Die Gartenlaube (1891)/Heft 15
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Nr. 15. | 1891. | |
Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Eine unbedeutende Frau.
Man hatte für Antje das Zimmer neben der Krankenstube der Mutter hergerichtet, dasselbe, in dem ihr Vater einst geschlafen hatte und in dem er gestorben war. Die braune Flügelthür, welche die zwei Gemächer verband, stand offen. Antje winkte der Wirthschafterin, zurückzubleiben, schlich sich über den Teppich bis zu dieser Thür, und dort stand sie und lauschte zu dem Himmelbette hinüber, in dem die Mutter lag; der schwache Schimmer der Nachtlampe ließ sie nur undeutlich die Züge der Schlummernden erkennen. Sie mußte sich zwingen, daß sie nicht hinüber lief und vor dem Bette dort niedersank, daß sie nicht schrie: „Mutter, Mutter, da bin ich ja wieder! Ach, wenn Du wüßtest, wie weh mir geschehen ist, wie weh!“
Sie schluchzte plötzlich auf. Die alte traute Heimath, die Erinnerungen, die so mächtig auf sie eindrangen, die Größe ihres Schmerzes um das, was sie verloren hatte, die Angst um das, was sie noch verlieren sollte, das alles zusammen überwältigte sie. Ein Gefühl grenzenloser Schwäche ergriff sie, sie sank zu Boden und wußte nicht mehr, wie ihr geschah. In halber Bewußtlosigkeit hörte sie das Rütteln des Sturmes an den Läden, das Rauschen des Regens, wie sie es als Kind so oft gehört hatte in ihrem weichen warmen Bettchen, das neben dem der Mutter stand – wie sie es gehört in den ersten schlummerlosen Nächten ihres jungen Mädchendaseins, jenen Frühlingsnächten, da sie meinte, sie könne niemals wieder froh werden, sie vermöge nicht zu leben ohne jenen blasiert kranken Mann, der ihr gesagt: „Ich glaube, Sie könnten mich wieder versöhnen mit dem Dasein –“ in jenen Nächten, wo sie sich auf den Wunsch des Vaters mühte, den Geliebten als ewig verloren zu betrachten, und dann – in den schlummerlosen heiligen Nachtstunden, in denen das Glück ihr den Schlaf raubte, das Glück, ihn zu besitzen.
Es war ihr, als erlebte sie das alles noch einmal. Sie hörte den Pendelschlag der Wanduhr, das dumpfe Pochen der Hämmer drang in ihr Träumen hinein: sie hörte den schweren Athem der Mutter und hielt den ihrigen an, um sie nicht zu wecken. Es war so schön, so wohlig, so geborgen in dem hohen Zimmer.
Auf einmal ist es ihr, als sei es wieder der Vorabend ihres Hochzeitstages. Liegt da nicht ihr Brautkleid? Im Ofen glimmen die Kohlen – es wird schon kalt hier oben in den Bergen – und die Mutter ist eben noch einmal leise in ihre Stube gekommen und hat sie geküßt, und sie hat sich nicht gerührt; sie hat sich schlummernd gestellt, um der Mutter nicht zu zeigen, wie glückselig sie ist darüber, daß sie morgen mit dem fremden Mann fortziehen darf, weit fort von der Heimath. Und die Mutter weint an ihrem Lager und betet; sie hört es so deutlich, aber die Stimme ist klagend und schwach, wie das Stöhnen aus kranker Brust.
„Muß ich denn unglücklich werden, Mutter?“ fragt Antje.
[242] Und dann ist es, als drehe sich alles mit ihr im Kreise, als dringe ein blendender Schein schmerzvoll in ihre Augen. Sie will die Glieder bewegen, doch die sind schwer wie Blei, aber sie fühlt, daß ein starker Arm sie emporrichtet, und hört eine Stimme, die spricht: „Holen Sie Wein, Hanne, sie ist ohnmächtig. Gott gebe, daß sie sich rasch erholt; in einer halben Stunde kann alles vorüber sein, mit der Frau Bergrath geht es zum Sterben.“
Mit einem Male war Antje völlig bei Besinnung. Sie stand aufrecht, ihre Augen blickten ungläubig und verängstigt in das Gesicht des Doktors Maiberg. „Sterben? Meine Mutter – jetzt – jetzt sterben?“ Und sie ging mit schwankenden Schritten in das Sterbezimmer und sank an dem Bette nieder. „Mutter!“ klang es leise und zärtlich, „Mütterchen, ich bin da – Antje ist da – kennst Du mich?“
Die erkaltende Hand erwidert den Druck der ihren nicht mehr, aber die Augen wenden sich langsam ihr zu und ein fast überirdisches Leuchten bricht aus ihnen. Antje setzt sich auf den Rand des Bettes und schlingt die Arme um den Hals der Sterbenden; ihr Kopf neigt sich gegen den grauen Scheitel, ihre Lippen ruhen auf der feuchten Stirn.
„Schlafe, mein Mütterchen,“ sagt sie weich, „ich bleibe bei Dir.“
„Antje,“ flüstert eine versagende Stimme, „mein letzter Wille – Kortmer – mein Wille –“
„Ja, Mutter, alles, wie Du willst!“
„Hab Dank, Kind – mein’ es gut. Immer gerade aus – Antje – bin müde. – Dein Vater ruft mich – ja – ja – ich komme. – – Nicht weinen – Antje – nicht weich sein – mach’ Deine Schultern stark, gutes Kind!“
„Ja, ich will stark sein,“ sagt Antje, und sie hält die Mutter in den Armen, bis sie schläft; es währt nicht lange – ohne Schmerz entschlummert sie. Endlich läßt Antje sanft das geliebte Haupt in die Kissen gleiten und küßt die Augen, die sich nicht mehr öffnen sollen.
Da will sie der vorige Zustand wieder überkommen; aber mit aller Macht kämpft sie dagegen. „Ich will stark sein!“ sagt sie noch einmal und tritt in das Nebenzimmer. Da stehen der alte Kortmer und Maiberg, da stehen die Dienstleute des Hauses, die Männer im ernsten Schweigen und die Mädchen leise weinend.
„Meine Mutter schläft,“ sagt sie: „Gehet zu Bette, Ihr Leute; morgen in aller Frühe soll eins zum Herrn Pastor gehen, ich muß ihn sprechen.“
„Ich will mit Ihnen bei der Frau Bergrath wachen, Frau Jussnitz,“ bittet die alte Wirthschafterin. Aber Antje schüttelt den Kopf. „Du hast Deine Kräfte nöthig, Hanne, geh Du nur auch zur Ruhe; bei meiner Mutter brauche ich niemand.“
Dann kehrt sie in das Sterbezimmer zurück. –
Der Sturm draußen hat ausgetobt; es ist still geworden in der Natur, nur das Werk arbeitet fort und die Flammen des Hochofens werfen ihren Schein auf den Wald und die Berge, und auch hinein in das Gemach der Verstorbenen. Antje hat die Läden zurückgeschlagen; Lichter hat sie nicht angezündet, sie weiß, daß jener Schein von drüben die richtige Todtenleuchte ist für die, die hier liegt, der Schein, der in ihr gesegnetes arbeitsvolles Leben gestrahlt, der zu ihren Liebeswerken geleuchtet, der den Weg der Pflicht erhellt hat, welchen die Todte in seltener Treue gegangen ist.
Und Antje setzt sich an das Bett und hält stille Wacht bei dem treusten selbstlosesten Herzen, das der Mensch besitzt, das, wenn es aufgehört hat zu schlagen, nie ersetzt werden kann – bei der Mutter.
„Mein Mann wird eben nicht kommen können, lieber Kortmer,“
sagte Antje zu dem kleinen Herrn, der ihr seine Verwunderung aussprach, daß der Wagen, den er zur Bahnstation geschickt hatte, zwar mit den zwei alten unverheiratheten Schwestern des verstorbenen Bergraths Frey, aber ohne den Schwiegersohn der Verstorbenen zurückgekehrt war.
„Verehrteste Frau Jussnitz, verzeihen Sie,“ begann der überhöfliche Mann, „von kommen können ist hier keine Rede, sondern von kommen müssen, denn nach dem Willen unserer theuren Heimgegangenen soll das Testament unmittelbar nach dem Begräbniß eröffnet und verlesen werden; ausdrücklich steht da: ‚im Beisein meiner Tochter Anna Jussnitz und deren Ehemann Leo Jussnitz, sowie derjenigen Verwandten, die mir die Ehre des Trauergeleites zu geben gekommen sind‘. Also –“
Antje stand in dem kleinen Privatarbeitszimmer ihres Vaters. Es lag nach dem Hüttenplatz hinaus und war einfach möblirt. An der Längswand ein großes abgenutztes Ledersofa, über dem ein Regulator seinen Pendel schwang; ein massiver Arbeitstisch von Mahagoni am Fenster, auf dem Bücher, Papiere, Erzstückchen, Baupläne u. s. w. in peinlichster Ordnung lagen und standen.
Die Mitte der Platte nahm ein gewaltiges Tintenfaß aus Gußeisen ein; Antje kannte es, sie hatte den Augenblick genau beschreiben können, als der Vater es einweihte. Es stellte eine Lokomotive vor, in deren Kessel sich die schwarze Flüssigkeit befand. Die Frau Bergrath hatte es als Anspielung auf den Fabrikationszweig ihres Mannes – Eisenbahnschienen – anfertigen lassen und war sehr stolz auf diese Erfindung. –
Hinter diesem eigenartigen Schreibzeug stand die Photographie des Herrn Frey.
Antjes traurige Augen irrten über diese altvertrauten Gegenstände und um ihren Mund zuckte es. Sie dachte daran, wie sie sich einmal an einem bangen Tage leise in dies Zimmer geschlichen, ihre Arme um den Hals des Vaters geschlungen, ihr thränenbenetztes Gesicht an seine Wange geschmiegt und gebeten hatte: „Vater, Vater, gieb ihn mir, laß mich nicht unglücklich werden!“
Und er hatte geantwortet: „Anna, Dein starkes Wollen, Dein klares Urtheil haben sich verirrt; ich kann mir den Mann nicht als Deinen Lebensgefährten vorstellen; – Du wirst unglücklich werden, Kind.“
Aber sie hatte weiter gebeten. Wann hätte auch eine starke Leidenschaft je auf Vernunftgründe gehört! Sie war nicht anders als andere. Wer noch überlegt – liebt der wirklich?
Sie hatte weiter gebeten, sie hatte auf den Knieen gelegen vor dem treuen Warner und gerufen: „Sage ‚ja!‘ Vater, ich will tausendmal lieber unglücklich werden an seiner Seite als ohne ihn leben!“
Da hatte er nachgegeben. „Aber klage mir niemals, wenn Du enttäuscht wirst, klage nur mir nicht!“
Und Antje hatte Wort gehalten. Sie war still gewesen, als sie es inne wurde: „Du hast Dich getäuscht – er findet sich in Dir getäuscht.“
Sie wollte nichts weiter als ihre Pflicht thun, sie wollte Leo durch ihr Beispiel zwingen, auch die seinige zu thun, wollte sich begnügen mit dem Bewußtsein, neben ihm gehen zu dürfen, wenn auch unbeachtet, um des Kindes willen, in der Hoffnung, daß es noch einmal wieder besser werde – da – da sagte er ihr, sie sei die Kette, die ihn fessele, die ihn nicht emporsteigen lasse in die sonnige Höhe der Kunst, und da war es aus mit ihrem Wollen, mit ihrer Kraft, mit allem.
„Er muß kommen!“ sagte Kortmer noch einmal, „Sie müssen ein dringendes Telegramm an ihn senden, Frau Jussnitz.“
„Nein!“ sagte sie, den Kopf erhebend, „er kann nicht kommen.“
„Aber, lieber Gott, beste liebste Frau Antje, ist er denn krank?“
„Ich glaube nicht.“
„Oder ist er so erbittert auf die Verstorbene, daß er nicht an ihren Sarg treten will? Oder – sollten Sie einen Zwiespalt schwerwiegender Art mit ihm –“
Die junge Frau zuckte zusammen, die Hände sanken ihr schlaff herunter und mit entsetzten Augen forschte sie in dem Gesicht des Mannes. Ahnte er, wußte er gar schon das Schreckliche?
Er stand vor ihr mit bekümmerter Miene. „Seien Sie nicht böse, liebe Frau Antje,“ bat er, „es ist ja ein undenkbarer Fall, natürlich. Aber, was ihn auch fern halten könnte, es muß aus dem Wege geschafft werden, denn das Testament verlangt seine Gegenwart.“
Sie that ihm so leid; er wußte freilich, daß nicht alles stimmte, wußte es durch die Mutter, die ihm ihr sorgenvolles Herz geöffnet hatte; aber das von dem Zwiespalt zwischen dem Ehepaar war ihm doch wider Willen entschlüpft.
Nun hatte er ihr weh gethan, indem er wahrscheinlich nicht allzuweit vom Ziele traf.
[243] „Telegraphiren Sie, lieber Kortmer,“ sagte Antje endlich.
Er ging aus dem Zimmer, um die Depesche aufzusetzen. Sie aber sank in den alten Arbeitssessel vor dem Schreibtisch nieder und schlug die Hände vor das Gesicht. Es war so furchtbar schwer: wie sollte sie sein Ausbleiben vor den Leuten entschuldigen? Er durfte ja nicht kommen, er konnte nicht! Wie war der Schmerz um die Verstorbene so lind, so wohlthuend gegen den Schmerz, welchen sie vor aller Welt verbergen mußte!
Ein leises Pochen an der Thür ließ sie zusammenschrecken – wenn er dennoch käme? Nein, es war nur Hanne, die Wirthschafterin; sie hatte einen langen Zettel in der Hand, auf dem von der Hand der verstorbenen Frau die bestimmtesten Anweisungen für ihr Begräbniß gegeben waren.
Antje mußte nun vom Boden in den Keller, mußte Truhen und Schränke aufschließen; es war für alles gesorgt, was zu solch trauriger Feierlichkeit gehört. Sogar die Trauerschürzen für die Dienstmädchen, die Kreppbinden, welche die Herren des Kontors um die Hüte tragen sollten, alles lag bereit, „denn“ – so hieß es aus dem Zettel, „ich weiß, wie schwer es ist, wenn man mit trauerndem Herzen für solch Zeug zu sorgen hat. Hab’s an mir erfahren, als mein lieber Mann starb; möcht’ es meiner Antje leichter machen.“
Wie eine Mutter so rührend sorgt und denkt, noch über den Tod hinaus!
Die Brust der jungen Frau hob ein Schluchzen, als sie die Worte las.
„Ach Gott, Frau Jussnitz,“ seufzte die alte Wirthschafterin, „wie soll’s nur werden in diesem Hause ohne die Frau Bergrath? So eine Seele wie Ihre Mutter, die giebt’s nicht zum zweiten Male auf dieser Welt. Wenn Sie nur hier bleiben könnten, Frau Jussnitz!“
Antje schwieg; sie wußte ja nicht einmal, ob sie hier bleiben durfte in dem verwaisten großen Hause. Sie hatte keine Ahnung, wie sich ihr Leben gestalten würde, nur das eine wußte sie, daß sie überall allein stehen würde in der Welt, sie und ihr Kind.
Antje ging endlich nach dem großen Saal des Erdgeschosses, in dem die Mutter aufgebahrt lag. Dieser Raum hatte Flügelthüren, welche nach der Gartenterrasse führten, und schloß sich an die sogenannte Besuchsstube an, auf die das Wohnzimmer der Frau Bergrath folgte, dessen Fenster die Aussicht nach den großen rauchgefärbten Gebäuden der Hütte und den Häuserchen der Arbeiter gestatteten. Eine Reihe alter schöner Linden stand vor diesen Fenstern, wie die verkörperte Poesie inmitten der Prosa dieser Welt der Arbeit, des eisernen Fleißes.
In dem Saale war Hanne beschäftigt, Unmassen von Kränzen zu Füßen der Todten zu ordnen. Es gab kein Haus in der ganzen Umgegend, das nicht wenigstens ein kunstloses Gewinde aus Tannengrün gespendet hätte, und immer kamen noch mehr. Der Sarg war umgeben von der Orangerie, die der Stolz der Verstorbenen gewesen; ganze Büschel weißer Kerzen leuchteten aus dem dunklen Grün.
Zuweilen trat die eine oder andere der Frauen der Arbeiter mit ehrfürchtigen leisen Schritten über die Schwelle, ein Kind mit erschreckten ängstlichen Augen an der Hand, um sich die Todte noch einmal anzusehen, in das Taschentuch zu schluchzen und Antje die Hand zu drücken. Diese ließ es stumpf geschehen in ihrem starren Schmerz.
„Weinen Sie doch, junge Frau,“ sprach ein runzliges Mütterchen zu ihr, „es wird Ihnen leichter ums Herz; so ein Todtes ohne Thränen, das ist nicht gut!“
Sie nickte der Alten zu, hatte aber gar nicht verstanden, was diese von ihr gewollt hatte. Dann ging sie rasch ins Besuchszimmer.
„Was soll denn das?“ fragte sie und deutete auf einen schwarz verhangenen Tisch, der ein Tintenfaß und zwei silberne Armleuchter trug, während eine doppelte Reihe Stühle ihm gegenüber stand.
„Die Frau Bergrath wollte es so,“ antwortete Hanne, die eben schwarze Kreppschleifen über den Bildern von Antjes Eltern befestigte. „Haben Sie es denn nicht gelesen, Frau Jussnitz? Hier soll doch nach dem Begräbniß das Testament eröffnet werden, und auf den beiden vordersten Stühlen sollen Sie und Herr Jussnitz sitzen.“
Antje wandte sich rasch um und kehrte in den Saal zurück. Mit gefalteten Händen trat sie zu dem Sarge.
„Gottlob,“ flüsterte sie, „Du brauchst es nicht zu sehen, wie ich dort sitzen werde, so allein – so ganz allein!“
Indessen waltete Hilde von Zweidorf in der Kinderstube. Die Kleine mochte sich erkältet haben auf der Reise; sie weinte viel und verlangte nach der Mutter. Hilde wußte, daß die junge Frau über Gebühr in Anspruch genommen war durch die Vorbereitungen, die ja nun einmal unumgänglich nöthig sind bei solch traurigen Ereignissen, wie es ein Begräbniß ist. Sie versuchte daher nach Kräften, das Kind zu beruhigen, es in den Schlaf zu lullen, es lachen zu machen. Vergebens.
Antje war einige Male hereingekommen in ihrem düsteren Trauerkleide, mit dem blassen vergrämten Gesicht, und da hatte das Kind hellauf geweint vor Schreck; es fürchtete sich vor dem schwarzen Gewand.
Endlich, gegen Abend des zweiten Tages, ließ Hilde, erschöpft und solcher Anstrengungen ungewohnt, Herrn Dokor Maiberg bitten, sich die Kleine anzusehen.
Er trat in das helle, altmodisch behagliche Zimmer. Hilde saß, das Kind auf dem Schoße, vor dem Tisch und baute mit unermüdlicher Geduld die Holzklötzchen auf, die der kleine Eigensinn beharrlich wieder umwarf. „Die Mama kommen!“ war seine ewige Forderung, „aber nicht die schwarze Mama!“
„Wahrscheinlich irgend eine Kinderkrankheit im Anzuge,“ sagte er und legte die Hand auf das heiße Köpfchen, „vorläufig läßt sich nichts weiter thun, als in Geduld abwarten, gnädiges Fräulein. Soll ich Ihnen nicht lieber noch irgend eine Hilfe schaffen?“
„Danke!“ lehnte sie kurz ab.
„Sie scheinen selbst leidend?“
„Durchaus nicht! Aber bitte, sagen Sie mir, Herr Doktor –“ sie stockte und ward roth. „Sagen Sie mir,“ begann sie wieder, „weshalb kommt Herr Jussnitz nicht?“
„Wissen Sie es nicht?“ fragte er scharf zurück. Aber im nächsten Augenblick bereute er es schon. Sie hatte ihn angesehen, so hilflos, so jammervoll, und das stolze Köpfchen hatte sich gesenkt, tief gesenkt; wie gebrochen saß sie da. Mit erschreckender Gewißheit überkam es ihn, daß irgend etwas Entscheidendes in Sibyllenburg geschehen sein müsse. Er griff nach ihrer Hand und wollte sprechen.
„Lassen Sie das,“ sagte sie schroff und erhob sich. Das Kind auf dem Arm, das in Geschrei ausbrach, weil es sein Spielzeug nicht mehr hatte, begann sie im Zimmer auf und ab zu gehen, nicht imstande, die Kleine zu beruhigen, nicht imstande, das eigene Schluchzen zurückzudrängen.
Er trat hinzu und nahm ihr die ungebärdige kleine Last ab. Und sie floh aus dem Zimmer, die Treppe hinunter, durch den Flur.
Sie sah nicht, daß Antje dort mit der Wirthschafterin vor dem großen Leinenschranke stand, sie hatte nur den einen Gedanken – hinaus, die brennende Scham zu verstecken, nicht wieder zu kommen, nie!
Der Wind riß ihr die schwere Hausthür aus der Hand; sie ließ sie offen und stürzte die Stufen hinab, und dann blieb sie plötzlich stehen und klammerte sich an das eiserne Geländer in jähem Schrecken; dort fuhr ein Wagen an, aus dem sich eine geschmeidige Männergestalt schwang.
Es war ihr, als müsse die Erde sie verschlingen, – es war Jussnitz.
Sie sah, wie Antje ihm entgegenschritt; sah beim Schein der Laterne, wie das Auge der jungen Frau sie suchte, wie dieser Blick vorwurfsvoll fragte: „Nicht so lange kannst Du Dich zügeln? Nicht die Gegenwart der Todten unter diesem Dache hält Dich ab, ihm entgegen zu eilen?“
Sie konnte ja nicht anders denken, die Frau dort, als daß sie, Hilde, ihm entgegengestürzt sei in dem alles vergessenden Jubel des Wiedersehens, der Liebe!
Sie hatte kein Tuch um, keinen Hut auf; sie konnte nicht sagen: „Ich suchte kalte herbe Luft, ich hätte ersticken müssen da droben!“
Zitternd wie eine Schuldbeladene stand sie da.
[244] „Wollen Sie nicht herein kommen, Hilde? Sie werden sich erkälten in dem scharfen Winde,“ erklang jetzt Antjes Stimme völlig ruhig.
Und sie kam.
Im Flur stand Jussnitz mit Kortmer. Hilde ging mit stolzerhobenem Haupte an ihnen vorüber der Treppe zu.
Leo verbeugte sich artig und förmlich gegen das Mädchen; aber sie erwiderte den Gruß nicht, sie stieg Schritt für Schritt die Treppe empor und ging langsam den Gang entlang. Droben in der Stube angekommen, sagte sie zu Doktor Maiberg, der geduldig neben dem Bettchen des Kindes saß: „Gehen Sie, ich bitte Sie dringend, ich möchte allein sein.“
„Und wenn ich das angesichts Ihrer hochgradigen Erregung nicht thun will?“
„Sie werden es thun – Jussnitz ist soeben angekommen.“
Er sah sie fast mitleidig an. „Sie sollten sich nicht so hinreißen lassen, Fräulein Hilde,“ sagte er im Hinausgehen mit verdüsterter Miene.
Hinter ihm ward die Thür verschlossen. Dann hörte er ein Weinen, ein bitterliches Weinen, das offenbar mit aller Mühe unterdrückt werden sollte und doch so ungestüm hervorbrach. Und unter diesem Schluchzen, in welches das geängstigte Kind mit einstimmte, rang sich ein heißes Gebet von ihren Lippen: „Laß sie sich finden im Angesicht der Todten! Laß die Spuren meiner Tritte verwehen auf dem Lebensweg jener beiden, lieber Gott, ich bitte Dich darum – erhöre mich oder laß mich sterben!“
Der Außenstehende vernahm nur einige Worte davon; kopfschüttelnd ging er hinunter. Er fand Jussnitz allein im Wohnzimmer; die Wirthschafterin deckte im Verein mit einer Magd den Theetisch nebenan in der Eßstube.
„Grüß Gott, Leo!“ sagte Maiberg.
Jussnitz schnellte förmlich empor; seine Augen erweiterten sich, aber er fand kein Wort. Der andere stand schweigend vor ihm.
„Wie kommst Du hierher?“ fragte Jussnitz heiser.
„Auf Wunsch Deiner Frau!“
Er lachte kurz auf. „Allerdings, das hätte ich mir sagen können!“
„Das hättest Du, Leo?“
„Ja freilich, mitunter hat man – denkt man an das Nächstliegende nicht,“ bemerkte Jussnitz mit eigenthümlicher Betonung.
Ueber Maibergs Gesicht zuckte ein flüchtiges Lächeln und er sah plötzlich weniger düster aus.
Dann traten die beiden alten Damen ein, die Schwestern des Bergraths, die Wirthschafterin folgte und nöthigte die Herrschaften ins Eßzimmer. Frau Jussnitz lasse um Entschuldigung bitten, wenn sie bei Tische nicht zugegen sei; sie habe noch so viel zu besorgen.
Es war so glaubhaft, und nur der alte Kortmer wußte, daß sie unthätig droben weilte in ihrem Mädchenstübchen; aber wie groß ihr Kummer war, das ahnte der alte Herr doch nicht. Sie ging beständig auf und ab wie ein Mensch, der die Beute vollster Verzweiflung ist.
Ein einziges Licht brannte in dem Raume und ließ zur Noth die Möbel, die altmodische Tapete und die niedrige getäfelte Decke erkennen. Das duftige weiße Himmelbett, in dem sie ihre Jugendträume geträumt hatte, hob sich fast gespensterhaft aus der dämmernden Tiefe.
Antje hatte einmal etwas vom „zweiten Gesicht“ gehört, und es war ihr, als liege dort in den Kissen ein blondes verweintes Haupt, als rängen sich zwei Hände in heißem Schmerz ineinander – was ist nur aus Dir geworden, Anna Frey?
Sie lieft bis zur Thür hinüber; sie wollte sich ihr Kind holen, das Einzige, was sie noch besaß auf der Welt. Wie kam jene andere dazu, es auch nur eine Minute pflegen zu dürfen? Aber die Hände sanken ihr vom Drücker – sie wollte ihn nicht treffen dort drüben; den Anblick hätte sie nicht ertragen, jene beiden zusammen – am Bette Leonies.
Mein Gott, er war ja nur gekommen, weil Hilde hier war! Wieder sah sie im Geiste die leichte Gestalt die Treppe hinunter, durch den Vorsaal fliegen, ihm entgegen – und sie zwang sich, fern zu bleiben von der Kleinen; zum ersten Male sagte sie ihr nicht Gute Nacht! Sie flüchtete auf das Sofa und barg den Kopf in den Kissen, damit sie nur nicht seinen Schritt vorübergehen hören müsse nach der Kinderstube; sie war in dieser Stunde nichts weiter als das leidenschaftlich liebende Weib, welches den letzten endgültigen Beweis zu erhalten fürchtet, daß sie den Geliebten verloren hat.
Endlich schrak sie empor und lauschte, mit fliegendem Athem, die Hand an der pochenden Schläfe. Es erklangen Stimmen draußen, die Leos und Maibergs; Antje hörte, wie sich die Herren Gute Nacht wünschten. Auch die Stimme Hannes scholl herüber:
„Herr Jussnitz,“ sagte sie, „ich habe Ihnen Ihr altes Zimmer wiedergegeben, wenn’s Ihnen so recht ist; die gnädige Frau meinte – –“
Seine Antwort drang nicht bis zu ihr, er hatte sich mit raschen Schritten entfernt.
Antje athmete auf, und dann brach ihr eine wahre Thränenfluth aus den Augen. – Mein Gott, was wollte sie denn? Sie war ja auf dem Punkt gewesen, zu vergessen, daß er sie seine Kette genannt hatte, daß sie ihn freigeben mußte!
Das Begräbniß war vorüber.
Vom Herrschaftshause, quer über den mit schwarzem Staube bedeckten Platz, den auf einer Seite die Wohnungen der Arbeiter, auf der andern die Hüttengebäude begrenzten, hatte man den Leichenweg mit dick verstreutem weißen Sande und Tannenzweigen angezeigt. Dieser geschmückte Pfad wand sich längs des rauschenden Flusses, der sonst die heute in feierlicher Stille ruhenden großen Hämmer trieb, hinab durch das Dorf bis zu dem kleinen Friedhof.
Vor dem Gasthof „Zur grünen Tanne“ in Oberrode stand eine Menge Wagen; in der großen Wirthsstube saßen die Herrschaften, die gekommen waren, um der überall verehrten Frau das letzte Geleit zu geben, die aber dem Hause doch nicht so nahe standen, um auf dessen Gastfreundschaft heute rechnen zu können. Es waren Forstbeamte, Fabrik- und Grubenbesitzer, Gutsherren, Geschäftsfreunde. Auch die gastliche Pfarre war in Anspruch genommen durch Leidtragende. Alle Welt wußte, daß nach dem Begräbniß das Testament verlesen werden sollte, und alle Welt war neugierig auf die Lösung, wer nun dieses große Besitzthum erhalten würde.
In der „Grünen Tanne“ ward besonders lebhaft verhandelt. Der eine behauptete, „Gottessegen“ werde nun wohl Aktiengesellschaft werden und der Herr Schwiegersohn allenfalls einer der Hauptaktionäre bleiben.
Ein Zweiter wollte wissen, daß die Bergräthin nie eine Freundin von Aktienunternehmungen gewesen sei.
Der Dritte erklärte mit Bestimmtheit, die Tochter werde mit einem ansehnlichen Kapital abgefunden und der Ferdinand Frey bekomme die Hütte, natürlich gegen Vergütung an die Jussnitzens.
„Wer ist der Ferdinand?“
„Nun, der Frey, der beim Bergamt in H. angestellt ist. – Sie kennen doch den Frey?“
„Ja, natürlich!“
„Das wäre aber ungerecht gegen die Tochter!“
„Du lieber Gott, die hat wahrhaftig genug!“
„Na, Na! Der Herr Schwiegersohn wird’s schon klein kriegen, und das hat die alte Bergräthin genau gewußt, die hörte das Gras wachsen. Herr Gott, war das eine Resolute; paßt nur mal auf, die hat da ganz was Besonderes ausgedacht!“
Und in dem Trauerhause fanden sich just die paar Menschen zusammen, die der Eröffnung des letzten Willens der „resoluten Frau“ beiwohnen sollten. – Durch die Fenster des Zimmers schaute ein trüber regnerischer Nachmittag; es roch betäubend nach Cypressen, Wachholder und Tuberosen. Man stand flüsternd bei einander, der Vetter, Ferdinand Frey, ein junger Mann mit brünettem gewinnenden Gesicht; die alten Schwestern, die sich an der Hand hielten in banger Erwartung, ob sich ihr Los erträglich gestalten würde; der Prediger, der Notar, Herr Kortmer und – Jussnitz.
Antje fehlte noch, man wartete auf sie. Endlich erschien sie, blaß, mit ihrem schlichten gescheitelten Haar, dem düstern Trauergewande und den im Leid fast vergangenen Augen. Der alte Notar ging ihr entgegen und geleitete sie zu ihrem Platz, wo sie sich sofort niedersetzte. Den Blick gesenkt, die Hände über einander gelegt, saß sie da, neben ihr Leo, hinter ihrem Stuhl Ferdinand Frey, den die Eltern ihr einst als Gatten bestimmt hatten.
(Schluß.)
Als Deutz sich entfernt hatte, unterhielt sich die Herzogin im Zimmer der Fräulein von Guiny im Kreise der wenigen Herren und Damen, für die sie in der Regel allein zu sprechen war. Zufällig trat Guibourg ans Fenster; mit Schrecken nahm er wahr, wie ein Bataillon Infanterie möglichst geräuschlos auf das Haus zuschritt und es rings umstellte. Er verständigte die Anwesenden in aller Eile, und nun wurde von der Herzogin, dem Fräulein Stylite von Kersabiec, die ihr seit längerer Zeit Gesellschaft leistete, und den Herren Guibourg und von Mesnard das oben bereits erwähnte Versteck aufgesucht. Es bestand in einer Nische, welche sich in der Mauer hinter einem Kamin befand. Der Hintergrund des Kamins war durch eine große eiserne Platte abgeschlossen, und wer den Kamin betrachtete, konnte nicht annehmen, daß die Platte einen anderen Zweck habe als den, die Mauer vor der unmittelbaren Berührung durch das Kaminfeuer zu schützen. In Wirklichkeit war die Platte die Thür zu jener Nische. Diese war nach Guibourgs Angaben an dem einen Ende etwa 50 cm, an dem anderen 20 bis 30 cm tief, einen Meter breit und der schrägen Richtung des unmittelbar darüber befindlichen Schieferdaches entsprechend an der einen Seite höher als an der anderen; an der höchsten Stelle konnte ein Mann mittlerer Größe mit Mühe aufrecht stehen, und zwar nur, wenn er den Kopf zwischen die Dachsparren hielt. Die Tiefe der Nische war so gering, damit es scheinen sollte, als wäre der ganze Raum hinter der Platte nur durch die Mauer ausgefüllt, die an dieser Stelle zugleich die Außenmauer des Hauses war; niemand konnte hier eine Zufluchtsstätte vermuthen. Die genannten vier Personen nahmen diesen Raum, über die Feuerstelle des ungeheizten Kamins hinwegsteigend, in einer bereits vorher festgestellten, ihrer Körpergröße angemessenen Ordnung ein; die Herzogin stand an der niedrigsten Stelle. Kaum hatte die Platte, die von außen und von innen zu öffnen war, sich hinter ihnen geschlossen, da betraten Polizeibeamte und Soldaten auch diese Dachkammer, wie sie in alle Räume des Hauses eindrangen.
Die vom Präfekten und Kommissar Joly geleitete Haussuchung wurde mit großem Eifer betrieben. Die Damen von Guiny spielten mit Geistesgegenwart die Unbefangenen und verbargen ihre Erregung, da sie sich eben zum Essen niedersetzten, hinter angeblicher Eßlust. Die Köchin, welche man sofort auf die Polizei führte, behauptete, nichts zu wissen und nichts aussagen zu können, und blieb standhaft, auch als man eine Summe, die auf 200 000 Franken angegeben wird, in Goldstücken verlockend vor ihr aufzählte. Daß man die Herzogin nicht fand, überraschte die leitenden Beamten, entmuthigte sie jedoch nicht. Sie ließen, ehe sie sich spät abends entfernten, in jedem Stockwerk Soldaten und Polizisten zurück. Zwei Gendarmen, die in der Dachkammer blieben, zündeten im Kamin ein Feuer an, und nun wurde die Platte auf beiden Seiten glühend. Wiederholt geriethen die Kleider der Eingeschlossenen in Flammen und wurden nur mit genauer Noth gelöscht. Sie selbst erhielten Brandwunden. So verging die Nacht. Am Morgen wurden die Nachforschungen im ganzen Hause fortgesetzt. Arbeiter mit Hämmern, Hacken und Eisenstangen hoben Dielen aus und schlugen Wände ein. Die Nische blieb unentdeckt, obwohl prüfende Hammerschläge auch gegen sie geführt wurden. Nachdem das Feuer erloschen war, heizten die Gendarmen zum zweiten Mal und mehr als am Abend vorher. Obgleich das schadhafte Schieferdach etwas Luftzug eindringen ließ, war die Gefahr, daß die Eingeschlossenen in der glühenden und verdorbenen Luft erstickten, ebenso groß wie die, daß sie bei lebendigem Leibe verbrannten. Die Lage wurde unerträglich, und die Herzogin befahl, die Platte zu öffnen; diese war durch die Gluth ausgedehnt und klemmte in ihrem Rahmen; um sie aufzustoßen, mußten die Herren Fußstöße anwenden. Die Gendarmen fragten: „Wer ist da?“ Man antwortete: „Gefangene, die sich ergeben“. Die Gendarmen beseitigten das Feuer und halfen den Armen, wieder ans Tageslicht zu kommen. Diese hatten Unbeschreibliches erduldet. In einem Raume, der kaum die Größe eines gewöhnlichen Kleiderschrankes hatte, waren sie unter den erschwerendsten Umständen siebzehn Stunden zusammengepfercht gewesen!
„Ich bin die Herzogin von Berry,“ sagte Marie Karoline hervortretend; „Sie sind Militärs und Franzosen, und ich vertraue mich Ihrer Ehre an.“ Der General von Dermoncourt, den man herbeigerufen, führte die Erschöpfte zu einem Stuhl und ließ ihr ein Glas Wasser reichen. Die Mutter Heinrichs V. war in der Gewalt Louis Philipps. Man bewachte sie und Fräulein von Kersabiec zwei Tage im Schlosse der Stadt und führte sie dann zu Schiff die Loire abwärts über das Meer in die Mündung der Gironde bis zur Festung Blaye, wo sie am 15. November ankam. Die Citadelle von Blaye wurde ihr als Aufenthaltsort angewiesen.
Deutz erhielt den Lohn für seinen Verrath nunmehr ausgezahlt. Man überreichte ihm die beiden Packete, welche die Banknoten enthielten, mittels – einer Feuerzange. Er starb bald darauf, nachdem er sein Geld in ausschweifendstem Genusse verschwendet hatte.
Die Papiere der Herzogin wurden nach Paris geschickt. Einen Theil davon verbrannte Thiers in Berryers Gegenwart; einige Briefe scheinen in König Louis Philipps Hände gekommen zu sein, namentlich diejenigen, welche für die Könige von Holland und Sardinien Belastendes enthielten. Die Begleiter der Herzogin und einige andere damals ebenfalls verhaftete Personen, welche ihr Dienste geleistet hatten, wurden vor Gericht gestellt und meist freigesprochen; die Verurtheilten fanden baldige Begnadigung.
Die Frage war nun, was mit der Herzogin selbst geschehen sollte.
„Glauben Sie mir, man wird verlegener sein als ich,“ hatte die fürstliche Gefangene in Hinblick auf die Regierung zu einem dienstthuenden Offizier gesagt, als sie in Nantes zu Schiff ging, und in der That war die Verlegenheit in Paris groß genug. Am liebsten hätte man die Gefangene sofort über die Grenze gebracht, aber man meinte, sich an die gesetzlichen Vorschriften halten zu müssen und davon nur mit Genehmigung der beiden Kammern abweichen zu dürfen. Schon am Tage nach der Verhaftung wollten die zuständigen Beamten die Gefangene dem von den Gesetzen geforderten Verhör unterziehen. Sie wurden daran durch die vom Könige und vom Minister Thiers unterzeichnete Ankündigung verhindert, daß ein besonderer, diesen Fall ordnender Gesetzentwurf zu verfassungsmäßiger Erledigung an die Kammern gehen werde. Die Feinde der Regierung verlangten ein in Paris durchzuführendes Gerichtsverfahren; von den Aufregungen und Zwischenfällen, die damit nothwendig verbunden gewesen wären, versprachen sie sich viel, vielleicht den Sturz der Regierung. Gerade deshalb wußte diese es durchzusetzen, daß die ihr ergebene Mehrheit in den Vertretungskörpern sie ermächtigte, mit der Herzogin nach eigenem Ermessen und ohne Eingreifen der Gerichte zu verfahren. Die Regierung hatte nun, durch Kammerbeschlüsse gedeckt, freie Hand, aber sie erhielt diese Ermächtigung erst im Januar 1833, und vorläufig hatte sie dafür zu sorgen, daß die Herzogin in sicherer und doch rücksichtsvoller Haft gehalten wurde.
Der Gefangenen waren im Dienstgebäude des Gouverneurs von Blaye mehrere Zimmer eingeräumt, auch ein Garten stand zu ihrer Verfügung. Thiers selbst hatte gleich nach der Verhaftung angeordnet, daß ihr im Punkte der Verpflegung und materiellen Behaglichkeit kein Wunsch versagt werden sollte. Für die Möblirung ihrer Zimmer und derjenigen ihrer Begleitung und Bedienung wurden sofort 3000 Franken verausgabt. Man schaffte ein Klavier und sogar einen Schoßhund und einen Papagei für sie an. Die Küche wurde auf dem Fuße einer fürstlichen Hofküche geführt. Daß die legitimistischen Zeitungen gleichwohl über Bedrückungen und Entbehrungen klagten, denen die erlauchte Gefangene ausgesetzt sei, und daß diese Klagen Glauben fanden, konnte die Regierung natürlich nicht hindern. Ein ungenannter Anhänger der Herzogin sandte eine wollene Decke für sie ein, und auf einem daran befestigten Zettel standen die Worte: „Ihre Hoheit möge die erstarrten Glieder damit wärmen.“ Ein andermal kam ein Paar dicker, mit Nägeln beschlagener Schuhe und dazu die Notiz: „Um Madame vor dem feuchten Boden ihres Kerkers zu schützen.“
[247] Zur Gesellschaft blieben der Herzogin anfangs der Graf von Mesnard und Fräulein von Kersabiec beigegeben, die mit ihr verhaftet worden waren. Diese beiden Personen wurden zu Ende des Jahres 1832, als die Gerichte sie reklamirten, durch Herrn von Brissac und die Gräfin von Hautefort ersetzt, die der legitimistischen Partei angehörten und sich zu diesem Dienst freiwillig erboten hatten. Zu ihnen gesellten sich noch zwei namhafte Aerzte, die Doktoren Deneux und Ménière. Die Niedergeschlagenheit, welche die Herzogin anfangs zeigte, verlor sich bald, und alle fünf Personen fanden sich in die Beschränkungen, welche selbst die mildeste Haft auferlegt, mit gutem Humor. Wie wir aus dem Tagebuche Ménières wissen, vereinigten sie sich häufig zu heiterer Gesellschaft und waren zuweilen sogar recht übermüthig.
Der geplagteste Mensch in der Citadelle war offenbar der Gouverneur. Kurze Zeit versah der Oberst Chousserie diesen Posten; dann trat der General Bugeaud an seine Stelle, derselbe, der nachher infolge seiner Siege in Algier Marschall von Frankreich wurde. Bugeaud brachte seine Gemahlin und seine beiden Töchter mit, und allmählich gelang es ihm, zu der Gefangenen erträgliche und selbst freundschaflliche Beziehungen herzustellen. Er hatte das Amt, das die Legitimisten und die Republikaner voll Hohn und Grimm das eines Kerkermeisters nannten, mit Widerstreben übernommen, und die Herzogin ließ ihm, im Gegensatz zu jenen beiden ihm verfeindeten Parteien, damals und noch nach Jahren die Gerechtigkeit widerfahren, anzuerkennen, daß er ihr gegenüber alle Rücksichten genommen habe, welche sich mit seinen Pflichten gegen die Regierung vertrugen. Erst seit der Veröffentlichung der Schriftstücke, welche zwischen Bugeaud und den Ministern gewechselt wurden, kann man ganz übersehen, was alles von Bugeaud verlangt wurde. Während der sieben Monate, welche die Haft dauerte, ist kaum ein Tag vergangen, an dem nicht eine – durch den optischen Telegraphen vermittelte – Depesche von Blaye nach Paris oder von Paris nach Blaye ging. Bugeaud sandte zum Theil sehr umfangreiche Berichte, Anfragen und Vorschläge, und die Depeschen aus Paris wurden alle paar Tage durch ausführliche Weisungen erläutert und ergänzt, welche vom Minister des Innern oder vom Ministerrath festgestellt waren. Ein genauer Grundriß der Citadelle und der Wohnung der Herzogin und ihres Gefolges befand sich in Paris, und das Ministerium selbst schrieb in gut französischer Reglementirungssucht vor, ob, wo, wie und wie lange ein Offizier, Unteroffizier, Soldat oder Polizist im Wacht- und Beobachtungsdienst zu stehen hatte.
Die Stellung zwischen der Regierung und der Herzogin war für Bugeaud, den alten Soldaten und Landwirth, eine überaus dornenvolle. Das nicht unbegründete Gerücht, daß von den Legitimisten ein Handstreich auf die Citadelle behufs gewaltsamer Befreiung der Herzogin wenigstens in Erwägung gezogen werde, machte ihm am wenigsten Sorge; sie wären übel angekommen. Was ihn beunruhigte, war die Befürchtung, daß die Herzogin während der Haft erkranken, vielleicht gar sterben könnte; er wußte, daß ihr Tod ihm und der Regierung zur Last gelegt werden und dem Könige unabsehbaren Nachtheil bringen, vielleicht seinen Sturz nach sich ziehen würde. Und wenn sie am Leben und gesund blieb, war wiederum mit der Möglichkeit zu rechnen, daß sie, entschlossen und geübt wie sie war, in einer Verkleidung entkomme oder wenigstens durch briefliche Weisungen neue legitimistische Umtriebe anzettele.
In der That war der Verkehr der Gefangenen mit der Außenwelt ziemlich lebhaft, und Bugeaud hat zwar einige Wege dieses Verkehrs sperren, ihn aber nie ganz verhindern können, wenn auch alle Briefschaften, die von den Bewohnern der Citadelle abgeschickt wurden oder für sie einliefen, durch seine Hände gehen sollten. Anfangs hatte er selbst es zugelassen, daß Legitimisten, welche die Herzogin besuchen wollten, sie auf einige Minuten ohne Zeugen sprachen; man wollte durch ein vertrauensvolles Entgegenkommen dieser Art den Beschwerden der legitimistischen Zeitungen den Boden entziehen. Diese Absicht wurde nun freilich nicht erreicht, aber wohl hatte die Herzogin so Gelegenheit, Wünsche und Anordnungen nach außen gelangen zu lassen. Ein anderer Weg für solches Verkehren, den die Herzogin zu benutzen wußte, ist erst im Jahre 1886 durch die Schrift des Abbé Bellemer bekannt geworden. In ihrem Zimmer wurde häufig und wenigstens einmal in der Woche Messe gelesen. Der Geistliche, der sie las, und der Seminarist, der ihm dabei diente, wohnten nicht in der Citadelle und waren in ihrem Verkehr mit der Außenwelt nicht behindert; sie betraten die Citadelle nur, wenn ihre Dienste gewünscht wurden, und hatten dann keine allzu scharfe Kontrolle zu bestehen. Kurz vor Beginn der Messe legte der Seminarist zu den priesterlichen Gewändern, die auf einem Nebentische ausgebreitet waren, die priesterliche Schulterbinde, und in diese waren die Briefe eingenäht, welche der Herzogin von außen her zugingen. Nach Beendigung der Messe vertauschte „eine verständige Hand“ diese Binde schnell mit einer andern, welche die für die Außenwelt bestimmten Briefe der Herzogin enthielt. Der Seminarist, der diesen Verkehr vermittelte, lebt als angesehener Geistlicher noch jetzt.
Inzwischen würde die Regierung, die ihr von den Kammern ertheilte Machtvollkommenheit benutzend, die Haftentlassung Marie Karolinens längst verfügt haben, wenn nicht die persönlichen Schicksale der Herzogin eine besondere Wendung genommen hätten. Sie sah sich gezwungen, mit der Eröffnung hervorzutreten, daß sie ein zweites, geheimes Ehebündniß geschlossen habe. Nach langen Verhandlungen mit ihr gab sie unter dem 22. Februar 1833 folgende Erklärung ab:
„Durch die Umstände und die von der Regierung angeordneten Maßregeln gedrängt, glaube ich es mir selber schuldig zu sein – obschon ich die gewichtigsten Beweggründe hätte, meine Ehe geheim zu halten – zu erklären, daß ich mich während meines Aufenthaltes in Italien heimlich verheirathet habe.“
Am 26. Februar stand diese Erklärung im „Moniteur“, der amtlichen Zeitung der Regierung. Es ist nicht ermittelt, ob die Geheimhaltung dieses Aktenstückes vielleicht zugesagt war. Die Herzogin glaubte damit ihre Freilassung zu erkaufen; aber darin irrte sie sich. Die Regierung hatte immerhin Grund, zu befürchten, die Herzogin werde, wenn sie freigelassen war, die Erklärung als erzwungen hinstellen. Unbesonnene Legitimisten sagten jetzt schon, die Erklärung sei erzwungen und nichtig, während die Feinde der Legitimisten triumphirten. Die Frage erregte ein ungeheures Aufsehen, und zwischen den Legitimisten und ihren Gegnern fanden zahlreiche Duelle statt. Die Regierung, die durch den von der Herzogin erregten Aufstand so schwer bedroht worden war und neuer Aufstände gewärtig sein mußte, wollte sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, die Wahrheit ans Tageslicht zu bringen und damit der Sache der Legitimität einen schwer zu verwindenden Stoß beizubringen. Ritterlich war dies Verfahren nicht, aber man kann nicht leugnen, daß es nach Lage der Dinge sehr begreiflich und politisch geboten war.
Am 10. Mai erfolgte in Blaye die Geburt eines Mädchens. Der Präsident des Tribunals von Blaye fragte vor Zeugen in feierlicher Weise die Herzogin, ob sie die Herzogin von Berry und die Mutter dieses Mädchens sei. Ihre bejahende Antwort wurde zu Protokoll genommen. Sie erklärte dann noch freiwillig, der Dr. Deneux werde den Vater des Kindes nennen. Die Zeugen versammelten sich noch einmal in einem andern Zimmer, und Dr. Deneux eröffnete ihnen, die Herzogin sei die legitime Gemahlin des Grafen Hector Lucchesi-Palli aus dem fürstlichen Hause Campo-Franco, Kammerjunkers des Königs beider Sicilien, wohnhaft in Palermo. Die Namen des Kindes seien Anna Marie Rosalie. Diese Erklärungen wurden in das Civilregister von Blaye aufgenommen. Abends erhielt das Kind die Nothtaufe, wobei seine Namen aber nicht genannt wurden. Die Regierung veröffentlichte die Akenstücke im „Moniteur“.
Die Herzogin verkannte nicht, daß damit ihre politische Rolle zu Ende war. Im Februar schon hatte sie der Herzogin von Angoulême beschrieben, sie gebe ihre Entlassung als Regentin. Ihre treuesten Anhänger wurden kühl und zurückhaltend gegen sie. In Royalistenkreisen konnte man das Geständniß vernehmen, daß man sie am liebsten todt wünsche, denn lebend schade sie jetzt der Sache Heinrichs V. nur, während ihr Tod als eine Waffe gegen die Regierung hätte dienen können. Am Hofe Karls X., der gegen Ende des Jahres 1832 von Holyrood nach Prag übergesiedelt war, fiel sie in Ungnade, und Chateaubriand, der in ihrem Auftrage dorthin reiste, um sie zu vertheidigen, hatte zunächst wenig Erfolg. Er soll dem Könige Karl eine Bescheinigung darüber vorgelegt haben, daß die Herzogin am 26. April 1832 den Grafen Lucchesi zu Massa geheirathet habe; das Original oder eine beglaubigte Abschrift ist nicht bekannt geworden. Karl sagte zu Chateaubriand: „Möge die Herzogin nach Palermo gehen [248] und ihren Hausstand mit dem Grafen Lucchesi theilen. Dann sollen ihre Kinder erfahren, daß ihre Mutter verheirathet ist, und dann mag sie zu uns kommen, um ihre Kinder zu umarmen.“
Schon vor dieser Entscheidung König Karls hatte die Herzogin selbst die Nothwendigkeit eingesehen, sich zunächst mit dem Grafen Lucchesi zu vereinigen, und deshalb gab sie dem Gouverneur Bugeaud auf die Frage, wohin sie entlassen zu werden wünsche, Palermo als Ziel an. Die Regierung ließ die Fregatte „Agathe“ für die Ueberfahrt der Herzogin und ihrer Tochter herrichten, und die Herzogin traf ihre Reisevorbereitungen. Für Herrn von Brissac und Frau von Hautefort, die sie nicht begleiten wollten, fand sie nicht ohne Mühe in Herrn von Mesnard, ihrem alten Gefährten, und in dem Fürsten und der Fürstin von Baufremont Ersatz. Der General Bugeaud und die Doktoren Deneux und Ménière begleiteten sie in amtlichem Auftrage. Ueber die Einschiffung, die unter Zulauf einer großen Volksmenge stattfand, wurde wiederum ein amtliches Protokoll aufgenommen. Am 8. Juni trat die Fregatte ihre Fahrt nach Palermo an.
Die nach Blaye gedrungene und von der Herzogin freudig aufgenommene Nachricht, daß der Graf Lucchesi sie in Blaye aufsuchen und vielleicht abholen werde, hatte sich nicht bewahrheitet. Ueber die Beziehungen, welche bis dahin zwischen ihm und ihr bestanden, haben immer einige Zweifel geherrscht. Es blieb nicht unbemerkt, daß eine legitimistische, im Verhandeln sehr gewandte Dame, Frau von Cayla, bald nach der Verhaftung der Herzogin im Haag erschien, wo der Graf Lucchesi damals als Geschäftsträger des Königs von Neapel weilte. Die Tochter dieser Dame war mit der in Blaye mit eingeschlossenen Frau von Hautefort befreundet. Die legitimistischen Geschichtschreiber sprechen von dieser Ehe so, daß sie sie als eine jener morganatischen Ehen bezeichnen, „welche die offizielle Stellung der Fürsten nicht beeinflussen“, oder sie schweigen ganz darüber.
Ueber die am 5. Juli erfolgte Ankunft der Fregatte in Palermo und den Empfang, der den Reisenden dort bereitet wurde, liegen Berichte von Bugeaud, von seinem Adjutanten Saint Arnaud und von Ménière vor. Wir erfahren, daß der Graf Lucchesi, ein stattlicher Mann in den dreißiger Jahren, zugleich mit einigen hohen sicilianischen Beamten, unter denen sich ein Kammerherr und ein Admiral des Königs beider Sicilien befanden, zur Begrüßung an Bord der „Agathe“ kam. Er blieb längere Zeit mit der Herzogin allein. Die sicilianischen Herren unterhielten sich indessen mit den Begleitern und dem Gefolge. Man meinte, ihnen eine gewisse Verlegenheit anzumerken; sie versicherten, von der Heirath nur durch die Zeitungen unterrichtet worden zu sein und für die Unterkunft der Herzogin nichts vorbereitet zu haben. Als dann der Graf und die Herzogin auf dem Verdeck erschienen, fiel es allen drei Augenzeugen auf, daß der Graf sich um das Kind nicht kümmerte. Die Herzogin verabschiedete sich kühl von den Franzosen und fuhr mit dem Grafen ans Land; die Wärterin mit dem Kinde folgte in einem zweiten Boot. General Bugeaud ließ sich von dem Minister für Sicilien, Fürsten von Campo-Franco, dem Vater des Grafen, die Ablieferung der Herzogin und ihres Kindes bestätigen und fuhr dann sofort nach Toulon.
Die französische Regierung war einer schweren Sorge ledig. Billig war ihr der Zwischenfall nicht zu stehen gekommen; die Kosten für die Auffindung, die Haft und die Reise der Herzogin beliefen sich auf mehrere Millionen Franken.
Die Herzogin und der Graf begaben sich mit dem Kinde von Palermo nach Neapel, aber weil man sie dort nicht gerne sah, blieben sie nur wenige Wochen. Vom 20. August bis zum 3. September weilten sie in Rom. Dort soll in aller Stille die kirchliche Einsegnung der Ehe stattgefunden haben. Der Papst Gregor XVI. empfing wiederholt den Besuch der Herzogin und taufte das Kind in der Peterskirche eigenhändig. Es starb im November desselben Jahres in Livorno. In Leoben erfolgte eine Art Aussöhnung der Herzogin mit dem alten Könige Karl X. und ein Wiedersehen mit ihren beiden Kindern erster Ehe. Doch wurde das Verhältniß der Herzogin zu den übrigen Mitgliedern der Königsfamilie kein freundliches mehr, und sie lebte fortan meist getrennt von ihnen.
Das Lucchesische Ehepaar ließ sich erst in Graz nieder und wohnte dann auf dem von ihm angekauften Schlosse Brunnsee in Steiermark. Der Ehe entstammten noch vier Kinder, nämlich drei in den Jahren 1835, 1836 und 1838 geborene Töchter, die sich mit italienischen Adligen verheiratheten, und ein im Jahre 1840 geborener Sohn. Die Spielsucht des Grafen brachte die Familie, deren Mittel nicht bedeutend waren, zuweilen in Geldverlegenheit. Er starb im Jahre 1864 zu Brunnsee, und die Herzogin folgte im Jahre 1870. Die Kinder sind alle noch am Leben, und der Sohn, der den Titel eines Herzogs della Grazia führt und mit seiner Familie meist in Venedig wohnt, ist noch Besitzer von Brunnsee.
Das alte Sprichwort, daß der Prophet nichts gelte in seinem Vaterland, hat sich kaum jemals augenscheinlicher bewährt als bei Robert Mayer, dem Entdecker eines der wichtigsten – man darf wohl sagen des wichtigsten der physikalischen Gesetze. Was Newton für die Schwerkraft, hat Mayer für die „Wärmekraft“ gethan, indem er die kosmische Allgemeinheit und Unzerstörbarkcit auch dieser Energieform, sowie den innigen Zusammenhang der Zwillingsschwestern nachwies.
Am 25. November 1814 zu Heilbronn a. N. als der jüngste von den drei Söhnen eines wohlhabenden Apothekers geboren, besuchte Mayer das Gymnasium seiner Vaterstadt, später das Vorbereitungsseminar Schönthal und 1832 die Universität Tübingen, wo er sich dem Studium der Medizin widmete. Nachdem er 1838 als Doktor promovirt und sein Staatsexamen mit gutem Erfolge gemacht hatte, begab er sich 1839 über Paris nach Rotterdam, um als Schiffsarzt auf einem Ostindienfahrer eine Reise nach Java zu unternehmen. Hier, bei Gelegenheit reichlicher Aderlässe zur Bekämpfung einer akuten, unter der Schiffsmannschaft ausgebrochenen Lungenkrankheit, bemerkte der junge Arzt, daß das Venenblut in diesem südlichen Klima eine viel hellere Röthe als im nordischen zeige, und die Ergründung dieser Erscheinung führte zur Entdeckung des Gesetzes von der „Erhaltung der Kraft“.
Von seiner Reise zurückgekehrt, legte Mayer schon im Jahre 1842 die Grundgedanken seiner Anschauung in einem kurzen Aufsatz, „Bemerkungen über die Kräfte der unbelebten Natur“, in Liebigs „Annalen“ nieder. Dieser ersten folgte seine zweite, bedeutendste Arbeit: „Die organische Bewegung in ihrem Zusammenhange mit dem Stoffwechsel“. Hatte Mayer schon seinen ersten Aufsatz nur mit Mühe untergebracht, so konnte er für Veröffentlichung des zweiten weder eine Zeitschrift noch einen Verleger finden, so daß er ihn auf eigene Kosten drucken lassen mußte. Eine 1846 an die Pariser Akademie gesandte Abhandlung „Ueber die Erzeugung von Licht und Wärme der Sonne“ blieb gleichfalls ohne Beachtung. Während aber die zünftige Wissenschaft die Arbeiten Mayers vollständig übersah, trat 1847 der Engländer Joule mit Versuchen über die Frage des Gleichwerths von Wärme und Arbeit auf, und Helmholtz erschien zu derselben Zeit mit einer Schrift „Ueber die Erhaltung der Kraft“. Vergeblich regte sich Mayer, um seinen zeitlichen Vorrang zu wahren; ja ein zu diesem Zwecke von ihm veröffentlichter Aufsatz hatte eine Zurechtweisung von seiten eines Tübinger Privatdocenten zur Folge, worin dieser den unzünftigen Forscher als einen unwissenden Dilettanten abkanzelte. Um aber das Maß voll zu machen, fand der Angegriffene nicht einmal eine Zeitschrift, die seine Vertheidigung aufgenommen hätte, und so verfiel der gequälte Mann, der zu dieser Zeit überdies zwei Kinder verloren hatte, einer Gehirnentzündung, während deren er sich in einem Fieberanfall aus dem Fenster seiner Wohnung im zweiten Stock auf die Straße stürzte. Die Folge dieses Sturzes war eine Geisteskrankheit, von welcher er sich erst nach mehreren Jahren und nie vollständig erholte, wenn auch Perioden normalen Zustandes mit Anfällen gestörter Hirnthätigkeit abwechselten.
Nach so vielen Anfechtungen sollte aber Mayer doch endlich die Genugthuung der Anerkennung erleben. In Deutschland hoben Schönbein und Liebig die Neuheit und Bedeutung seiner Anschauungen hervor; von durchschlagendem Erfolg aber war die Hilfeleistung des berühmten englischen Physikers Tyndall, welcher in einem Vortrag, den er während der Londoner Ausstellung von 1862 vor den wissenschaftlichen Größen aller Länder hielt, die Verdienste des deutschen Forschers anerkannte und endgültig feststellte, daß Mayer derjenige sei, welcher das Gesetz der Krafterhaltung zuerst entdeckt und nachgewiesen habe.
Aber worin besteht das Wesen dieses Gesetzes und die Wichtigkeit seiner Entdeckung? Solches auch dem in derartigen Gebieten minder bewanderten Leser mit kurzen und einfachen Worten klar zu machen, ist keine leichte Aufgabe. Sich aber bei einer Gelegenheit, wo der Leser offenbar ein Recht auf Beantwortung dieser Frage hat, feig um dieselbe herumzudrücken, wäre auch nicht rühmlich. So wollen wir denn versuchen, eine Antwort zu geben, die auch für die Leser dieses Familienblattes, welche nicht Fachleute sind, in den Hauptzügen verständlich bleibt.
Wenn wir die Welt ihrem allgemeinen Wesen nach betrachten, so sehen wir, daß sie eine unendliche Anhäufung unendlicher Wirkungen ist.
[249] Und dies ist im Grunde selbstverständlich, denn alles was ist, muß sein Dasein durch die Wirkung bekunden, und zwar durch die aktive, die es ausübt, und die passive, die es empfängt; beides bedingt sich, und ein Ding, das nicht wirkt, ist nicht. Wenn wir nun diese „Wirklichkeit“ untersuchen, um zu sehen, was all den verschiedenen Formen der ursprünglichen Weltenergie gemeinsam ist, so finden wir die Bewegung. Jede Wirkung läßt sich auf Bewegung zurückführen, ohne Bewegung ist jede Wirkung unmöglich; denn Bewegung nennen wir die Thätigkeit der Materie, wodurch sich die Theile derselben einander nähern oder von einander entfernen – was sich gegenseitig bedingt – und so zu besondern Körpern sich abscheiden und verbinden. Jede Wirkung aber ist Umwandlung, und jede Umwandlung wird, indem sie fortgesetzt Arbeit auf Arbeit häuft, nothwendig Entwickelung, d. h. eine von unvollkommeneren zu vollkommeneren Bildungen fortschreitende Umwandlung.
Nun ist aber des weiteren die Bewegung naturgemäß eine zweifache: sie kann innerlich, zwischen den einzelnen Theilen eines zusammenhängenden Körpers, oder äußerlich, zwischen verschiedenen, räumlich getrennten Körpern vor sich gehen und sich sowohl als Bewegung der Atome wie als Gravitation der Weltkörper kundgeben. Die äußerliche Bewegung heißen wir Schwere, und die innerliche – mit den verwandten Erscheinungen des Lichts, der Elektricität und des Magnetismus – heißen wir Wärme. Die Verwandtschaft der beiden Bewegungsformen geht schon daraus hervor, daß es sich bei der Schwere um ein Anziehen und Abstoßen, bei der Wärme um ein Ausdehnen und Einschrumpfen handelt, was im Grunde derselbe Prozeß ist, nur daß die Wärme sich mehr qualitativer und chemischer, die Schwere sich mehr quantitativer und mechanischer Natur erweist, und bei ersterer der ausdehnende, bei letzterer der zusammenziehende Faktor der vorwiegende ist.
Auf der Wechselwirkung dieser beiden Gegensätze beruht die ganze Weltexistenz; denn ohne Abstoßung müßte alle Materie auf einen Klumpen zusammenstürzen, und ohne Anziehung müßte sie sich im Unendlichen auflösen. Mit ändern Worten: die Energie müßte sich erschöpfen, wenn sie sich durch den Uebergang der Bewegung von der einen Form in die andere nicht immer wieder herstellen könnte. Der Meteorstein z. B., der auf die Erde gefallen ist, hat, obschon er sich nicht mehr weiter bewegen kann, seine Schwere nicht verloren, denn die Erde ist um sein Gewicht schwerer geworden; aber gleichwohl ist dieses nun als Einzelwirkung gleich null, weil es von der Erde absorbirt wurde. Um die Schwere des Steins wieder wirksam zu machen, muß man ihn heben und fallen lassen. Diese Hebung aber, die wir mit Menschen- oder Pferdekraft oder auch vermittels [250] einer Dampfmaschine bewerkstelligen können, ist nichts als eine mit Hilfe der Wärmekraft herbeigeführte Aufhebung der Schwerkraft; denn Mensch oder Pferd stellen in diesem Falle nur eine Art organischer Dampfmaschine vor, bei welcher die Wärme statt durch die Kohle durch den Verbrennungsprozeß im Blute erzeugt wird. Die durch Hebung des Steins gewonnene Schwerkraft kann nun aber durch mechanische Mittel wieder in Wärme zurückverwandelt werden, und diese Ueberführung der einen Kraft in die andere heißt Arbeit. Wärme und Schwere sind im Grunde nichts anderes als der negative und der positive Pol der Bewegung. Die wesentliche Einheit dieser beiden sich gegenseitig bedingenden Energieformen (welche die Angeln des Weltalls bilden) und die Ueberführbarkeit der einen Form in die andere (ohne welche alle Entwickelung unmöglich wäre) nicht nur begriffen, sondern auch durch das Experiment nachgewiesen zu haben, ist die unsterbliche That Robert Mayers.
Vergeblich suchte Joule seine Urheberansprüche auf den Umstand zu stützen, daß er zuerst die richtige Verhältnißzahl des mechanischen Wärmeäquivalents festgestellt habe. Wenn man nämlich ein Gewicht von 1 Kilogramm auf die Höhe von 1 Meter hebt, so nennt man das eine Arbeit von 1 Meterkilogramm, und die Wärme, deren man bedarf, um 1 Liter Wasser von 0 auf 1° C. zu bringen, heißt eine Wärmeeinheit oder Calorie; es fragte sich nun, wie viel Meterkilogramm Arbeit einer Wärmeeinheit entsprechen. Mayer, dem es an einem brauchbaren Apparat fehlte und der sich mit den primitivsten Hilfsmitteln behelfen mußte, berechnete, daß zur Erzeugung einer Calorie die Arbeit von 365 Meterkilogramm nöthig sei, während später Joule die Zahl 424 als die richtigere feststellte. Selbstverständlich aber ist die Richtigstellung dieser Zahl nur eine Frage längerer Versuche und besserer Instrumente und hat mit der Entdeckung des Prinzips selber nichts zu thun. Robert Mayer vielmehr, indem er zeigte, daß ein bestimmtes Maß Wärme ein bestimmtes Maß Hebekraft erzeugt, und daß diese Hebekraft das zu ihrer Erzeugung verbrauchte Maß Wärme wieder herstellt, und so fort ins Unendliche, begründete das Gesetz von der Erhaltung der Kraft, vermöge dessen die Energie der Welt ebenso ewig dieselbe bleibt, wie ihre unzerstörbare Materie niemals um ein Atom verringert werden kann. Dieses Gesetz hat eine Wichtigkeit, welche wohl kaum von irgend einer der bisherigen Entdeckungen erreicht wurde und sicherlich von keiner künftigen übertroffen wird, weil es den Grundstein der ganzen Erklärung für die in der Welt wirkenden Urkräfte bildet und, als der Haupt- und Schlußring der Kette, die übrigen Glieder des Naturgesetzes zu einem geschlossenen Ganzen zusammenfaßt.
Robert Mayer ist am 20. März 1878 in Heilbronn gestorben. Es fehlt ihm heute nicht am gebührenden Nachruhm: vor dem Gebäude der technischen Hochschule zu Stuttgart steht seine Büste und seine Vaterstadt Heilbronn rüstet sich, ihm ebenfalls ein Denkmal zu errichten. Der Entwurf desselben ist vollendet, die Ausführung desselben in der Form, wie unser Bild ihn zeigt, wird nicht mehr lange auf sich warten lassen. Die allgemein als glücklich anerkannte Lösung der Aufgabe ist wohl – neben der charakteristischen und lebendigen Auffassung der Hauptfigur und den ebenso natürlich als allmuthig bewegten Linien der Nebenfiguren – dem Umstand zuzuschreiben, daß hier die zu Grunde liegende Idee zu bildlichem Ausdruck kommt, ohne daß die Kunst aus ihrem eigentlichen Bereich zu treten und die Abwege abstrakter Allegorie zu beschreiten genöthigt wird. Die beiden Kinder mit Flamme und Gewicht bringen den Inhalt der Mayerschen Entdeckung durch eine Handlung zur Anschauung, welche dieselben keineswegs den Grenzen des kindlichen Alters und Lebens entrückt. So bleiben sie Kinder, poetische Symbole, und werden nicht zu allegorischen Masken gleich jenen dekorativen Kinderfiguren, die mit Abzeichen ausstaffirt und zu Handlungen verwendet werden, wie sie sich nur für Erwachsene eignen.
Im übrigen ist das vorliegende Ergebniß wohl auch dem Umstand zu danken, daß sich hier Kunstkritiker, Bildhauer und Architekt zu gemeinschaftlicher Schöpfung vereinigten. Gewöhnlich kommt die Kritik erst zum Wort, wenn das Kunstgebilde fertig und nichts mehr daran zu ändern ist; hier aber betheiligte sie sich beim Werden desselben, um als verbindendes Glied die darzustellende Idee durch die harmonische Uebereinstimmung von Skulptur und Architektur zu ungetrübter ästhetischer Wirkung zu bringen.
An gemeinsamer Tafel zu Abend zu essen, galt nicht mehr für fein. Stefanelly hatte alle Räume des ersten Stockes ohne Ausnahme den Gästen überlassen, und während im großen Saale getanzt wurde, standen in allen andern Zimmern reich mit allen Leckerbissen des In- und Auslandes gefüllte Buffets, Batterien von Flaschen, stets bereite Diener. Zeit und Ort sollten keine lästigen Schranken bieten, die verschiedenartigsten Elemente der Gesellschaft sollten sich nach freier Wahl ungebunden zusammen finden. Und so war überall ein ununterbrochenes Rauschen und Flüstern, ein lautloses Auf- und Abwallen über die teppichbelegten Gänge, ein Hin- und Wider durch die lichterfüllten großen und kleinen Gemächer an all den vielgestaltigen unnennbaren Kostbarkeiten vorüber, die mit der sorglosen Ueppigkeit des Reichthumes umhergestreut standen und lagen.
Das monumentale Stiegenhaus, welches ein architektonisch reich gegliederter Kuppelbau krönte, war in einen duftigen Garten von Palmen, Lorbeerbäumen und anderen Ziergewächsen verwandelt und in diesem eine Tafel für die bevorzugten Gäste des Hauses gedeckt. Die Familie Brennberg, Excellenz Graf Derwitz mit seiner Gattin, Rath Stürmling mit seinen Damen trafen sich dort, Loni selbst machte hier die Honneurs.
Christian hatte vergebens gewartet, von Stefanelly angesprochen zu werden, und auch jetzt schien der Banker die fragenden Blicke des alten Freiherrn noch immer nicht zu bemerken. Bertha und Theodor hatten ihre Besorgnisse ganz vergessen; erstere war wieder ganz in Beschlag genommen von ihrem alten Gönner, dem Grafen Derwitz, der die junge Frau mit Liebenswürdigkeiten überhäufte und über ihr sogar den nicht von seiner Seite weichenden Stefanelly vernachlässigte. Aber Bertha vermochte heute keine Freude an diesem neuen Triumph ihrer Schönheit zu empfinden; es störte sie das geradezu jede gute Sitte verletzende kokette Spiel, welches Loni mit Theodor trieb, und das schmerzlichste für sie war dabei, daß Theodor offenbar nicht ganz unberührt davon blieb, denn er ging heute zum ersten Male auf diesen Ton ein und vernachlässigte seine Frau auffallend.
Eben war Baron Anspacher an den Tisch getreten. Stefanelly trank ihm zu, indem er lachend rief:
„Auf gute Kameradschaft! Und daß Sie mir nicht noch einmal solch einen Streich spielen!“
Allgemeine Heiterkeit entstand. Man machte schlechte Witze über die Angst der kleinen Leute, über die drollige Idee, daß sich, wie der Minister scherzend bemerkte, „zwei Krähen die Augen aushackten“.
Endlich kam die Sprache auch auf das Bergwerk. Anspacher erkundigte sich angelegentlich bei dem Minister nach dem augenblicklichen Stande der Angelegenheit. Jetzt verließ Stefanelly seine bisherige heitere Ruhe, seine Züge spannten sich, er lauschte auf jedes Wort. Der Minister hielt sich sehr zurück und gab nur oberflächliche Andeutungen; die Sache sei noch nicht reif, im besten Falle würden darüber noch einige Wochen, vielleicht Monate verstreichen.
Bei diesen Worten wechselte Stefanelly sichtlich die Farbe und warf einen langen Blick auf Brennberg, der diesen nichts Gutes ahnen ließ.
Im Saale begann wieder die Musik, die Damen verließen am Arme ihrer Herren den Tisch, sie begannen sich ohnehin bei dieser geschäftlichen Unterhaltung zu langweilen.
Stefanelly benützte den Augenblick.
„Folgen Sie mir, Herr von Brennberg, ich habe mit Ihnen zu reden,“ flüsterte er.
Die Stunde der Entscheidung nahte. Mit kopfendem Herzen folgte der Freiherr. Stefanelly sprach kein Wort; erst als die Thür seines Arbeitszimmers sich hinter ihnen schloß, frug er kurz:
„Sie haben gehört, Herr von Brennberg, was eben der Minister sagte?“
Seine Stimme klang trocken, sein schwarzes stechendes Auge ruhte drohend auf dem Baron.
„Daß das Geschäft mit dem Staat gemacht wird,“ entgegnete dieser hoffnungsvoll.
„In Monaten,“ klang es kurz, scharf. „Also müssen Sie noch Monate warten –“
„Mit den – mit den 400000 Mark noch Monate warten?“ Brennbergs Unterlippe zuckte krampfhaft – „das ist unmöglich!“
Der Banker stampfte auf den Boden, ein haßerfüllter Blick traf den Aufsichtsrath.
„Es muß möglich sein, verstehen Sie mich!“
Einen Augenblick schien Brennberg dem dämonischen Willen des Unternehmers zu unterliegen – nur einen Augenblick, dann bäumte sich in ihm eine ihm selbst bisher unbekannte Kraft empor, ein wilder Zorn gegen diesen Mann, der ihn zum Betrüger gemacht hatte, ein plötzlicher Drang, die verhaßte Kette abzuschütteln, die ihn an Stefanelly band. Dieser innere Vorgang drückte
[251] sich auch in seiner ganzen Haltung, in seinem aufleuchtenden Antlitz aus.
„Es ist aber unmöglich, eine Prüfung der Kasse innerhalb der nächsten zwei Wochen zu verhindern, und wenn sie zu verhindern wäre, so würde ich nicht die Hand dazu bieten, da es doch nichts nützen und mein Verbrechen nur verdoppeln würde. Sie werden auch in ein paar Monaten die Summe nicht aufbringen können.“
„Aber, lieber Herr von Brennberg,“ begann jetzt Stefanelly plötzlich in zuthunlichem Tone, „seien Sie doch vernünftig! Kauft der Staat das Bergwerk, so verfüge ich über Millionen. Bedenken Sie doch, was auf dem Spiele steht! Ich leugne es nicht – alles! Alles für mich und für Sie! Und da wollen Sie im letzten Augenblicke, nachdem Sie mit mir durch Dick und Dünn gegangen sind, plötzlich den Aengstlichen spielen? O pfui! Das wäre kläglich. Sie werden die Sache irgendwie hinausziehen können – nicht wahr? Sie stellen sich nur im ersten Schrecken die Schwierigkeiten zu groß vor. Sie sind ja ein Pfiffikus ersten Ranges.“
Er versuchte zu lächeln und klopfte Brennberg auf die Schulter.
Aber Brennberg veränderte seine schroffe Haltung nicht.
„Es ist unmöglich; ich weiß kein Mittel, welches nicht das Mißtrauen noch mehr rege machen würde!“ sagte er mit unverminderter Entschiedenheit.
Der Bankier sah einen Augenblick starr auf den Boden, dann auf Brennberg. Schließlich zuckte er mit den Achseln und schlug die Hände zusammen.
„Nun, wenn es wirklich unmöglich ist, wenn ich wirklich im letzten Augenblick noch scheitern muß – auch gut! Wir scheitern zusammen, lieber Brennberg. Es thut mir leid um Sie, Sie werden es härter fühlen als ich, ich habe wenigstens keinen ehrwürdigen Namen, den ich beflecke –“
Ein schmerzlicher Zug erschien um seinen Mund – oder war es ein höhnischer?
Jetzt kam Brennbergs Zorn aber zum Ausbruch.
„Und das wußten Sie alles und überredeten mich doch zu dem Betrug? Sie feiern heute ein Fest, das Tausende verschlingt, und sagen mir jetzt frech ins Gesicht, daß Sie Ihr Wort brechen, daß Sie nicht bezahlen? Sie sind ein Schurke, Herr Stefanelly! Hören Sie, ein Schurke!“
Der Bankier schwieg, indem er lächelnd auf die Marmorplatte des Tisches klopfte.
Das Schweigen reizte den Zorn des alten Freiherrn noch mehr. „Morgen berufe ich den Aufsichtsrath und erkläre öffentlich in seiner Gegenwart, daß Sie ein Schurke sind. Alles erkläre ich, den ganzen scheinheiligen Handel, ich selbst führe die Herren vor die geleerte Kasse – ja, das thue ich – das thue ich –“
Er hatte alle Fassung verloren, die Thränen rollten über seine bleichen Wangen, er ballte die Fäuste gegen den Bankier, der sich nicht bewegte und seinen Gegner nur mit verzehrenden Blicken betrachtete.
„Das thun Sie alles nicht,“ sagte er schließlich ruhig, „sondern Sie werden auf ein Mittel sinnen, wie man die 400000 Mark nicht zahlt vor frühestens in zwei Monaten, die Kasse revidirt und doch nicht sich verräth, das werden Sie und ich zustande bringen, weil wir keine Narren sind und uns nicht mit der Pistole aus der Verlegenheit und aus der Welt bringen wollen.“
Brennberg war überrascht. Der Gedanke, daß doch am Ende eine Rettung möglich wäre vor dem unabsehbaren Verderben, übermannte ihn. Er starrte sprachlos auf Stefanelly, als wollte er die Gedanken lesen, die sich hinter dieser breiten Stirn bargen.
„Sie halten einen Ausweg augenblicklich für unmöglich,“ fuhr Stefanelly in demselben kühlen Tone fort, „das finde ich begreiflich. Heute nacht werden Sie ihn aber finden, vielleicht in einer Stunde, die Noth macht erfinderisch. Vielleicht finde ich ihn – habe ihn vielleicht schon gefunden in diesem Augenblick –“
Brennberg griff in qualvoller Angst nach der Hand des Unternehmers.
„Sprechen Sie, ich beschwöre Sie, sprechen Sie! Lassen Sie mich diese Nacht nicht durchleben –“
„So rasch geht das nicht!“ erwiderte dieser. „Ich habe nur eine unklare Vorstellung. Nur eines möchte ich wissen: wenn mein Plan reift, vielleicht plötzlich, in einer Viertelstunde reift, werden Sie mich ihn ausführen lassen, ohne daß ich Ihnen denselben nennte, ohne daß Sie sich irgendwie einmengen?“
Christian von Brennberg zögerte. Er glaubte, in diesem Antlitz ein neues Verbrechen zu lesen, in das er mit verwickelt werden sollte.
„Denken Sie an Ihren Sohn, Ihren Namen!“ drängte Stefanelly. „Ich verlange eine völlige Passivität Ihrerseits, das schließt auch jede Verantwortung für Sie aus.“
Der Aufsichtsrath machte vergebliche Anstrengung, Stefanellys Vorhaben zu errathen; in seinem Gehirn tobte es, seine Gedanken verwirrten sich immer mehr. Warum nannte der Mann ihm nicht den Ausweg, wenn dieser nicht noch schlimmer war als das Vergehen, dessen Folgen er abwenden wollte?
Da traten zwei Bilder vor Christans fieberndes Auge, Theodor mit seinem blühenden Weib und das alte Schönau.
„Handeln Sie in Gottes Namen!“ flüsterte er mühsam; „Sie werden mich nicht noch unglücklicher machen wollen, als ich’s so schon bin –“
Stefanelly athmete sichtlich erleichtert auf.
„Beruhigen Sie sich, die Sache ist lange nicht so schlimm, als sie vielleicht aussieht – und wenn alles glücklich vorüber ist, werden Sie selbst lachen über meine Finte, die niemand Schaden bringen soll.“
Christian schloß aus diesen Worten, daß Stefanelly schon mit seinem Plane fertig war. Das schreckte ihn von neuem.
„Ja, Sie sagten aber doch eben, Ihre Vorstellung von dem Auswege sei noch unklar!“
„Jetzt ist sie mir eben vollständig klar. Das geht bei mir rasch!“ entgegnete der Bankier.
„Und niemand soll Schaden leiden?“
„Niemand!“
„Und welche Rolle soll ich –“
„Die Rolle des völlig Unbetheiligten, Unwissenden. Aber merken Sie wohl auf, die Rolle ist nicht so leicht, jede Miene, jede Bewegung muß beherrscht werden.“
Brennberg zitterte vor dem Unbekannten und wagte doch nicht ein entschlossenes „Nein“.
„Und wann?“ fragte er erschöpft.
„Das überlassen Sie mir! Seien Sie nur jeden Augenblick darauf gefaßt.“ Unter diesen Worten drängte Stefanelly zur Thür. „Kommen Sie, unser Wegbleiben darf nicht auffallen.“
„Am Ende in dieser Nacht noch? Während des Festes?“ fragte Christian.
„Vielleicht! Denken Sie so, und Sie werden nicht überrascht werden. Jetzt kommen Sie!“
Sie verließen das Zimmer und kehrten zu den Gästen zurück.
Loni hatte sich unterdessen vollständig Theodors bemächtigt, mit welchem sie Arm in Arm durch die Gemächer schritt. Ihr leichtfertiges Gespräch, ihre verführerischen Blicke weckten in dem jungen Manne die alten leichtlebigen Erinnerungen, und er vergaß darüber nicht nur die Entfernung seines Vaters mit Stefanelly, deren Grund und Zweck er wohl ahnte – sondern auch Bertha!
Eben machte Loni einen gewagten Scherz und strich leise mit dem Fächer über Theodors Hand, da traten die beiden Männer in das Zimmer.
Einen Augenblick erwachte Theodor aus dem Sinnentaumel, dem er verfallen war, und warf einen fragenden Blick auf den Vater; der nickte stumm mit aufeinander gebissenen Lippen; die Gebärde bedeutete zweifellos „in Ordnung“, aber das bleiche abgespannte Antlitz paßte nicht zu der Botschaft.
Stefanelly trat zu Theodor.
„Amüsiren Sie sich gut, Herr von Brennberg? Nun, in so liebenswürdiger Gesellschaft steht das außer Frage! Uebrigens erwartet man Sie,“ wandte er sich an seine Begleiterin, „schon seit einer halben Stunde in der Küche. Weiß Gott, wo es wieder fehlt! Entschuldigen Sie, Herr von Brennberg, aber ich armer verlassener Mann wäre ja verloren ohne Frau Margold – alles ihr Werk, die ganze Anordnung!“
Er zog die Uhr heraus. „Wie die Zeit vergeht, schon zwölf Uhr! Aha, es wird sich um die Bowle handeln; ich sage Ihnen, Herr Baron, darin ist sie eine unübertroffene Meisterin. Bitte, bitte, Frau Margold, säumen Sie nicht!“
„Ich säume nicht,“ entgegnete Loni, und Stefanelly empfahl sich mit einem Lächeln, das zu dem steifen verlorenen Blick nicht paßte.
[252] Theodor achtete nicht weiter darauf; bei der Antwort Lonis: „Ich säume nicht,“ mußte er aber lachen, es klang so komisch ernst und es lag ein so sonderbarer Nachdruck darin, als handelte es sich um eine große That. Sie sah ihn erstaunt an.
„Säumen Sie nicht!“ sagte scherzend Theodor, den eigenthümlichen Ton nachäffend. „Es gilt eine Bowle!“
Jetzt lachte Loni mit. „Wollen Sie mitgehen und meine Kunst bewundern, von welcher Stefanelly so viel Aufhebens – doch nein, ich lasse mir mein Geheimniß nicht abgucken, aber begleiten dürfen Sie mich bis vor die Pforte des Heiligthums!“
Theodor folgte der Einladung. Sie gingen die große Freitreppe hinab, dann durch einen engen Gang. Niemand begegnete ihnen dort.
„Wie unvorsichtig von Stefanelly, das Haus, in welchem solche Schätze liegen, so unbewacht zu lassen,“ sagte Theodor, dem es allmählich an der Seite dieses Weibes unbehaglich wurde, „wie leicht könnte sich das jemand zu Nutzen machen!“
Der weiße Arm Lonis zuckte in dem seinen.
„Dafür wird schon gesorgt sein, beruhigen Sie sich!“
Endlich waren sie an der Küche.
Theodor athmete auf und empfahl sich rasch. Er sah Loni noch die Küche betreten und stieg dann eine schmale Treppe hinauf, die wohl nach oben führen mußte.
Bertha hatte ihren Gatten nicht mehr aus den Augen gelassen. Sie glaubte, die kecken Worte zu hören, die Loni ihm ins Ohr flüsterte, sie beobachtete das katzenartige Streicheln mit dem Fächer, die Gluth in seinen Wangen, und sie dachte in ihrer Herzensangst schon, dazwischen zu treten, als sie zum Glück von einigen Damen in die Unterhaltung gezogen wurde, über welcher sie das Paar aus den Augen verlor.
Als sie dasselbe nach wenigen Minuten wieder suchte, war es nirgends mehr zu finden. Sie durcheilte alle Nehenräume, der Schmerz jäher Eifersucht ergriff sie und trieb sie rastlos umher.
Nach den beiden zu fragen, schämte sie sich. Im ersten Stock waren sie nicht, so ging sie unbemerkt die Treppe hinab und durch denselben engen Gang, welchen Theodor mit Loni durchwandert hatte und welcher in den alten Theil des Stefanellyschen Hauses führte. Verschobenes Winkelwerk, kleine Treppen, ein Gewirr von sich kreuzenden Seitengängen nahm sie auf. Sie befand sich plötzlich völlig im Dunkeln und lauschte ins Leere. Was wollte sie hier? Sie wußte es selbst nicht mehr und tappte nur vorwärts, um wieder ins Freie, zu Menschen zu kommen. Da drang ein dumpfer Ton an ihr Ohr, er schien von unten zu kommen, ein metallisches Hämmern, ein Kratzen und Rascheln – der Athem stockte ihr. Sie folgte dem unerklärlichen Lärm – er wiederholte sich in kurzen Zwischenräumen und wies ihr den Weg in einen Seitengang, eine Treppe hinab. Ein kalter Luftzug wehte herauf – rechts aus einem dunklen Gang quoll leiser Lichtschimmer hervor. – Auf den Fußspitzen schlich sie ihm nach – jetzt klang es wie das Bersten irgend eines spröden Gegenstandes – dann fiel klirrend irgend etwas zu Boden –: „Diebe im Kassengewölbe!“ durchzuckte es sie. Sie wollte schreien, aber die Angst hielt sie ab. Zurück, lautlos, wie sie gekommen, und Alarm gemacht, das war das Beste! Schon war sie die Treppe hinaufgeeilt; unten war es schon wieder still, die Verbrecher ruhten offenbar in der Arbeit. Da plötzlich nahm der Lichtschimmer zu, es näherte sich etwas. Lähmender Schreck erfaßte sie, die Füße versagten ihr den Dienst. Wenn die Diebe sie hier entdeckten, so war sie verloren. Immer näher flammte der Lichtschein, deutliche Tritte ertönten, ein unerklärliches Rauschen – es war zu spät zum Entkommen, halb bewußtlos vor Angst flüchtete sich Bertha in eine dunkle Nische. Der Lichtbogen an der Decke über ihr vergrößerte sich, schon hörte sie hastiges Athmen – zu einem Knäuel sich zusammendrückend, starrte sie auf die Treppe – da mußte sie die Hand vor den Mund pressen, um nicht aufzuschreien: ein Licht erschien, ein bloßer Arm lehnte sich an die gegenüberliegende Mauer, er war von schmutzigen Flecken bedeckt, eine hohe Frisur, rothe Blumen darin, hob sich und blieb einen Augenblick regungslos – Bertha kannte diese Blumen – ein schwerer Seufzer wie nach einer großen Anstrengung drang herauf, dann bewegten sich die Blumen und der Arm. Lonis erhitztes Antlitz erschien über der Brüstung, ihr schweres Seidenkleid, über welchem eine große Küchenschürze hing, rauschte über die Stufen herauf.
Bertha zuckte ein furchtbarer Gedanke durch den Kopf. Sie hatte keine Angst mehr, entdeckt zu werden, sie sah nicht mehr auf die sich entfernende Gestalt, sie lauschte nur, ob ihr nicht jemand folge – Theodor! Schon herrschte wieder völlige Dunkelheit und sie lauschte noch immer; das Entsetzliche war wenigstens nicht wahr, was sie eben gedacht hatte! Sie hatte Theodor völlig Unrecht gethan, und die Freude darüber, daß sie sich getäuscht hatte, war so groß, daß sie im ersten Augenblick das unerklärliche Erscheinen Lonis an diesem Platz, das Geräusch, das sie aus dem Gewölbe gehört hatte, ganz vergaß. Erst als sie sich mit Mühe aus dem Labyrinth herausgefunden und das hellerleuchtete Stiegenhaus betreten hatte, fiel es ihr wieder ein. Die Erinnerung an die Angst vor den Dieben, den Einbrechern kam ihr wieder, noch zog ein Frösteln durch ihren Körper. Es waren ja aber keine Einbrecher gewesen, sondern Loni, und das Gerausch – dieses Knirschen und Kratzen, wo hatte sie das doch schon gehört? Sie mußte unwillkürlich an die Schlosserwerkstätte zu Hause bei Bergmanns denken; gerade so hatte sie es dort vernommen, als der junge Schlosser Georg mit dem fiebernden Blick von der goldstrotzenden Kasse erzählte – wenn er? – Aber wie kam dann Loni da herauf! Warum diese Hast in ihrer ganzen Erscheinung, woher der Arm mit den dunkeln schmutzigen Flecken – –?
Als Bertha wieder unter die Gesellschaft trat, war sie fest entschlossen, kein Wort von dem eben Erlebten zu sprechen, sondern nur zu beobachten; Loni mußte ja wieder erscheinen. Und richtig trat sie kurz darauf herein; Bertha glaubte zu bemerken, daß sie mit Stefanelly einen langen Blick wechselte. Auf ihrem Arm sah man noch deutlich einige dunkle Stellen, trotzdem er offenbar abgewaschen worden war. Sollte Loni selbst der Einbrecher gewesen sein? Aber wozu denn? Stefanellys Reichthum stand ihr ja zur Verfügung! Das hätte sie noch eher ihrem eigenen Bruder, dem verdorbenen Hans, zugetraut, der, in sein Kartenspiel vertieft, im Nebenzimmer saß. Am Ende war an der ganzen Sache nichts! Weiß Gott, was Loni geholt haben mochte, sie war ja die Hausfrau. Vielleicht war der Weinkeller da unten.
Jetzt trat Theodor zu Loni und Bertha gesellte sich wie zufällig zu ihnen.
„Nun, ist das Kunstwerk vollendet?“ fragte Theodor.
„Welches Kunstwerk, wenn man fragen darf?“ wandte sich Bertha an Loni.
„Eine Bowle, Bertha,“ entgegnete Theodor, „in welcher Deine Frau Schwägerin Meisterin sein soll.“
„Und die ich eben in der Küche selbst gebraut habe,“ vollendete Loni; „man kann so etwas nicht den Leuten überlassen.“
„In der Küche?“ fragte unwillkürlich Bertha.
„Wo denn sonst?“ entgegnete Loni.
„Ich dachte nur, es könnte ja auch wo anders, etwa im Keller gewesen sein.“ Und Bertha beobachtete bei diesen Worten Loni scharf, der eine Blutwelle ins Gesicht stieg.
Im Saale ordneten sich die Paare zur Quadrille, die Damen wurden geholt und daher das Gespräch abgebrochen. Bald darauf boten die Diener wirklich eine köstlich duftende Ananasbowle an.
Die Herren gruppirten sich um die frische Quelle selbst, eine riesige Bronzeschüssel auf einem Kredenztische, und Stefanelly brachte die Gesundheit der Damen aus. Man pries die Verfasserin dieses „köstlichen Gedichtes aus Champagner, edlem Wein und Ananas“, wie die Excellenz den Trank nannte, alles war in heiterster Laune. Auch Bertha dachte nicht länger mehr an das Erlebte, denn ohne Zweifel hatte Loni irgend welchen Bedarf zu dem Gebräu aus irgend einer Vorrathskammer geholt; vielleicht hatte dabei ein Schloß widerstanden, so daß sie es gewaltsam hatte aufbrechen müssen – daher wohl das verdächtige Geräusch. Wie kindisch von ihr, gleich an Diebe und Einbrecher zu denken.
Nur ihr Schwiegervater machte ihr Sorge. Stefanelly hatte offenbar den Alp noch immer nicht von seiner Brust genommen, und dem alten Mann gelang es nicht, seine Angst zu verbergen, sie schien eher gewachsen zu sein. Unstät irrte sein Blick ümher, eine unbestimmte qualvolle Erwartung lag in dem abgespannten bleichen Antlitze, dem auch das feurige Getränk keine Farbe verlieh.
Da trat plötzlich Hans zu der Gruppe in einer Erregung, an der Bertha sofort etwas ganz Eigenthümliches auffiel, etwas Gemachtes, Gewaltsames.
Er bat Stefanelly auf die Seite, flüsterte ihm etwas ins Ohr, der fuhr entsetzt zurück. das Glas entfiel seiner Hand und zerbrach klirrend am Boden; alles wendete sich nach ihm um.
[253]
[254] Bertha fühlte sofort: da war etwas Besonderes, Schreckliches geschehen, was in Zusammenhang stand mit dem, was sie erblickt hatte.
Stefanelly ließ sich auf einen Stuhl nieder, wischte mit dem Taschentuch über sein Antlitz, das den Ausdruck eines tödlichen Schreckens zeigte.
„Das ist entsetzlich! Gerade jetzt!“ stammelte er.
Alles drängte sich um ihn.
„Was ist geschehen? Ein Unglück? Um Gotteswillen!“
Wie ein Blitz durchzuckte den ganzen Saal die Empfindung einer Katastrophe, ohne daß jemand wußte, wie und wo. Das schlechte Gewissen regte sich unbestimmt in jeder Brust.
Stefanelly schien sich jetzt wieder gefaßt zu haben.
„Senden Sie sofort auf die Polizei, Herr Margold; es kann ja erst heute abend geschehen sein! Gehen Sie –“
„Was ist geschehen?“ rief es aus aller Munde immer dringender.
Stefanelly erhob sich mit leichtem Schwung, ein Lächeln kräuselte wieder seine Lippen.
„O, beruhigen Sie sich, nur im ersten Augenblick hat mich die Sache etwas gepackt. Es ist ja auch zu frech! Eine Kasse ist erbrochen und rein ausgeleert worden – eine halbe Million einfach futsch, wenn der Bursche nicht erwischt wird – das ist alles, meine Herrschaften. Wie gesagt, beruhigen Sie sich! – Ah, da sind Sie ja, Herr von Brennberg!“
Der Aufsichtsrath war vor ihn getreten, fahl, mit weit aufgerissenen Augen.
„Eine nette Ueberraschung für Sie! Die gestohlene Summe gehört dem Reservefonds der Grunderwerbungs-Genossenschaft an. Nun, erschrecken Sie nur nicht gleich so – die ganze Geschichte geht ja auf mein Konto, ich bin bestohlen, nicht die Gesellschaft. Sie müssen mir aber einen Kredit auf einige Monate verschaffen,“ sagte er in einem erzwungen scherzhaften Tone, „ein halbes Milliönchen ist auch bei mir nicht so rasch zusammengezählt. Mich ärgert nur die Frechheit dieser Diebsbande, und es ist mir ganz unerklärlich, wie sie an die Kasse kam! Na – wir werden ja sehen – lassen Sie sich nicht stören, meine Herrschaften – ich komme gleich wieder. – Musik!“ rief er laut.
Ein Straußscher Walzer begann.
Stefanelly wollte den Schauplatz der That selbst besichtigen und bat zu diesem Zwecke den erschrockenen Minister, den Rath Stürmling und Herrn von Brennberg um ihre Begleitung; am liebsten wäre die ganze Gesellschaft mitgezogen, um ihre Neugierde zu befriedigen, aber das ging denn doch nicht. Nur Theodor schloß sich auf das Drängen Berthas unaufgefordert an.
„Ist die Angelegenheit mit den viermalhunderttausend Mark in Ordnung?“ fragte Theodor flüsternd seinen Vater, mit ihm etwas zurückbleibend.
„Noch nicht – das heißt – dieser Zwischenfall – in ein paar Monaten, sagte er,“ stammelte unsicher Christian.
„Sie sind also noch nicht bezahlt?“ fragte Theodor.
Christian schüttelte den Kopf.
„Dann wurde ja eine leere Kasse erbrochen,“ flüsterte Theodor, die Hand des Vaters in wildem Zorne packend.
„Schweig! Ich beschwöre Dich. Später sollst Du alles erfahren – – ich bin ja unschuldig – ich wußte ja nicht – Gott. Gott!“ jammerte der gequälte Mann.
„Kommen Sie, Herr von Brennberg!“ rief Stefanelly vorn. „Sie müssen als Aufsichtsrath der erste sein, der den Raum betritt, um sich von dem Thatbestande zu überzeugen.“
Christian wankte vorwärts mit einem Blick auf Theodor, welcher noch einmal um Schweigen bat.
Bertha sah die Herren in dem engen Gang, der auf das Stiegenhaus mundete, verschwinden. Kein Zweifel, es war derselbe Weg, den Loni gegangen war. Sie stiegen die Treppe hinab, an der Nische vorbei, in welcher sie in Todesangst gekauert, und gelangten endlich in den gewölbten Gang, aus dem das verdächtige Geräusch herausgedrungen war. Eine eiserne Thür stand offen und ließ in einen kellerartigen Raum mit großen dunklen Schränken blicken; ein schwerer eichener Tisch stand in der Mitte, in welchen eine große Schiefertafel eingefügt war; kleine Holzschüsselchen standen darauf umher – man war in dem Gelddepot des Bankiers Stefanelly. Die Thür des einen Schrankes war weit aufgerissen, Papiere lagen am Boden umher, quollen aus den einzelnen Fächern, und als Stefanelly die Leuchte hob, glänzten einzelne Goldstücke am Boden, eine aufgebrochene Rolle fand sich in einem Fache.
Der Dieb hatte offenbar Eile gehabt und eben noch rechtzeitig die Flucht ergriffen, ehe er von Hans Margold überrascht wurde. Auffallend war nur, daß die zwei schweren Sicherheitsschlösser, welche die Thür des Geldschranks schlossen, kaum verletzt waren; nur außen war der Lack verkratzt, und auch an der Eisenthür, die in das Gewölbe führte, bemerkte man nur eine leichte Verbiegung der Riegel, welche den Verschluß herstellten.
Der Dieb konnte nur ein fachkundiger Mann gewesen sein, der es verstanden hatte, sich in den Besitz der Schlüsselabdrücke zu setzen und die sehr komplizierten Schlösser der Kasse förmlich zu studieren. Die sichtbaren Verletzungen konnten nur oberflächlich zur Nachhilfe gedient haben. Ja, der Minister, welchen diese Angelegenheit aufs lebhafteste beschäftigte, war überzeugt, daß dieselben überhaupt nur zum Scheine angebracht worden seien, um die Art des Einbruches zu verdecken und so die Verfolgung auf falsche Fährte zu lenken; wahrscheinlich hätte der Dieb die Zerstörung noch weiter fortgeführt, wenn er Zeit gehabt hätte, um die Täuschung vollständiger zu machen.
Diese Ansicht überraschte alle Anwesenden. Man sah sich erstaunt an und es herrschte eine augenblickliche Stille in dem niedrigen Raum. Das spärliche Lampenlicht auf dem Tische spiegelte sich in dem polirten, mächtigen Schranke und übergoß die einzelnen Gesichter der Anwesenden mit trübrother Gluth.
Stefanelly verlor einen Augenblick seine Sicherheit, er wußte nicht, sollte er dieser Vermuthung des Ministers beipflichten oder ihr entgegentreten.
Brennberg starrte wie gebannt auf den weit geöffneten Schrank.
In diesem Augenblicke trat, von Hans geführt, ein Polizeikommissar in den Raum. Alles wich zurück, auch der Minister.
Stefanelly gab an, wie er Hans Margold hierhergeschickt habe, um etwas zu holen, und wie er durch diesen von dem Diebstahl erfahren habe; dann untersuchte der Beamte die Schlösser. Alles schwieg erwartungsvoll, Stefanelly wollte weiter sprechen, aber der Kommissar winke ihm ab mit einem einfachen „Bitte“.
„Der gewaltsame Einbruch ist nur fingirt. Der Dieb öffnete mit Nachschlüsseln, kein Zweifel,“ erklärte er endlich.
„Dieselbe Ansicht äußerte bereits Excellenz,“ bemerkte Stefanelly.
Der Kommissar lächelte verbindlich und machte seine Notizen.
„Im Besitz der Schlüssel zu dem Raum und zu der Kasse waren Sie, Herr Stefanelly, und wer noch?“ fragte der Kommissar, Bleistift und Notizbuch in der Hand, mit dem unheimlichen, forschenden, stets argwöhnischen Blick der Männer dieses Berufes.
„Herr Baron Christian von Brennberg-Schönau, Aufsichtsrath der Gesellschaft, deren Reservefonds die Kasse enthielt, – dieser Herr hier.“ Stefanelly deutete, während er dies sagte, auf Brennberg, der sich krampfhaft an seinem Sohn festhielt.
Der Kommissar wandte sich um; wieder der forschende Blick, der für Christian eine Ewigkeit währte. Noch einen Augenblick länger, und er hätte alles gestanden.
„Und wann, meine Herren, haben Sie zum letzten Male die gemeinsamen Schlüssel benützt?“ fragte der Kommissar, die Augen jetzt fast vollständig schließend.
„Vor einiger Zeit! Es handelte sich um eine Reparatur!“ gab Stefanelly zur Antwort.
Der Kommissar öffnete die Augen.
„Um eine Reparatur? Und wer machte die Reparatur? In Ihrer Gegenwart natürlich –“
„Natürlich, in unserer beider Gegenwart,“ bestätigte Stefanelly.
„Und die Reparatur machte –?“ frug zum zweiten Male der Kommissar.
Brennbergs und Stefanellys Blicke trafen sich einen Augenblick. „Jetzt gilt’s“ lag in dem des Bankiers, „alles verloren, ich kann nicht“, in dem des andern.
„Ein Schlosser,“ sagte Brennberg; die Stimme schlug ihm um.
„Das denke ich mir,“ meinte der Kommissar und lächelte. „Aber welcher Schlosser? Den Namen bitte ich.“
Wieder trat eine auffallende Pause ein, es war, als ob jeder der beiden Herren dem andern das Wort lassen wollte.
„Schlossermeister Georg Bergmann aus der Mariannenstraße,“ erklärte Stefanelly geschäftsmäßig.
[255] Der Kommissar nickte, indem er den Namen aufschrieb.
„Kennen Sie den Mann?“
„Gewiß, er arbeitet seit längerer Zeit für mich.“
„Halten Sie ihn für ehrlich?“
Der Kommissar blickte bei dieser Frage dem Bankier fest ins Gesicht.
Wieder die schwüle Pause! Die Musik von oben drang gedämpft herab, wie aus unendlicher Ferne.
Stefanelly zuckte die Achseln.
„Ich kenne ihn weiter nicht, auch nicht seine Lage. Der Anblick des vielen Geldes hat ihn vielleicht verführt, für unmöglich halte ich es nicht,“ sagte er in festem Tone.
Christian hätte aufschreien mögen; wie Bergeslast wälzte es sich auf seine Brust, es flimmerte vor seinen Augen, er sah nur noch, wie der Kommissar eine Aufzeichnung machte, dann sank er ohnmächtig in die Arme seines Sohnes.
„Eine schlechte Luft hier,“ bemerke der Kommissar, „ich will Sie nicht länger aufhalten, meine Herren, ich bin fertig.“
„Bringen Sie Ihren Vater nach Hause,“ flüsterte Stefanelly Theodor zu, „die Sache hat ihn doch angegriffen, und ich möchte jedes neue Aufsehen bei meinen Gästen vermeiden.“
„Das glaube ich Ihnen,“ erwiderte Theodor in einem Ton, der Stefanelly stutzig machte. Dann führte er seinen nur mechanisch sich bewegenden Vater, dessen kummervolles Antlitz an seines Sohnes Schulter lehnte, mit Hilfe des Raths langsam hinaus.
Im Saale tanzte man noch, aber es war niemand mehr Ernst damit: eine drückende Stimmung herrschte, eine gewitterschwüle Ahnung wie vor irgend einem gewaltsamen Naturereigniß. Da unter ihren Füßen bereitete sich irgend ein dunkles Zerstörungswerk vor, vielleicht brannte schon die todbringende Lunte.
Die Freude ließ sich nicht mehr gewaltsam festhalten, der festliche Schein erhöhte nur das bange Gefühl. Man wollte möglichst rasch den unsicheren Grund verlassen, so heiter und sorglos auch Stefanelly schien, so dringend die Hausfrau auch bat, doch die herrliche Bowle über der unliebsamen Geschichte nicht zu vernachlässigen.
Es war noch nicht zwei Uhr, und schon lag das Palais Stefanelly finster und schweigend da wie eine böse That. Zwei Polizisten gingen vor der Front auf und ab, ihre Schritte hallten laut durch die Nacht.
Die Brennbergs hatten den Saal nicht mehr betreten. Stefanelly selbst theilte der in peinlichster Spannung harrenden Bertha das Unwohlsein ihres Schwiegervaters mit und ließ sie durch Hans an den Wagen geleiten, vor welchem Theodor bereits ihrer harrte. Sie stiegen ein zu dem matt, mit geschlossenen Augen, in der Ecke lehnenden Vater; nur in wenigen leise geflüsterten Worten sprach Theodor über die Ereignisse im Keller. Endlich athmete Christian schwer auf, blickte durch die Fenster auf die Straße und machte eine Bewegung, als wollte er halten lassen.
„Nicht wahr, sie können ihn nicht verurtheilen lassen, diesen Schlosser?“ fragte er plötzlich. „Ohne allen Beweis, nur weil er dort gearbeitet hat – einen ehrlichen Mann – sage, Theodor, können sie es?“
„Das wohl nicht, Vater, aber verhaften werden sie ihn, vor Gericht ziehen, und wenn sie keinen andern Thäter finden – wer weiß, – jedenfalls ist sein ehrlicher Name befleckt, geschändet –“
Christian stöhnte auf.
„Aber sie werden den wahren Thäter finden, und zwar wirst Du selbst ihn nennen, ehe ein Unschuldiger leiden muß.“
Bertha sprach diese Worte im Tone der vollen Ueberzeugung.
Christian sank vom Polster herab auf die Kniee und vergrub sein Antlitz in Berthas Schoß.
„Ja, ja, das wirst Du – was es auch koste!“ stimmte Theodor bei.
Der Wagen hielt vor der Brennburg.
Christian stieg ohne Hilfe aus, ging ohne Hilfe, festen Trittes die Treppe hinauf, begleitet von seinen Kindern.
„Du kennst also den wahren Thäter?“ fragte er, im Wohnzimmer angelangt, mit fester Stimme seinen Sohn.
„Stefanelly selbst!“ erwiderte dieser.
„Das ist unmöglich! Ich ließ ihn keinen Augenblick aus den Augen seit meiner Unterredung mit ihm, und erst dann konnte es geschehen sein; auch ich habe alle Grunde, daran zu glauben, aber die Möglichkeit ist doch nicht ausgeschlossen, daß ein sonderbares Zusammentreffen von Umständen vorliegt, ein wirklicher Einbruch –“
Theodor war freudig betroffen. „Du bist also unschuldig an diesem Betrug, wußtest nichts davon?“
„So wahr mir Gott helfe, ich wußte nichts davon. Stefanelly versprach nur, ein Mittel zu finden, um Zeit zu gewinnen, bis er die Summe zahlen könne, ein Mittel, das niemand Schaden bringen solle, und er bat mich, ruhig zuzusehen.“
„Ja dann – dann ist ja noch Hoffnung!“ jubelte Theodor. „Der Dieb konnte ja nicht wissen, daß die Kasse leer war, und Stefanelly benutzte vielleicht nur die nutzlos gesprengte Kasse – das wäre am Ende verzeihlich. Hans hat auch sein Kartenspiel nicht verlassen, bis kurz vor dem Augenblick, wo er die Nachricht brachte. Wer soll es nun gethan haben, wem konnte Stefanelly sich anvertrauen? Gott, wenn es so wäre – wenn doch dieser Schlosser Bergmann der Thäter – dann wäre es nutzloser Wahnsinn, sich zu verrathen. Bergmann ist ja dann ein Dieb und verdient seine Strafe, ob die Kasse leer war oder gefüllt!“
Ein Strahl der Hoffnung zuckte über beider Männer Antlitz.
„Und Loni?“ fragte jetzt Bertha, die ruhig zugehört hatte.
„Unmöglich, Loni, ein Weib!“ erwiderte Theodor, ärgerlich, in seiner Hoffnung; die in ihm immer mehr zur Gewißheit wurde, gestört zu werden, „außerdem war Loni die ganze Zeit an meiner Seite –“
„Bis sie in die Küche ging, um die Bowle zu bereiten,“ erwiderte Bertha.
„Wohin ich sie begleitete.“
„Das ist möglich; sie blieb aber nicht in der Küche, sondern ging in das Gewölbe. Ich selbst hörte sie dort ihre Arbeit vollbringen, ich selbst sah sie noch beschmutzt davon heraufkommen: Ich suchte Dich – Theodor – und mein Argwohn gegen Dich ward zum Verräther an ihr.“
Dumpfe Stille trat ein. Bertha sah den letzten Hoffnungsstrahl erlöschen auf dem Antlitz des Vaters und des Sohnes und ein qualvoller Kampf begann in ihrem Innern. Er währte lange. –
Christian hatte ihn zuerst überstanden.
„Es muß sein!“ sagte er, sich erhebend. „Gut! Genug der Lüge! Der Name Brennberg soll nicht durch ein neues Verbrechen gerettet werden!“ Dann trat er auf Theodor zu und ergriff seine Hand. „Es muß sein! Verzeih Deinem unglücklichen Vater – und jetzt laßt mich allein! Ich muß Abrechnung halten mit mir und den alten Brennberg von Schönau zusammensuchen: nur der kann vollbringen, was vollbracht werden muß.“ –
Der Morgen rang sich herauf und noch immer brannte Licht in dem Zimmer Brennbergs, – die Abrechnung war noch immer nicht fertig.
Bertha drängte es zu ihrem Vater; sie fühlte, daß bei ihm die Zukunft lag, daß für ihn ein heiliges Amt begann, worauf er sich wohl schon lange vorbereitet hatte. Auch der Verdacht, der auf Thereses Gatten lag, beunruhigte sie.
Sie schlich sich von der Seite ihres von Kummer und Verzweiflung ermatteten Gatten und eilte fort.
Vor dem Hause des Vaters sah sie schon von weitem eine für die frühe Tageszeit auffallende Menschenmenge versammelt; eine böse Ahnung stieg in ihr auf, sie beschleunigte ihre Schritte, sie fragte. was denn da vorgefallen sei, und unwirsch gab man der vornehmen jungen Frau die Antwort: „Verhaftet ist einer worden, soeben haben sie ihn fortgeholt aus dem Bett.“
Wer war der Verhaftete? Bertha bedurfte des Namens nicht, sie wußte ihn und es wankten ihr die Kniee. So rasch schritt das Verhängniß?
Im Hofe standen die Leute Kopf an Kopf, ein wilder Lärm herrschte. Männer schimpften, Weiber kreischten. „Das ist eine Gemeinheit,“ konnte man hören, „der Bergmann ist ein Ehrenmann! Weiß Gott, was dahinter steckt! Natürlich, nur keine Umstände machen, hinein ins Loch mit unsereinem – und nachmittag wieder heraus – was schadet’s dem Kerl!“
Bertha drängte sich durch und die Männer staunten über die kräftigen Rippenstöße einer vornehmen Dame. Was wollte die zu dieser Stunde hier? Einige Weiber erkannten sie und riefen ihr Lästerworte nach.
Polizei und Verbrecherthum der Reichshauptstadt.
Berlins Polizeiverwaltung, ihre Eintheilung und ihr Dienst.
„Millionenstadt!“ Eine stolze Bezeichnung, die ihrer Trägerin einen eigenthümlichen, halb großartigen, halb unheimlichen Glanz verleiht. Es ist noch gar nicht so lange – etwa fünfzehn Jahre – her, daß der Deutsche seines Reiches Metropole einrücken sah in die Klasse der Millionenstädte, daß er begann, in der Großartigkeit dieses Titels sich mit zu sonnen, dessen unheimliche Seite ja dem Fernerstehenden nicht so unmittelbar ins Bewußtsein tritt.
Aber vorhanden ist sie darum nicht minder, diese unheimliche Seite, und sie verdient eine ernste Beachtung. Der Zug zur Großstadt ist eine bezeichnende Erscheinung unserer Tage, die der Freund des Volkes mit sorgendem Blicke betrachtet; denn er weiß, wie viel gute, gesunde Elemente dort verderben, zu Grunde gehen oder in ihr Gegentheil verkehrt werden. Die Beleuchtung der Nachtseiten einer Großstadt wie Berlin hat darum unseres Erachtens einen hohen volkswirthschaftlichen Werth; es ist ein bitteres Stück Kulturgeschichte, das wir unseren Lesern in der Schilderung des Verbrecher- und Vagabundenwesens von Berlin und der Mittel zu seiner Bekämpfung vorführen, ein bitteres Stück Kulturgeschichte, dessen Lehre aber klar vor Augen liegt. Wir beginnen unsere Schilderung mit einer Darstellung des bewundernswerthen Organismus der Berliner Polizei, der uns von selbst den leitenden Faden zu den verschiedenen Gegenständen unserer Betrachtung liefern wird.
Als zu Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre Berlins unerwartetes, überraschend großes Wachsthum eintrat, als sich die Stadt im jungen Glanze der Kaiserkrone in unvorhergesehener Weise nach allen Seiten hin ausdehnte und ihre Bevölkerung, die bis dahin eine ziemlich beständige, hauptsächlich berlinische, gewesen, aus den preußischen Provinzen und den deutschen Bundesstaaten wie aus fremden Ländern den weitesten Zuwachs und hierdurch die bunteste Mischung erfuhr, da vergrößerte sich auch zusehends, fast von Tag zu Tag, das Arbeitsgebiet der hauptstädtischen Polizei, und auch sie erfuhr, wie die übrigen Berliner Behörden, eine durchgreifende Umänderung und Vergrößerung, um den so plötzlich vermehrten Pflichten in jeder Hinsicht gewachsen zu sein.
Es war ein großer Wirkungskreis, der sich ihr öffnete. Denn in demselben Augenblick, wo sich die preußische Residenz in die deutsche Kaiserstadt umwandelte, strömte zugleich mit dem frischen Bevölkerungszufluß auch von überallher lichtscheues Gesindel herbei, welches in der sich so gewaltig vergrößernden Weltstadt ein ersprießliches Feld für seine dunklen Thaten zu finden hoffte. Zahlen, die wir in diesem Artikel wiederholt zur Hilfe ziehen müssen, sprechen eine eindringliche Sprache: wurden 1868 in Isolirhaft 2898 und in den Polizeigewahrsam 23446 Personen gebracht, so zählte man 1880 bereits 4087 Isolirgefangene und 35423 in den Polizeigewahrsam Eingelieferte. Daß die Polizei aber rastlos bemüht war, diesen riesig gewachsenen Prozentsatz nicht in ähnlichem Grade steigen zu lassen, sondern ihn, wenn irgend angängig, mehr und mehr herabzudrücken, und daß sie hierbei den erwünschten Erfolg erzielte, beweisen die Zahlen des Jahres 1888, in welchem 4233 Isolirgefangene und 32759 in den Polizeigewahrsam Gebrachte zu verzeichnen sind, während sich doch inzwischen die Einwohnerschaft Berlins um nahezu 360 000 Seelen vermehrt hat!
In keinem Verhältniß hierzu stand und steht die Vergrößerung der Polizeimacht. Trotzdem genügten seit langem nicht mehr die zu ihrer Verfügung stehenden Räume, welche sich sogar gesondert in mehreren, von einander getrennten Gebäuden befanden. Den eigentlichen Mittelpunkt bildete „der Molkenmarkt“, wie allgemein in Berlin das am Molkenmarkt gelegene Polizeipräsidiumsgebäude genannt wurde: ein alterthümlich ausschauendes, verwittertes, düsteres Haus oder vielmehr eine Häusergruppe, die auf eine geschichtliche Vergangenheit zurückblicken kann und manches Jahrhundert an sich hat vorüberwandeln sehen. Denn wenn „der Molkenmarkt“ auch nicht mehr den Roland, welcher einst hier auf dem ältesten Markte der Stadt als Sinnbild ihrer höheren Gerichtsbarkeit stand, erblickt hat, so wird er doch schon im sechzehnten Jahrhundert als kurfürstliches Besitzthum erwähnt, zu welcher Zeit er mehrfach hervorragenden hohen Beamten und Generalen als Wohnung gedient hat. 1791 erhielt der Magistrat Berlins das Gebäude von dem Fiskus zur [257] Errichtung eines Stadtgefängnisses, und während letzteres – die sogenannte Stadtvogtei – seinen Platz in dem bisherigen Garten dicht an der Spree bekam, wurde das Vorderhaus für die Polizeiverwaltung bestimmt.
Wenn man sich von äußeren Eindrücken leiten lassen will, so paßte dasselbe gut für eine „rächende und richtende“ Behörde, und phantasievolle Romanschriftsteller konnten sich für ihre schauerreichen Kriminalgeschichten keinen besseren örtlichen Hintergrund wünschen als diesen ehemaligen kurfürstlichen Palast. Mitten im alten Berlin gelegen, in einem Gewirr enger, verbogener, baufälliger Gassen und Straßen, deren jede mehr erzählen könnte als die gesammten neuen Stadttheile; bespült auf der einen Seite von den Wellen der hier ziemlich breiten Spree, von deren jenseitigem Ufer die wackeligsten, schiefsten, verwittertsten Häuschen herüberschauen; selbst finster, verdrossen, unheimlich zum Ansehen, mit ausgetretenen, knarrenden hölzernen Treppen und Dielen, mit langen, verworrenen, durcheinander führenden und schlecht beleuchteten Gängen, mit kleinen, niedrigen, von Moderluft erfüllten Zimmern und Kabinetten, mit winkeligen, von hohen Mauern begrenzten Höfen, auf welche theilweise vergitterte Gefängnißfenster hinausgingen – gewiß, man konnte es den Berinern und noch mehr den Berlinerinnen nicht verdenken, wenn für sie „der Molkenmarkt“ etwas geheimnißvoll Unheimliches, etwas Spukhaftes, Furchtbares hatte, und wenn sich selbst diejenigen, deren Gewissen rein war wie erster Winterschnee, nicht einer leichten Beklemmung erwehren konnten, sobald sie zum ersten Male die abgenutzten steinernen Stufen emporschritten und sich hinter ihnen die große, eisenbeschlagene eichene Thür, vor der stets ein Schutzmannsposten stand, schloß! –
Auf spukhafte Einwirkungen jedoch und geschichtliche Erinnerungen nimmt die Gegenwart keinerlei Rücksicht, sie kennt nur die gebietende Nothwendigkeit von Zweckmäßigkeitsgründen, und letztere erheischten seit Jahren bereits dringend ein anderes Heim für Berlins Polizei, welches sämmtliche Abtheilungen derselben unter einem Dache vereinigte.
Im Frühjahr 1886 wurde auf einem umfangreichen, dem Alexanderplatz benachbarten und sich längs der Stadtbahn hinziehenden Platze mit dem Bau eines neuen großen Polizeipalastes begonnen und derselbe mit einem Kostenaufwand von 5 150 000 Mark bis zum Herbst 1889 beendet, so daß im vergangenen Jahre die vollständige Uebersiedlung der Polizeibehörden dorthin stattfinden konnte. In mächtiger Höhe und gewaltiger Ausdehnung erhebt sich dieses Bauwerk, nächst dem Königlichen Schloß und dem entstehenden Reichstagsgebäude das größte in Berlin, denn es umfaßt einen Flächeninhalt von nahezu sechzehntausend Quadratmetern, von denen an elftausend bebaut sind. In seinem Aeußern, das aus hellrothen Ziegelsteinen, belgischem Granit und schlesischem Sandstein besteht, macht es einen ungemein stattlichen Eindruck, wenngleich man den mit den Bronzestandbildern des Großen Kurfürsten, König Friedrichs I., Kaiser Wilhelms I. und Kaiser Friedrichs III. geschmückten Fassaden eine größere architektonische Mannigfaltigkeit wünschen könnte.
Die Ausführung des Inneren ist eine äußerst gediegene. Eine besonders treffliche Einrichtung erfuhr die im ersten Stock gelegene Dienstwohnung des Polizeipräsidenten, zu welcher ein eigener, aus weißem Marmor bestehender Treppenaufgang hinaufführt. Der südliche Flügel enthält die Gefängnißräume; dieser Flügel ist von oben bis unten durch einen Mittelgang getheilt, welcher einen Ueberblick über alle sechs Stockwerke gestattet und nur auf seitlichen Galerien zu begehen ist, von denen aus man in die Zellen tritt. An den Thüren der letzteren befindet sich je eine rothweiße Scheibe, die, an einem Stabe befestigt, herausspringt, falls der Gefangene etwas zur Kenntniß der Aufseher bringen will. Im Erdgeschoß liegt der für vorübergehend aufgegriffene Personen bestimmte Polizeigewahrsam, aus einem größeren und kleineren Haftraum für Männer und Frauen bestehend, sehr leicht durch sogenannte „Judasse“ zu beaufsichtigen, kleine trichterförmige Oeffnungen, welche von außen die Beobachtung eines weiten Kreises gestatten. Auch für die Pferde der reitenden Schutzmannschaft ist gesorgt, nicht nur durch vorzügliche Stallungen, wobei wir als Merkwürdigkeit erwähnen, daß dieselben in zwei Stockwerken übereinander liegen, sondern auch durch eine große Reitbahn, in welcher sehr gut zwei Schwadronen üben können, und ferner durch sehr praktische Ställe für verletzte und kranke Pferde.
Ehe wir uns mit dem Beamtenheer beschäftigen, das dieser Polizeipalast Tag für Tag beherbergt, und einen Blick in das vielgestaltige Rädergetriebe dieser Verwaltung werfen, dürfte eine flüchtige Rückschau auf die Entwicklung der Berliner Polizei am Platze sein. Einst wurde dieselbe gänzlich von dem Rath der Stadt ausgeübt, 1735 jedoch theilten sich in die gemeinschaftliche [258] Handhabung der Magistrat und das Gouvernement, und wenige Jahre später, 1742, bestimmte Friedrich der Große den jedesmaligen Stadtpräsidenten zum Polizeidirekor. Dieser war nach einer 1782 erschienenen ausführlichen neuen Instruktion nur vom König und von dem Generaldirektorium abhängig. er hatte die alleinige Anordnung und Erkenntniß in allen Polizeisachen und mußte auch für alles, was damit zusammenhing, einstehen. Seine Zuständigkeit in Polizeisachen war daher allgemein, und es standen hierin alle Einwohner wie Fremde unter ihm; er konnte in dringenden Fällen sogleich Arreste verfügen, wobei alle Wachen, auf sein oder der Polizeikommissarien auch nur mündliches Verlangen, die nöthigen Mannschaften stellen mußten.
Der Polizeidirektor berichtete jährlich unmittelbar an den König vom Zustand der Stadt, von der Zahl der Einwohner, von der Zu- und Abnahme der Manufakturen und Fabriken sowie anderer Beschäftigungszweige, schließlich von allen übrigen, das Wohl und die Verbesserung der Residenz betreffenden Sachen. Ihm standen als Beisitzer drei Rathsmänner zur Seite. außerdem waren unter ihm ein Polizeiinspektor und zwei Polizeimeister, neben mehreren Marktmeistern und Polizeidienern, thätig; von letzteren versahen 24, darunter drei berittene, den Dienst auf den Straßen; für die Ruhe während der Nacht sorgten etwas über hundert Nachtwächter, mit einem Horn, einer Pfeife und einer „Pike“ ausgerüstet. Das Arbeitsfeld dieser vier Männer war ein sehr ausgebreitetes, sie hatten nicht nur alle Polizeisachen zu erledigen, sondern auch „die Sorge für gehörige Feier der Sonn- und Festtage, die Direktion des Gesindeamts, die Besorgung, daß die Residenz mit Getreide, Brot, Fleisch, Bier, Fischen und allen Viktualien, Heu, Stroh etc. versorget, die Zufuhr befördert und niemand übersetzet noch bevortheilt werde. Alle Marktaachen, Hökersachen und Verkäufereyen. Die Aufsicht auf das Stadtmagazin, aufs Schlachten, Backen und Brauen nebst Anfertigung der Taxen; die Aufsicht auf die Wirthshäuser, Garküchen, Wein-, Bier-. und Kaffeehäuser, und daß darin keine Hazardspiele geduldet werden, die Aufsicht auf die Glückstöpfe etc., auf gemeine Tanzböden und lüderliche Häuser. Aufsicht auf richtige Ellen, Maß und Gewicht, auf daß solche geeichet sind, aufs Hausiren, auf die Fiaker und Fuhrleute, und auf den Leichenkomissar, auf die Nachtwachen, auf die nächtliche Sicherheit der Straßen, auf die Reinigung derselben, aufs Pflastern, Aussetzung der Steine an den Kanälen und Konservation der Linden, auf Verhinderung der Aufläufe des gemeinen Volks, und andern Muthwillen, und Aufmerksamkeit auf die sich einschleichenden Vagabunden und verdächtige Leute.“ Eine gewaltige Aufgabe, wie man sieht, und nur ein paar Dutzend Menschen zu ihrer Bewältigung, von denen, wie schon erwähnt, genau 24 die Sicherheit der Stadt anvertraut war!
Ueber den Grad der öffentlichen Sicherheit in dem Berlin jener Tage gehen die Meinungen der Zeitgenossen auseinander; denn wenn Friedrich Nicolai behauptet, daß viele Jahre vergehen, ehe man von einem Straßenraube höre, daß man von Diebesbanden nie etwas vernehme, von einem Mord überhaupt nicht und von Einbrüchen und anderen beträchtlichen Diebstählen vergleichungsweise nicht oft, daß man auf den Straßen die ganze Nacht hindurch ebenso sicher gehen könne wie bei Tage – so wissen andere Chronisten von Diebstählen, und zwar sehr beträchtlichen, ebenso von gewaltsamen Anfällen zur Abendzeit auf öffentlichen Plätzen zu berichten, und sie heben hervor, daß, wenn die Polizei aufpaßte, viele Dieberei verhindert werden könnte, daß ferner bei der Nachlässigkeit der Bettelvögte das Gesindel freies Spiel habe und in ruhiger Sicherheit fortlebe, da es wisse, daß es seine Wächter mit einigen Groschen abfinden könne! –
Bei der Städteordnung, welche im November 1808 in Kraft trat, wurde die Polizeiverwaltung gänzlich vom Magistrat getrennt und ein besonderes Polizeipräsidium gebildet, welches erst einem eigenen Polizeiministerium, dann aber – und so ist’s noch heute – dem Ministerium des Innern unterstellt wurde. Damals waren von jenem Präsidium abhängig die Polizeiintendantur, die Aichungskommission und die (später aufgelöste) Kommission von Bauhandwerkern, ferner sonderbarerweise die Charité, die Thierarzneischule sowie sämmtliche in Berlin wohnenden approbirten Aerzte. Als ausübende Gewalt diente zunächst die 1812 gebildete Bürger- und Nationalgarde, dann, nachdem diese von der Bildfläche verschwunden war, die Gendarmerie, bis endlich 1848 der Polizeipräsident von Minutoli diesem zwitterhaften Zustande ein Ende machte und nach dem Muster der Londoner Polizei eine eigene, blauuniformirte, mit Säbeln und großen, schwarzen, numerirten Filzhüten versehene Schutzmannschaft einrichtete, die zunächst aus 1 Oberst, 4 Hauptleuten, 15 Lieutenants. 95 Wachtmeistern und 654 Schutzmännern bestand. Mit dem Wachsthum Berlins trat auch eine allmähliche Vermehrung ein, und heute bildet diese „Schutztruppe“ schon eine kleine Armee für sich, denn sie setzt sich jetzt zusammen aus: 1 Oberst, 16 Hauptleuten, 4 Kriminalpolizeiinspektoren, 104 Lieutenants, 42 Kriminalkommissaren, 331 Wachtmeistern, 3369 Schutzmännern, davon 240 beritten, und 20 Polizeianwärtern. Den Dienst während der Nacht versehen 1 Nachtwachtinspektor, 47 Nachtwachtmeister und 475 Nachtwächter. Alles in allem stehen im Dienste der Berliner Polizei, deren Leitung seit einem starken Jahrzehnt Freiherr von Richthofen in Händen hat, Bureaubeamte und alles eingeschlossen, 5577 Personen, die Kosten belaufen sich jährlich auf weit über 8 Millionen Mark!
Nun eine kurze Uebersicht der Eintheilung des Polizeipräsidiums, die uns zugleich einen Begriff giebt von der ungeheuer vielfältigen Inanspruchnahme dieses großartigen Organismus. Das Polizeipräsidium zerfällt in sechs Abtheilungen, von denen die erste („Regierungsabtheilung“) im großen und ganzen die eigentlichen Verwaltungs- und landespolizeilichen Sachen bearbeitet, während die übrigen fünf mehr die Geschäfte der örtlichen Polizei besorgen. Von der ersten Abtheilung sind außerdem einzelne Geschäftszweige abgetrennt worden, welche sich mit der Zeit zu selbständigen Unterabtheilungen entwickelt haben, wie z. B. die unter der persönlichen Leitung des Präsidenten stehende politische Polizei. Mannigfach sind im übrigen die Geschäfte der ersten Abtheilung, von denen wir hier nur erwähnen wollen: die Bearbeitung derjenigen Angelegenheiten, welche auf die Verfassung und den Organismus der Polizeiverwaltung Bezug haben, ferner jener Verwaltungssachen, welche sich auf Eigenthums- und sonstige Rechte des Staates und dessen Vertretung in gerichtlichen Streitverfahren beziehen, dann die Aufsicht über die Verwaltung der Stiftungen, die Angelegenheiten der öffentlichen und Privattheater, die Aufsicht über die Verwaltung der Versicherungsanstalten und der Unterstützungskassen etc., das Auswanderungswesen, die Straßen- und Verkehrs- sowie Strompolizei, die Regelung und Ueberwachung des Marktverkehrs, die Sanitäts-, Medizinal- und Veterinärpolizei, das öffentliche Anschlagswesen, die Angelegenheiten der Schutzmannschaft und Feuerwehr, die Fabrikinspektion etc.
Die zweite Abtheilung hat die eigentlichen ortspolizeilichen Geschäfte zu erledigen, so u. a. die Aufsicht über die Gast- und Schankwirthschaften, die öffentlichen Lustbarkeiten und Schaustellungen, die Musikanten, Drehorgelspieler, Kunstreiter etc., die Beaufsichtigung der Trödler und Pfandleiher, die Kontrolle der Gesinde- und Ammenvermiether, die Ertheilung der erforderlichen Berechtigungsscheine zum Gewerbebetriebe an Handlungsreisende, Hausirer etc., die Untersuchung und Abhilfe bei Beschwerden über gesundheitsschädliche Wohnungen, den Handel mit Giften, die Abladestellen für Schnee und Eis, die Sorge für die Unterbringung und den Unterhalt der Geisteskranken, die Aufsicht über die Haltekinder und Haltefrauen, ferner über die Vermiether von Schlafstellen und „Pennen“, die Ausfertigung der Jagdscheine, die Armen- und Unterstützungs-, sowie die Requisitions- und Militärsachen, die Aufsicht über das öffentliche Fuhrwesen etc.
Die dritte Abtheilung umfaßt die gesammte Baupolizei, soweit sie nicht als städtische Straßenbaupolizei in die Verwaltung der Stadt übergegangen ist.
Die vierte Abtheilung enthält die Sicherheits- und Sittenpolizei und zerfällt in drei Unterabtheilungen, in die allgemeine Sicherheits-, in die Kriminal- und in die Sittenpolizei.
Die fünfte Abtheilung fertigt die Pässe, Leichenpässe, Heimathskarten, Gesindebücher, Führungsatteste etc. aus, hat die persönlichen Verhältnisse Neuanziehender zu erörtern und die Gesindestreitigkeiten zu schlichten; zu ihr gehört auch das Fundbureau und das Einwohnermeldeamt.
Die sechste Abtheilung endlich beschäftigt sich mit der Bestrafung von Uebertretungen, allerdings nur von solchen, wo die Strafe fünfzehn Mark oder drei Tage Haft nicht überschreitet; sie erledigt ferner die dieses Strafgebiet betreffenden Gesuche auswärtiger Polizeiverwalter um Behändigung von Strafverfügungen oder um Strafvollstreckung. – –
[259] So umfassend dieser Verwaltungsapparat ist, so umfassend ist auch seine Arbeitsthätigkeit, denn allein bei der vierten Abtheilung gingen im letzten Jahre nicht weniger als 262032 Sachen ein, von denen 82 536 auf das Kriminalkommissariat, 117846 auf die allgemeine Sicherheitspolizei und 32759 auf den Polizeigewahrsam entfielen. Diese Ziffern veranschaulichen besser als lange Beschreibungen die trübe Kehrseite der sonst so glänzenden, vielbewunderten deutschen Kaiserstadt! Und noch schlimmer ist der Einblick in die Einzelheiten dieser Zahlenreihen, denn von den 82536 Eingängen beim Kriminalkommissariat bezogen sich 4233 auf wegen eines Verbrechens verhaftete und zur Isolirhaft gebrachte Personen, 75656 betrafen Anzeigen über vorgekommene Verbrechen und Requisitionen von Staatsanwälten, Untersuchungsrichtern und anderen Behörden, 1503 Anzeigen über falsches Geld, 1144 waren Depeschen. Von den 34326 Anzeigen über vorgekommene Verbrechen und Vergehen betrafen 11 466 Diebstahl, 234 Taschendiebstahl, 1443 Betrug, 1755 Unterschlagung, 1488 Körperverletzung, 359 Verbrechen und Vergehen gegen die Sittlichkeit, 534 Hausfriedensbruch, 60 Raub, 339 Sachbeschädigung, 219 Drohung, 55 Beleidigung, 77 Hehlerei, 108 strafbaren Eigennutz, 63 Hazardspiel, 90 Erpressung, 58 Urkunden- und Wechselfälschung, 200 Beamtenbeleidigung, 50 Meineid, 36 Aussetzung eines Kindes, 52 aufgefundene Kindesleichen, 128 aufgefundene unbekannte Leichen, 6466 Unglücksfälle, 145 versuchten Selbstmord, 329 Selbstmord, 307 plötzlichen Todesfall, 213 gesuchte Personen, 655 vermißte Personen, 430 Mißhandlung, und so fort.
Ein furchtbares Register, und wieviel Ungeheuerliches, Ungeahntes, Widermenschliches birgt es in seinem Innern!
Nun zu den Verurtheilten, von denen uns der Polizeibericht in jenem einen Jahre 12719 Personen aufzählt, unter denen 4689 bereits vorbestraft waren. Bei 2084 Personen erfolgte die Verurtheilung wegen Verbrechens und Vergehens gegen Staat, Religion und die öffentliche Ordnung, bei 4171 gegen die Person (darunter 24 wegen Raubs, 195 wegen Körperverletzung, 17 wegen Mords und Mordversuchs), und bei 6432 gegen das Vermögen. Unter 2091 wegen Diebstahls eingelieferten Personen befanden sich 459 Einbrecher. 1085 der Verurtheilten waren weniger als achtzehn Jahre alt, und sie stellten gerade einen hohen Prozentsatz zu den Dieben und Einbrechern. Unter Polizeiaufsicht standen 960 Personen; 15388 (darunter 1156 Frauen und 269 Kinder) wurden wegen Bettelei aufgegriffen und 6799 wegen Trunkenheit, von letzteren wieder 160 unter achtzehn Jahre alt! Bei 67 Kindern wurde die Zwangserziehung eingeleitet, bei 60 entzog man deren Eltern das Erziehungsrecht. 716 Kinder wurden bei der Polizei zur Bestrafung angezeigt, davon allein 316 wegen Diebstahls, 12 wegen Betrugs, 14 wegen Brandstiftung, 23 wegen Körperverletzung etc. Unter den 6466 beim Leichenkommissariat eingegangenen Anzeigen über Unglücksfälle etc. befanden sich nicht weniger als 1114 mit tödlichem Ausgang, darunter 37 infolge von Brandwunden, 176 von Erhängen, 60 von Erschießen, 19 von Ersticken, 93 von Ertrinken, 60 von Sturz aus dem Fenster, 52 von Ueberfahren, 25 von Verbluten, 56 von Vergiftungen etc.
Genug, genug dieser entsetzlichen Schattenseiten des weltstädtischen Lebens!
Erwähnen müssen wir schließlich noch, daß über Berlin vertheilt sind 10 Bezirkshauptmannschaften und 82 Polizeibureaux, welch letztere sich mit der Aufsicht ihrer einzelnen Reviere zu beschäftigen und in allen nöthigen Fällen sofort Berichte an das Polizeipräsidium zu erstatten haben. Die eigentliche „ausübende Gewalt“ dieser Polizeibureaux, deren Leitung je einem Polizeilieutenant übertragen ist, bildet der Schutzmann, der stets aus dem Unteroffizierstande hervorgegangen ist; auf hunderterlei Sachen muß er Obacht geben und seine Verantwortlichkeit ist eine große: er soll nicht nur über die Sicherheit, Ruhe und Ordnung der Straße wachen, er muß daneben auch unzähligen anderen Dingen seine Aufmerksamkeit widmen, bald die vorüberfahrenden Wagen mustern, ob alles an ihnen in Ordnung ist, bald die Firmenschilder und Schaufensterauslagen beaugenscheinigen; hier soll er einem Fremden Auskunft geben und dort bittet ihn ein Vorübergehender, einer Thierquälerei zu steuern, da wird ihm ein verirrtes Kind zugeführt und im nächsten Augenblick schon soll er einen Ueberfahrenen zur nächsten Sanitätswache bringen, gleich darauf gilt’s, einen Tumult zu schlichten, und dann muß er eine Matrone über den verkehrsreichen Fahrweg geleiten – kurz, überall soll er seine Augen haben und überall soll er zu gleicher Zeit sein. In drückender Hitze und bei eisigem Winde, in Regen und Sturm hält er auf seinem Posten aus, und wenn er nicht immer sanfter Stimmung ist, so kann man’s ihm wahrlich nicht verdenken. Der Vertreter des wachsamen Gesetzes nach außen hin, ist er zugleich die Verkörperung des Pflichtbewußtseins, der treue Diener eines strengen Dienstes, und mit diesem freundlichen Bilde wollen wir für heute schließen – es wird der trüben noch genug in den nächsten Abschnitten geben!
Blätter und Blüthen.
Das erste Vierteljahrhundert des „Allgemeinen deutschen Frauenvereins“. „Aus kleinen Anfängen Großes!“ so darf heute wohl der deutsche Frauenverein mit berechtigtem Stolze sagen, wenn er zurückblickt auf seine Gründung im Jahre 1865. Damals war es ein kleines Häuflein tüchtiger und für die Förderung ihres Geschlechtes begeisterter Frauen, welche zum ersten Frauenbildungsverein zusammentraten. Sie verließen die Bahn der bis dahin allein üblichen Wohlthätigkeitsvereine, um ihren Mitschwestern die größte Wohlthat, Bildung zur selbständigen Erwerbsfähigkeit, zu vermitteln. und es ist staunenswerth, zu welchen Ergebnissen diese anfänglich sehr harte Pionierarbeit int Laufe von 25 Jahren gelangt
ist.[1] Im Einverständniß mit dem Letteverein in Berlin nahm man allmählich das ganze Gebiet weiblicher Thätigkeit in Angriff: Haushaltsschulen mit Speiseanstalten, Handels- und Fortbildungsschulen, Fachunterricht in den verschiedensten Gewerben gehen heute Hand in Hand mit den höheren Bildungsanstalten, Lehrerinnen- und Arbeiterinnenheimstätten, Kindergärten, Heil- und Pflegeanstalten. Wahrlich ein großes Gebiet segensreicher Kulturarbeit, welches sich hier die deutschen Frauen ohne Staatshilfe, ja vielfach im Kampfe gegen Vorurtheile aller Art errungen haben!
Und heute ist alles selbstverständlich, was vor 25 Jahren gefährliche oder lächerliche Neuerung schien. Alljährliche Frauenversammlungen, in welchen Frauen öffentlich reden, haben heute nichts Auffallendes mehr. Hunderte von aufmerksamen Zuhörern beider Geschlechter folgen den Verhandlungen der Verbandstage, deren letzter im Oktober v. J. in München stattfand und sich zu einem befriedigenden Rückblick auf ein segensreiches Wirken und zum hoffnungsvollen Ausblick in die Zukunft gestaltete. Der Verein verfügt bereits über so bedeutende Mittel, daß er von jetzt an begabte Mädchen mit Stipendien zum Studium bedenken kann. Möchten doch noch viel mehr deutsche Frauen und Mädchen sich ihm anschließen, um in gemeinsamer Arbeit mit den Besten ihres Geschlechtes den Weg zu wandeln, der dem Frauenverein so großartige Erfolge verschaffte: den Weg der ehrlichen, arbeitsamen Selbsthilfe, der in diesem Fall zugleich Tausenden von andern zur Hilfe wird! Brn.
[260] Schwere Arbeit. (Zu dem Bilde S. 253.) Wir befinden uns an der Küste der Normandie, deren Bewohner – mit Ausnahme einiger weniger in den großen und kleinen Seebädern – ihren Lebensunterhalt lediglich dem Kampfe mit dem Meere verdanken. Die Fischerei ist aller Orten ein mühsames Gewerbe, das seinen Mann nur kümmerlich ernährt; aber merkwürdigerweise findet man in keinem andern Stand noch Gewerbe so zufriedene und stillheitere Gemüther wie gerade bei der Fischerei. Die normännischen Fischer besonders zeichnen sich durch fröhliche Genügsamkeit aus; sie sind ein liebenswürdiges Völkchen, das die schwerste Arbeit mit guter Laune unternimmt.
Eine schwere Arbeit ist es in der That, ein heimkehrendes Boot zu „debarkieren“, wie es unser Bild zeigt. Ein großer Theil der nordfranzösischen Küste hat nämlich keinen guten Ankergrund, es fehlt der Sand, in dem der fallende Anker tief eingreifen könnte; statt dessen ist der Meeresboden und der ansteigende Küstensaum mit einer hohen Schicht kleiner flacher Steine bedeckt, die nicht nur dem Anker jeden festen Halt verwehren, sondern auch das verankerte, mit der Fluth auf- und niederschwankende Fahrzeug beschädigen würden. Es ist daher nöthig, jedes „einkommende“ Schiff zu „debarkieren“, d. h. auf den trockenen Strand zu bringen. Freilich fehlt es den Schiffern bei diesem Geschäft an Dampfwinden und sonstigen kostspieligen Maschinen, sie benutzen vielmehr die allerursprünglichste Winde, die es geben kann, den „capstan“ oder „cabestan“, ein höchst einfaches Holzgerüst, dessen mittlerer, sehr kräftiger Stamm durch eingeschobene „Bäume“ gedreht werden kann. Die bewegende Kraft wird von menschlichen Armen geliefert. Sobald ein herannahendes Fischerboot vom Strande aus bemerkt wird, kommt die ganze Verwandtschaft des Bootes bei dem „cabestan“ zusammen, von den Kartoffeläckern eilen die Frauen herbei, Greise rappeln sich auf, und die Kinder lassen in der Dorfstraße ihre Spiele im Stich: gilt es doch, das theuerste Gut der Familie, das Boot, in Sicherheit zu bringen.
Die Schaluppe hat inzwischen ihre Segel gestrichen und ihren Bug geradeaus dem Lande zugekehrt. Sobald sie leise den Grund berührt, steht auch schon an der Wasserkante ein Mann mit einem Tau bereit, das von der Schaluppenbesatzung an dem unteren Bug des Schiffes befestigt wird. Droben am Strande ist unterdeß das andere Ende des Taus um die Winde gelegt worden, die „Bäume“ sind eingesteckt und es beginnt nun der lustigste Rundlauf um die Winde, an dem unter Singen und Pfeifen alles theilnimmt, was gesunde Lungen und brauchbare Beine hat. Das Vergnügen dauert aber nur einige Minuten, alsdann ist das schlaffe Tau so weit aufgewunden, daß es die Last des Schiffskörpers spürt, es beginnt sich straff zu spannen, es knarrt und ächzt. Das ist der Zeitpunkt, wo die Kinder und die Schwachen die Runde verlassen und die Erwachsenen und Starken ihre Kräfte doppelt anstrengen. Jetzt geht es nur noch sehr langsam rundum, tiefe Stille ist eingetreten, denn jeder Athemzug wird in Zugkraft verwandelt. Die Schaluppe muß dem Taue folgen. Zunächst schwankt sie auf den letzten heranzüngelnden Wellen, während ihr eisenbeschlagener Bug im Geschiebe knirscht. Hat aber ihr Kiel das trockene Land berührt, dann stehen schon die Kinder mit geölten Rundhölzern bereit, die sie unter den Kiel legen, und zugleich ist der Führer der Bootsbesatzung herabgesprungen und sucht, indem er sich an der Bordswand in Taue hängt, durch seinen Körper das Gleichgewicht des Schiffes zu erhalten. Langsam, ganz langsam kriecht nun das Schiff aufs Trockene. Erst wenn es so hoch ist, daß es von den „Brechern“ (Brandungswellen) und auch von der gewöhnlichen „Tide“ (Fluth) nicht erreicht werden kann, löst man es von seiner Fessel und hat nichts dagegen, wenn es sich seitwärts neigt, um in dieser Lage ruhig zu verharren, bis es die nächste Fahrt antreten muß.
Als ich das erste Mal den Vorgang des Debarkierens an der normännischen Küste beobachtete (es war zwischen Fécamp und Etretat), redete ich eine junge Frau an, die sich die hellen Schweißtropfen von der Stirn wischte, – sie hatte nämlich tapfer mitgezogen.
„Das ist harte Arbeit! Wie?“ fragte ich.
„Ah, Madame, das ist ein Vergnügen!“ war die Antwort.
„Ein Vergnügen?“
„Ja, Madame, denn mein Pierre und ich erinnern uns jedesmal des Tages, da er mir zum ersten Male half, die Schaluppe meines Vaters zu debarkiereu.“
„Ah,“ machte ich, verständnißvoll einen Blick auf den nebenher schreitenden Pierre werfend.
In der Folge fand ich es bestätigt, daß junge Liebhaber, die zufällig nicht mit „auf der Fahrt“ sind, ihre Liebe dadurch zu erkennen geben, daß sie dem geliebten Mädchen beim Debarkieren, also bei der schwersten Arbeit, helfen; ein Liebesbeweis, der es verdient, tieferen Eindruck hervorzubringen, als das „Fensterln“ der Burschen im Hochgebirge. H. P.
Das Opfer der Minerva. (Zu dem Bilde S. 245.) Minerva, der Göttin der schöpferischen Erfindsamkeit, der Schutzpatronin aller Künste und Fertigkeiten und so auch der weiblichen Spinn- und Webethätigkeit, fehlte es im alten Rom nicht an eifrigen Verehrerinnen. Wir sehen es auf unserem Bilde, wo ein junges Mädchen mit ihrer Opferspende an Blumen und Früchten der Statue der hehren Göttin sich naht, damit diese das Werk der zierlichen geschickten Hände, welche die Gabe darreichen, mit ihrem Segen begleite. In der bekränzten Tempelnische ragt das Bild der Göttin empor, mit dem Helme auf dem Haupte wie die griechische Pallas Athene, mit welcher Minerva in der Vorstellung der späteren Römer allmählich ganz zusammenwuchs. Räucherwerk sendet seine duftenden Wolken empor, von der in weites weißes Gewand gehüllten, feierlich bekränzten Priesterin unterhalten. Ringsumher am Boden verstreut aber erblicken wir welkende Blumen, die Spuren derer, die vordem schon der Göttin den Zoll ihrer Verehrung dargebracht haben.
Kleiner Briefkasten.
P. R., Nürnberg. Sie sind eine langjährige Leserin der „Gartenlaube“, und doch haben Sie noch nicht gelesen, was wir schon unzählige Male wiederholen mußten, daß wir keinen ärztlichen Rath ertheilen! Warnen vor den schwindelhaften Quacksalbern, die mit ihren Wunderkuren das Publikum betrügen, das ist alles, was wir thun können. Und in diese Klasse gehörte auch der Mann, mit dem Sie früher in Verbindung gestanden haben.
A., Insterburg. Wenden Sie sich an die Universitätsbibliothek in Königsberg, welche Ihnen ohne Zweifel in jeder Weise entgegen kommen wird.
Inhalt: Eine unbedeutende Frau. Roman von W. Heimburg (14. Fortsetzung). S. 241. – Glücklich zurück! Bild. S. 241. – Das Opfer der Minerva. Bild. S. 245. – Im Kampf um einen Königsthron. Die Herzogin von Berry und ihre Gefangenschaft in Blaye. Von Eduard Schulte (Schluß). S. 246. – Robert Mayer. Von Ludwig Pfau. S. 248. Mit Abbildung S. 249. – Truggeister. Roman von Anton von Perfall (14. Fortsetzung). S. 250. – Schwere Arbeit. Bild. S. 253. – Polizei und Verbrecherthum der Reichshauptstadt. Von Paul Lindenberg. I. Berlins Polizeiverwaltung, ihre Eintheilung und ihr Dienst. S. 256. Mit Abbildungen S. 256, 257 und 259. – Blätter und Blüthen: Das erste Vierteljahrhundert des „Allgemeinen deutschen Frauenvereins“. S. 259. – Schwere Arbeit. S. 260. (Zu dem Bilde S. 253.) – Das Opfer der Minerva. S. 260. (Zu dem Bilde S. 245.) – Kleiner Briefkasten. S. 260.
Im Verlag der „Gartenlaube“ beginnt soeben ein neues Prachtwerk in Lieferungen zu erscheinen, auf welches wir unsere kunstsinnigen und kunstliebenden Leser besonders aufmerksam machen:
Alle 4 Wochen eine Lieferung mit je 5 Bilder-Tafeln auf feinstem starkem Karton-Papier in Groß-Folio-Format.
Die hauptsächlichste Anregung zu diesem neuen Unternehmen haben uns vielfache Wünsche unserer Abonnenten gegeben, welche dahin gingen, die großen doppelseitigen Bilder in der „Gartenlaube“ möchten auch in Sonderabdrücken, auf stärkerem Papier, ohne den unvermeidlichen Bruch beim Falzen der Nummern und Hefte zugänglich gemacht werden. Um diesen Wünschen entgegenzukommen, haben wir uns entschlossen, die besten doppelseitigen Holzschnitte und einige künstlerisch besonders wertvolle kleinere Bilder aus den letzten Jahrgängen der „Gartenlaube“ zu sammeln und in gediegener, vornehmer Ausstattung als Bildermappe herauszugeben.
Die Bildermappe für Kunstfreunde bringt Meisterwerke von Defregger, Grützner, Kaulbach, Kray, Lenbach, Piloty, Thumann, Vautier und vielen andern hervorragenden Vertretern moderner Kunst.
Mit der letzten Lieferung (ungefähr 3 Wochen vor Weihnachten) erscheint eine elegante, geschmackvolle Sammel-Mappe.
Die Bildermappe für Kunstfreunde erscheint in 10 Lieferungen à 1 Mark, alle 4 Wochen eine Lieferung, und bietet sich somit unseren Abonnenten die günstigste Gelegenheit zur Erwerbung einer wertvollen Kunst-Gallerie fürs Haus auf bequeme und billige Weise.
Die meisten Buchhandlungen nehmen Bestellungen entgegen und senden auf Verlangen die soeben erschienene erste Lieferung zur Ansicht. Zur Subskription ladet ein
- ↑ Eine Geschichte der bisherigen Thätigkeit des Allg. deutschen Frauenvereins ist auch im Druck erschienen: „Das erste Vierteljahrhundert des Allgemeinen deutschen Frauenvereins, gegründet am 18. Oktober 1865 in Leipzig. Auf Grund der Protokolle mitgetheilt von Luise Otto-Peters.“ Leipzig. Eigenthum des Vereins. Kommissionsverlag von Moritz Schäfer.