Die Gartenlaube (1891)/Heft 14

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1891
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[221]

Nr. 14.   1891.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Eine unbedeutende Frau.

Roman von W. Heimburg.
(13. Fortsetzung.)

Hilde hatte in dieser Nacht nicht geschlafen, sie war nicht einmal zu Bett gegangen. Als das erste Morgengrauen durch die Vorhänge brach und mit dem Schein der verlöschenden Lampe kämpfte, saß sie noch in dem kalt gewordenen Zimmer im Schaukelstuhl, frierend und verweint. Auf Tischen und Stühlen lagen ihre Sachen, die sie aus den Schubfächern und Schränken gerissen hatte, um sie einzupacken; dabei lag auch ein Brief, den sie geschrieben hatte, an Frau Jussnitz gerichtet.

Weit war sie mit ihren Vorbereitungen zur Reise nicht gekommen. Eine unwiderstehliche Schwere hatte ihre Glieder gelähmt, und so war sie schließlich in den Stuhl gesunken, die Hände ineinander gewunden, und hatte Tag für Tag den Aufenthalt in diesem Hause noch einmal im Geiste durchleben müssen.

Müssen! Es half ihr nichts, daß der Stolz zu dem wunden Gewissen sagte: „Man hat Dich erst soweit gebracht – Du hast ja nur zeigen wollen, daß Du ihn nicht liebst, hast Dich stählen wollen an dem Bewußtsein, daß er nicht Dein werden konnte.“ – Immer wieder kamen neue Vorwürfe: „Du hast Dich eingedrängt zwischen jene beiden, hast sie irre gemacht aneinander!“

Und nun?

Ja, was nun? Sie griff sich mit der zitternden Hand in ihr verworrenes Haar. – Die Augen der Frau, diese todestraurigen Augen würde sie sehen, so lange sie lebte; in ihrer letzten Stunde noch würden sie ihr anklagend vor der Seele stehen. Daran hatte sie nie gedacht, daß diese Frau ein Herz besaß, daß sie ihren Mann liebte. Liebe war ihr so gleichbedeutend gewesen mit ewigem Zärtlichthun, Anschmiegen, Anbeten, mit Unzertrennlichsein, und wenn das nicht – mit Launen, Thränen, kleinen Kriegen und Friedensschlüssen. Diese Frau war so still, so geduldig gewesen, so bescheiden und demüthig –.

Hilde versuchte, sich in Antjes Lage zu denken. Unter heißem Erröthen vergegenwärtigte sie sich den Mann, den sie liebte, zu den Füßen einer andern, einer, die von ihr selbst nur Wohlthaten empfangen hatte, die im Hause gehegt und gepflegt worden war wie ein werther lieber Gast – und der Zorn kochte in ihrem Blut, ihre Hände ballten sich. O sie! Sie wäre auf die andere zugesprungen und hätte sie ins Gesicht geschlagen. Antje aber that nichts von dem! Nur einen Blick – aber der brannte, ach, der brannte! Das Mädchen sank zurück und schluchzte in die Polster hinein. „Was nun? Was nun?“ fragte sie sich wieder. „Nach Hause, gleich nach Hause!“ rief es in ihr.

Als ob man ihr dort nicht angesehen hätte, daß sie,

Alice. 0Nach einem Gemälde von A. Seifert.
Photographie von Franz Hanfstaengl Kunstverlag A.-G. in München.

[222] die Hilde von Zweidorf, die so streng geurtheilt hatte über jede ehrenwidrige Handlung, selbst schuldig geworden war? Und um was? Um eine getäuschte Hoffnung zu rächen, wie sie jeder einmal begräbt in seinem Herzen. Ach nein, das war ihre einzige Entschuldigung – sie hatte ihn lieb gehabt, so sehr lieb – – Um Gott, wenn der Vater es erführe, wenn die beleidigte Frau an ihn schriebe: „Ich kann Ihre Tochter nicht mehr unter meinem Dache behalten, weil sie ein Verhältniß mit – –!“

Sie fuhr empor wie von einem Peitschenhieb getroffen. „Es ist nicht wahr, Vater,“ schrie sie laut, „bei Gott, ich war nicht schlecht!“

Es regte sich etwas im Zimmer; Hildes Sinne verwirrten sich – mit einem gellenden Schreckensruf stürzte sie in die Kniee und starrte mit entsetzten Augen auf die Gestalt mit dem seltsam weißen Gesicht, die, vom dämmernden Zwielicht fahl beleuchtet, im Hintergrunde des Gemaches stand.

„Ich habe Sie erschreckt, Fräulein von Zweidorf! Wie mir das leid thut!“ sagte die freundliche Stimme Antjes. „Ich klopfte zweimal, aber Sie hörten nicht.“ Und sie bog sich hinunter, faßte die bebenden Hände Hildes und sah dem Mädchen in das Gesicht. „Sind Sie gar nicht zu Bette gegangen? Sie werden sich krank machen; legen Sie sich, ich will Ihnen Thee besorgen.“

Sie klingelte und wollte Hilde zu dem Bette führen, aber das Mädchen weigerte sich, indem sie die Hände vor das Gesicht schlug und stöhnte.

„Armes Kind!“ dachte Antje.

„Um Gotteswillen, seien Sie nicht gut zu mir! Schelten Sie mich – schlagen Sie mich – treten Sie mich mit Füßen!“ drängte es Hilde, zu schreien, aber was sie hervorbrachte, waren nur unverständliche Laute. Zitternd, wortlos umklammerte sie die Kniee der jungen Frau. Antje verstand sie.

„Aber so stehen Sie doch auf, Hilde,“ sagte sie mild, „ich weiß es ja am besten, wie lieb man ihn haben kann –“

Aber Hilde umklammerte Antje nur noch fester.

„Stehen Sie auf!“ wiederholte diese, „ich habe mit Ihnen zu sprechen.“

Jetzt richtete sich Hilde empor und blieb mit gesenktem Haupte vor Antje stehen, die gefalteten Hände an die Lippen gepreßt, das schöne Gesicht bleich wie der Tod.

„Ich habe eine Bitte an Sie,“ begann Antje, – „darf ich weiter sprechen?“

Hilde nickte.

„Ich muß in ein paar Stunden abreisen,“ fuhr die junge Frau in eigenthümlich stockender Sprache fort. „Ich werde längere Zeit fortbleiben müssen, weil – weil meine Mutter – schwer erkrankt ist – – Sie können nicht wohl allein hier sein – und deshalb bitte ich Sie, mich und die Kleine nach meiner Heimath zu begleiten.“

Hilde antwortete nicht. Antje hatte sich umgewandt, als blicke sie im Zimmer umher.

„Nein,“ sagte Hilde endlich heiser, „ich will – ich gehe ja – im Nothfall gehe ich wieder zu Tante Polly.“

„Thun Sie das nicht! Sie erweisen mir einen Gefallen, wenn Sie mit mir kommen – mehr als das – eine Wohlthat – Ich weiß, das werden Sie mir heute nicht abschlagen, das können Sie nicht!“

„Ist Ihnen meine Gegenwart eine Wohlthat?“ Hilde lachte gezwungen und strich sich das Haar aus der Stirn. „Allerdings kann ich heute Ihnen keinen Wunsch versagen,“ fuhr sie fort, „aber – –“

„Fragen Sie nicht,“ bat Antje, „packen Sie Ihre Sachen, um elf Uhr reisen wir, sobald mein – sobald Leo in die Stadt gefahren ist.“

Sie drückte Hildes Hand und verließ das Zimmer. Gleich darauf trat sie noch einmal herein. Sie mußte unmittelbar vor der Thür umgekehrt sein. Hastig, eine dunkle Röthe auf den Wangen, sagte sie: „Wenn Sie Leo noch einmal sprechen wollen, so benachrichtigen Sie ihn bald; er fährt noch im Laufe dieses Vormittags nach Dresden.“

Hilde richtete sich stolz in die Höhe. „Ich habe Ihrem Herrn Gemahl nichts zu sagen,“ erwiderte sie.

Antje sah sie traurig an; es war, als habe sie eine Antwort auf den Lippen, aber sie bezwang sich. „Auf Wiedersehen denn,“ nickte sie. –00

Der erste Sonnenstrahl, der sich durch die Fenster des Sibyllenburger Schlößchens stahl, traf lauter geschäftiges eiliges Treiben. Die Classen stand vor ihrer Herrin und hielt den Schlüsselkorb, den unzertrennlichen Gefährten Antjes, in den Händen.

„Ich weiß ja, Classen, Du versorgst den Haushalt so gut, als wär’s Dein eigener,“ lächelte Antje matt. „Mach’s nur dem Herrn so behaglich, als Du kannst, das Wiederkommen liegt in Gottes Hand, liebe Classen – wer weiß, wie es daheim aussieht.“

„Es muß sich doch bald zeigen, ob’s zum Guten oder Bösen hinauswill, gnä’ Frau,“ meinte die Alte. „Will’s Gott, sind Sie in vier Wochen wieder daheim. Ich kann es mir schwer denken ohne Sie, wenn ich auch alles thun will. ’S wird just so sein bei uns als wie in einer Stube, wo sie die Lampe hinaus getragen haben, wenn der Wagen mit Ihnen und dem Kind davon gefahren ist. Aber, gnä’ Frau, wollen Sie nicht frühstücken, mit dem Herrn? Er ist eben hinunter in den Saal.“

„Ich habe ihm schon Lebewohl gesagt, Classen.“

„Liebe Zeit, gnä’ Frau, wie blaß Sie aussehen; aber das kommt vom Eigensinn. Sie haben so ein jammervolles Lager die Nacht gehabt.“

„Classen, ich hab’ von dem Augenblick an, als ich gestern abend wieder zu mir kam, bis heute früh geweint. Soll ich den Herrn nun auch noch stören? ’S ist besser, man ist allein mit seiner Angst und seinem Kummer.“

„Es wäre freilich ein Unglück, wenn der mal ’ne Nacht nicht schliefe!“ dachte Frau Classen grimmig und betrachtete das schmale unbequeme Sofa, auf dem ihre junge Herrin die Nacht verbracht hatte. Dann fügte sie laut mit einem tiefen Seufzer hinzu: „Na, ich will ihn schon versorgen; seine Leibspeisen kenne ich ja alle, reisen Sie ruhig, gnä’ Frau. Ginge am liebsten selbst mit als Kinderfrau –“

Und sie wandte sich schluchzend ab und ging mit Antjes Schlüsselkorb die Treppe hinunter in ihre Küche; dort stellte sie ihn in den Schrank hinter die blinkenden Glasscheiben, und mit dem Schürzenzipfel die Augen trocknend, meinte sie, es sei ihr gerade so, als müsse ein großes Unglück über dieses Haus kommen.

Antje hatte sich, völlig gebrochen, in ihr Zimmer eingeschlossen; sie hatte die Kleine mit der Kinderfrau hinuntergeschickt, damit sie dem Papa Adieu sage. Dumpf und verworren war’s ihr zu Sinne, und sie fühlte einen stechenden körperlichen Schmerz in der Gegend des Herzens; der Schlag des armen gemarterten Dings war so unregelmäßig wie das angstvolle Flattern eines gefangenen Vogels. Sie dachte, er müsse kommen, das Kind auf dem Arm; er müsse sagen: „Es ist ja nicht möglich, Antje, daß Du gehst, auf immer gehst – bleib hier!“

Aber das konnte er ja nicht! Es wäre Heuchelei. Lüge gewesen – er liebte sie ja nicht. Er hätte es ja damit nur zu einer Fortsetzung des elenden Lebens neben ihr gebracht. Nein, er konnte sie nicht halten und sie – konnte nicht bleiben, es war alles vorüber!

Dann fuhr sie jäh empor; das Stimmchen der Kleinen erscholl auf dem Gang. Ihr schwindelte vor Angst, ihn wiederzusehen, ihr graute vor der Qual des Abschieds, und dennoch – ach, es war nur die Kinderfrau.

„Gnädige Frau, kann die Kleine ein paar Minuten bei Ihnen bleiben?“ fragte sie, „ich möchte mir doch rasch meine Sachen packen.“ Und sie setzte das Kind zur Erde und schob es der Mutter zu.

„Mama, hopp!“ sagte die Kleine.

Antjes zitternde Hände nahmen das leichte Körperchen empor. „Maus,“ stammelte sie, „Papa hat Dir Küßchen gegeben? Was hat er gesagt?“

„Papa nichts gesagt,“ antwortete die Kleine.

„Der Herr hat ihr das Patschhändchen geküßt,“ rief die Wärterin, die noch unter der Thür stand, zurück, „ich glaube, er war sehr eilig.“

Antje heftete ihre brennenden Augen auf das Kind und zog die kleine Hand an ihre Lippen. „So leicht wird’s ihm, Maus, so leicht?“ flüsterte sie.

Da sah sie auf dem blaßblauen Schleifchen, das den Aermel des Kindes an dem winzigen Handgelenk schmückte, einen dunklen Fleck. „Vielleicht doch eine Thräne um Dich, Du armes kleines Würmchen? Es muß eine Thräne sein, sonst hätte er ja gar kein Herz! Das Schleifchen hebt Mama Dir auf; wer weiß, ob [223] es nicht das einzige Zeichen bleibt, daß Dein Vater Dich lieb hatte, Maus!“ Und sie löste das Schleifchen ab und barg es in ihrem Andachtsbuch, das oben auf dem noch geöffneten Koffer lag.

Drunten fuhr das einspännige Coupé vor. Antje horchte nach dem Fenster, aber sie rührte sich nicht. Fuhr er wirklich fort, ohne sie noch einmal zu sehen?

Endlich erhob sie sich doch und trat, das Kind auf dem Arm, zum Fenster. Sie sah Leo auf der Freitreppe stehen, sie sah ihn die Fenster von Hildes Zimmer suchen, sah ihn einsteigen. Der Wagen fuhr aus dem weit geöffneten Thor; und sie folgte ihm mit den Augen, bis er um die Ecke der vorspringenden Gartenmauer verschwand.

Dann trug sie mit wankenden Schritten die Kleine nach der Kinderstube und flüchtete in das Atelier, das sie hinter sich verschloß.

Sie war noch immer drinnen, als schon der Wagen vorfuhr, der sie zum Bahnhof bringen sollte.

Die alte Classen pochte kräftig an. „Gnä’ Frau, es ist die allerhöchste Zeit. Die Koffer sind auf den Wagen geschnallt und die andern sitzen schon drin.“

Da öffnete sich die Thür, die junge Herrin kam heraus und ging an der treuen Dienerin vorüber. „Wie ein Geist,“ sagte der Diener, der mit dem Pelzmantel hinter der Alten wartete.

Sie kehrte sogleich mit Hut und Handschuhen zurück und ließ sich den Mantel umlegen. Dann stieg sie, ohne sich umzusehen, ohne ein Wort zu sagen, die Treppe hinab und in den Wagen, in dem Hilde bereits saß und die Kinderfrau mit der Kleinen.

Das Stubenmädchen sah fragend die weinende Classen an, als der Diener den Schlag zuwarf und sich auf den Bock schwang. Die Gnädige hatte ja nicht einmal Adieu gesagt!

Und der Wagen fuhr aus dem Hof und die Mauer nahm die Aussicht auf das verwaiste Haus. Antje wandte den Kopf von den Bäumen des Gartens, deren knospende Zweige im Frühjahrswind über die Mauer schwankten, als grüßten sie die Scheidende und wünschten ihr fröhliche Wiederkehr. Sie saß aufrecht da und schaute nach der Richtung, wo Dresden lag. – Man sah heute nicht die Thürme der Stadt; es war alles verschleiert von Nebel und Wolken. Die Sonne, die heute früh so golden geschienen, hatte sich verborgen. Am Wagenfenster rannen einzelne Regentropfen herunter, wie schwere Thränenperlen.

Hilde zerdrückte ihr Taschentuch im Muff, aber keine Miene zuckte in dem bleichen düsteren Gesicht. Sie wäre so gern geflohen, und durfte doch nicht, die Frau neben ihr hätte ja glauben können, sie ginge nicht weit genug, nicht weit genug von ihm. Der Wagen hielt vor dem kleinen Stationsgebäude. Antje erhob sich, um auszusteigen, da stockte ihr Fuß – am Wagenschlag wartete Leo und bot ihr die Hand.

Sie stand dann ruhig neben ihm; das wahnsinnig pochende Herz verstummte. Es war wohl nur der Leute wegen, daß er die Fahrkarten für sie nahm und die Koffer aufgab. Er erfüllte ihren letzten Wunsch.

„Wohin darf ich Ihnen eine Karte lösen, gnädiges Fräulein?“ fragte er Hilde und hob den Hut über den Scheitel.

„Ich reise mit Frau Jussnitz,“ antwortete sie.

Er warf einen raschen verwunderten Blick auf Antje. Diese zupfte die Schleifen an dem Hütchen des Kindes zurecht, aber sie fühlte, daß ihr das Blut in die Wangen schoß – er war doch nur gekommen, Hilde noch zu sehen! Vielleicht würde er denken, sie nähme das Mädchen mit sich, um es ihm aus den Augen zu bringen!

Aus Eifersucht? O nein – so wenig kennt er sie doch nicht!

Man hatte so lange zu warten, fünfzehn Minuten noch. In dem überheizten kleinen Wartezimmer waren Bekannte, der General Rosen mit seiner liebenswürdigen Frau, einer jener alten Damen, die infolge ihrer Freundlichkeit Antjes Zuflucht gewesen waren in den Gesellschafts- und Ballsälen. Sie kam, beide Hände ausgestreckt, auf Antje zu.

„Liebe Frau Jussnitz, ich höre soeben von Ihrem Mann, daß Sie auf einer traurigen Reise begriffen sind, daß Ihre Frau Mutter schwer erkrankt ist?“

Hilde, die neben Antje stand und der alten Dame eine tiefe Verbeugung machte, wurde von dieser gänzlich übersehen. Antje erröthete. Dieses Nichtbemerkenwollen – denn etwas anderes konnte es bei der sonst so gütigen Frau nicht sein – sagte ihr, daß man sich in den Kreisen, in denen sie verkehrt hatten, bereits Gedanken über das Mädchen machte. Nach einigen Dankesworten fügte sie daher hinzu: „Ich bin so glücklich, Excellenz, daß ich nicht allein zu reisen brauche, daß meine kleine Freundin so liebenswürdig ist, mich zu begleiten.“

Leo hörte es nicht, er unterhielt sich mit der alten Excellenz; die Generalin aber wandte sich nach einigen Sekunden des Erstaunens jetzt auch mit ein paar freundlichen Worten an das junge Mädchen.

Endlich kam der Zug. Bei dem eiligen Einsteigen fiel es niemand auf, daß kein Abschied genommen und geboten wurde; nur das Kind hielt Antje noch einmal dem Vater hin, dann ward es ihr in den Wagen gereicht.

Hilde hatte sich zuerst hineingeschwungen, die Kinderfrau war die letzte. Jussnitz stand mit abgezogenem Hut auf dem Bahnsteig und sah die Schienen entlang, die dort unten vor der Kiefernwaldung zu einem Strich verschmolzen. Als der Zug sich in Bewegung setzte, meinte Antje, sie müsse ihn mit der Kraft der Verzweiflung wieder zum Stehen bringen. Aber unaufhaltsam ging es vorwärts; das kleine Bahnhofsgebäude entschwand ihren Blicken, sie wurde fortgerissen, fort, vielleicht – wahrscheinlich auf ein Nimmerwiedersehen!

Von der Hügelkette drüben grüßte noch einmal das Gartenhaus auf der Spitze des Weinberges, dann war auch das verschwunden und nun sah sie nichts mehr, nur einförmiges Tannendunkel und öde Felder.




Das große Hüttenwerk „Gottessegen“ und das Dörfchen Oberrode liegen so recht inmitten der grünen Buchenwälder des Harzes, weit ab von der Eisenbahn und den volkreicheren Städten. Von der letzten Station des Schienenweges, der an einem besuchten Kurort des Harzes endet, muß man noch zwei Stunden Wagenfahrt zurücklegen, bevor man die ersten Häuser von Oberrode erblickt. Immer ansteigend, führt eine gut gehaltene Chaussee in diese Abgeschiedenheit, ein Weg, den die Pferde nur langsam zurücklegen, der aber trotzdem den brockenwärts wandernden Naturfreunden niemals lang vorkommt, so wundervoll wechseln Walddunkel und blaue duftige Fernsicht mit einander ab, so rein und köstlich athmet sich die Luft und so geheimnißvoll schwatzt der muntere Gebirgsbach tief in der Schlucht unter üppigen feuchten Farnkräutern.

Es ist etwas Eigenes um den Harzwald: er scheint kräftigeren Duft auszuströmen als andere Gebirgswälder, „harzigen Duft.“ Wenigstens die, welche dort geboren sind, meinen es, und sie meinen auch, daß ihre Heimath schöner sei als alle anderen deutschen Gebirgsländer, denn selbst ein Goethe habe sie geschildert und ein Heine sie besungen. Es ist eben, als ob das Hexen- und Gnomenvolk es allen angethan hätte, die einmal auf jenen grünen Pfaden geschritten sind. –

Aus den herzförmigen Ausschnitten der schweren Fensterläden am Herrschaftshause, das seitwärts von den schwarzen riesigen Gebäuden des Werkes lag, schimmerte Licht. Jedes Kind auf der Hütte kannte diese sechs leuchtenden Herzchen; bezeichnete doch ihr freundlicher Schimmer alles, was die Oberroder Jugend nur zu fassen vermochte an Traulichkeit, Festesglanz und Glückseligkeit, denn die Herzchen flammten von der großen Wohnstube der Frau Bergrath Frey, in der allweihnachtlich der große Tannenbaum im Schmucke seiner Lichter prangte und die Gaben und Geschenke für jedes von ihnen lagen.

Ja, die Hüttenkinder liebten die stattliche Frau Bergrath, die bei den meisten unter ihnen noch obenein Pathe war, über alles, und von den Dorfkindern durfte keines sich etwa einer allzugroßen Begünstigung seitens der allgemein Verehrten zu rühmen wagen, es bekam gewiß von einem Hüttenjungen einen Denkzettel mit der Bemerkung: „Alter Lügner Du! Wir kriegen das Beste, denn sie ist unsere Frau Bergräthin; Ihr kriegt man bloß so’n bißchen, damit Ihr auch was habt.“

Aber heute saßen die Kinder in ihren Stuben und horchten auf den Sturm und Regen und blickten scheu über den weiten Platz nach den flammenden Herzen am Herrschaftshause hinüber und fragten

[224]

Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.
Immer noch galant.
Nach dem Gemälde von L. Schmid-Reuthe.

[225] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [226] ihre Mütter: „Muß sie wirklich sterben, unsere Frau Bergräthin?“ Die wischten die Augen und nickten. „Ja, es ist wohl keine Hilfe mehr möglich, und wie wird’s dann werden, lieber Gott!“

Und so sprachen auch die Hüttenleute zwischen dem Getöse der schweren Hämmer, vor den rothglühenden Feuern. Ja, wie wird es werden hier, wenn sie stirbt!

Und dieselbe Frage that in der Wohnstube der kranken Frau der alte Werkführer Kortmer an Doktor Maiberg, der unaufhörlich über den glänzend gebahnten eichenen Fußboden auf und abschritt.

„Wenn nur Frau Jussnitz erst da wäre, Herr Doktor.“

„Sie kann ja jeden Augenblick kommen, Herr Kortmer.“

„Dann wird’s auch besser mit der Frau. Sie glauben nicht, wie die sich gebangt hat um das Kind, seitdem man vor bald fünf Jahren den Herrn Schwiegersohn über die Schwelle trug. Sie wissen ja, Herr Doktor, er hatte Unglück gehabt auf der Jagd. Da kamen die Herren Maler, um hier zu zeichnen, kriegen Jagdpassion und denken, ein Schießgewehr ist so leicht zu regieren wie ein Malstock. Pardautz! Dann haben sie schon etwas angerichtet. Na, wie ich sagte, seit dem Augenblick, wo der hier herein getragen wurde, hat sie keine ruhige Minute mehr gehabt. Es ist doch etwas Unbegreifliches um die Liebe und um Mädchenherzen! Wer hätte gedacht, daß ‚unser Antje‘ sich so einen Aparten aussuchen würde?“

„Mein Freund, lieber Herr Kortmer, ist ganz und gar danach angethan, so ein Herz gefangen zu nehmen.“

„Ihr Freund, Herr Doktor? Na, ich will nichts gesagt haben.“

„Das wird auch das Beste sein,“ gab Maiberg lächelnd zu und sah den kleinen alten Herrn an, der mit dem rothseidenen Foulard die Brille putzte und sie dann mit unglaublicher Behendigkeit wieder auf die gebogene Nase setzte, die im Verein mit den zwei großen runden Gläsern und dem Schopf weißer Haare über der Stirn dem Gesichte etwas Papageienhaftes verlieh, ohne ihm dadurch etwas von seiner Liebenswürdigkeit zu nehmen.

Der Werkführer war wirklich ein netter alter Herr und ein äußerst pflichttreuer Beamter, der für die Familie Frey das Leben gelassen hätte, unbekümmert darum, daß seine kleine Frau darüber zur Witwe geworden wäre.

„Das wird das Beste sein, Herr Kortmer. Ich kenne Jussnitz nun schon so lange, seit meinen Primanerjahren; ich habe ihn mancherlei tolle Streiche ausführen sehen – nie einen schlechten. Er ist excentrisch, er ist verschwenderisch, ist kein Zahlenmensch, aber er ist doch ein anständiger Kerl, und es giebt nur eins, was mich um ihn besorgt macht.“

„Seine Frau paßt nicht für ihn, wollen Sie sagen? Na, lieber Herr Doktor, das ist nichts Neues, das wissen wir, das weiß jedes Kind auf der Hütte.“

„Nein, Herr Kortmer, das wollte ich durchaus nicht sagen; was ich bemerken wollte, war, ganz kurz gefaßt: es geht ihm zu gut!“

Der andere erwiderte nichts, denn die alte Haushälterin Hanne war eingetreten und berichtete, die Kranke sei eingeschlafen nach der Arznei, die man ihr gegeben habe. „Die Zimmer für Frau Jussnitz, das Kind und die Wärterin sind bereit,“ fügte sie hinzu, „und ich möchte nur wünschen, daß die Reisenden erst glücklich hier wären. Solch ein Wetter! Es regnet und schneit durcheinander, und draußen ist böses Glatteis.“

Maiberg stand lauschend am Fenster, dessen Flügel er geöffnet hatte. „Jetzt kommt der Wagen,“ sagte er ruhig und schritt zur Thür.

In dem Flur, der nach uralter Sitte mit großer Raumverschwendung in die Mitte des Hauses gelegt war und mit dem geschnitzten Balkenwerk unter der Decke und der Täfelung seiner Wände von der einstigen Bestimmung dieses Gebäudes als eines herzoglichen Jagdschlosses erzählte, hatte die Haushälterin die Thür weit geöffnet, so daß der Wind den Regen hereintrieb. Die große Lampe brannte unter der Decke, aber die Kränze, welche die Mägde gewunden hatten zum Empfang der heimkehrenden Tochter, hatte die alte Mamsell wieder herunternehmen lassen. „Gott im Himmel! Kommt das arme Frauchen etwa zum Vergnügen her?“ hatte sie gerufen. „Spart Eure Tannenzweige, es giebt leider bald eine andere Gelegenheit, wo wir sie brauchen.“

Jetzt lief sie trotz des Regens die Stufen vor der Hausthür hinunter; ihre weiße Schürze wehte leuchtend aus der Dunkelheit zurück, und ehe noch Maiberg und der Werkführer hinzueilen konnten, hatte sie schon den Wagenschlag aufgerissen und rief: „Guten Abend! guten Abend! Lieber Himmel, bei dem Wetter, Frau Jussnitz, und mit so einem kleinen Würmchen!“

Aber die Angeredete ergriff nicht die dargebotene Hand; was aus dem Wagen schlüpfte und jetzt auf den nassen Fliesen stand, in denen sich der Widerschein der Flurlampe spiegelte, war eine Fremde, war – – ja war das denn wirklich Hildegard von Zweidorf – dieses blasse, vergrämte Gesicht mit den müden traurigen Augen? Erschreckt trat Maiberg hinzu.

„Gnädiges Fräulein – Sie?“ stotterte er. „Ist Antje – Frau Jussnitz – –“

„Wie geht es meiner Mutter?“ klang es jetzt neben ihm; da stand Antje, ihr Kind auf dem Arm. „Herr Doktor – lieber Kortmer – ich komme doch nicht zu spät?“

Als Antje diese Frage verneint wurde, schwankte sie; die furchtbare Spannung ließ nach. Auf Maibergs Arm gestützt, kam sie über die Schwelle des Vaterhauses. In seiner ruhigen Weise sprach er zunächst gar nicht über die Kranke, nur daß sie schlafe; später werde die Tochter sie sehen dürfen. Vor der Hand möge man sich erholen, essen, trinken, umziehen, die Kleine schlafen legen.

So geschah es. Die Damen stiegen die alterthümliche breite Treppe hinan in das obere Stockwerk; die Haushälterin trug die Kleine, die fest und süß schlief.

„Wir haben schon seit heute nachmittag drei Uhr auf Sie gewartet, Frau Jussnitz; war denn der Weg so arg, daß Sie nicht früher kommen konnten?“

„Nein, der Weg war’s nicht, meine Kinderfrau ist schuld, daß wir einen späteren Zug benutzen mußten,“ erklärte Antje flüsternd, während sie den breiten Gang entlang schritt und wie liebkosend über die alten Schrankthüren strich, an denen sie vorüberging. „Wir blieben des Kindes wegen die Nacht in Halle, und heute früh erklärte die alte Frau plötzlich, nicht weiter zu wollen. Alles Zureden war vergeblich. – Ist eins von den Hausmädchen wohl zuverlässig genug, um sie zu ersetzen?“ Sie hatte eine Thür geöffnet am Ende des Ganges und fuhr fort: „Hier soll die Kleine doch wohnen, liebe Hanne? Ich kann mich wahrscheinlich jetzt wenig um sie bekümmern, ich – – Im Nothfall müssen wir zuschauen, ob jemand auf der Hütte oder im Dorf zu haben ist.“

„Frau Jussnitz,“ entgegnete zögernd die Haushälterin, „mit den Mädchen hier im Hause – lieber Himmel, die wissen kaum, wo der Kopf ihnen steht vor Arbeit; denken Sie doch, eine Kranke im Hause, und der Doktor, und nun Sie – – “

„Darf ich – würden Sie nicht mir das Vertrauen schenken, die Kleine zu beaufsichtigen?“ fragte Hildegard, und ihre Augen sahen bittend zu Antje hinüber.

„Sie? Ein kleines Kind hüten?“ sagte diese und mußte lächeln trotz aller Traurigkeit. „Nein, Fräulein Hilde, das geht nicht.“

Da fing das Mädchen an, flehentlich zu bitten. „Lassen Sie mir das Kind, Frau Jussnitz. Ich will jeden seiner Schritte bewachen, will nicht schlafen nachts, will an seinem Bette sitzen – weisen Sie mich mit dieser Bitte nicht ab!“

Die junge Frau antwortete nicht.

Hilde trat dunkel erglühend zurück, aber in ihren Augen lag ein so wahrer Ausdruck des Gekränktseins, daß Antje rasch sagte: „Wenn Sie sich die Mühe wirklich machen wollen? Ich weiß ja auch, Sie werden gut mit der Maus sein, denn es ist –“ sie stockte – „sein Kind!“ hatte sie enden wollen, aber es blieb ungesprochen.

Hilde verstand sie nicht. Sie hatte Hut und Mantel abgelegt und das schlummernde Kind von dem Arme der Alten genommen. „Gehen Sie ruhig, Frau Jussnitz, und haben Sie Dank!“ sagte sie; und Antje sah, wie Hilde die Thränen aus den Augen stürzten, als sie sich in der Nähe des Ofens auf einen Stuhl setzte und das Kleine aus den umhüllenden Tüchern zu schälen begann, als habe sie ihr lebelang nichts anderes gethan als Kinder gewartet.

Antje ging.

(Fortsetzung folgt.)




[227]
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Wanderungen durch Wien.[1]

Von V. Chiavacci. Mit Zeichnungen von W. Gause.
Ringstraße und Stadterweiterung.

Der glanzvolle Aufschwung, welchen Wien infolge des denkwürdigen Handschreibens vom 20. Dezember 1857, das die Aufhebung der Stadtwälle aussprach, genommen hat, steht wohl einzig da in der Geschichte der Städteentwickelung. Ein ungeahntes Wachsthum, eine starke Bevölkerungszunahme, tiefeingreifende Umgestaltungen der Verkehrsmittelpunkte und Straßenzüge hatten gleichzeitig auch andere Städte aufzuweisen, bei keiner jedoch waren die Vorbedingungen zur planvollen und zugleich künstlerisch vornehmen Ausgestaltung der neuen Stadttheile so günstig wie hier.

Der weite Flächenraum von etwa 500 000 Quadratklaftern (180 Hektar), welcher durch Beseitigung der Festungswerke, des Stadtgrabens und der Glacis gewonnen wurde, gestattete nicht nur, mit Benutzung der eingelaufenen Konkurrenzentwürfe einen vollständigen Stadterweiterungsplan auszuarbeiten, sondern der Erlös für die Baugründe lieferte auch eine beträchtliche Summe, welche von der Stadterweiterungskommission zur Herstellung von öffentlichen, dem Staatsleben, der Kunst und dem Unterrichte dienenden Prachtbauten verwendet wurde. In einem Zeitraum von 30 Jahren erstand dieser herrliche Stadttheil, der mit seiner von stolzen Palästen umrahmten Ringstraße, seinen lieblichen Gartenanlagen, seinen weiten, luft- und lichtdurchströmten Plätzen, seinen von den prachtliebenden Meistern der Wiener Schule geschaffenen Monumentalbauten wohl kaum seinesgleichen hat unter den modernen Stadttheilen Europas.

Der Fremde, welcher an einem sonnigen Tage zum ersten Male über die Ringstraße fährt, wird den überwältigenden Eindruck der herrlichen Ausblicke, der mächtigen, in fein nachempfundenen Stilarten der Gothik, der Renaissance und der Antike ausgeführten Bauten, der anmuthigen Gartenanlagen zu seinen schönsten Reiseerinnerungen zählen, und falls er sich die Mühe nimmt, das Innere dieser Prunkpalaste zu besichtigen, wird sein Auge berauscht und entzückt von der Fülle des Geschauten, von den Kunstwerken der Plastik und Malerei und der Kostbarkeit des verwendeten Materials. Ein Besuch der Hofmuseen, des neuen Burgtheaters, des Parlamentsgebäudes gewährt einen lohnenden Einblick in die künstlerische Leistungsfähigkeit des modernen Wiens.

Das Opernhaus.

Herr Hainfelder, welcher sich nach der erfolgreichen Führung seines Schützlings durch die innere Stadt auch ferner zum Cicerone angeboten hatte, führte Herrn Fritz Werner zunächst an den Ausgang der verlängerten Kärntnerstraße vor dem Opernhause.

„Sehn S’, lieber Herr,“ fing er seine Erklärungen an, „hier ist die mächtigste Verkehrsader, denn hier kreuzen sich die wichtigsten Straßen; die Kärntnerstraße und Rothenthurmstraße verbinden die innere Stadt und die Leopoldstadt mit der Wieden und den angrenzenden Vorstädten. Die günstige Lage des Kärntnerrings und der Umstand, daß dieser Theil der Ringstraße zuerst vollendet wurde, hat die Ausbildung eines Korsos begünstigt, der besonders im Frühling an schönen Sonntagvormittagen ein sehenswerthes Schauspiel bietet. Von der Ecke der verlängerten Kärntnerstraße bis zum Gebäude der Gartenbaugesellschaft bewegt sich da ein dichter Menschenstrom auf dem breiten Trottoir und in der Geh-Allee. Hier können Sie das elegante Wien studieren. Die Damen zeigen ihre neuesten Toiletten, das ‚Gigerlthum‘ macht sich in allen Spielarten breit. Es ist ein großer Salon unter freiem Himmel, ähnlich dem Markusplatz in Venedig oder dem Toledo in Neapel. Man ist sicher, an solchen Tagen einen großen Theil derjenigen zu finden, welche sich zur ‚Gesellschaft‘ zählen, aber auch solche, welche um jeden Preis dazu gezählt werden möchten.

Auf der Elisabethbrücke.

Die besprochene Ecke ist zugleich das Lästerstübchen für junge Herren, welche dort gewöhnlich in großer Zahl aufgepflanzt sind und an den Vorüberwandelnden stets neue Nahrung für ihren Witz und ihre Klatschsucht finden. Kommen Sie, Herr von Werner, machen wir den Rummel ein bißl mit! Sie werden’s nicht bereuen. Ich versprech’ Ihnen nicht zuviel, wenn ich sage, daß Sie kaum anderswo eine gleiche Menge von reizenden Mädchen und schönen Frauen, welche ihre Toiletten mit Geschmack und Schick zu tragen verstehen, finden werden. Sehen S’ nur, wie die Hüte in Bewegung sind; jeder fünfte Mensch grüßt; man trifft sich hier, plaudert ein paar Worte, bespricht eine Zusammenkunft und in einer halben Stunde hat man mehr „Besuche“ abgemacht, als man sonst in einer ganzen Woche zu bewältigen imstande wär’. Der Herr dort mit dem graumelirten Schnurrbart ist der Unterrichtsminister. Sehen Sie, wie freundlich er den Herrn in der Geh-Allee begrüßt; es ist ein Abgeordneter der Opposition, der ihm viel saure Stunden bereitet. Von Litteraturgrößen bemerken wir die lebhafte Gestalt des Hofrathes Doczi, des Dichters des „Kuß“ und der „Letzten Liebe“, den schönen [228] Blondkopf Ludwig Ganghofers, eines echten Germanenjünglings, mit seiner reizenden Frau; den achtzigjährigen L. Aug. Frankl, den letzten aus dem Dichterkreise Anastasius Grün, Lenau, Beck. Der Stern, welcher dort aus dem Nebelfleck von jungen Herren der Aristokratie hervorglänzt, ist eine gefeierte Primadonna, ein echtes fesches Wiener Kind, dessen Wiege hart neben einem Greislerladen gestanden hat. Der schlanke Herr mit den freundlich blickenden schwarzen Augen und der reizenden Brünette an seiner Seite ist Meister Johann Strauß, der Walzerkönig; er ist vielleicht die volksthümlichste Persönlichkeit in Wien; seine Hand ist automatisch beschäftigt, den Hut auf- und abzuschwingen; jetzt erwidert er den Gruß des fidelen Girardi, des Gesangskomikers und Lieblings der Wienerinnen, nach dem sich, wie Sie seh’n, die reizendsten Hälse ausrecken; dann plaudert er einige Worte mit seinem Freunde Tilgner, dem Meister der Porträtbüste; Alfred Grünfeld, der berühmte Pianist, gesellt sich zu ihm. Auch die darstellende Kunst ist würdig vertreten: Krastel, die Siegfriedgestalt mit dem Feuerauge und der Glockenstimme, der jüngst sein fünfundzwanzigjähriges Künstlerjubiläum gefeiert, aber noch lange nicht den letzten Mädchenkopf verdreht hat; sein Fachkollege Robert, der gefeierte Oedipus mit der dämonischen Gluth in Stimme und Blick, und Reimers und Devrient, die grünen Reiser am alten Stamm des Burgtheaters. Der Stimmheros Winkelmann, die graziöse Renard, die gegenwärtig als Manon Triumphe feiert, die berückend schöne Lola Beeth von der Hofoper fehlen nicht bei diesem Stelldichein. Ihr Spaziergang gleicht einem Triumphzug, denn sie üben wie der Rattenfänger von Hameln einen unwiderstehlichen Bann auf jugendliche Herzen aus.

Rathhaus.  Universität. 

Sie fragen, wem der schöne Kopf mit dem ergrauenden blonden Vollbart gehört? Das ist Professor Billroth, der geniale Operateur, ein Wohlthäter der leidenden Menschheit. Hier ein Krösus, dort ein Hochstapler; Kunstelevinnen, Pflastertreter, Offiziere aller Grade, Staatsbeamte in ihren neuen Uniformen, Blumenmädchen, vergessene Berühmtheiten und aufdringliche Streber, deren höchster Ehrgeiz darin besteht, alle Welt zu kennen und in Kreisen geduldet zu werden, denen sie nicht angehören, alles finden S’ da beieinander.

So, und jetzt werfen S’ gefälligst einen Blick auf die Ringstraße. Wir stehen beim Grandhotel; schräg gegenüber ist der Prachtbau des Hotel Imperial, welches ursprünglich ein Palais des Herzogs von Württemberg war. Die Breite der Ringstraße beträgt in ihrer ganzen Ausdehnung 57 Meter; die große Fahrbahn ist 25 Meter breit; dann sind noch zwei Baumalleen da, die eine für Fußgänger, die andere für Reiter, und überdies befindet sich an jeder Häuserreihe eine Zufahrtsstraße, eine Eintheilung, die den größten Anforderungen des Verkehrs reichlich entspricht. Dieser Theil der Ningstraße ist zuerst eröffnet worden. Ich war natürlich überall dabei. Mit Wehmuth und Thränen im Auge sind wir alten Wiener dabei gestanden, wie am 29. März 1858 an der Rothenthurmbastei der erste Ziegel ausgebrochen worden ist. Sie, lieber Herr, das kann nur a Wiener fühlen, wie schwer uns der Gedanke word’n is, uns von unsern lieben Basteien, vom Glacis und Stadtgraben zu trennen, wo wir als Bub’n herumgesprung’n sind, wo wir ‚Indianer‘ und ‚Räuber‘ gespielt haben, unsere Drachen steigen ließen und mit großen Gummibällen das edle Spiel des ‚Ballesterns‘ pflegten. Sie machen sich kein’ Begriff, wie g’müthlich und patriarchalisch es auf dem Glacis zugegangen is. Nachmittags nach der Schulzeit sind die Mütter mit ihren Kindern aus den Vorstädten gekommen, haben sich’s im Gras bequem gemacht, geplaudert und Strümpfe gestopft und die ausgelassenen Buben, die im Gras herumkugelten, überwacht. Hart an den Kastanienalleen, die von der Stadt in die Vorstädte geführt haben, sind sie in Gruppen beisammen gesessen, haben die häuslichen Vorfälle durchgehechelt oder den Vorübergehenden ein ‚Glampfl‘ angehängt.“

„Was haben sie ihnen angehängt?“ fragte Herr Werner erstaunt.

„Ach so, das is wieder so ein wienerischer Ausdruck,“ antwortete Herr Hainfelder. „‚Glampfl‘ ist ungefähr dasselbe wie ‚Glimpf‘, von dem das Wort verunglimpfen herkommt, und bedeutet im gutmüthigen Sinn dasselbe. Uebrigens soll’s solche Lästeralleen auch anderswo geben. Herrgott, war das ein Leben, wenn wir die Schulbücher in einen Winkel geworfen hatten und frei wie die Schwalben hinausg’flog’n sind auf unsere Jagdgründ’. Wie schön war’s, über die begraste Böschung in den Stadtgraben hinunterzukugeln! Und was war das für uns Buben für ein

[229]

Ringstraßenkorso.

[230] romantischer Aufenthalt! Auf der ein’ Seiten die finstern Mauern, wo nur manchmal der Kopf von ein’ Spaziergänger auf der Bastei zu seh’n war; auf der andern Seiten die hohe Böschung, die vom Glacis herunterg’führt hat. Der Grund war mit melancholischen Pappelalleen bepflanzt, die manchmal mit andern Baumgruppen Boskett’n gebildet hab’n, wie das traulich stille Studentenwaldl, wo sich die Schottner und andere Gymnasiasten, vom Lärm der Glacis entfernt, ihr Latein eingepaukt hab’n. An anderen Stellen war es weniger ruhig. da übten die neurekrutirten Trommler und Trompeter ihre Kunst in ohrenzerreißender Weise ein.

Am Abend, wenn die Sonn’ lange Schatten g’worfen hat, sind unsere Alten auf die Basteien gewandert. haben den schönen Ausblick auf die Vorstädt’ und das Kahlengebirg’ genossen und haben sich von den schlechten Zeiten vorlamentirt: daß die Mundsemmeln immer kleiner werd’n, daß das Rindfleisch schon zehn Kreuzer das Pfund kostet, daß man ein paar Backhändln nicht mehr unter acht Groschen kriegt und daß ein Familienvater, wenn er Sonntags mit den Seinigen ins Lerchenfeld wandert, mit einem Silberzwanziger nicht mehr sein auslangen find’t. Dann haben sie sich ins Paradiesgartl auf der Mölkerbastei gesetzt, wo die besseren Bürgerklassen zusammenkommen sind, und in der kühlen Abendluft bei den Klängen der Straußschen und Lannerschen Walzer von den ‚guten alten Zeiten‘ geplaudert. Aber macht nix, sie is auch schön, die neue Zeit. Ueberzeugen Sie sich nur selber.“

Das neue Burgtheater.

Sie waren inzwischen wieder an den Ausgangspunkt beim Opernhause zurückgekehrt. Herr Hainfelder erklärte seinem Gaste auf dem Wege um die Stadt alles Sehens- und Wissenswerthe. Das gewaltige Gebäude des Opernhauses mit seiner heiteren Renaissance fesselt vor allem den Blick. Von den Architekten van der Nüll und Siccardsburg erbaut und in seinen Innenräumen von den Bildhauern Pilz, Gasser, Hähnel, dann von den Malern Rahl, Griepenkerl, Geiger und anderen in reichster und prunkvollster Weise geschmückt, zählt dieses Haus neben der Pariser Oper und dem neuen Burgtheater zu den schönsten Prachtgebäuden dieser Art. Gegenüber, breit hingestreckt, erhebt sich der Heinrichshof, ein Werk des ebenfalls, wie Friedrich von Schmidt, kürzlich verstorbenen Meisters Hansen, mit Fassadefresken nach Entwürfen von Rahl. Die eine Seitenfront des Opernhauses bildet die verlängerte Kärntnerstraße; von hier hat man einen prächtigen Ausblick auf den Kärntnerring bis zum Kolowratring einerseits und auf den Opernring andererseits; gegen die Stadt zu öffnet sich die theilweise erweiterte Kärntnerstraße mit dem Stefansthurm als wirksamem Abschluß; in derselben Achse gegen die Vorstadt Wieden zu erblickt man die Elisabethbrücke mit den schönen Statuen der Babenberger Herzoge und anderer um die Stadt hochverdienter Männer, wie Sonnenfels, Bischof Kollonitsch, Graf Starhemberg, Fischer von Erlach. Die andere Seite des Hauses flankirt die Operngasse mit dem Palast des Bierkönigs Dreher; diese Gasse findet einen künstlerischen Abschluß in dem Brunnen der Augustiner-Rampe mit Marmorgruppen von J. Meixner; die Hauptgruppe stellt den alten Danubius an der Seite der mauergekrönten Vindobona dar; zu ihren Füßen spielt ein anmuthiges Kind, der Wienfluß, der in Wirklichkeit übrigens den Wienern als ungeberdiger schmutzstarrender Range häufig lästig wird. In den Nischen sind die Hauptflüsse Oesterreichs durch schöne männliche und weibliche Gestalten versinnbildlicht.

Den Opernring aufwärts öffnet sich linker Hand eine kurze breite Straße, die in den Schillerplatz mit dem von Schilling in Dresden ausgeführten Schillerdenkmal mündet; dahinter die von Hansen erbaute Akademie der bildenden Künste mit Statuen von Melnitzky und Pilz. Dann aber eröffnet sich von der Ecke der Babenbergerstraße, welche die Vorstadt Mariahilf mit der Ringstraße verbindet, dem Blicke ein überwältigendes architekonisches Bild. Rechts der Kaisergarten, in welchen der im Bau begriffene, von Hasenauer entworfene neue Burgflügel hineinragt, dann das alte. von Nobile erbaute Burgthor, ein massiver Bau mit schweren, dorischen Säulen, durch deren Halle man den Heldenplatz mit den Denkmälern des Erzherzogs Karl und des Prinzen Eugen (von Fernkorn) erblickt; weiterhin folgt rechts der Volksgarten mit dem Theseustempel, welcher bis vor kurzem die weltberühmte Marmorgruppe Canovas, Theseus den Minotaurus besiegend, umschloß, und dem von Weyr und Kundmann ausgeführten Grillparzerdenkmal. Links stehen die nach den Plänen Sempers von Hasenauer ausgeführten Hofmuseen in herrlicher Hochrenaissance; die „Gartenlaube“ hat von diesen beiden Bauten, die zusammen nahe an zwölf Millionen Gulden gekostet haben, schon in ihrem Jahrgang 1889, S. 811 Bild und Beschreibung gebracht; der Platz zwischen den beiden Museen ist in eine Gartenanlage in französischem Zopfstil umgewandelt, damit das in der Mitte sich erhebende Erzdenkmal der Kaiserin Maria Theresia zur bestmöglichen Wirkung gelangen kann. Das in den größten Maßen ausgeführte Monument, welches ebenfalls schon früher (im Jahrgang 1888, Seite 473) abgebildet worden ist, ein Werk des Bildhauers Zumbusch, stellt die große Kaiserin, auf dem Thronsessel sitzend, mit dem Scepter in der Linken, die Rechte schützend ausgestreckt, dar; den Sockel schmücken die Reiterstatuen der berühmtesten Feldherren ihrer Zeit, während in den Feldern Reliefs mit Gruppen von berühmten Persönlichkeiten, Staatsmännern, Gelehrten, Künstlern etc., angebracht sind. Hinter den Hofmuseen, ein wenig rechts, liegt das deutsche Volkstheater, ein überaus freundlicher, praktischer und behaglicher Bau, der trotz der einfachen Mittel den Eindruck zierlicher Anmuth und bürgerlicher Eleganz macht. Dies und das Gefühl der Sicherheit, welches die praktische technische Eintheilung des Baues erzeugt, haben wohl in erster Linie dazu beigetragen, dieses Haus den Wienern so werth zu machen. Den bewährten Theaterarchitekten Fellner und Helmer gebührt das Verdienst, den gefälligen Bau mit der verhältnißmäßig geringen Summe von einer halben Million Gulden hergestellt zu haben.

Wenige Schritte von den Hofmuseen beginnt der Franzensring und das Rathhausviertel mit dem schönsten modernen Platze in Europa. Auf dem Flächenraum des ehemaligen Paradeplatzes erhebt sich eine Anzahl staatlicher und städtischer Monumentalbauten, welche durch ihre mannigfachen Stilformen, den großartigen Prunk ihrer Ausstattung und die geniale Lösung der künstlerischen Aufgaben das Auge entzücken. Die Namen der Architekten Gottfried Semper, Friedr. Schmidt, Theophil Hansen, Heinrich Ferstel sind mit diesen Bauten, welche dem architektonischen Wien unserer Tage ihr charakteristisches Gepräge geben, unsterblich geworden. Abends bei Mondbeleuchtung wirkt dieser Platz wie ein Märchenzauber aus einem geträumten Wunderlande. Der mächtige gothische Rathhausbau mit seiner zierlich durchbrochenen [231] Fassade, welche die Gesetze der Schwere aufzuheben scheint und wie ein zarter Spitzenschleier wirkt, der herrliche Hochrenaissancebau der neuen Universität, der stolze hellenische Tempelbau des Parlamentsgebäudes, die heitere französische Renaissance, welche sich im Justizpalais darstellt, das neue Burgtheater mit seinen schimmernden Marmorsäulen, seinem reichen figürlichen Schmuck und seinen mit unglaublichem Prunk ausgestatteten Innenräumen, das alles zusammen giebt ein Bild von überwältigender Schönheit.

Im großen Prunksaal des neuen Rathhauses finden allwinterlich die Rathhausbälle statt, welche unter die glänzendsten der Wiener Saison zu zählen sind. An schönen Sommerabenden aber spielt auf dem Platze vor dem Rathhause eine Militärkapelle und stets drängt sich eine zahlreiche Menge aller Gesellschaftsklassen zu diesen Volkskonzerten.

Am Ausgang des Franzensringes empfängt uns der weite Platz vor der Votivkirche, einem ungemein zierlichen gothischen Bau, von Meister Ferstel ersonnen. Anmuthige Gartenanlagen nehmen den Raum vor der Kirche ein. Hier ist ebenfalls ein überaus lebhafter Verkehr; denn die wichtigsten Verkehrsadern, welche die Verbindung mit stark bevölkerten Vorstädten und Vororten herstellen, treffen auf dem Platze vor dem ehemaligen Schottenthor, von dem sich noch ein Stück mit einem Basteirest erhalten hat, zusammen. Ein starker Wagenverkehr, das fortwährende Pferdebahngeklingel, das Auf- und Abwogen der Menschen, welche aus der inneren Stadt, vom Franzensring und Schottenring, aus der Alser- und Währingerstraße herkommen, giebt dem Treiben einen weltstädtischen Anstrich.

Der Schwarzenbergplatz.

Am Schottenring beginnt das Geschäftsviertel: die Börse und zahlreiche Warenhäuser und Niederlagen drücken diesem Stadttheile ihr Gepräge auf. Von hervorragenden Gebäuden fällt uns hier zunächst das großartige, von Hansen mit einem Kostenaufwande von vier Millionen Gulden erbaute Börsengebäude auf. Linker Hand fesselt den Blick das kaiserliche Stiftungshaus, ein Werk Meister Schmidts in zierlichen gothischen Formen, auf der Unglücksstätte des abgebrannten Ringtheaters durch kaiserliche Schenkung errichtet. Das Gebäude der Polizeidirektion war im Weltausstellungsjahre das Hotel Austria. In der verlängerten Wipplingerstraße befindet sich das umfangreiche Gebäude des k. k. Staatstelegraphenamtes. Die weitausgedehnte Rudolfskaserne, ein Rohziegelbau von mächtiger Massenwirkung, wird vom Deutschmeisterplatz dem Auge sichtbar.

Der Franz Josefs-Quai, in welchen der Schottenring einmündet, bietet das Bild des lebhaftesten Geschäftsverkehrs, der sich seit Jahren von der Leopoldstadt und anderen Bezirken auf dieses elegante Viertel mit den hohen, hohen Zinspalästen zusammengezogen hat. Eine schmale Parkanlage, vom Volksmund mit dem Spottnamen „Beserlpark“ belegt, trennt die Straße vom Donaukanal. Der schönste Theil des Quais ist der Platz vor dem Hotel Metropole. Noch eindrucksvoller dürfte sich aber in Zukunft das Stück bei der Adlergasse entwickeln. An dieser Stelle, gegenüber der Ferdinandsbrücke, hören die Neubauten der Stadterweiterung plötzlich auf. Der mächtige Riegel der Franz Josefs- Kaserne hat hier die bauliche Entwicklung gehindert. Die Tage dieses in gesundheitlicher Hinsicht unpraktischen Baues sind übrigens gezählt; denn eine starke Bewegung im Gemeinderath und in der Bevölkerung strebt die Aufhebung der Kasernen im Stadtgebiete und Verlegung derselben vor die Linienwälle an und die Staatsverwaltung zeigt sich diesem Gedanken nicht abgeneigt.

Bis hierher hatte Herr Hainfelder seinen Gast geführt, demselben die Sehenswürdigkeiten in der oben geschilderten Weise erklärend, manchmal auf eine bedeutende Firma aufmerksam machend oder ein Wort über ein beliebtes Kaffeehaus oder ein berühmtes Restaurant einfügend. Nun fuhr er fort: Wenn Sie müd’ sind, Herr von Werner, so steigen wir in einen Tramwaywagen ein und fahren in den Prater. Jetzt finden wir noch Platz genug. Aber in zwei Stunden ist jeder Wagen so gedrängt voll, daß darin keine Stecknadel auf den Boden fallen kann. Ueber die Aspernbrücke geht nämlich der Weg in den Prater. Wenn ein schöner Frühlingstag ist oder ein Wettrennen in der Freudenau, da müssen Sie mit mir hinunter; da sieht man noch ein Stückl von der alten Wiener Fröhlichkeit. Freilich war das noch ganz anders zu meiner Zeit. Der Glanz der Praterfahrten hat bedeutend abgenommen, denn ein großer Theil der Aristokratie ist jetzt in Budapest oder in Prag. Aber ’s Volk läßt sich deshalb die Freud’ nicht vergällen, und wenn auch fünfzig Personen auf einmal in ein’ Pferdebahnwagen eingepökelt werd’n, bleiben s’ doch fidel und gutmüthig. Da fällt’s keinem ein, zu protestieren, wennn noch ein Rudel Leute sich in den schon vollen Wagen hineinzwängt; jeder duldet’s ohne Murren, wenn der Nachbar auf seinen Hühneraugen Csardas tanzt. Die Tramwayüberfüllung ist eine Spezialität von Wien. So ’was kann man nur hier seh’n. Ganze Bibliotheken sind schon d’rüber g’schrieb’n word’n, die Behörde hat in jedem Wagen Tafeln anbringen lassen: Platz nur für 4 Personen auf der vorderen und für 6 Personen auf der hinter’n Plattform. Nutzt alles nichts. Die Tramwayverwaltung lacht sich ins Fäustchen und die Leute vertragen sich prächtig und trösten einander mit schlechten Witzen. Das ist ein Zeichen für die noch immer nicht ausgestorbene Gutmütigkeit des Volks, das für die angenehme Beförderung fast ausnahmslos dem Kondukteur noch zwei Kreuzer Trinkgeld zahlt.“

„Wenn Sie nichts dagegen haben, Herr Hainfelder, so setzen wir für heute lieber unsern Rundgang fort und sparen uns den Prater für ein andermal.“

„Mir auch recht, Herr von Werner,“ entgegnete der freundliche Führer. „Also weiter! Hier ist der Stubenring. Der Theil um die Franz Josefs-Kasern’ schaut ziemlich öd’ aus, nit wahr? Linker Hand hab’n s’ vor kurzem ein Gebäude für die freiwillige Rettungsg’sellschaft errichtet. Das Institut ist nach dem Ringtheaterbrand gegründet worden und wirkt mit großer Selbstverleugnung und Menschenlieb’ unglaublich viel Gutes. Aerzte und Verwaltung stellen ihre Kräfte unentgeltlich zur Verfügung.

Hinter dem freien Platz vor der Kaserne ist noch ein Rest von der alten Dominikanerbastei; die Dominikanerkirche giebt mit dem Häuserviertel, das sich hinter der Rampe aufbaut, ein hübsches Bild. Der weitgesrreckte Rohziegelbau links ist das österreichische Museum für Kunst und Gewerbe, von Heinrich Ferstel erbaut. Dort finden jährlich mehrere Ausstellungen statt, unter denen die Weihnachtsausstellung besonders gern besucht wird, weil sie wunderschöne Sachen des Kunstgewerbes und der Industrie bietet. Das Gebäude ist auch im Innern sehr schön ausgestattet mit Figuren von Melnitzky, König, Pokorny und Malereien von Eisenmenger und Laufberger. Das riesige Mosaikbild der Minerva in der Verbindungswand ist ein Geschenk aus der Weltausstellung. Unsere Slovaken und Rastelbinder halten sie aber hartnäckig für die Mutter Gottes und bekreuzen sich betend vor dem Bilde.

Hinter dem Kunstgewerbemuseum ist die Großmarkthalle und der Platz des Wiener Eislaufvereins, wo es im Winter hoch hergeht. Kostümfeste, Promenadenkonzerte mit elektrischer Beleuchtung, Wettläufe ziehen ein großes Publikum an, das der [232] anmuthigen Leibesübung mit gefrorenen Füßen und blauen Nasen unermüdlich zusieht.

Bei der Stubenthorbrücke, die über den Wienfluß in den Bezirk Landstraße führt, beginnt der Parkring, der vom Stadtpark seinen Namen hat. Den Stadtpark sehen wir uns ein anderes Mal an, denn die Gärten Wiens verdienen eine genaue Besichtigung. Dem Stadtpark gegenüber liegt das Gebäude der Gartenbaugesellschaft mit einem hübschen Garten. Der große Saal wird im Karneval zur Veranstaltung von Maskenbällen und Kränzchen benutzt; im Frühjahr und Herbst werden hier und im Kursalon Promenadenkonzerte von Ed. Strauß und von Militärkapellen veranstaltet. Auch finden im ersteren nicht nur die Ausstellungen der Gartenkunst, Obst- und Gemüseausstellungen, sondern auch verschiedene Spezialausstellungen, Möbelausstellungen, Plakatausstellungen, Hundeausstellungen u. dergl. statt. Als wirksamer Abschluß des Gartens erhebt sich im Hintergrund das Palais des Herzogs von Coburg, ein Säulenbau mit schönen architektonischen Verhältnissen. Einer der schönsten Paläste ist das Haus des Großmeisters des deutschen Ordens, Erzherzog Wilhelms. Es ist von Hansen erbaut und mit Skulpturen von J. Gasser geschmückt. In den Seitengassen des Parkrings und Kolowratrings stoßen wir noch auf eine Anzahl interessanter Gebäude: da steht das akademische Gymnasium, ein gothischer Bau vom Dombaumeister Schmidt; davor das schöne Beethovendenkmal von Zumbusch, auf einem idyllischen, von Gartenanlagen umschlossenen Platze. Auf der Seilerstätte steht das ehemalige Stadttheater, jetzt Etablissement Ronacher, ein Vergnügungslokal höheren Stils, mit raffinirtem Luxus ausgestattet. Das müssen Sie sich ansehen, Herr von Werner; ich werd’ Sie nächstens einmal hinführen. Sie sehen zwar auch nicht viel mehr als in den bekannten Orpheums und Tingl-Tangl’s; dafür wird Ihnen die Eleganz der Ausstattung und die Lebewelt, welche Sie dort treffen, Vergnügen machen.

Die Votivkirche.

Jetzt sagen S’: Ah! Herr Werner; denn der Schwarzenbergplatz verdient wirklich ein Ah der Bewunderung. Die herrlichen Paläste, welche den Platz umgeben, sind von den Meistern der neuen Wiener Architektur erbaut. Die Paläste des Erzherzogs Ludwig Victor, von Wertheim und Ofenheim, sind der köstliche Rahmen, in dessen Mitte sich die Reiterstatue des Fürsten Schwarzenberg erhebt. Einen überaus malerischen Hintergrund bildet der Hochstrahlbrunnen, der seine mächtigen Wasserstrahlen, wenn er gut aufgelegt ist, 60 Meter hoch schleudert. Er ist aber selten bei Laune; denn der Wassermangel bildet ein ständiges Kapitel unserer Gemeindeschmerzen. Der Platz ist von freundlichen Gartenanlagen umgeben, hinter denen auf sanft ansteigendem Gelände das Sommerpalais des Fürsten Schwarzenberg, ein schöner Barockbau des Fischer von Erlach, sich erhebt. Hinter diesem wird der Prachtbau des Belvedere, das einstige Lustschloß des Prinzen Eugenius, sichtbar.

Jetzt kommen wir wieder auf den Kärntnerring, von dem wir ausgegangen sind. Auch hier reiht sich Palast an Palast. Hinter dem schon erwähnten Hotel Imperial, in der Künstlerstraße, stehen zwei Gebäude, welche für das Kunstleben Wiens von gleicher Wichtigkeit sind, das Gebäude des Musikvereins und das Künstlerhaus, letztes erst kürzlich von dem talentvollen Architekten Julius Deininger in praktischer und geschmackvoller Weise erweitert. Im Gebäude des Musikvereins befindet sich das Konservatorium für Musik und darstellende Kunst. Im reich geschmückten großen Saal, der an 3000 Personen faßt, werden die berühmten Gesellschaftskonzerte und andere musikalische Veranstaltungen abgehalten, bei welchen sich das musikliebende Publikum Wiens stets zahlreich einfindet. Im Karneval dient er zu Maskenbällen und früher fanden hier auch die beliebten Künstlerabende statt, welche jedoch in den letzten Jahren nicht mehr abgehalten wurden. Die Jahresausstellungen des Künstlerhauses bieten zumeist ein erfreuliches Bild des Schaffens der großen und wackeren Künstlergemeinde, die trotz der fühlbaren Ungunst der Verhältnisse ihren guten Humor nicht eingebüßt hat, wovon sich Wien alljährlich auf dem von den Künstlern veranstalteten köstlichen ‚G’schnas-Feste‘ aufs neue überzeugt. Dieser Faschingscherz, welcher unter einer gemeinsamen Losung eine Zeitrichtung oder eine Modethorheit zum Ausgangspunkte nimmt, wird mit großer künstlerischer Hingebung durchgeführt und überrascht immer durch die Fülle der genialen Einfalle und des aufgewendeten Fleißes.

Das Wort ‚G’schnas‘ ist ein urwienerisches Wort und bedeutet Unechtes, das in ärmlicher Form für vornehm gelten will. Ich leite mir das Wort von ‚G’schnattl‘ ab. Das sind nämlich die Abfälle von Fleischspeisen oder die minderwerthigen Theile eine Thieres. Das ‚G’schnattl‘ vom Schwein ist auch Schweinernes, hat aber doch einen viel geringeren Werth. In diesem Sinn nennen die Künstler alles das ‚G’schnas‘, was sich den Anschein zu geben sucht, als wäre es echt und vollwerthig, während es sich bei näherer Besichtigung als plumpe Nachahmung erweist.

So, jetzt hätten wir den Rundgang vollendet! Ich hab’ Ihnen selbstverständlich auf diesem Spaziergange nur das Wichtigste und Hervorragendste zeigen und erklären können, aber für einen flüchtigen Ueberblick wird Ihnen das genügen. Das Ringstraßenbild mit seinem Wagen- und Tramwayverkehr, seinen Bummlern und Straßenfiguren, seinen Kunsthandlungen, Kaffeehäusern und Restaurants ist wohl dem anderer Großstädte ähnlich, aber wenn man es einige Zeit studiert, fallen die Unterschiede im Charakter und in der Lebensweise der Bevölkerung auf.

Viel deutlicher und stärker treten diese Unterschiede in den Vorstädten und Vororten hervor. Ich lade Sie für ein ander Mal zu einem Rundgang durch diese Stadttheile ein.“




[233]

Wüstenkonzert.
Nach einer Zeichnung von Albert Kull.

[234]

Truggeister.

Roman von Anton von Perfall.
(13. Fortsetzung.)


Georg ging achtlos an dem Kinde vorbei, das Lili ihm entgegenhielt, warf einen Pack Handwerkszeug auf einen Arbeitstisch und ließ sich in sichtlicher Erregung auf einen Ambos nieder.

Therese kam heraus mit Bertha. Georg grüßte kurz, mürrisch.

„Was führt denn Dich her, Bertl? Du bist ja ein seltener Gast geworden in diesem Hause,“ fragte der alte Margold.

Bertha zögerte.

„Nur heraus! Habe keine Geheimnisse vor meinen Freunden!“

„Nun, warum soll ich denn hinter dem Berge halten,“ erwiderte Bertha, „Therese sprach ja eben davon –“

Die Mutter trat ein, begrüßte Bertha mit einem fast ehrfurchtsvollen Knix und strich bewundernd an ihrem reichen Gewande herum. Bertha aber fuhr fort: „Du äußerst zu offen Deine Ansichten über Stefanelly und seine Unternehmungen, Vater. Das ist aber sehr peinlich für Herrn von Brennberg und auch für mich, die ihm so nahe steht. Stefanelly hat sich auch schon darüber beklagt.“

Die Mutter stieß einen Ruf der Entrüstung aus und auch Georg fuhr auf: „Ja, das ist nicht recht, Herr Margold, gar nicht recht! Ich wollt’, ich hätte mehr, was ich zu Stefanelly hintragen könnte. Ich habe es Ihnen soeben gesagt: Sie begehen ein Verbrechen, daß Sie meinen Vater abhalten, mit seinem bißchen Vermögen den Vortheil der Zeit zu genießen, ein Verbrechen an uns, an dem kleinen Kerl da“ – er deutete unwirrsch auf den Kleinen in Lilis Armen – „der auch einmal über die Werkstatt hinauskommen möchte wie anderer Leute Kinder!“

Margold ließ den erregten Mann ruhig aussprechen, nur hie und da schüttelte er abwehrend das Haupt.

„Ich komme ja eben her aus dem Bankhaus,“ fuhr Georg fort, „aus dem Geldkeller, ich mußte eine Kasse repariren. Gold und Silber, ganze Säcke und Rollen, liegen da beieinander, sage ich Ihnen, eine Million wenigstens. – Der Herr Papa war auch da,“ wandte er sich an Bertha; „allein kann der Stefanelly gar nicht zu dem Gelde, der Herr Baron muß immer dabei sein, wenn die Kasse geöffnet wird. Jeder hat seinen eigenen Schlüssel, also, wenn der Stefanelly auch wollte, könnte er nichts machen. Ich sage Euch, da freut einen die Arbeit nimmer, wenn man das so mit ansieht, eine ordentliche Wuth packt einen, da hineingreifen zu können und mit einem Griff all der Plackerei ein Ende zu machen – eine wahre Wuth!“

Georg blickte mit glänzenden Augen starr auf den Boden, als suchte er dort den blinkenden, verführerischen Schatz.

Bertha erzitterte in ihrem Innern bei dieser Erzählung, bei diesen Beweisen eines felsenfesten Vertrauens auf ihren Schwiegervater, welches dieser gestern so schmachvoll mißbraucht hatte, beim Anblick dieses heißen Verlangens nach den goldenen Schätzen, dieser gierigen Blicke, in denen es aufleuchtete wie ein verbrecherischer Gedanke. „Was macht doch dieses häßliche, dämonische Geld aus uns!“ dachte sie.

Der Vater Margold aber hielt sich jetzt nicht mehr zurück.

Ein Narr bist Du, ein verblendeter Narr, trotz all des Silbers und Goldes, was Du gesehen hast, Georg, wie ich einer war, bis mir die Augen aufgegangen sind, bis ich wieder zurückgekehrt bin zu meinem alten guten Glauben. Es giebt keine Ernte ohne Saat, es giebt keinen Lohn ohne Arbeit, es kann keinen geben, es kann nur eine Täuschung sein, ein geschickter Betrug, der über kurz oder lang in sich zusammenbrechen muß. Ich habe meine zwei offenen klaren Augen noch immer und ich habe damit Umschau gehalten. Neue Häuser stehen leer, die Miethen gehen herunter, und trotzdem kauft der Stefanelly weiter um riesige Preise. Ist das möglich? Ist das nicht ein Unsinn? Und dann der wahnsinnige sündhafte Aufwand in seinem Haus. Wovon wird der bestritten? Aus dem Erlös der Arbeit etwa? Keine Idee! Aus dem mühelosen Agiogewinn wird er bezahlt, dem zuliebe Aktien auf Akten ausgegeben werden, nach deren wahrem Werth in dem allgemeinen Taumel gar nicht gefragt wird. Hat irgend eine Baugesellschaft, weiß Gott wo, um einen fabelhaften Preis Grund erworben und sieht, daß es schief geht, patsch, wird eine neue von Stefanelly gegründet und den Aktionären der Grund um das Doppelte, um den dreifachen Preis aufgehalst, der Gewinn bleibt in stillen Händen, bis einmal die große Abrechnung kommt und der ganze Schwindel zusammenbricht!"

Margold keuchte vor Erregung.

„Und Ihr Herr von Brennberg, den Sie so hoch verehren als Ihren früheren Herrn, von dem Sie nicht schön genug reden können, steht nicht sein Name unter all dem ‚Schwindel‘ wie Sie es nennen?“ fragte Georg.

„Das ist ja der Jammer, daß er drunter steht, der ehrliche alte Name, aber er ist eben der Betrogenste von allen Betrogenen, der arme Herr. Er denkt gewiß an nichts Schlimmes dabei, sein Leben thäte er lassen, ehe er sich zu einem Unrecht hergäbe, darauf lege ich meine Hand ins Feuer. Sein blindes Vertrauen reißt ihn ins Verderben wie Dich, Georg, Deine plötzlich erwachte Habsucht, welche Dir die ehrliche Arbeit verleidet, welche Dir Gedanken eingiebt, vor denen Du Dich früher entsetzt hättest. Und da soll man nicht dagegen ankämpfen und soll seine besten Freunde blindlings ins Verderben rennen lassen? Ja, wenn es nur was nützen würde, dieses Ankämpfen! Wenn es nur die Wirkung hätte, die der Stefanelly vorgiebt, das wäre ja ein Segen! Vor allem für den Herrn von Brennberg, dem vielleicht dann noch zu rechter Zeit die Augen aufgingen, ehe jede Rettung unmöglich ist. Aber wer hört denn auf den alten Margold? Weiß Gott, was da dahinter steckt, daß dieser schlaue Fuchs mir eine solche Bedeutung zuschreibt! Das fällt mir jetzt erst auf! – Der Stefanelly bekümmert sich um das Gerede eines Mannes, wie ich bin! Sonderbar! Sehr sonderbar! – Also deshalb bist Du hier, Bertha? Beruhige Dich, das ist alles Geflunker, ich kann ihm nicht schaden, dem Stefanelly, mit meinem Gerede.“

„Und doch behauptet er, daß es so ist,“ entgegnete, erschüttert von den Worten des Vaters, Bertha; „gerade die kleinen Leute werden plötzlich unruhig und fordern in Masse ihre Einlagen zurück. Das könne nur durch einen aus ihrer eigenen Mitte veranlaßt sein.“

„Das habe ich selbst gesehen,“ bemerkte Georg; „die Bank war heute vormittag gedrängt voll Menschen, aber alle gingen mit ihrem prompt ausbezahlten Gelde heim und schimpften über die leeren Gerüchte, die sie veranlaßt hatten, es zu holen. Der Stefanelly wird sich hüten, es ihnen zum zmeiten Male abzunehmen. Noch tausend solche Narren mögen kommen, und der Keller wird noch lang nicht leer.“

„Der Keller hat Dich ja ganz toll gemacht, Georg, mit seinem Goldgeflimmer,“ sagte Margold. „Steh auf, nimm Deinen Hammer und arbeite Dich tüchtig aus, das hilft am besten gegen solchen geheimen Durst.“

Und er verließ mit Bertha die Werkstatt.

Lili hatte von dem allem nichts gehört; sie saß in der Ecke und herzte ihren Maxi.

„Sprich wenigstens jetzt, die nächste Zelt nicht solche Dinge über Stefanelly,“ bat Bertha, als sie mit dem Vater allein war. „Brennberg verliert jetzt mehr als sein ganzes Vermögen, wenn die Katastrophe hereinbricht, die Du befürchtest, er verliert seine Ehre!“

Margold erschrak.

„Seine Ehre? Du meinst, man wird ihm Vorwürfe machen? Das wird man, freilich, das bleibt nicht aus; aber jeder wird auch sehen, daß er selbst im guten Glauben gehandelt hat und selbst das Opfer dieses Stefanelly war. So traurig es ist, darin liegt für mich noch ein Trost, wenn es wirklich so weit kommt.“

„In vier Wochen wird es so sein, wie Du sagst,“ entgegnete Bertha, „aber jetzt nicht – jetzt – ich beschwöre Dich, Vater, habe Mitleid mit ihm, Du liebst ihn ja – jetzt – ist er ein Verbrecher!“ stieß Bertha mühsam hervor.

Margold knickte zusammen bei diesen Worten. Jetzt wußte [235] er alles und damit auch, daß er sich über die Lage Stefanellys nicht getäuscht hatte.

„Ein Verbrecher! Der alte Herr von Brennberg! Wie ist denn das möglich? Hat ihn denn der Stefanelly so weit –“

„Ich darf Dir das Nähere gar nicht sagen,“ jammerte Bertha, „ja, ich habe Dir in meiner Todesangst schon zu viel gesagt. Er wird sterben an der Schmach, und Theodor – und ich – und mein Kind – –“

Sie brach in lautes Schluchzen aus.

Margold stand regungslos, wie erstarrt. „Meine Ahnung, meine Ahnung!“ rief er endlich. „Kannst Du Dich noch erinnern, Bertl, als Du damals spät in der Nacht zurückkamst aus dem Café Arnold mit Hans, vor dem ich mich fürchte, wenn ich ihn ansehe – kannst Du Dich noch erinnern, was ich damals gesagt habe: ‚Ein Spiel ist es, das den Unterschied bald verwischt zwischen Recht und Unrecht, das ins Zuchthaus führt‘?“

Bertha schrie auf bei den Worten des Vaters.

„Ich dachte damals an den Hans, nicht an den Herrn von Brennberg, den ehrenhaften alten Herrn von Brennberg,“ schloß er mit dumpfer Stimme.

„Aber es ist doch auch nicht an ihn zu denken,“ rief Bertha in qualvoller Erregung, „nur Du hast mich so ängstlich gemacht. Es handelt sich ja nur um einige Wochen. – Oder weißt Du einen Rath? Aber ich darf ja nicht sprechen – Gott, das ist hart!“

„Du brauchst nicht zu sprechen,“ entgegnete Margold ruhig, „ich weiß alles, und ich habe nur einen Rath – ein offenes Bekenntniß – man wird ihn dann milder beurtheilen. Aber den Rath wird er freilich nicht annehmen, er ist ein Spieler geworden, er wird auf einen glücklichen Zufall rechnen und alles verlieren. Nur um eines beschwöre ich Dich, Bertl; wenn der glückliche Zufall eintritt, um den ich jetzt Gott anflehe, wenn es auch vielleicht ein Unrecht ist an tausend andern, die noch länger getäuscht werden, dann tritt Du ein und reiß’ ihn zurück vom Abgrund und werde das, was man von Dir gehofft hat, seine Retterin! Sein Vermögen ist so wie so verloren, wie ich annehmen muß. Laßt es verloren sein, für die Noth bin ich da, dem unser Herrgott noch zu rechter Zeit die Augen geöffnet hat. Aber die Ehre seines Namens kann dann wenigstens noch gerettet werden.“

„Das will ich, das schwöre ich Dir!“ rief Bertl begeistert. „Den ganzen Glanz will ich von mir werfen und wieder arbeiten wie eine Magd, wenn nur diese furchtbaren Wochen vorüber sind. – Leb’ wohl, Vater, Du siehst mich nicht mehr, bis ich mit guter Botschaft kommen kann, und dann sollst Du erkennen, daß ich noch Deine alte Bertl bin.“

Voll qualvoller Unruhe eilte sie hinaus aus dem Hofe auf die Straße; es trieb sie förmlich zu dem Bankhaus Stefanellys.

Wirklich glaubte sie eine besondere Erregung in den Gesichtern der desselben Weges Gehenden zu bemerken, ein auffallendes Hasten und Drängen nach dieser Richtung. Jetzt kam sie auf den Platz, wo das Gebäude lag. Ueberall standen erregte Gruppen, vor dem Bankhause drängte sich eine dichte Menge. Es ging also doch etwas Besonderes hier vor, aber die weitgeöffneten Flügelthüren, durch welche das Volk ein- und ausströmte, machten auf sie einen beruhigenden Eindruck; etwas Freimüthiges, offenes lag für sie darin, eine großherzige Einladung: „Kommt alle, ihr Mißtrauischen.“

Sie näherte sich den Gruppen, um da und dort ein Wort zu erhaschen, der neugierigen Blicke nicht achtend, die man der schönen vornehmen Dame mit dem sonderbaren Benehmen zuwarf. Es gelang ihr nicht, und so trat sie vor das hohe Auslagefenster, drängte sich mitten unter das Volk, dessen Blicke gierig die Scheiben durchdrangen, an dem blitzenden, gemünzten und ungemünzten, zu kleinen Hügeln aufgehäuften Gold, an den verheißungsvollen bunten Papieren hafteten, aus denen der Name „Brennberg“ wie mit feurigen Buchstaben geschrieben Bertha entgegenleuchtete.

Eben trat ein Bauer, seinen schweren Ledergurt festschnallend, aus dem Haus unter die Menge, welche lachte, spottete, fragte.

„Na. wenn ich den erwisch’, der mir den Bären auf’bunden hat, daß es schief geht da drinnen!“

Er hob drohend den Ziegenhainer unter dem schallenden Gelächter der Umstehenden.

„Grad überlaufen thun alle Kästen vor Gold und Silber – Na, wenn ich den – –“

Er verschwand unter dem Haufen, welchen das beim Oeffnen der Thüren hörbare metallene Rauschen zu bannen schien.

Da drängte sich in wilder Hast ein ärmlich gekleidetes Weib nach dem Eingang, tödliche Besorgniß im Antlitz; sie achtete weder auf die Scherzreden noch auf die ermuthigenden Zurufe der Menge. Es dauerte eine Weile, dann aber trat sie selig lachend, mit feuchtem Auge heraus.

„Na, war’s nicht so, Frauchen, hat’s noch gelangt?“ fragte man sie.

Sie brach in helle Thränen aus.

„O, das ist schändlich, den braven Mann so zu verleumden! Gelangt? Noch nie habe ich so was gesehen von vielem Gold; und er hat es wieder behalten, auf meine Bitte, ‚weil ich eine arme Witwe bin‘, sagte er.“

Ein beifälliges und zugleich drohendes Gemurmel verbreitete sich. Wer war der Verleumder?

Irgend ein Konkurrent, ein Bankier, der gekaufte Schreier herumschickte! – Der Name Anspacher wurde auch genannt.

Bertha schlug das Herz mächtig vor Freude. Als die arme Frau erzählte, konnte sie es sich nicht versagen, mit einstimmen in das Lob Stefanellys, so daß die Leute umher, die größtentheils dem Arbeiter- und Handwerkerstande angehörten, überrascht auf die vornehme Dame blickten.

Waren es wirklich die vierhunderttausend Mark, welche diese massenhaften Auszahlungen ermöglichten, so hatte der Schwiegervater ja ein vortreffliches, edles Werk gethan, als er einwilligte, sie zur Beruhigung der augenblicklichen Aufregung zu verwenden; die Freudenthränen der armen Witwe allein wuschen in ihren Augen allen Makel von seiner Handlungsweise. Ehe der Tag verging, würde die Krisis vorüber sein, der Name Stefanelly höher stehen als je, das Doppelte, was jetzt herausgetragen wurde, trug man sicher morgen wieder hinein. Stefanelly würde die Summe zurückerstatten und Brennberg zu ewigem Danke verpflichtet sein. Bereits reute Bertha der Schwur, den sie ihrem Vater eben abgelegt hatte: Brennberg zu retten von dem Abgrunde, wenn die Krisis glücklich vorüber sei. Aber der Abgrund war ja dann nicht da, das mußte auch der Vater einsehen, und damit fiel ihr Versprechen in sich zusammen.

Sie wäre jetzt am liebsten selbst hineingegangen und hätte Stefanelly, dem kühnen, verleumdeten Mann, die Hand gedrückt, um das Unrecht ihres Vaters einigermaßen wieder gut zu machen. Doch er hatte jetzt gewiß keine Zeit für sie, und es zog sie auch nach Hause, wo Theodor in trostloser Unruhe wartete. Rasch eilte sie heim, sie konnte ihrem Gatten ja gute Nachrichten bringen.




8.

Zwei Tage dauerte trotz der fortgesetzten ungesäumten Auszahlungen der Sturm auf die Bank Stefanellys. Wie ein Feldherr stand er von früh bis spät unter der Schar seiner Beamten, sein Antlitz verrieth nicht die geringste Erregung. Unerschöpflich floß der Goldstrom aus dem Gitterfensterchen der Hauptkasse; viele bereuten bei diesem Anblick ihr Mißtrauen und wollten das Geld nicht in Empfang nehmen; aber Stefanelly drängte es ihnen auf, weigerte sich, es zu behalten, spielte den Beleidigten, der sich zu rächen weiß. Die Beträge, die eilig zurückgefordert wurden, waren größtentheils keine; die vierhunderttausend Mark des Reservefonds hielten, das wußte der Bankier, schon noch eine Woche Stand, während die Menschenmasse, die den Tag über sich hereindrängte, das unbetheiligte Publikum auf Unsummen schließen ließ, welche hier anstandslos ausbezahlt wurden. Man sprach von einer, von mehreren Millionen, und dagegen vermochten die Stimmen der besorgten Warner nicht aufzukommen. Glänzender konnte sich Stefanelly nicht rechtfertigen. Er war jetzt der unschuldig Verleumdete, seine Anhänger hoben stolz das Haupt und lachten über das blöde Volk, das sich von jedem blinden Lärm schrecken ließ. Die Aengstlichen schämten sich und fürchteten, von Stefanelly von nun an zurückgewiesen zu werden.

Am dritten Tage herrschte Todtenstille in der Bank, niemand kam mehr, um Einlagen zurückzufordern, nur die guten Freunde [236] fanden sich ein, die Stefanelly glückwünschend die Hand drückten, ihn baten, Mitleid zu haben mit dem bethörten Volk und seine Hand nicht von ihm zurückzuziehen. Und Stefanelly war großmüthigl In den Zeitungen erschienen Ankündigungen, die Bank habe beschlossen, auch fernerhin von den durch falsche Vorspiegelungen Irregeleiteten Einlagen zu dem alten Zinsfuße wieder anzunehmen. Und wieder strömte dieselbe Masse auf den Platz und balgte sich um den Vortritt, der Goldstrom kehrte wieder in sein Bett zurück. Das allgemeine Vertrauen zu Stefanelly war wieder da.

Der alte Brennberg wagte es jetzt nicht mehr, den Bankier an seine Verpflichtung zu erinnern.

Auch Theodor vergaß alle Besorgnisse, alle guten Vorsätze und stürzte sich mit seinem schönen blühenden Weib von neuem in die jetzt noch höher gehenden Wogen der von der Angst eines bevorstehenden Krachs befreiten Gesellschaft.

Und doch pochte es von Zeit zu Zeit da und dort unheimlich wie vor einem Erdbeben, und eine schwüle Gespanntheit lag in der Atmosphäre, die dem Börsen- und Geldmann nicht entging und unbewußt auch auf die Masse wirkte. Die Schwankungen der Papierwerthe wurden immer größer, die Börse glich einem aufgeregten Meere, ohne daß man eigentlich wußte. woher der Sturm kam, der sie aufgewühlt hatte, und mit der kritiklosen Nervosität, die eine unbekannte rings drohende Gefahr erzeugt, überließ man sich von neuem dem Kultus der Phantasiewerthe.

Stefanelly täuschte sich keinen Augenblick über die Lage und kannte die Hohlseite jedes Steins an dem Schwindelbau, den er aufgefuhrt. Er hatte zu hoch gebaut, das Machwerk mußte zusammenstürzen, es galt nur noch, zu rechter Zeit sich aus den stürzenden Trümmern zu retten. Die vierhunderttausend Mark konnten den Zusammenbruch nur verzögern, nicht verhindern. Es handelte sich jetzt nur noch um einen Hauptstreich, der seine Tasche zum Ueberquellen füllen sollte. dann ein gewandter kühner Sprung zur Seite – und hohnlachend zugesehen aus weiter Ferne, wie es zusammenprasselte über der thörichten verachteten Menge! Auch nicht der leiseste Gedanke an Mitleid mit den Tausenden vernichteter Existenzen, auch nicht die leiseste Regung des Gewissens machte sich in ihm geltend; nur der eiserne Vorsatz, sein Gaunerstück durchzuführen bis zum Ende, um jeden Preis; ein bestienhafter Zorn bei dem Gedanken an die Möglichkeit des Mißlingens beherrschte ihn.

Die neue Bergwerksakiengesellschaft, die er gegründet hatte, sollte das Mittel zum Zweck sein.

Der bei Erwerbung der Zechen gezahlte Preis war ein ungeheurer und stand in keinem Einklang zu dem Ertrag; Stefanelly mußte seine äußerste Kraft anstrengen, um die Aktin erst einmal in Fluß zu bringen. Aber der neugegründete Glaube des Publikums an sein Glück half ihm wieder vorwärts; bald konnte er der Nachfrage nach Aktien kaum mehr genügen, sie stiegen immerfort, riesige Summen Agio flossen in seine Kasse, und trotzdem war das Unternehmen unhaltbar.

Da kam ihm ein vortrefflicher Gedanke. Es gelang ihm, wesentlich durch die Vermittelung des Raths Stürmling, welchen er klugerweise ganz für seine Pläne zu gewinnen verstanden hatte, den Handelsminister Graf Derwitz zur Anlage eines großen Theiles seines Vermögens in diesen Aktien zu bestimmen. Wenige Wochen darauf machte Stefanelly, indem er den volkswirthschaftlichen Werth dieser Erwerbung klarzulegen suchte, dem Minister den Vorschlag, daß der Staat das Bergwerk ankaufen solle. Der Minister ist völlig gegentheiliger Ansicht, schlägt den Unsinn rundweg ab – da erklärt ihm der Bankier mit frecher Stirn die ganze Sachlage, die ganze Gefährdung des Unternehmens. Der Minister ist empört, nennt Stefanelly einen Schurken; die Hälfte seines Vermögens ist verloren, mit ihm seine Stellung; Stefanelly zuckt die Achseln, auch er verliert, das ist das Börsenspiel.

Kurze Zeit darauf wird er von der Regierung aufgefordert, genauen Bericht zu erstatten betreffs der allenfallsigen Bedingungen einer Erwerbung des Werkes von Staatswegen. Die List ist gelungen! Jetzt gilt es nur noch, auf einige Wochen das Unternehmen gewaltsam in die Höhe zu treiben, die Aktien künstlich hinaufzuschrauben – und eine Million ist verdient!

Alle Mittel mußten benutzt werden, eigene und fremde, der Kredit, alles.

Der Tag nahte, an welchem die 400 000 Mark in den Reservefonds zurückbezahlt werden mußten, jeden Augenblick konnte die genaue Kassenrevision kommen. Stefanelly war fest entschlossen, nicht zu zahlen, ehe das Geschäft mit dem Bergwerk erledigt war; Brennberg mußte dazu helfen um jeden Preis.

*  *  *

Der Palast Stefanelly erstrahlte in hellem Lichterglanz. Der Karneval des Jahres 187.. sollte dort seine glänzende Eröffnung feiern. Seit Wochen gingen in der Stadt Gerüchte von Vorbereitungen, die alles bisher an derartigen Festlichkeiten Dagewesene in Schatten stellen sollten. Stefanelly, der Parvenu, der ehemalige Arbeiter, warf der ganzen luxustollen, genußdurstigen Gesellschaft der Großstadt, der hohen Finanzwelt, dem stolzen Aristokratenthum, selbst dem Hof gleichsam den Fehdehandschuh hin, als wollte er sagen: „Wer thut es mir gleich? Wer wagt es, an mir zu zweifeln?“ Und man hob den Handschuh auf. Man kam, die einen lachend, nur mit der Absicht, dieses glänzende üppige Fest mitzugenießen, die andern voll ergrimmten Neides, mit dem festen Willen, wenigstens ihrer Würde gemäß auf dem Kampfplatz zu erscheinen, und wäre es mit den größten Opfern. Die unheimlichen Schauer, welche den Börsenkörper durchzitterten, thaten der allgemeinen Erwartung keinen Abbruch – man wollte sich nicht stören lassen.

Ein glänzendes Gewoge erfüllte die neueingerichteten Räume, was die Hauptstadt aufbieten konnte an Schönheit, Vornehmheit, Reichthum, Rang und Titel, war vereinigt.

Das lebhafte Interesse, welches der Staatsminister Graf Derwitz in den Verhandlungen betreffs Verstaatlichung des Bergwerks für Stefanelly gezeigt, hatte genügt, die ganze hohe Beamtenschaft dort zu vereinigen, und zum allgemeinen Staunen sah man den Festgeber Arm in Arm mit Baron Anspacher in vertraulichem Gespräche. Also auch dieses Gerücht von der Feindschaft beider Männer, von den Umtrieben des letzteren gegen den ersteren, war falsch gewesen!

Die ganze ordensgeschmückte, seiderauschende, diamantenblitzende Gesellschaft, die sich da in einem Meer von Licht und Blumen, Duft und Goldgeflunker bewegte, war eine feierliche Anerkennung des ganzen gewissenlosen Treibens Stefanellys – ein entarteter Tanz um das goldene Kalb!

Baron Christian von Brennberg war wohl der einzige, der mit schwerem Herzen das Palais betrat. Es erfaßte ihn ein kalter Schauder, als er die Volksmasse erblickte, die sich wie eine finstere drohende Wolke um das Portal drängte, mit gierigem Blick all den herein- und herausströmenden Glanz bestaunend. Er fühlte die hohe Spannung in dieser drohenden Wolke – dachte an die furchtbare Entladung, die plötzlich eintreten konnte.

In der nächsten Zeit mußte dem Aufsichtsrathe der Grunderwerbungs-Genossenschaft die Bilanz vorgelegt und die Kassenrevision vorgenommen werden; Stefanelly hatte dem Baron für heute abend Bescheid versprochen, wie die 400000 Mark ersetzt werden könnten.

Beim Anblick all der Pracht und Verschwendung stieg dem alten Herrn die Schamröthe ins Antlitz, es kam ihm das volle Bewußtsein des schwindelhaften Treibens, in welches er mit verwickelt war.

Dieser Stefanelly gab ein Fest, das ein Vermögen verschlang, und dazu waren es veruntreute – mit seiner Hilfe veruntreute Gelder. Loni Margold, die Tochter des Weinmann von der Landstraße, die Frau des Agenten, geschmückt wie eine Fürstin, in Diamanten strahlend, spielte die Dame des Hauses und empfing die ganze hoch- und hochwohlgeborene Gesellschaft. Sie konnte es ja nicht wissen, daß unter ihren Füßen eine leere Kasse stand, aber daß das ganze Wesen um sie her eine Lüge war, mußte sie wissen, wußte sie auch, aber sie wollte es nicht wissen, die Genußjagd hatte sie erschlafft, betäubt – und unten zuckte es drohend aus der Wolke, dumpfes Grollen drang herauf.

Der Baron beobachtete Stefanelly scharf und studierte jede Miene seines Gesichts. Der Bankier war heiter, lachte laut mit Anspacher, sprach eifrig mit dem Minister und anderen Würdenträgern, aber seinem Aufsichtsrathe schien er absichtlich auszuweichen. Dieser jedoch war fest entschlossen, das Haus nicht ohne bestimmte Erklärung zu verlassen.

(Fortsetzung folgt.)




[237]

Im Kampf um einen Königsthron.

Die Herzogin von Berry und ihre Gefangenschaft in Blaye.
Von Eduard Schulte.

Die Revolution im Juli 1830 vertrieb den König Karl X. von Frankreich und seine Familie, den älteren Zweig der Bourbonen, zum dritten Male vom französischen Boden. Die flüchtige Königsfamilie begab sich zunächst nach England und dann nach Schottland, wo sie zu Edinburgh im Schlosse Holyrood, das einst von Maria Stuart bewohnt wurde, ihren Aufenthalt nahm. Die Flüchtlinge waren außer dem Könige dessen ältester Sohn, der Dauphin, der den Titel eines Herzogs von Angoulême führte, und dessen Gemahlin, die als Tochter Ludwigs XVI. zugleich ihres Gatten Cousine war; ferner die Herzogin von Berry, Marie Karoline, die Witwe des zweiten Sohnes des Königs, des im Jahre 1820 ermordeten Herzogs von Berry, mit ihren beiden Kindern, der im Jahre 1819 geborenen Prinzessin Louise und dem um ein Jahr jüngeren Prinzen Heinrich, der „Herzog von Bordeaux“ und später meist „Graf von Chambord“ genannt wurde.[2] Zu Gunsten dieses Enkels, der als König „Heinrich V.“ heißen sollte, hatte der König Karl auf seine Krone verzichtet, indem er zugleich den Herzog von Orleans Louis Philipp zum Generalstatthalter des Königreichs ernannte. Nachdem Louis Philipp aber selbst den Thron bestiegen hatte, zog Karl X. die Ernennung zurück und bestimmte dafür die Mutter Heinrichs, die Herzogin von Berry, zur Regentin. Karls Erbe würde nach bestehendem Gesetz und Herkommen zunächst der Herzog von Angoulême als Dauphin gewesen sein. Aber dieser fühlte sich der Aufgabe nicht gewachsen, unter schwierigen Verhältnissen eine Krone zu tragen oder, da diese seiner Familie entrissen war, auch nur die Rolle eines Prätendenten zu spielen; überdies lebte er in kinderloser Ehe. Der greise Karl X. führte den Königstitel fort und blieb das maßgebende Oberhaupt der entthronten Herrscherfamilie, aber auf eine Wiedergewinnung des Thrones hoffte er kaum noch; jedenfalls war er ebenso wie sein Sohn einem kühnen und entschlossenen Eintreten für das legitime Königthum durchaus abgeneigt.

Die Partei der „Legitimisten“ oder „echten Royalisten“ in Frankreich sah die Entthronung ihres angestammten Königshauses natürlich als eine frevelhafte Ungesetzlichkeit und als etwas Vorübergehendes an. Ihre einzige Hoffnung war, wie die Dinge einmal standen, der junge Herzog von Bordeaux und mit ihm, da er bei der Entthronung erst zehn Jahre zählte, seine Mutter, die Herzogin von Berry. Ohne sonderlich gebildet und begabt zu sein, war sie eine entschlossene Frau, die bei der geringen Willenskraft der älteren männlichen Mitglieder der Familie es für ihre heilige Pflicht hielt, alles zu wagen, um ihrem Sohne den französischen Thron zu sichern. Sie stand erst im zweiunddreißigsten Lebensjahre und schien als Tochter des neapolitanischen Königshauses südliche Leidenschaftlichkeit geerbt zu haben, wenngleich ihr Aeußeres die Südländerin nicht verrieth; bei kleiner und voller Gestalt hatte sie auffallend weiße Hautfarbe, blondes Haar und blaue Augen.

Marie Karoline Herzogin von Berry.

Die Lebendigkeit und hoffnungsfreudige Thatkraft der Herzogin stimmte nicht zu der Stille und Entsagung, die in Karls X. Umgebung herrschte. So trennte sie sich vom Hofe und lieh denjenigen Legitimisten ihr Ohr, welche eine gewaltsame Erhebung gegen die Regierung Louis Philipps planten. Die Reden ihrer heißblütigsten Anhänger, welche sie in England aufsuchten, und die brieflichen Darlegungen der Royalisten in Frankreich selbst ließen in ihr den Entschluß reifen, nach dem Festlande zu gehen und die Erhebung in Person zu leiten.

Die Einbildungen und Selbsttäuschungen des Emigrantenthums sind sprichwörtlich geworden, und die Herzogin erlag ihnen ebenso wie ihre nähere Umgebung. Trotzdem würde man nicht sagen können, daß die in diesen Kreisen gehegten Hoffnungen völlig unbegründet und ihre Voraussetzungen sämmtlich irrig gewesen wären. Die Phantasiegebilde hatten einige wirkliche Grundlagen. Louis Philipp war nicht bloß den Legitimisten und den mit ihnen verbundenen Ultramontanen, sondern auch den Republikanern tief verhaßt, und er hatte Mühe genug, seinen Thron gegen diese seine zahlreichen und mächtigen Feinde zu behaupten. Hatte nicht die alte Königsfamilie überall in Frankreich, besonders im Süden und im Westen, Anhänger, von denen man erwarten konnte, daß sie ihre Treue nicht bloß durch stille Theilnahme für das Haus Bourbon und durch eine in den Schranken der bestehenden Ordnung sich haltende Opposition gegen das Haus Orleans, sondern im Nothfall mit Gut und Blut zu bethätigen bereit waren? Lebten nicht in der Vendée noch Hunderte von Adligen und Bauern, die unter der ersten Republik und noch im Jahre 1815 für den rechtmäßigen König die Waffen ergriffen hatten? Hatte nicht Napoleon, als er von Elba kam, gezeigt, wie man bei opferwilliger Anhängerschaft im Lande und bei kühnem Vorgehen eine Regierung stürzen konnte? Und das Ausland stand dabei auf Seiten dieser Regierung. Jetzt betrachteten umgekehrt die Höfe von Rußland, Oesterreich und Preußen und die fast aller kleineren Länder den König Louis Philipp mit Mißtrauen. Sie wollten nicht gelten lassen, daß er die Krone nur angenommen habe, um der mißlichen und wahrscheinlich unwirksamen Vormundschaft über ein königliches Kind zu entgehen und der Errichtung der Republik vorzubeugen; in ihren Augen war er ein Thronräuber. Die Herzogin hoffte, daß diese Herrscher ihr beim Verfechten eines legitimen Rechts mehr oder minder offen zur Seite stehen würden. Ueberdies schien die Lostrennung Belgiens von Holland, die der Julirevolution unmittelbar gefolgt war, zu einem europäischen Kriege führen zu sollen. Vielleicht wurde eine legitimistische Erhebung in Frankreich dadurch erleichtert, daß die französischen Heere jenseit der Grenze zu kämpfen hatten; vielleicht brachte dieser Krieg die angestammte Königsfamilie wieder auf den Thron.

Im Juni 1831 verließ die Herzogin von Berry, unter dem Namen einer Gräfin von Sagana reisend, in Begleitung einiger Herren und Damen England. Nach einem Besuche bei dem Könige von Holland fuhr sie rheinaufwärts, durchreiste die Schweiz und traf in Turin und bei Genua mit König Karl Albert von Sardinien zusammen. Von ihm empfing sie eine Million Franken; auch aus dem Haag und aus Lissabon flossen ihr größere Summen zu. Bei den Fürsten Mittelitaliens und sogar bei ihrem königlichen Bruder von Neapel fand sie nicht die gewünschte Unterstützung, da die französischen Gesandten Vorstellungen erhoben und selbst Drohungen anwandten. Zuletzt, vom Dezember 1831 an, fand sie eine Zuflucht nur noch in Massa, dessen Landesherr, der Herzog von Modena, die Regierung Louis Philipps nicht anerkannt hatte. Von hier aus sandte sie den Herzog von Blacas, [238] der im Auftrage Karls X. ihre Schritte überwachen und ihre Unternehmungslust zügeln sollte, mit irgend einem bedeutungslosen Auftrage nach Holyrood znenck, um seiner ledig zu sein. Verhandlungen mit der bonapartistischen Partei zerschlugen sich, da die Legitimisten die Trikolore nicht anerkennen wollten. Die größeren Höfe in Europa zeigten sich zurückhaltender, als man gehofft hatte. König Ferdinand VII. von Spanien verbot der Herzogin, obwohl sie seine Schwägerin war, den Eintritt in sein Land.

Dagegen schienen mehrere örtliche Unruhen in Frankreich selbst, sogar in Paris, einer umfassenden Schilderhebung günstig zu sein. Die kriegerischen Royalisten im Lande rührten sich. Der Baron von Charette bereitete in der Vendée einen größeren Aufstand vor, indem er das Land in aller Heimlichkeit in Bezirke theilte, in deren jedem ein kampftüchtiger Adliger das Kommando über die waffenfähigen Royalisten führen sollte. Zu Anfang des Jahres 1832 war in sechsundzwanzig von diesen Bezirken je eine Compagnie von durchschnittlich achtzig Mann kampfbereit und mit Waffen und Schießbedarf versehen. Die Besucher und die Briefe aus Frankreich, welche die Herzogin in Massa empfing, stellten die Verhältnisse im Lande so dar, als begehe sie ein Unrecht gegen ihren Sohn, wenn sie nicht alsbald auf französischem Boden erscheine.

Sie zögerte nun nicht länger. In ihrem Auftrage übermittelte einer ihrer einflußreichsten Anhänger, der Marschall Bourmont, der zu ihr geeilt war, den Kommandanten im Westen den Befehl, sich für den 3. Mai bereit zu halten. Am 26. April bestieg sie mit einigen Getreuen, unter denen die Herren von Bourmont, von Kergorlay, von Mesnard und von Brissac die vornehmsten waren, bei Livorno ein Dampfschiff, das sie sich dank der stillen Begünstigung des Königs von Sardinien hatte verschaffen können, und in der Nacht vom 28. zum 29. landete sie an der Küste der Provence bei Carry. Ihre Begleiter waren als Fischer gekleidet, und mit ihnen verbarg sie sich in einer Fischerhütte nicht weit von Marseille. Sie ließ Proklamationen verbreiten, welche die Generalstaaten nach Toulouse beriefen, und wartete den Erfolg des Aufstandes ab, der am 30. April in Marseille beginnen sollte.

Aber die politische Polizei der französischen Regierung war der Herzogin von Berry, seitdem sie England verlassen hatte, meist dicht auf den Fersen geblieben. Auch von jener Einschiffung erfuhren die spanischen Agenten, konnten jedoch nur feststellen, daß eine Gruppe von Personen, welche zur Begleitung und Dienerschaft der Herzogin gehörten, jenen von Livorno nach Barcelona bestimmten Dampfer bestiegen hatte; daß die Herzogin selbst an Bord gegangen war, blieb den Behörden unbekannt, und noch viele Wochen später wußten sie nicht, ob sich die Frau in Italien, in Spanien oder in Frankreich befinde. Indessen waren sie auf ihrer Hut und hatten sich längst auf einen Aufstand in Marseille gerüstet. Am 30. zogen einige bewaffnete Legitimisten unter aufrührerischen Rufen durch die Straßen, und ein paar Stunden wehte die weiße Fahne der Bourbonen auf dem Thurme der Matrosenkirche von Saint-Laurent, aber die Aufständischen wurden sehr bald theils gefangen genommen, theils zerstreut und verjagt. Der Aufstand war kläglich gescheitert. Die Herzogin empfing in ihrem Versteck von dem Herzog von Escars (richtiger „Des Cars“) die Nachricht: „Der Streich ist mißlungen. Verlassen Sie Frankreich!“

Marie Karoline war nicht gewillt, diese Weisung zu befolgen. Das Ausland hatte sie im Stich gelassen, die Regierung hatte eine überwältigende Thatkraft entwickelt, die Royalisten im Süden hatten viel mehr versprochen als gehalten; vielleicht glich die erprobte Treue der Vendéer alles wieder aus. Zu ihnen wollte sie eilen, um eine zweite Erhebung an Ort und Stelle persönlich zu überwachen. Sie reiste zunächst westwärts mit einem Passe, der sie als Frau von Méry bezeichnete, und nur eine Kammerfrau begleitete sie. Von ihren Schicksalsgefährten trennte sie sich und traf nur an einzelnen vorher festgesetzten Punkten auf kurze Zeit wieder mit ihnen zusammen. Von Toulouse wendete sie sich nordwärts, bis sie in die Vendée kam. Sie legte die Kleidung einer Dame ab und zeigte sich, um den Nachforschungen mißtrauischer Gendarmen zu entgehen, in der Tracht einer Bäuerin, eines Bauernburschen oder eines Dieners. Sie reiste bald mit Begleitung, bald allein, heute zu Fuß, morgen zu Wagen und übermorgen zu Pferde. Ein Unterkommen fand sie bald in den Schlössern der Edelleute, bald in den Hütten der Bauern, bald im Walde oder auf freiem Felde. Drei- oder viermal wöchentlich wechselte sie ihren Aufenthalt. Hunderte von Personen wußten oder vermutheten, wer sie war; niemand verrieth sie. Ihre Abenteuer glichen einem zu Geschichte gewordenen Kapitel aus einem Walter Scottschen Romane, und Talleyrand durfte sagen: „In der Herzogin von Berry verkörpert sich die ganze Poesie unserer Zeit.“

Aber in dem Frankreich Louis Philipps war für diese Romantik kein rechter Platz, und dem Gelingen einer royalistischen Erhebung stellten sich auch in der Vendée große Hindernisse entgegen. Die Vendée von 1832 war nicht mehr die Vendée von ehemals. Die neue Regierung hatte eine Maßregel Napoleons zu Ende führend, die Vendée mit Heerstraßen durchzogen und starke Besatzungen in die Städte gelegt. Die städtische Bevölkerung mit ihrer größeren Anhänglichkeit an die jetzt bestehenden Zustände war mehr gewachsen als die ländliche. Auf einer Zusammenkunft der zu Kommandanten bestimmten Parteiführer, die unter dem Vorsitz der Herzogin am Abend des 21. Mai zu Meslier stattfand, widerriethen die meisten die Eröffnung des Kampfes. Viele erklärten offen, daß sie den Erfolg des Aufstandes im Süden als unerläßliche Vorbedingung für den Aufstand in der Vendée angesehen hätten und sich nun, da jene Bedingung nicht eingetreten sei, nicht mehr für gebunden erachteten.

„Herr Marschall,“ äußerte einer zu Bourmont, „wenn Sie über zwei Regimenter verfügten, würden wir nicht schwanken.“

„Zwei Regimenter!“ sagte Bourmont; „wenn ich zwei Bataillone hätte, wollte ich nicht nach Ihnen fragen.“

Bourmont hielt den Kampf für aussichtslos. Berryer, der berühmte Advokat, ein eifriger Legitimist, der auch erschienen war, rieth in seinem Namen und in dem der Pariser Parteiführer, die Unternehmung, die ohne Zustimmung besonnener Männer begonnen worden sei und zur Zeit unmöglich gelingen könne, sofort aufzugeben und außer Landes zu gehen. Die Herzogin ließ sich zunächst bereden und verfügte am 23. Mai, daß kein Aufstand stattfinden solle. Aber als einige Edelleute sie versichert hatten, daß sie ihr unter allen Umständen und jederzeit ihren Degen zur Verfügung stellten, da besann sie sich am 24. eines anderen und befahl die Waffenerhebung für die Nacht vom 3. zum 4. Juni.

Die Regierung war inzwischen nicht unthätig. In den ersten Tagen des Juni verhängte sie den Belagerungszustand über die Vendée und die benachbarten Landschaften. Die Besatzungen in den Städten standen marschbereit. Gleichzeitig erhielt sie durch polizeiliche Auffindung und Ausforschung eines Boten, den die Herzogin nach Paris gesandt hatte, die erste sichere Kunde davon, daß die Herzogin in der Vendée weilte. Es wurde nun das Signalement der Dame und ihrer namhaftesten Anhänger an die örtlichen Behörden geschickt. Die entschlossenen Royalisten wiederum, die zum Theil von Frauen geleitet wurden, wie von der erst im Jahre 1883 verstorbenen Gräfin Auguste von la Roche-Jacquelein, ließen sich durch die Vorkehrungen der Regierung nicht abhalten, den Befehl der Mutter ihres Königs auszuführen. Am 4. Juni warfen sich etwa 1000 Bauern, die weiße Fahne entfaltend, auf das Städtchen Aigrefenille. Charette kämpfte am 5. an der Spitze von 400 Mann bei Chêne; die Herzogin war mit einer Begleiterin zugegen und verband und pflegte die Verwundeten. Am 7. wurde um das Schloß Pénissière ein mörderischer Kampf geführt. Die Vendéer kämpften mit Muth und Erbitterung, aber die Uebermacht der Regierungstruppen war so groß, daß der Kampf schon nach wenigen Tagen mit dem völligen Siege derselben endete.

Die Herzogin hatte nun ihr Spiel verloren. Trotzdem beeilte sie sich nicht, den Boden Frankreichs zu verlassen. Eine letzte Aussicht schien sich ihr auch jetzt noch zu bieten, die Möglichkeit, daß die belgische Frage zu einem großen Kriege führte und mittelbar dem Schicksale des legitimen Königthums eine gunstige Wendung gäbe. In diesem Falle wollte sie schnell zur Hand sein. Am frühen Morgen des 9. Juni kam sie. von einer Dame begleitet, nach Nantes, wo ihre Freunde ein Unterkommen für sie ausgemittelt hatten. Beide Damen waren als Bäuerinnen gekleidet. Auf der Loire-Brücke begegnete ihnen ein junger Offizier mit seinem Truppentheil. Er faßte die Herzogin scharf ins Auge und sah ihr einen Augenblick nach, als sie an ihm vorüberschritt. Er hat im Jahre 1875 bekannt gegeben, daß man im Irrthum [239] gewesen sei, wenn man berichtet habe, die Herzogin sei ihm von früher her bekannt gewesen und er habe sie jetzt trotz ihrer Verkleidung wiedererkannt; sie sei ihm vielmehr zum ersten Male begegnet; nur durch ihre für eine Bäuerin auffällig elegante Haltung und durch die Weiße und Kleinheit ihrer nackten Füße sei sie ihm aufgefallen, und er habe allerdings vermuthet, wer sie sei. Er habe aber an ihrer Verhaftung keinen Antheil haben wollen und deshalb seine Vermuthung für sich behalten. Es ist dies nicht der einzige Fall, daß Offiziere und Beamte der neuen Regierung sich durch überkommene Anhänglichkeit an das alte Königshaus zu besonderer Rücksicht für die Herzogin bestimmen ließen. König Louis Philipp selbst hat um diese Zeit Legitimisten, von denen er voraussetzen durfte, daß sie Beziehungen zu der Herzogin unterhielten, den aufrichtigen und dringenden Wunsch ausgesprochen, sie möchten sie zum Verlassen des Landes bewegen, denn wenn sie in die Hände der Behörde falle, so werde dies zu Weiterungen führen, die ihm nicht weniger unangenehm sein würden, als der Herzogin, die dann aber aus politischen Gründen sich nicht würden vermeiden lassen.

In Nantes blieb Marie Karoline einige Tage in einem Frauenkloster, siedelte dann aber in das für sie ausgewählte Haus zweier Fräulein von Guiny über, auf deren Ergebenheit und Verschwiegenheit sie unbedingt zählen konnte. Sie bewohnte eine mit einem besonderen Versteck versehene Dachkammer im dritten Stockwerk und verschwand in diesem Versteck, wenn sie irgend ein verdächtiges Geräusch im Hause hörte oder wenn die Damen auf irgend einen Verdacht oder eine Befürchtung hin die in der Dachkammer angebrachte Klingel in Bewegung setzten, was von allen Stockwerken aus möglich war. Ihre Wohnung kannten nur wenige ihrer Anhänger, und nur einzelne Auserwählte empfing sie zum Besuch. Ihre Beschäftigung bestand darin, daß sie mit den Legitimisten im Lande Verbindungen unterhielt; sie hat in fünf Monaten etwa 900 Briefe geschrieben.

Im Herbst nahm im zweiten Stockwerk desselben Hauses der Advokat Achille Guibourg Wohnung, der bei der Erhebung der Vendée als „Civilkommissar“ der Herzogin gedient hatte und sich vor der Polizei ebenfalls verborgen hielt. Im Jahre 1799 geboren, war er im Jahre 1889 noch am Leben und lebt vielleicht jetzt noch. Er war „der fürstlichen Witwe Freund und wohl mehr als Freund.“

Das Schalten der Herzogin in Frankreich war auch nach ihrer Niederlage eine ernste Gefahr für den Bestand der Regierung Louis Philipps. In demselben Maße, wie die Herzogin auf einen auswärtigen Krieg hoffte, war die Regierung durch einen solchen bedroht, wenn der Herzogin die Aussicht blieb, sich die Minderung der Streitkräfte im Lande, die infolge eines Rheinkrieges nothwendig eintreten mußte, durch einen neuen Aufstand zu nutze zu machen. Thiers, der seit dem Oktober 1832 Minister des Innern war, erkannte, daß Louis Philipp fallen oder die Herzogin in seine Gewalt bekommen mußte, und er betrieb die Nachforschungen mit verdoppeltem Eifer. Längst und schon vor seinem Amtsantritt war die Treue der Anhänger Marie Karolinens auf eine gefährliche Probe gestellt: sie wußten, daß der Lohn, den die Regierung für einen Verrath bezahlen werde, der Wichtigkeit entsprechen müsse, den der Verrath für dieselbe hatte.

Unter den Agenten der Herzogin, die freiwillig oder gegen Bezahlung Aufträge für sie ausführten, befand sich einer, der Deutz hieß. Er stammte aus Köln und war seinem Berufe nach Buchdrucker. Im Judenthum geboren, war er in Rom zur katholischen Kirche übergetreten, und der Papst Gregor XVI. selbst hatte ihn der Herzogin empfohlen. Sie hatte ihn schon im Jahre vorher während ihres Aufenthalts in Italien von Massa aus zu Sendungen verwendet, und auch jetzt, wo er in Madrid und Lissabon weilte, war er in ihren Diensten thätig. Dieser Mann beschloß, die Herzogin zu verrathen, und er hoffte, am besten belohnt und am rücksichtsvollsten behandelt zu werden, wenn er sich mit dem Minister selbst in Verbindung setzte. Er kam im Oktober nach Paris und stellte sich noch dem Vorgänger von Thiers, dem Herrn von Montalivet, vor, der jedoch auf seine andeutenden Anerbietungen nicht einging und wenige Tage darauf sein Amt niederlegte. Deutz wandte sich nun schriftlich an Thiers und versprach, ihm wichtige Enthüllungen zu machen, wenn der Minister sich mit Einbruch der Nacht an einer bestimmten einsamen Stelle der Champs-Elysées einfinden wollte. Thiers kam, in einiger Entfernung von zwei Polizeiagenten begleitet. Er traf niemand. Am folgenden Tage erhielt er einen Brief, worin ein zweites Zusammentreffen vorgeschlagen und gesagt war, er müsse allein kommen. Thiers fand sich nun mit zwei Pistolen in der Tasche allein ein. Deutz trat zu ihm, gab sich zu erkennen und erbot sich, die Ergreifung der Herzogin zu ermöglichen. Thiers beschied ihn dann für den andern Tag zu sich. Der Verräther wies sich aus durch Vorzeigung von 22 Briefen, die ihm von dem Banker der Legitimisten in Paris zur Beförderung an die Herzogin übergeben waren; sie rührten von Legitimisten her und waren mit einer nur durch ein besonderes Verfahren sichtbar werdenden Tinte geschrieben. Der Lohn für den Verrath wurde auf 500 000 Franken festgesetzt. Auf die Bedingung, daß der Name des Verräthers ungenannt bleiben sollte, ging Thiers nicht ein. Deutz mußte sich bequemen, die Thätigkeit der Polizei persönlich zu unterstützen, und die Beamten, die mit ihm zusammenwirkten, wurden angewiesen, ihn nicht aus den Augen zu lassen. Die Regierung vermuthete die Herzogin seit einiger Zeit in Nantes, erhielt aber die Bestätigung dieser Vermuthung erst durch Deutz.

Am 22. Oktober kamen Deutz und der Polizeikommissar Joly in Nantes an. Deutz kannte die Wohnung der Herzogin selbst nicht, und er würde sie auch nicht erfahren haben, wenn er nicht den damaligen Berathern der Dame, den Herren Guibourg und von Mesnard, in längeren Verhandlungen den Beweis geführt hätte, daß er die Herzogin persönlich sprechen müsse. Endlich wurde die Audienz für den 31. Oktober auf 7 Uhr abends festgesetzt. Der Bruder der Damen, bei denen die Herzogin wohnte, führte ihn, ohne ihm den Namen der Straße zu nennen. Er traf in dem Zimmer, in welches man ihn wies, nur den Grafen von Mesnard, und als er diesen nach der Herzogin fragte, trat sie aus einem Nebengelaß mit den Worten: „Hier bin ich, mein lieber Deutz.“ Der Verräther fiel vor ihr nieder, küßte den Saum ihres Kleides und heuchelte Thränen der Rührung. Nach einer fast dreistündigen Unterredung, welche die von Deutz besorgten und noch zu besorgenden Aufträge zum Gegenstande hatte, verließ er sie. Der Polizeibeamte, welcher ihm und seinem Führer ohne des letzteren Wissen gefolgt war, hatte aber in dem Gewirr enger und schlecht beleuchteter Straßen seine Spur verloren; sonst würde die Behörde schon jetzt in das Haus eingedrungen sein. Deutz selbst behauptete, als er sich auf der Polizei wieder einstellte, er könne die Wohnung nicht genau bezeichnen und nicht wiederfinden; ob es nicht genüge, den Marschall Bourmont auszuliefern, dessen Versteck er kenne. Deutz zögerte entweder in einer Anwandlung von Reue, indem er sich scheute, den Verrath wirklich durchzuführen, oder er war seiner Sache noch nicht sicher; vielleicht hatte er keine Gelegenheit genommen, sich das Haus behufs Wiederfindens näher anzusehen, um nicht Verdacht zu erregen; vielleicht war es ihm auch nicht gewiß, ob die Herzogin da, wo er sie getroffen hatte, auch wohne oder nur besuchsweise verweile, denn er hatte sie mit bestaubten Schuhen in das Zimmer treten sehen; sie hatte solche absichtlich getragen, um derartige Zweifel zu erregen. Thiers antwortete durch den damals noch allein üblichen optischen Telegraphen, er wolle über Bourmont nichts erfahren, denn er kaufe niemand, den er erschießen lassen müßte.

Deutz entschloß sich nun, seinen Verrath zu Ende zu führen. Er suchte noch einmal eine Audienz nach, indem er vorgab, er habe in der Aufregung des Wiedersehens eine wichtige Angelegenheit zu berühren vergessen, die sich schriftlich nicht erledigen lasse. Die Herzogin schwankte, ob sie die Audienz gewähren sollte, nicht weil sie ihm mißtraute, sondern weil sie fürchtete, die Polizei, deren Verdacht er erregt haben könnte, würde ihm heimlich folgen und so ihr Versteck erspähen. Doch willigte sie endlich ein und berief ihn auf den 6. November um 4 Uhr nachmittags zu sich. Die Einladung nannte diesmal unvorsichtiger Weise die genaue Adresse, und Deutz theilte sie sofort der Polizei mit. Als er, von der Herzogin empfangen, die Versicherung seiner Ergebenheit erneuerte, wurde ihr ein Brief gebracht. Sie übergab ihn dem Herrn von Mesnard, und dieser überreichte ihr ihn wieder, nachdem er die mit sympathetischer Tinte geschriebenen Schriftzüge lesbar gemacht hatte. Sie las mit lauter Stimme: „Seien Sie auf Ihrer Hut; es verräth Sie jemand, dem Sie Vertrauen schenken.“ Lächelnd auf Deutz blickend, fragte sie: „Sie vielleicht?“

„Wohl möglich,“ antwortete Deutz in denselben Ton.

(Schluß folgt.)


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Blätter und Blüthen.


Vermißten-Liste. Berichten wir zunächst über die infolge unserer Aufrufe Aufgefundenen!

Die Schwester des 20 Jahre lang verschollenen Schmiedes Rudolph Lassotta thut uns in einem Dankesschreiben, aus dem hellste Freude und innigste Dankbarkeit leuchtet, kund, daß es ihr durch die „Gartenlaube“ ermöglicht worden ist, ihren Bruder wiederzufinden.

Einer anderen Schwester, welche ihre beiden Brüder, den früheren Kellner Karl und den ehemaligen Bäcker Theodor Leitig, suchte, konnten wir einen eigenhändig geschriebenen Brief des Bruders Karl aus New-York übermitteln, welcher zugleich über sich und des anderen Bruders Leben in Philadelphia Aufschluß gab.

Frau Sandring erhielt infolge des Aufrufs in der „Gartenlaube“ endlich einen Brief ihres Sohnes aus Hamburg mit der Nachricht, daß es ihm gut ergehe.

Auch die Nachfragen nach Gottlieb Heilmann, Oskar Krause, Louis Donner und Louise Lütt sind erledigt.

Ferner ist es gelungen, die Adresse des Schlossergehilfen Paul Haag, gen. Joseph Paul, welcher in Philadelphia lebt, und die der Gebrüder Schüler durch die „Gartenlaube“ zu ermitteln.

Ueber das Schicksal der drei Brüder Rieger sind zur freudigsten Ueberraschung ihrer Angehörigen endlich wieder Nachrichten eingetroffen, nach denen sich Oswald in St. Louis Mo. (Nordamerika) angesiedelt hat.

Und schließlich hat sich auch der Versicherungsbeamte Gustav Stöckert gefunden und der Maler Josef Endler hat den Seinen aus Trenton im Staate New-Jersey (Nordamerika) beruhigende Nachrichten gegeben.

Indem wir diese erfreulichen Ergebnisse veröffentlichen, wollen wir nicht verfehlen, an dieser Stelle allen denen unsern Dank auszusprechen, welche uns beim Aufsuchen der Verschollenen durch Mitteilungen hilfreich beigestanden haben. Wir lassen die Fortsetzung unserer Vermißten-Liste folgen und geben uns der Hoffnung hin, daß unsere Leser auch dieser ihre Aufmerksamkeit zuwenden werden, damit wir recht bald über weitere günstige Erfolge berichten können.

(Fortsetzung der Vermißten-Liste aus Nr. 33 des Jahrg. 1890.)

225) Eine Schwester sucht ihren Bruder namens Julius Karl Bernhard Ellrich, über den seit seinem letzten Briefe vom 14. April 1873 aus Puerto-Cabello (Venezuela) jede Nachricht fehlt. Ellrich ist am 1. Mai 1834 in Altona geboren und seines Zeichens Schlosser.

226) Von Josef Berling, der am 19. März 1818 zu Würzburg geboren ist, kam im Jahre 1864 die letzte Zuschrift aus München, wo er als Kondukteur der bayerischen Bahn angestellt war. Berling war von Haus aus Gärtner, wurde aber schon in den vierziger Jahren in Italien, nahe bei Palermo, als Bergwerksadministrator angestellt.

227) Der am 10. März 1841 zu Königsberg in Pr. geborene Segelmacher Wilhelm Heinrich Lesser verließ im Jahre 1860 zu Schiff Hamburg, um sich nach England zu begeben, und ist seitdem verschwunden.

228) Otto Korn, Kaufmann, geb. am 15. Juni 1846 in Wohlan, Provinz Schlesien, und erzogen im Potsdamer Militärwaisenhause, schrieb zum letzten Male am 24. Juli 1871 von Hannover aus und hat seit dieser Zeit nichts mehr von sich hören lassen. „Sollte Otto Korn noch am Leben sein, so möge er sich seiner Geschwister erinnern und endlich schreiben! Alle Leser der ‚Gartenlaube‘ aber, welche über den Verbleib des Gesuchten Auskunft zu ertheilen imstande sind, werden herzlich gebeten, recht bald Nachricht zu geben.“

229) Der Schlosser und Büchsenmacher Theodor Wilhelm Horst Walbrül, geb. am 31. Mai 1848 in Weimar, wird von seiner hochbetagten und leidenden Mutter gebeten, wenn möglich zu ihr zurückzukehren und die Hinterlassenschaft seines Vaters in Empfang zu nehmen. Eine vor 5 Jahren an ihn gerichtete Geldsendung nach einem Ort Siebenbürgens gelangte als unbestellbar an die Mutter zurück.

230) Die letzte Nachricht von ihrem Sohne Immanuel Oskar Schwedler erhielt die Mutter aus Gera, wo er im Jahre 1886 drei Tage im Krankenhause lag. Der Vermißte ist am 13. Januar 1861 zu Schönfels bei Zwickau geboren und hat die Tuchmacherei erlernt.

231) Ein bejahrtes Elternpaar verspricht dem Sohne, wenn er zurückkehren wolle, ihm die Mittel zur Reise zu geben und auch ferner für ihn und seine Familie zu sorgen. Der Vermißte, Max Freudenthal, geb. zu Witkowo, Reg.-Bez. Bromberg, am 15. April 1850, ging im Jahre 1868 nach Melbourne (Australien), von wo sein letzter Brief im Jahre 1875 eintraf. Seitdem hat er nichts mehr von sich hören lassen.

232) Ein anderes betagtes, leidendes Elternpaar sucht ebenfalls seinen Sohn, den Steinbrecher und Tagelöhner August Müller, welcher am 3. Aug. 1859 zu Westerburg, Reg.-Bez. Wiesbaden, geboren ist und schon mit 14 Jahren seine Angehörigen verlassen hat.

233) Von dem Bauerngutsbesitzer Johann Wolter, geb. am 4. Juni 1794 zu Karlsbiese, bekamen die Angehörigen im Jahre 1832 die letzte Kunde aus der Danziger Niederung.

234) Seit dem 27. Juni 1881 ist der einzige Sohn seiner Mutter, der Bautischler Johann Friedrich Gustav Krebs, welcher am 11. Aug. 1850 zu Friedrichsbrunnen im Harz geboren wurde, verschollen. Zu dieser Zeit schrieb er noch aus Venloo in Holland, daß er nach Rotterdam gehen wolle.

235) Bereiter Christian Karl Friedrich Dieckmann (auch: Dikemann), geb. zu Schwerin in Mecklenburg am 4. März 1830, verließ mit seiner Frau im Jahre 1850 die Heimath und reiste nach New-York, von wo er 1862 das letzte Mal schrieb. Auch von seiner in Amerika geborenen Tochter Cäcilie traf noch ein unterm 6. Dez. 1864 datirter Brief bei der Schwester des Verschollenen ein. Das damals etwa 13jährige Kind gab als Adresse an: Mr. R. Hunhardt, 45 Exchange-Place, New-York.

236) Georg Albin Denner, geb. am 22. Septbr. 1861 zu Linden bei Römhild (Thüringen), im Februar 1888 noch in Bournemouth (England) als Kellner thätig, wird von seiner tiefbetrübten Mutter um ein Lebenszeichen gebeten.

237) Von dem Gärtner Johann Friedrich Jedro, geb. zu Leipe bei Lübbenau am 13. Aug. 1846, kamen die letzten Nachrichten etwa im Jahre 1879 aus Pommern und Polen.

238) Von seinen bekümmerten Eltern wird gesucht der am 29. Aug. 1859 zu Siebenlehn geborene Brauer Robert Emil Wolf. Er hat von Hamburg noch am 29. November 1885 nach Hause geschrieben, bis zu welcher Zeit er in und bei Hamburg in verschiedenen Brauereien thätig war. Eingezogenen Erkundigungen nach hat sich Wolf erst am 19. Mai 1886 polizeilich in Hamburg abgemeldet.

Immer noch galant. (Zu dem Bilde S. 224 und 225.) Im kleinen Alpenwirthshause, dem höchsten des Thales, sitzen sie beieinander, die Zechgenossen. Wetterharte Kameraden sind es, Bauern und Waldleute, mit rauhgearbeiteten Fäusten und qualmenden Pfeifen. Einer davon, dem die Feder so schalkhaft über dem Hute nickt, macht den Eindruck, als wär’s der Dorflump, so ein Kumpan, wie es deren fast in jeder Gemeinde des Alpenlandes giebt, die sich von Pechkratzen und Wurzelsammeln kümmerlich nähren. Die Einrichtung der Zechstube ist äußerst dürftig; als einziger Schmuck dienen ihr, wie in den Wirthszimmern aller streng katholischen Länder üblich, das Kruzifix in der Ecke und, über dem Ecktisch hängend, die - Embleme des löblichen Brauereigewerbes: Malzschaff, Schöpfer und Malzschaufel. Der vornehmste unter den Zechgenossen ist jedenfalls der alte Forstwart, welcher neben dem Tische steht. Offenbar ist er vor einem Augenblick erst eingetreten, hat sein Gewehr in die Ecke gelehnt und ist. im Begriffe, sich einen Platz in dieser feinen Gesellschaft zu suchen, als die Stubenthür wieder aufgeht und ein paar, stramme Bauernmädchen eintreten, um den Abendtrunk für ihre Familien heimzuholen. Da reißt es den Alten herum, und mit jener Grazie, die ihn vor vierzig Jahren zierte, als er noch der Held des Tanzbodens war, verbeugt er sich vor den Dorfschönen, entbietet ihnen mit ritterlicher Gebärde seinen Gruß, und während der Wirth den Mädchen die Krüge füllt, ergreift der alte Weidmann die Gelegenheit, einige seiner schönsten Redensarten anzubringen. An der Antwort wird es nicht fehlen; das sieht man den schalkhaften Augen und dem lachenden Munde der Mädchen an. Und hernach, wenn sie wieder zur Thüre hinaus geschlüpft sind und mit ihren Krügen die steile Dorfgasse hinaufwandern, werden sie sich mit Hellem Lachen erzählen, wie der alte Schalk schon mit ihren Großmüttern schön gethan habe. Daß er’s immer noch nicht lassen kann! Ja – diese Weißhaarigen sind die Aergsten.

Er aber, der alte Don Juan des Bergwaldes, setzt sich dann an den Tisch zu den andern, lügt ihnen Jagdgeschichten vor und denkt sich dabei: „Sapperment – noch einmal zwanzig Jahr’ alt sein!“

H.
Kleiner Briefkasten.
(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

C. E. 12 in Stettin., Ihre Gedichte sind nicht ganz schlecht und doch auch nicht über Mittelmaß. Da sie noch Gymnasiast sind, so haben sie ja Zeit, auszureifen. Schicken sie uns in zehn Jahren wieder Proben Ihrer Gedichte - wenn Sie bis dahin noch solche machen, - dann läßt sich vielleicht über den Werth Ihrer dichterischen Ader reden! Wenn Sie Ihr Manuskript zurückwünschen, dann geben Sie uns gefälligst Ihre genaue Adresse an.

E. K. in Pittsburg. Sie sind eine „dankbare“ Leserin der „Gartenlaube“, das ist schön von Ihnen; aber, verzeihen Sie, Sie sind keine „aufmerksame“ Leserin! Sonst müßten Sie entdeckt haben, das wir Anfragen ohne Angabe von Namen und Wohnung nicht berücksichtigen. Ob die Behauptung von den 289 Schülerselbstmorden während der Jahre 1883 bis 1889 richtig ist, können wir nicht kontroliren, da uns eine amtliche Statistik darüber nicht bekannt geworden ist. Immerhin ist der Fall in den letzten Jahren leider sehr häufig vorgekommen!

O. K. in Breslau. Das ist menschlich schön gedacht, aber leider in der Form zu unvollkommen, als daß es veröffentlicht werden konnte.

A. I. in Amsterdam. Wie wir es wiederholt an dieser Stelle ausgesprochen haben, können wir unter keinen Umständen von dem Grundsätze abgehen, niemals einen ärztlichen Rath zu ertheilen. - Im übrigen danken wir Ihnen bestens für Ihre Worte, betreffend die litterarische Freibeuterei in Holland. Es hat uns gefreut, zu sehen, daß wir bei dem Kampfe gegen dieses Unwesen auch in Holland Bundesgenossen finden.

Joh. B. in Danzig. Das ist ein guter Gedanke von Ihnen, und wir stimmen Ihnen vollkommen bei. – Bezüglich des Schenkendorf-Denkmals in Tilsit, dessen Beschreibung und Abbildung wir in Nr. 47 vor. Jahrgangs gebracht haben, wäre noch zu bemerken, daß das Postament von Professor Herrmann in Dresden herrührt.

W. L. in Leon. Ihre Angaben sind zu ungenau, als daß wir Ihre Fragen beantworten könnten.

E. F. G. in Brooklyn. Besten Dank für Ihre überaus liebenswürdigen Zeilen, aus denen wir mit Freuden den Beweis entgegennehmen, daß kein Vorurtheil so mächtig ist, daß es nicht schließlich doch vor der Macht der Thatsachen weichen müßte. Wir hoffen, daß es der „Gartenlaube“ auch ferner gelingt, Ihre gute Meinung sich zu erhalten.

Fr. B. in Diedenhofen. Es freut uns, daß Ihnen die Abbildungen von dem Festspiel in der Luisenburg bei Wunsiedel so gut gefallen haben. Wenn Sie sich weiter dafür interessiren, so wenden Sie sich an Herrn G. B. Rauw in Markt-Redwitz, von dem weitere photographische Abbildungen des Festes zu beziehen sind.


  1. Vergl. Nr. 8 dieses Jahrganges.
  2. Derselbe, welcher am 24. August 1883 zu Frohsdorf bei Wien starb.