilhaften, eher einen nachtheiligen Einfluß auf die Entwickelung der Kinder ausüben. Es ist nicht zu berechnen, wie viel feinere Empfindung dadurch schon im Kinde abgetödtet wird.
Der Schwerpunkt muß daher in den Gesang gelegt werden, und auch der kleine Erdenbürger soll lernen, sein Stimmchen nicht nur in Mißtönen erschallen zu lassen. Mit der Pflege des Gesanges in diesem Sinne kann sehr früh begonnen werden, denn dieselbe ist nicht, wie zaghafte Mütter fürchten, der Gesundheit schädlich, sondern sie hilft sie im Gegentheil fördern, weil die zu den wichtigsten Organen der Lebensthätigkeit gehörenden Lungen durch zweckmäßig betriebenes Singen ganz außerordentlich gestärkt werden.
Bekanntlich führen die Lungen dem Körper die ihm unerläßliche atmosphärische Luft zu, und sie vermögen dies um so leichter und erfolgreicher, je kräftiger sie sind. Die Kräftigung der Lungen gehört mit zur Hauptsorge der Aerzte wie der Mütter; jene haben es daher auch gern, wenn den Säuglingen die Gelegenheit zur Lungenthätigkeit im Schreien nicht zu selten geboten wird. Die Kraft der Lungen aber wird beim Gesange regelrecht geübt. Denn um einen Gesangston zu erzeugen, muß man möglichst viel Luft in die Lungen aufnehmen, sie dort einen Augenblick still stehen und dann langsam ausströmen lassen.
An dem zarten Gesangsorgane der Kinder kann nur die unvernünftigste Behandlung etwas verderben, während es durch die verständige gekräftigt wird. Der entsprechend ausgewählte Uebungsstoff hilft die Stimme nicht nur als Gesangs-, sondern auch als Sprachorgan entwickeln. Ueber den Zeitpunkt, in welchem diese Uebungeu beginnen sollen, unterrichten uns die kleinen Lieblinge in der Regel selbst. Noch lange bevor sie zu sprechen versuchen, fangen sie schon an, ihr Gesangsorgan zu brauchen. Sie „krähen“ nicht nur in den höchsten Lagen ihrer Stimmmittel, sondern sie summen wohl auch eine kurze Phrase vor sich hin, und an diese knüpfe man an, indem man sie dem kleinen Schreihals wie absichtslos in der bequemeren Lage und in streng abgemessenen Intervallen vorsingt, und es bedarf sicher keiner besonderen Aufforderung, um den kleinen Musikschüler zu bewegen, nachzusingen; sie stimmen meist von selbst ein und so wird man sie allmählich daran gewöhnen, die Phrase in der entsprechenden Tonlage und in erkennbaren Intervallen zu singen.
Daß derartige Versuche im Singen auch die Entwicklung der Sprache ganz bedeutend fördern, braucht nicht erst nachgewiesen zu werden. Ist diese so weit gediehen, daß die Kleinen ihre Auszählverschen, die kurzen Gebete und kleinen Liedchen auswendig lernen, so tritt auch die Pflege des Gesanges auf eine höhere Stufe. Diese Verschen müßten mit Melodien versehen sein, die sich selbstverständlich nur im Umfange von drei, allerhöchstens vier Tönen bewegen, von g bis h oder c. Dabei ist von der Mutter oder Erzieherin zu beobachten, daß diese Liedchen mit möglichster Reinheit vorgesungen werden, weil es die Kleinen gern so nachmachen, wie es ihnen vorgesungen wird. Sie können auf diese Weise früh zu einer guten Vokalisation erzogen werden, auf welcher hauptsächlich die Bildung eines guten Tones beruht.
So ist in der Kinderstube ein Gesang zu erzielen, der den wohlthätigsten Einfluß auf Herz und Gemüth ausübt und diesen reiche Nahrung zuführt. Schon auf dieser Stufe kann der Kindergesang zu einer Macht werden, die selbst erquickend für die erwachsenen wird, deren Zauber man gern auf sich wirken läßt, und müßte man ihm auch selbst eine Lieblingsbeschäftigung opfern. Diese „Musik im Hause“ wird nicht mehr zu einem Schreckniß, sondern zum Jungbrunnen für alle durch den Ernst und die Arbeit des Lebens verhärteten Gemüther. Solange der Gesang die bevorzugte Stelle in der Hausmusik einnahm, erschien diese kaum einem oder dem andern Griesgram als eine Plage. Noch weit in die erste Hälfte unseres Jahrhunderts herein wurde auch in den unteren Schichten unseres Volkes noch mehr musicirt als heute. Zur Ausrüstung des wandernden Handwerksburschen gehörte meist auch eine Guitarre, mit der er seine Lieder begleitete, und sein Stock barg nicht selten eine Flöte, durch welche er seines Herzens Lust und Sehnen Ausdruck gab. Namentlich aber geschah dies im Gesange, von welchem nicht nur Wald und Feld, sondern auch die Wände des Hauses wiederhallten, in welchem der Geselle Arbeit gefunden hatte. Und wenn nach Feierabend die Bewohner eines oder mehrerer benachbarter Häuser sich im Hofe, Garten oder vor der Thür zum gemeinsamen Gesange versammelten, durften sie immer auf einen zahlreichen, vergnügt lauschenden Hörerkreis rechnen.
Zur Plage ist die Hausmusik erst geworden, seitdem das Pianoforte zum Mittelpunkt derselben wurde. Es unterliegt ja keinem Zweifel, daß das Klavier in Bezug auf seinen praktischen Werth allen anderen Instrumenten voransteht, und so war es natürlich, daß es die bisher zur Begleitung des Gesanges verwendeten Saiteninstrumente, die Harfe, Laute und Guitarre, verdrängte. Dabei erwies es sich nach seinem Bau und seiner Spielweise so außerordentlich verbesserungsfähig, daß es nicht nur als Begleitungs-, sondern auch als selbständiges Instrument eine Bedeutung erlangte, wie kein anderes. Wohl fanden auch Harfe, Laute und selbst die Guitarre ihre Künstler, aber diese vermochten die eng beschränkte Spielweise und Technik dieser Instrumente nicht so zu erweitern, daß sie sich mit größerer Selbständigkeit hätten geltend machen können. Das war allein dem Pianoforte beschieden, das sich in einer wenig mehr als ein Jahrhundert umfassenden Zeit zum bevorzugtesten Instrument entwickelte. Es ist in seiner ursprünglichsten Gestalt als „Hackebrett“ länger als ein Jahrtausend bekannt; allein noch in den verschiedenen Arten als Spinett, Clavicembalo u. dergl. im 16. und 17. Jahrhundert spielte es nur eine geringe Rolle. Erst als im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts die neue Mechanik erfunden wurde, trat es allmählich in den Vordergrund und am Ausgange des Jahrhunderts bereits hatte es im wesentlichen seine vollkommene Gestalt gewonnen, welche ihm den Sieg verschaffte.
Wie der Glöckchenton, so ist auch der Ton der Metallsaite mehr sinnlich aufregend und nervenreizend, ja er übertrifft in dieser Richtung selbst den Ton der Darmsaite. Niemals aber wirkt er so das Innere bewegend wie der Gesangston. Er ist nicht desselben seelischen Ausdrucks fähig wie dieser und wie die ihm näher verwandten Blasinstrumente. Der Klavierklang regt deshalb mehr die Phantasie und die Nerven als Herz und Gemüth an.
Daher wird der Klavierklang zuweilen nicht nur für die Hörenden, sondern selbst für die Ausführenden zur Pein, und die rein technischen, die sogenannten „Fingerübungen“ können einen fast körperlichen Schmerz bereiten, während die entsprechenden Gesangsübungen schon aus dem einfachen Grunde nicht so peinigend sind, weil sie nicht so anhaltend fortgesetzt werden können, ohne die Stimme zu ermüden.
Nun müßte man es als Thorheit bezeichnen, wenn jemand die Anforderung stellen wollte, das Klavier aus der Hausmusik zu entfernen und es wieder durch die weniger aufdringlichen Instrumente wie Harfe und Guitarre zu ersetzen. Denn die Wirkung des Gesanges würde dadurch selbstverständlich schwere Einbuße erleiden, da für unsere größten und unvergänglichsten Vokalwerke die Klavierbegleitung von wesentlichster Bedeutung geworden ist. Karl Maria von Weber hat noch eine ganze Reihe seiner herzerfrischenden Melodien zur Guitarre gesungen und von Goethe wissen wir, daß er sich die Melodien seines Freundes Zelter gern unter Guitarrebegleitung vorsingen ließ. Allein seitdem die nachgeborenen Meister noch besser verstehen lernten, den Dichtern auch die tiefsten Geheimnisse ihrer Innerlichkeit abzulauschen, um sie musikalisch treu umzugestalten, konnte ihnen auch die wahrst empfundene, ausdrucksvollste Melodie nicht mehr genügen; sie mußten zur vollständigen Darlegung der dichterischen Empfindung die instrumentalen Mittel mit zu Hilfe nehmen, und hierzu erwies sich das Klavier als das entschieden günstigste. Es muß deshalb der Hausmusik erhalten bleiben, nur mit der bereits angedeuteten Einschränkung, daß es nicht als ausschließlich bevorzugtes, sondern mehr als dienendes Instrument behandelt wird.
Um dem Gesange früh im Hause die ihm gebührende Stellung anzuweisen und zu erhalten, darf er auch unter den Klavierübungen nicht verstummen. Es können diese sehr leicht mit dem Gesangsunterricht verbunden werden und die Erfahrung bestätigt, daß selbst die technische Ausbildung dadurch wesentliche Förderung erhält.
Auch die Klavierbegleitungen zu einer großen Reihe unserer vorzüglichsten Gesangswerke setzen einen nicht unbedeutenden Grad technischer Fertigkeit voraus, der nur durch ernste und ausdauernde Studien zu erreichen ist.
Werden diese nun früh mit dem Gesange verbunden, was sich sehr leicht machen läßt, so verlieren sie zunächst das Geistabtödtende und Ermüdende ihrer Wirkung und erhalten zugleich ihre rechte Stellung angewiesen. Wie viel aber die gleichzeitige Pflege des Gesanges neben der des Klavierspiels dieses selbst zu fördern geeignet ist, das wird nicht leicht jemand bezweifeln. Die Beseelung des Instrumentalklanges ist nur für den Gesangskundigen vollkommen möglich; für die Hausmusik aber ist diese Beseelung Haupterforderniß; hier gilt es nicht, mit Glanzleistungen Bewunderung und Staunen zu erregen wie im Konzert, sondern Herz und Gemüth zu erfreuen und zu befruchten, und das ist nicht mit reizvollen, sondern nur mit beseelten Klängen zu erreichen. Jene gewähren nur Unterhaltung und vorübergehenden Genuß; erst diesen wohnt die wirklich veredelnde und erhebende Kraft inne. Dr. August Reißmann.
Weil die Amsel pfiff.
„Nun, mein Sohn, wenn Du denn satt bist, so wollen wir uns in aller Gemüthsruhe an das Feuerchen da setzen und bei einem guten Tropfen von alten und neuen Dingen schwatzen. – Franz, hol’ ein paar Flaschen 1875er Rauenthaler herauf, Berg-Auslese mit Goldkopf, und dann räum’ ab! – Du hast ja
einigen Weinverstand, Heinz, oder besser gesagt: eine Weinzunge ... denn der Verstand kommt erst mit den Jahren und der Erfahrung; beim Wein geht Probiren über Studieren, oder vielmehr, es läuft beides auf dasselbe hinaus. – Was ist das für ein närrisches Frühjahr heuer! Gestern zwölf Grad Wärme, heute wieder Ofen- und Kaminfeuer. Es giebt weiße Ostern morgen, paß auf!“
Der Onkel ist ein kleiner fetter Herr; er nimmt sein bequemes Lodenjackett, das er als Hausrock trägt, über der grauen Plüschweste zusammen und steuert von dem Tisch mit den Ueberresten des Abendessens zu dem lodernden Kaminfeuer hinüber. Dort steht ein niedriger Tisch, darauf eine offene Cigarrenkiste, daneben zwei niedrige Lehnstühle. Er wirft ein paar Scheite aus [216] dem Holzkasten in das Feuer, stochert mit einer Zange durch die glühende Masse und setzt sich dann gemächlich, indem er sich und den Neffen mit einer Cigarre versorgt.
Das alles thut er mit einer gewissen behaglichen Sicherheit, die vergnüglich wirkt. Er ist ein leidlich wohlhabender Junggesell in den Fünfzigen, der sein Delikateßwarengeschäft bereits seit zehn Jahren verkauft hat, sich seinen Diener hält und das Leben anständig genießt – vorwiegend nach seiner eß- und trinkbaren Seite hin. Als Vormund seines Neffen Heinz – es gab da nicht viel zu verwalten – hat er durch einigen Zuschuß zu den Kosten des Studiums der Familie ein gelehrtes Mitglied gewonnen, was ihn mit Genugthuung erfüllt. Heinz ist ein tüchtiger Philologe; im Herbst war seine Studienzeit zu Ende, er hat sich keck sofort zum Staatsexamen gemeldet, hat den Winter auswärts, bei der Mutter, mit den Vorarbeiten dafür zugebracht – nun, seit ein paar Tagen ist das Examen bestanden, seit heute ist Heinz sogar Doktor.
Die Familienehre steht in leuchtendem Glanze!
Heinz hat seine Cigarre angezündet und prüft sie auf ihren Gehalt. Der Onkel betrachtet den hübschen brünetten Jungen mit dem schwarzen Schnurrbärtchen und der kurzen Quartschmarre auf der Wange mit versteckter Zärtlichkeit, indeß er sich selber ein paar Züge Rauch langsam gegen die Nase bläst. Er ist der richtige kleine Rentier, wie er so zurückgelehnt liegt, die Hände über dem Leibe gefaltet, die schwarzseidene Hausmütze mit langer Quaste auf dem Kopf, drunter im Flammenreflex glänzend das volle Antlitz mit kurzem Backenbärtchen …
„Also – Junge – mit dem Doktor ging das glatt ab?“
„Natürlich. Das ist nur ein Spaß nach dem Staatsexamen.“
„Na na! Nun bin ich doch neugierig, wo Du ankommst. Da Du die Fakultas für die oberen Klassen in Deinen Fächern hast und Oberlehrer werden kannst, so wird Dir’s doch nicht fehlen. Hast Dich großartig gemacht, Heinz; in den ersten Semestern warst Du ein bißchen ein Windhund ... na na, so ein ganz klein bißchen meine ich ... weiß schon, gerade so viel wie die meisten Studenten. Ich habe Dich ja auch nicht einschränken wollen; das siehst Du daraus, daß ich Dich nicht zu mir nahm, unter väterliche Aufsicht, sondern Dich Deine eigene Bude miethen ließ.“
Heinz lachte gutmüthig. „Hand aufs Herz, Onkel: wen hast Du da nicht einschränken wollen.“
„Was, Junge, Du willst Deinem braven Onkel aufs Gewissen knieen ... Franz, die Gläser her! Na, prosit, Herr Doktor, und recht bald einen netten Anfangsposten ...“
Die Römer trafen einander, dann tranken Onkel und Neffe bedächtig; der Feuerschein flackerte vom knisternden Kamin her über die Trinker. Drüben, unter der Deckenlampe, mühte sich Franz mit seinem Kellnergesicht, so geräuschlos wie schnell zusammenzupacken. In wenig Minuten war alles in einem Korbe untergebracht, das Tischtuch mit einer Decke vertauscht, der Onkel schielte wie erwartungsvoll hinüber.
„So! In einer halben Stunde bring’ Cognac, und nun verschwinde wie die Wurst im Spinde! – Ich wollte den Menschen erst nicht behalten, wie Du Dich erinnern wirst – aber er hat sich gemacht; bei solchem Volk kommt viel auf die richtige Erziehung an. Wenn bloß die Liebschaften nicht wären! Kaum hat man so einen Geist, wie man ihn haben will, dann geht er einem durch und heirathet. Apropos – Liebschaft: was die Deine betrifft, die ist doch nun hoffentlich aus? Mit dem kleinen Musikantenfräulein, wie? Wenn da noch etwas hängt … ich kann Dir bloß väterlich rathen: gieb sie auf!“
Heinz sah zur Seite, in die Kaminflammen, in welche der sausende Frühlingswind eben mit starkem Anlauf stürmte. War es davon, daß seine Wange sich tiefer färbte? Die kleine Quartnarbe glühte. Das rasselte, brummte und knisterte eine Weile, wahrend die beiden Männer schwiegen.
„Ich bin noch nicht bei ihr gewesen, seit ich wieder hier in der Stadt bin,“ sagte Heinz endlich langsam. „Ich habe ihr sogar während des ganzen Winters nicht geschrieben.“
„Auch zu Neujahr nicht?“
„Auch zu Neujahr nicht.“
„Hast ihr auch nichts zu Weihnachten geschickt?“
„Auch das nicht.“
„Famos, Junge! So gefällst Du mir. Prosit! Die Sache hat mir ordentlich auf dem Herzen gelegen. Verlaß Dich darauf: die Kleine wird sich trösten, vielmehr schon getröstet haben. Alte Geschichte, die Studentenliebschaften: er jung, sie jung; er grün, sie grün – zu Anfang bildet sich das beides ein, es muß geheirathet sein, und im Grunde ist die ganze Liebschaft nichts als sozusagen ein erster Versuch. Man ist auf die Liebe eingerichtet in den Jahren, hat das Gefühl: irgendwo mußt Du hin damit – und die erste beste passende oder unpassende Gelegenheit wird benutzt, um das Herz unterzubringen. Die jungen Männer sind ja meist die vernünftigeren, sind sich schon nach einem halben Jahre klar, daß das geliebte Wesen doch eigentlich keine richtige Frau für sie abgiebt, und wer da ein bißchen Schneid’ hat, macht zeitig ein Ende. Ueber das Ach und Weh kommen dann schließlich auch die jungen Dinger fort, und nach zwei, drei Jahren haben sie den Rechten und lassen sich einsegnen. Das giebt dann so eine schöne und rührende Erinnerung an den Ungetreuen, und wenn sie ihn zufällig einmal wiedersehen, werden sie noch nach fünfundzwanzig Jahren roth. Na – das ist so, wie es sein soll. Aber es fehlt auch nicht an überzarten Jünglingen, die möchten los und können nicht recht ... eines Tages sind sie ja doch in Amt und Würden und können allenfalls eine Frau ernähren, die nichts hat ... das Fräulein ist wohl inzwischen ein bißchen altbacken geworden ...“
„Das wenigstens ist die Edith sicher nicht geworden in dem halben Jahre ...“
Der Onkel zieht die Stirn hoch und zwinkert. „Du, so ganz kuriert scheinst Du mir doch nicht zu sein.“
„Und wenn ich’s dennoch wäre?“ Ein Schatten fliegt über das Gesicht des jungen Doktors, indeß er ein Stückchen Asche von seiner Cigarre abstreift und in den Kamin schleudert.
„Vernünftig wär’s und mir um Deinetwillen lieb, Junge. Es fallen nicht umsonst neun Zehntel Blüthen taub vom Kirschbaum. Ich habe recht, glaube mir! Eins will die Jugend nicht kapieren, was einem, je älter man wird, desto deutlicher einleuchtet: daß nämlich lieben und heirathen zwei grundverschiedene Dinge sind. Was ist man in der Jugend? Ein junger Mensch, das ist alles. Und ein liebebedürftiger dazu. Man hat weder einen ausgebildeten Geschmack – nur die reine Natursympathie führt da zwei zusammen – noch ein Gefühl für das, was man einer künftigen Stellung schuldig ist. Ihr junges Volk solltet nur wissen, wie wählerisch Ihr nach zehn Jahren, nach zwanzig Jahren sein würdet!“
„Ja, Du bist so wählerisch geworden, Onkelchen, daß Du zuletzt Junggeselle geblieben bist,“ lächelt der Neffe.
„Richtig, Heinz,“ schmunzelt jener, „das stimmt, und ich raufe mir die Haare darum auch nicht aus. Aber alles mit Maß – so um die Mitte der Dreißig weiß man gerade hinlänglich, was für eine Frau man braucht ...“
„Fünfunddreißig? So lange möcht’ ich doch nicht warten!“
„Eh, das ist schließlich auch nicht nöthig. Wenn Du jetzt ein bißchen vordenkst, kannst Du immer schon so wählen, daß Du einigermaßen sicher sein darfst, es nicht zu bereuen.“
[217] Heinz seufzte. „Es bleibt Lotteriespiel, Onkel. Ich kann mich beim Rechnen verrechnen, und ich kann mit meinem bloßen Dummen-Jungen-Gefühl das große Los ziehen.“
„Da haben wir’s wieder“ – der Onkel hob in einer Art von Verzweiflung die Arme weit auseinander.
„So heirathe meinethalben Deine geliebte Edith!“
Heinz schlug langsam die Lider auf und blickte den Onkel ein paar Augenblicke steif an.
„Ich werde sie nicht heirathen, Onkel!“
„Hm – dann hast Du wohl gar irgend einen Privatgrund für Dich… Heraus mit der wilden Katz’!“
„Das allerdings; und es hat dieser Grund den Ausschlag gegeben, wenngleich Erwägungen wie die Deinigen den Hebel angesetzt haben, mich schwankend zu machen. Ich habe mir gesagt, daß nur eine dauerhafte, im tiefsten Wesen gegründete Liebe zu Edith den zureichenden Grund für mich bilden könnte, um dieses Studentenverhältniß mit einer Ehe abzuschließen. Sie ist arm, und sie ist in nichts so außergewöhnlich, daß jedermann um deswillen meine Heirath mit ihr begreiflich finden müßte. Ihr eigener Vater hat uns immer mit Mißtrauen bewacht, weil er ganz ausgesprochen überzeugt war, mit meinem Weggang von hier würde ich Edith aufgeben ...“
„Der Mann gefällt mir,“ schaltete der Onkel ein.
„Als ich von hier zur Mutter ging, war ich entschlossen, die Trennung zu einer Prüfung meiner Neigung auf ihre Echtheit zu benutzen. Ein halbes Jahr ohne jede Verbindung mit dem Mädchen sein, nichts von ihr sehen und hören ... wenn mein Herz nach Ablauf dieser Zeit mich noch zu ihr zwingen würde, ja, dann sollte mich nichts abhalten, unsere Verlobung vor aller Welt zu verkündigen. Dann wollte ich alles dransetzen, auch Dich für den Gedanken dieser Heirath zu gewinnen.“
„Gut! Dann hätte ich am Ende auch die Aussteuer für die Kleine besorgt. – Und mit der Dauerhaftigkeit Deiner Liebe war es nichts?“
Heinz zögerte. „Nein!“ sagte er endlich fest und herb.
„Hat die Kleine denn nicht ein einziges Mal schriftlich angefragt, was Dein Schweigen zu bedeuten habe? Oder hattet Ihr die Prüfung mit einander verabredet?“
„Keines von beiden. Zu Anfang quälte mich die leidenschaftlichste Sehnsucht nach ihr, plagte mich die Erinnerung an die Vergangenheit dieser Liebe … dann wurde das alles über meinen angestrengten Studien blasser und blasser … ich hatte ein Gefühl, als ob ich eine Fieberkrankheit überstanden hätte und in der Genesung wäre. Eine gesunde Nüchternheit überkam mich, mir wurde so hell zu Muth, als wäre mir die Welt um mich herum neu geschenkt, nachdem sie mir eine Zeit lang genommen gewesen. Nur ganz vereinzelt überfiel mich eine Stunde der Sehnsucht und Reue – bald darauf war das wie weggeblasen. Und heute kann ich völlig ruhig an sie denken – das einzige, was mich noch peinlich berührt, ist die Möglichkeit, ihr zufällig zu begegnen. Ich wehre den Gedanken daran mit beiden Händen ab. Du siehst, ich habe höchst vernünftig gehandelt, und ich bin dahin gekommen, daß ich es für ein Verbrechen an dem Mädchen halten müßte, sie aufs neue an mich zu ziehen.“
„Richtig, richtig, ganz meine Meinung. Famos, Heinz, das hast Du großartig gedeichselt … dafür mußt Du mal eine Frau kriegen, die sich gewaschen hat … Prosit auf die zukünftige Frau Doktor!“
Heinz trank ohne sonderlichen Enthusiasmus. „Und doch –“ sprach er halb für sich.
„Na – und doch?“
„Ich wollte, es wäre anders gekommen. Das Mädchen dauert mich, ganz frei von Gewissensbissen bin ich nicht.“
„Ach, Unsinn …“
„Ja, wenn ich wüßte, daß sie ebenso denkt wie ich, innerlich ebenso frei ist … schließlich habe ich ihr doch etwas weisgemacht und habe sie sitzen lassen.“
„Junge, das sind Jugendthorheiten, das wird alles überwunden. Sei froh, daß Du glücklich drüber weg bist … Weißt Du, komm mit, ich gehe noch ein paar Stündchen ins Kasino, wir feiern Deine Genesung mit einem Partiechen.“
Der behagliche kleine Mann erhob sich; aber Heinz blieb sitzen.
„Laß mich hier, Onkel; ich bin etwas schlaff nach der Aufregung von heute früh und werde mich lieber zeitig hinlegen.“
„Wie Du willst!“
Der junge Doktor blieb einsam am Kamin sitzen. Das Feuer sank zusammen, blaue und goldene Flämmchen tanzten auf der Asche und verschwanden wieder. Dann und wann sauste ein Windstoß durch den Schlot hernieder …
„Im Sommer blank,
Im Winter krank,
Im Frühling begraben – –“
murmelte Heinz vor sich hin und dachte an seine Studentenliebe. Er war nicht zufrieden mit sich, aber er hatte abgeschlossen, fest und bewußt!
Morgen ist Ostern …
* | * | |||
* |
„Weißt Du, nun laß endlich den Unsinn!“ Der Musikus Sonnemann, ein mittelgroßer Mann mit auffallend blutlosem, doch vollem Gesicht und starkem blonden Schnurrbart, brummte es verdrießlich. Er saß am Tisch in dem kleinen bescheidenen Stübchen mit dem alten dünnen Urväterhausrath und hatte seine Posaune zwischen die Kniee geklemmt – eben tauchte er den Putzlappen frisch in den Napf auf dem Tische und rieb an dem Instrument weiter.
Die Mutter auf dem Sofa, eine kleine gealterte Frau, ließ den Strickstrumpf sinken. „Gott, das kannst Du doch dem Mädchen nicht verdenken, jetzt, wo sie weiß, daß Tausing in der Stadt ist. Das rührt doch natürlich wieder alles bei ihr auf. Er geht schlimmstenfalls schließlich fort und dann ist’s gut. Sie wird sich schon wieder fassen.“
Edith lehnt in einem hochlehnigen Korbstuhl abseits vom Tische, wohin das Licht der grünschirmigen Lampe nur mit schwacher Dämmerung dringt. Der Korbstuhl knarrt, wie sie hastig das Taschentuch hebt und über die Augen fährt.
„Der Vater hat recht, Mutter. Heinz ist die Thräne nicht werth. Der Vater hat in der ganzen Sache recht gehabt.“
Sie ist ein schlankes, feingliedriges Mädchen, mit einem jener blassen Gesichter, welche die Dämmerung verschönt. Sie ist sicherlich auch sonst hübsch, ohne Dämmerung.
„Ich hatte selber gehofft, er würde nun kommen und sein Schweigen aufklären,“ meinte die Mutter nach einer Pause. „Ich [218] hatte eine andere Meinung von ihm und gebe sie auch jetzt noch nicht auf.“
Der Musikus stieß ein spöttisches Murren aus.
„Mich lehrt die Studenten kennen! Das ist müßiges Volk, die möchten gern etwas fürs Herz haben, machen den Mädels was weis, und wohl sich selber auch – auf den Augenblick meinen es ja manche ganz ehrlich ...“
„Manche auch länger,“ schaltete die Mutter kopfnickend im selben Tonfall ein.
„Auch! – Habe gar nichts dagegen. Aber das sind weiße Raben; ich mißtraue jedem, und es wäre besser gewesen, Ihr hättet dasselbe gethan, dann brauchte das Mädel jetzt nicht herumzusitzen und zu flennen; aber gegen Euch Weiber kommt keine Vernunft auf.“
„Du hast wohl nöthig, hinterher, wo nichts mehr zu ändern ist, dem Kinde mit übler Laune das Herz noch schwerer zu machen, statt ihr gut zuzureden.“
Sie sagte das nicht heftig. Sie hatte doch etwas Gedrücktes, wie eine Art Schuldgefühl, an sich. Edith schwieg – der Musikus schwieg gleichfalls und rieb mit gleichmäßiger Bewegung sein Instrument, das morgen in der Nikolaikirche sollte Ostermusik machen helfen.
„Sonderbar ist’s doch,“ brach die Mutter das Schweigen. „Wie seid Ihr zwei denn zuletzt auseinandergegangen? Habt Ihr Euch gar nicht ausgesprochen, Ditha?“
Edith schüttelte mit dem Kopfe. „Es war ein Abschied wie immer; er meinte: ‚Hoffentlich auf Wiedersehen gegen das Frühjahr hin.‘ Ich sagte ihm: ‚Du schreibst mir doch?‘ Darauf küßte er mich, antwortete aber nichts. Doch nun ist’s gut und vorbei, und nun laßt mich’s vergessen! Ich will schlafen gehen, das ist das beste.“
Sie sprang auf und reichte den Eltern nach einander die Hand. „Gute Nacht!“ – dann ging sie auf ihr Zimmer, nahm da im Dunkeln ein Tuch um die Schultern und setzte sich an das Fenster.
Ihr Gesicht suchte den Himmel, der war voller Sterne; und der Wind draußen gebärdete sich wie ein wilder Thauwind: das zog aus allen Fugen, und dann und wann fauchte oder heulte es und machte die Flügel im Rahmen schüttern. Sie hielt die Augen starr offen, bis sie thränensatt waren, dann neigte sie rasch den Kopf und ließ ihn auf die über dem Fensterbrett gekreuzten Arme sinken.
„Treuloser ...“ sagte sie vor sich hin.
Das war ein Wind, just wie damals! Nur wenig später die Jahreszeit ... eine jener kleinen Gesellschaften, wie sie unter der Bürgerjugend größerer Städte sich zahlreich bilden, hatte einen Landausflug gemacht, gescherzt, getanzt. Sie mit, und er auch. Ein Jugendbekannter von ihm, der Mitglied war, ein Photograph, hatte ihn bereits im Winter eingeführt, damit er in einer Liebhabertheater-Vorstellung mitwirke. Er hatte Edith schon nach der ersten Umschau bevorzugt.
Und in jener Mainacht waren sie beide Arm in Arm heimgekehrt, die Eltern immer fünfzig Schritt hinter sich lassend ... wenig redend, thörichte gleichgültige Worte. Eine so dunkle, dunstige Mainacht mit sausendem Wind! Das Tuch flog ihr immer von der Schulter; er nahm es und schlug es auseinander: ein so großes Tuch. weit genug für zwei ... und sorglich legte er es um sie beide und schlang seinen Arm um sie. Sie bebte und er bebte; sie hatte eiskalte Hände, sie fühlte es, und sah ihn an ... und er sah sie an ... ein paar Zoll Luft waren noch zwischen ihnen, und die waren leicht übersprungen.
Ach ja, das war eine Nacht, ein Weg!
Er kam am andern Tag, nach ihr zu fragen, und die Mutter lud ihn ein, zuweilen den Abend zu kommen. Studenten sind so kurzweilige Herren! Aber er kam nur selten – der Vater sagte ihm ohne Worte, daß er kein Gefallen an den Besuchen fände. Sie sahen sich dennoch oft ... bei dritten oder in größerer Gesellschaft; dergleichen ließ sich veranstalten.
„Ach Gott, wär’s doch nie gewesen!“
Aber es war eben doch gewesen!
Einen Winter lang hatte er sich nun vor ihr versteckt, ohne Abschied fürs Leben, ohne Aufklärung ... nie konnte sie ihm schreiben, das war doch zuerst seine Sache! Daß er nicht krank ist, weiß sie von dem Photographen, dem er geschrieben hat ... nun ist er wieder hier, seit Wochen, sie weiß es, und sie sind einander nie begegnet, und er ist nicht zu ihr gekommen!
Er kann jetzt heirathen, jetzt muß er sich entscheiden ... ah, er hat’s ja schon gethan, er hat sich gegen sie entschieden, sie fühlt es, trotz der Hoffnungen der Mutter. Manchmal hofft sie wohl auch plötzlich; aber dann zuckt es wieder schmerzvoll durch ihre Seele: „Nein! es ist nicht möglich.“
„Nicht möglich mehr.“
Sie fröstelt schaudernd zusammen, nimmt das Tuch fester um, erhebt sich sacht und blickt in das kleine Gärtchen hinunter.
Da sieht man über die niedrige Mauer, sieht die Straße mit den nächsten Gaslaternen, von denen die eine ihr Licht auf den großen Aprikosenbaum im Garten wirft. Ein guter alter Bursche das, der jedes Jahr pünktlich seine Last trägt!
Seit zwei Tagen sind die Blüthen aufgesprungen, karminrothe Blüthen über und über. Das junge Mädchen späht unwillkürlich durch die feucht überhauchten Scheiben, ob sie die Blüthen im Laternenlicht zu erkennen vermag, und sie glaubt, daß sie dieselben sieht.
Dann blickt sie wieder zum Himmel, und der ist stark verschleiert. All die Sterne fort!
„Meinethalben,“ sagt sie. „Es mag immer ein dunkles Ostern werden. Mein Glück ist begraben ... das weckt kein Ostern auf. ... Ja – ja, es soll begraben sein! Es soll nicht wieder aufwachen! Auch wenn er wirklich noch käme.“
In diesem Augenblicke haßte sie Heinz.
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Die Osterglocken läuteten so feierlich in der Früh, das erste Läuten zur Vormittagskirche. Himmel und Erde sonnig; und vorhin war’s auch warm, aber jetzt streicht eine so kalte dicke Luft, eine recht frostige Luft.
Heinz hatte schlecht geschlafen und war dabei, mit einer Morgenpromenade seine Lebensgeister aufzufrischen.
„Paßt auf, es wird gleich schneien,“ rief einer von zwei Leuten, die sich in seiner Nähe begegneten. dem andern zu. Und plötzlich donnerte es ein wenig!
„Das Wetter weiß auch nicht, was es will,“ denkt Heinz, fast verächtlich. Er freilich, er weiß genau, was er will. Er weiß zum Beispiel ganz bestimmt, daß er die hübsche Edith einem Würdigern überlassen wird.
Wahrhaft unheimlich ist das doch, wie gleichgültig er bei dem Gedanken an sie sein kann! Nicht gerade immer; zum Beispiel im Augenblicke klingt ihm etwas im Ohr, was sie ihm einmal mit ihrer süßen Stimme gesagt hat: „Willst Du mir den Laufpaß geben? Dann muß ich weinen.“ Etwas so Gewöhnliches ... man muß aber gehört haben, wie sie das sagte; so raffinirt wie eine kleine geschickte Schauspielerin!
Und sie ist doch gar keine Schauspielerin von Natur, sondern ein klares, munteres, natürliches Mädchen. Eben diese Klarheit ohne Mache und Phrase läßt den Reiz des Weiblichen bei ihr ganz unverkürzt wirken. Im Grunde braucht ein „höherer“ Schulmeister sich keineswegs ihrer zu schämen, wenn er sie heirathet; es giebt genug unbedeutende und dabei viel reizlosere Lehrersfrauen ...
Aber es ist doch nicht nöthig, Edith zu heirathen! Man kann gleichgültig werden, wenn man fern von ihr ist; das ist ein sichrer Wink der Natur: thu’s nicht!
Er ist ja auch entschlossen, es zu unterlassen.
Heinz ist in die Nähe des Hauses gelangt, in welchem Edith wohnt, und der Gedanke reizt ihn, den Weg durch diese Straße – um die Ecke dort – zu wählen. Eine Wolke, ein einzelner grauer Koloß mit blendend weißen Rändern und weißen Ballenhäuptern, schwimmt über ihm, überschattet ihn, und im Augenblick beginnt sie, Flocken niederzustäuben ... er thut wohl daran, auf dem kürzesten Wege heimzukehren.
Ein kurzes Besinnen noch, die Flocken vermehren sich, dichter, dichter, es wirbelt und kreiselt um ihn mit einem Hauch wie von Gletschern.
Vorwärts, man wird ihn nicht sehen! In dieser beweglichen wirbelnden Verschleierung kann er ruhig am Hause vorüber wandeln.
Er biegt starken Schrittes in die Straße. Wie das lustig weiter schneit! Da ist die Gartenmauer, und er hat Herzklopfen.
Ei – vom Garten her pfeift es. Das ist eine Amsel.
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Wie das so geht: in diesem Augenblick läßt das Schneetreiben nach, goldiges Sonnenlicht bricht in das Flockenwirbeln. Heinz sieht die Amsel, sie sitzt auf einem Baume.
Auf dem alten Aprikosenbaume!
Vor ihm malt sich plötzlich ein Bild hin mit der Unterschrift: Frühlingsidylle. Ein so süßes Bild, daß man ein Eisklumpen von Gefühllosigkeit sein müßte, um nicht stehen zu bleiben und das Herz aufspringen zu fühlen.
Eine Mauer, darüber aufragend ein alter Aprikosenbaum, um und um blühend wie mit Rosen auf den blatkahlen Zweigen – auf einem der blühenden Zweige die Schwarzamsel mit dem orangegelben Schnabel. Durch den Baum, um die Schwarzamsel her wirbeln lustig die weißen Flocken, und die Schwarzamsel pfeift dazu, so hell, so flötenweich, so aus voller, frühlingsseliger Brust ...
Dazu Glockenläuten!
Heinz bleibt stehen ... seine Brust ist in Aufruhr, und das steigert sich – nicht zu beschreiben. Ein Sturm von Liebe und Glückseligkeit durchtobt sein Inneres; er kehrt das Unterste zu oberst, es ist an gar keinen Widerstand zu denken! Da ist ein Baum, drin jubelt die Liebe: Die Flocken stäuben, aber ich bin Sieger; der Frost umhaucht mich, aber die selige Brautzeit ist da: was da läutet, sind Auferstehungsglocken, ich weiß es ... ich weiß es ... denn der alte Aprikosenbaum blüht. Das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden! Was ist so süß wie ich?
Heinz wird’s weich ums Herz. Was ditt ich für ein Narr! Ich liebe sie nicht mehr? Ich? Da oben sitzt sie vielleicht am flockenverschneiten Fenster und schaut nach mir aus, mit dem blassen zarten Mädchengesicht, mit den großen dunklen Augen und dem süßen Munde ...
Weil es in mir winterte, habe ich den Frühling aus meiner Rechnung gestichen? Als ob es kein Ostern gäbe!
O, ich überkluger Narr – ich liebe sie nicht mehr?
Er stürmt vorwärts, um das Haus herum, er reißt die Thür auf – kaum nimmt er sich Zeit, den Schnee vom Ueberrock zu schütteln. Auf der Treppe begegnet ihm der Musikus, die frischgeputzte Posaune im Ueberzug unter dem Arm. Er sieht Heinz mit großen Augen an, finster und fragend ...
„Ich muß zu Edith, ... Herr Sonnemann ...“
Heinz ist vorüber, und der andere bleibt murrend stehen, zaudernd und mit sich kämpfend; aber er muß ja fort, es ist hohe Zeit, daß er sich in die Kirche verfügt. Das Amt geht vor, er ist im Orchester unentbehrlich.
Heinz klingelt oben – die Mutter öffnet. „Ach, Herr Tausing ...“
„Ich muß zu Edith – sie ist drinnen, nicht?“
Er wartet gar keine Antwort ab. In der Stube ist Edith aufgesprungen vom Fenster, sie hat seine Stimme gehört. Sie will nicht flüchten, sie haßt ihn plötzlich nicht mehr, ein Frühlingsrausch überfliegt sie, durchschüttelt sie ...
„Edith, Edith“ ... „Heinz“ ... er hat die Arme ausgebreitet und sie auch, und nun schluchzen sie beide und ihre Thränen fließen ineinander.
„Sprich nichts – gar nichts,“ haucht sie, „ich will nicht wissen, wie es gekommen ...“
„Edith, unten auf dem Aprikosenbaum, mitten im Flockentreiben, sang die Amsel,“ stammelt er. „Ich mar todt, und nun bin ich auferstanden.“
Die Glocken läuten nicht mehr. Es ist still um sie, die Sonne scheint ins Fenster, und in der Thür steht schweigend die Mutter.
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„Onkel,“ sagt Doktor Heinz Tausing, „entschuldige, daß ich so spät komme. Weißt Du, wo ich war?“
„Wo es fidel war, denn Du siehst höchst vergnügt aus. Oder etwa in der Kirche? Du hast nebenbei so etwas Frommes an Dir.“
„Beinahe,“ sagt Heinz. „Ich war bei Edith, und nun kannst Du mich hinauswerfen, wenn Du Lust hast.“
Ein kurzer Blick mitleidigen Entsetzens. „Unglaublich, aber wahr!“ bringt endlich der so über alle Möglichkeit hinaus Enttäuschte langsam hervor. „Und gestern ganz auf der Höhe! Na, da liegt wirklich Charakter drin. Sag’ mal: Du bist wohl sehr zugänglich für Witterungseinflüsse?“
Heinz ist doch etwas pikirt über die boshafte Stimmung des Onkels; seine Antwort kingt gereizt.
„Na, soviel weiß ich, mein Junge, in meinem ganzen Leben rathe ich keinem Menschen unter fünfunddreißig Jahren wieder zur Vernunft ... Hm, hm, also verlobt ... Heinz, offen und ehrlich gesagt: fühlst Du Dich jetzt glücklich, bist Du durchdrungen davon?“
„Unbeschreiblich.“
„Glaubst Du, daß dies Glück anhalten wird in der Ehe? Ich denke, Du hattest alles Gefühl für das Mädchen verloren, seit Du es nicht mehr zur Hand gehabt? Und das war Dir doch ein Beweis, daß Deine Liebe nicht echt war?“
„Onkel, zu Ostern stehen die Todten auf! Nein, ich will anders reden; ich weiß es jetzt: ich habe von der Liebe etwas verlangt, was man nicht von ihr verlangen kann. Es ist naturwidrig, zu fordern, daß ein leidenschaftlich gesteigertes Empfinden sich ohne Anregung von selbst auf der Höhe halten soll. Ein jedes Feuer erlischt, wenn ihm alle Nahrung verweigert wird. Und das habe ich grundsätzlich gethan, habe selbst meiner Phantasie verboten, Holz zuzutragen. Ich habe nicht meine Liebe auf die Probe gestellt – ich habe sie systematisch umzubringen versucht!“
„Das scheint Dir aber richtig mißlungen zu sein. Also Du glaubst, sie wird Dich dauernd glücklich machen, diese Edith?“
„Ja – ja – ja!“
Der Onkel wanderte dreimal auf und ab; endlich blieb er mit eingekniffenem Auge vor Heinz stechen und legte ihm gemüthlich die Hand auf die Schulter.
„Ja? – Na dann sollst Du meinen Segen, und Deine Braut eine anständige Aussteuer haben.“
Blätter und Blüthen.
Hölzerne Kleider. Hölzerne Kleider sind durchaus nichts Neues; heißt es doch schon im alten Liede:
„Der liebste Buhle, den ich han,
Der liegt beim Wirth im Keller;
Er hat ein hölzern Röcklein an
Und heißt der Muskateller.“
Aber solche Röcklein sind in unserm Falle nicht gemeint, wir haben wirkliche Kleiderstoffe im Sinn, die von der feinen Welt getragen werden, und die der besten Seide weder an Farbe, noch Gefühl, noch Aussehen nachstehen. Und doch ist der Hauptbestandtheil dieser Seide lediglich Holz, chemisch gereinigtes Holz, und weiter nichts.
Unsere schönen Leserinnen werden mit getheilten Gefühlen dieser Erfindung gegenüber stehen, und zunächst wird dieselbe vielfach angezweifelt werden. Kleiderstoff aus Holz? Hölzerne Kleider? Sollte das möglich sein? Ja, es ist in der That möglich.
Aber wie wird’s denn gemacht, das Holz in Seide zu verwandeln? Das geht überraschend einfach her. Das Holz besteht nämlich der Hauptsache nach aus Cellulose, die von nur wenigen Faserstoffen eingehüllt ist. Man zerreibt nun das Holz, indem man es mittels großer Schleifsteine mahlt; dieselben gehen mit ihrem untern Theile in Wasser, welches die Fasern abspült und aufnimmt. Die Faserstoffe werden alsdann auf chemischem Wege aufgelöst und man erhält die reine Cellulose, die im vollsten Sinne „ein Mädchen für alles“ ist. Sie dient zur Papierfabrikation, zur Herstellung von Schmucksachen, zum Ersatz des Elfenbeins, zur sogenannten Gummiwäsche und zu unzähligen anderen Gegenständen.
Von demselben Stoffe hat vor kurzen der französische Chemiker Chardonnet auch künstliche Seide hergestellt, die auf der letzten Weltausstellung in Paris großes und verdientes Aufsehen erregte. Die Herstellung der Seidenfäden wurde dort an einem patentirten Apparat gezeigt, der just aussieht wie eine Wurstmaschine. An der Stelle aber, wo bei der Wurstmaschine das Hackfleisch austritt, bringt Chardonnet ein nach unten gerichtetes Mundstück an, welches mit äußerst feinen Oeffnungen versehen ist. Aus diesen quillt die Seide in feinsten Fäden hervor. Das Haspeln, Weben und Färben wird, wie bisher üblich war, gehandhabt. Da die künstliche Seide die Farbstoffe gut aufnimmt, so lassen sich mit ihr wunderbar glänzende Farbentöne erzielen.
Trotzdem hatte Chardonnet mit seiner Erfindung keinen Erfolg, denn die künstliche Seide war gar zu feuergefährlich, und ein solches Gewebe stand im Nu in Flammen. Dieser Uebelstand ist nun beseitigt, indem man die Cellulose mit einem Feuerschutzmittel tränkt; man erreicht dadurch einen so guten Schutz gegen Entzündlichkeit, daß das Patentamt des Deutschen Reiches das früher beanstandete Patent nunmehr ertheilt hat. – Da zur Zeit die Seideneinfuhr für Deutschland 2871900 Kilo im Werthe von 130 Millionen Mark beträgt, so ist der Werth des Patentes sehr bedeutend.
In Zukunft also kleiden wir uns in Holz und Holzstoff; Kragen, Manschetten, Vorhemdchen, alles von Cellulose. Die „echte“ Elfenbeinvorstecknadel, das schöne, rothe Korallenhalsband, die wie Perlmutter glänzende Haarnadel, die Knöpfe mit dem wundervoll verschlungenen Namenszuge, die „seidenen“ Kleider, welche unsere Damen tragen – alles Cellulose! Aber damit noch nicht genug, auch das rauchlose Pulver, verschiedene grausenerregende Sprengmittel haben als Grundstoff nicht minder Cellulose, wie die neuen perlweißen Zähne, die der amerikanische „Dentist“ seiner Kundschaft für Walroß oder gar echt Elfenbein verkauft.
Die Huldigung des Siegers. (Zu dem Bilde S. 212 u. 213.) „Allah il Allah!“ Es ist, als ob dieser Siegesruf der mohammedanischen Scharen tausendstimmig aus unserem Bilde aufstiege zum Himmel; er übertönt die wimmernden Jammerlaute der Gefangenen und das letzte Röcheln der Sterbenden.
Zu Granada war’s, im schönen Spanien. Seit sieben und einem halben Jahrhundert herrschten hier die Mauren, gleich groß in den Thaten des Kriegs wie in den Werken des Friedens, und lange durfte sich das unterworfene Land einer milden Knechtschaft und hoher wirthschaftlicher Blüthe erfreuen, einer Blüthe, die es nie wieder erreicht hat, deren Spuren der Wanderer noch heute staunend bewundert. Aber zwei gefährliche Feinde verbanden sich gegen die Macht der spanischen Kalifen: die Zwietracht in den eigenen Reihen und die nur zurückgedrängte, aber nicht vernichtete Christenheit. Während auf dem Throne von Cordova die Herrschergeschlechter sich ablösten, Sonderreiche bald da, bald dort sich losrissen, um meist rasch wieder zu verschwinden, eroberte die christliche Ritterschaft Schritt für Schritt den alten Boden wieder, den ihr einst die unglückliche Schlacht bei Xeres de la Frontera im Jahre 711 entrissen hatte. So konnte es dahin kommen, daß die Mauren, die einst über die ganze pyrenäische Halbinsel mit Ausnahme des asturischen Berglands im äußersten Norden geboten hatten, schließlich auf das Königreich Granada – etwa den heutigen Provinzen Granada, Malaga und Almeria entsprechend – sich beschränkt sahen und den Königen von Kastilien tributpflichtig wurden. Aber noch war es eine achtunggebietende Macht, über welche die „Könige von Granada“ verfügten. Denn das außerordentlich fruchtbare und fleißig angebaute Land ernährte drei Millionen Bewohner und stellte hunderttausend Krieger ins Feld. Und als König Mulei Abul Haschem im Jahre 1476 die Fortentrichtung des seit 230 Jahren bezahlten Tributs verweigerte, da bedurfte es eines langen, wechselvollen Krieges, bis endlich am 2. Januar 1492 die stolzen Thore von Granada dem Königspaar Ferdinand von Aragonien und Isabella von Kastilien sich öffneten und der letzte König von Granada, Boabdil, in die Verbannung wanderte.
Das ist das geschichtliche Drama, aus dem unser Bild eine Scene darstellt. Und zwar ist es diesmal der Maure, welcher Sieger blieb. An der Spitze seiner Kriegerscharen tritt der Feldherr vor seinen königlichen Gebieter, hinter sich die Träger der erbeuteten christlichen Feldzeichen, und seine ausgebreiteten Arme scheinen sagen zu wollen: „Siehe, das alles ist Dein, Dein sind die Kleinodien von Gold und Edelsteinen, die Dein Sklave Dir auf prächtiger Schale reicht, Dein die kostbaren Rüstungen der erschlagenen Feinde, Dein die heiligen Geräthe, mit denen die Ungläubigen ihren Gott verehren, Dein das Herrlichste, was an Frauenschönheit unsere Augen sahen im Feindesland! Nimm es, Herr, nimm alles, was Allah den Deinen gegeben!“
Der „König von Granada“ aber hält unter dem Thore der Moschee. Mit den ehernen Gesichtszügen des Orientalen, die mit keiner Spur die Bewegung des Inneren verrathen, schaut er von seinem prächtig geschirrten Rosse herab auf die Huldigung seines siegreichen Feldherrn. Was in dem starr emporgereckten Haupte des Herrschers für Gedanken sich kreuzen mögen? Weiß er, daß der Mann vor ihm, welcher ihm jetzt alle Früchte seines Sieges zu Füßen legt, in der Stille auf Verrath sinnt? Ahnt er, daß dem heutigen Triumph morgen ein um so tieferer Sturz folgen wird? Wer will es ergründen?
Kleiner Briefkasten.
M. Nessillig in Köln. Wir bitten um Angabe Ihrer genauen Adresse, damit wir Ihnen brieflich antworten können.
J. R. in Konstantinopel. Die Unterrichtsbriefe nach Toussaint-Langenscheidtscher Methode werden wohl für Ihr Bedürfniß zutreffen.
Inhalt: Eine unbedeutende Frau. Roman von W. Heimburg (12. Fortsetzung). S. 201. – Frühling. Bild. S. 201. – Denksprüche. Von D. Sanders. S. 204. – Das Ende der Steinkohle und ihr Ersatz. Von August Hollenberg. S. 204. – Ostertag. Bild. S. 205. – Ostern. Bild. S. 209. – Truggeister. Roman von Anton von Perfall (12. Fortsetzung). S. 210. – Die Huldigung des Siegers. Bild. S. 212 und 213. – Lenzeszauber. Gedicht von Monica Brodtreiß. S. 214. – Vom Gesange in der Kinderstube. Von Dr. August Reißmann. S. 214. – Weil die Amsel pfiff. Eine Ostergeschichte von Victor Blüthgen. S. 215. Mit Abbildungen S. 216, 217 und 219. – Blätter und Blüthen: Hölzerne Kleider. S. 220. – Die Huldigung des Siegers. S. 220. (Zu dem Bilde S. 212 und 213.) – Kleiner Briefkasten. S. 220.
In dem unterzeichneten Verlage ist erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:
Von Professor Dr. Carl Ernst Bock. Siebente Auflage, neu bearbeitet von Dr. Max von Zimmermann.
Eine kurze Anleitung zur Kenntniß des menschlichen Körpers und seiner Pflege im gesunden und kranken Zustande, wie sie „Bock’s Kleine Gesundheitslehre“ bietet, ist für Jedermann unentbehrlich, der auf die Erhaltuug des ersten und wichtigsten Gutes, die Gesundheit, Werth legt.
„Bock’s Kleine Gesundheitslehre“ ist in den meisten Buchhandlungen zu haben. Wo der Bezug auf Hindernisse stößt, bestelle man unter Beifügung von 1 Mark und 20 Pf. (für Porto) = in Briefmarken direkt bei der
- ↑ Veranlassung zu dieser im Kreise seiner Bekannten gebrauchten Bezeichnung war die zu jener Zeit erschienene Nummer der Münchener Bilderbogen: „Der Mohr und der Elefant“.
„Ein Mohr aus Bosheit und Plaisir
Schießt auf das Elefantenthier.
Da dreht der Elefant sich um
Und folgt dem Neger mit Gebrumm.
Vergebens rennt der böse Mohr,
Der Elefant faßt ihn beim Ohr.“