Die Gartenlaube (1891)/Heft 31
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Nr. 31. | 1891. | |
Illustriertes Familienblatt. — Begründet von Ernst Keil 1853.
Alle Rechte vorbehalten.
Baronin Müller.
(4. Fortsetzung.)
Ida, welche die Hand auf ihres Mannes Schulter hatte und die Wirkung der unerwarteten Beförderung zum Stadtrichter auf ihn noch nicht so recht begriff, drehte den Kopf nach der Thür. Die Kleine, welche im Hause Müller Küchenmagd, Kammerjungfer, Mädchen für alles war, trat ein. Sie trug ein weißes Häubchen und eine Schürze, die ihr sowohl zu weit wie zu lang war. Die Augen ängstlich auf ihre Gebieterin gerichtet, meldete sie, daß der Herr Amtsdiener weiterer Befehle harre und daß der Herr Amtsdiener sagen lasse, Herr Tannhauser werde sich um drei Uhr die Ehre geben, den Herrn Stadtrichter zu beglückwünschen. Ida schickte ihre Tochter hinaus, um den Ueberbringer der Nachricht zur Feier des Tags mit einer Erfrischung zu belohnen. Dann wandte
[518] sie sich an Vitus: „Mein Lieber, Guter, nimm ’s nicht so schwer! Ich begreife Dich nicht!“
Er entfernte die Hände vom Gesicht, und sie erschrak.
„Vor wenigen Minuten noch,“ begann er leise, „vor wenigen Minuten redete ich mir ein, alles werde sich zum besten wenden. Als ich den Brief empfing, ahnte ich den Inhalt, aber nicht das volle Unheil; als ich den Namen meines Nachfolgers sah, wußte ich mein Schicksal.“
Ida zuckte die Schultern. „Tannhauser! Der oder ein anderer, das ist doch gleichgültig. Du hast volle acht Tage –“
„Nicht acht Stunden!“ fiel er ein. „Wenn ich nicht zu harmlos wäre, um Feinde zu haben, würde ich glauben, ein Feind habe mich im Verdacht und schicke mir nun Tannhauser auf den Nacken.“
Ida hob den Brief auf und las ihn nochmals, Wort für Wort. Und jetzt verstand sie ihren Gemahl: er mußte alles seinem Nachfolger übergeben und dieser konnte sein Amt sofort antreten.
Sie schritt einige Male auf und ab, dann sagte sie entschlossen: „Ich werde dem Assessor mittheilen lassen, daß Du heute außer stande bist, ihn zu empfangen, und daß er selbst sich schonen und nach Bequemlichkeit in den nächsten Tagen erst die Uebernahme vollziehen soll.“
„Und wenn er sterbenskrank wäre, würde er heute aufstehen, um sich die Amtsgeschäfte überweisen zu lassen. Wenn er Bücher und Aken einsehen will, muß ich sie vorlegen; eine Ausflucht und ich bin verdächtig, werde überwacht und ausgeforscht von diesem fürchterlichen Menschen. Schon als Referendar erhielt er den Uebernamen ‚der Korkzieher‘. Unfehlbar kommt er auf die Wahrheit, ich bin ihm nicht gewachsen.“
„Aber ich!“ rief Ida und ihre Augen blitzten.
Der Richter schüttelte traurig den Kopf. „Der Stein ist im Rollen. Wenn wir Tannhauser heute hinhalten, holt er mich morgen früh aus dem Bett, vorläufig aus Amtseifer.“
Ida dachte nach. „Verena oder ich müssen nach Steinberg fahren!“
Ein Hoffnungsstrahl durchzuckte ihren Mann, erstarb indessen sofort wieder.
„Was kann das helfen! Selbst wenn Ihr Erfolg hättet und die Summe in gültigen Papieren bringen würdet – ach! vergiß nicht die Nummern, die unseligen Nummern! Die Luchsaugen Tannhausers werden den Fehler im Nu entdecken, und da er immer das Schlimme voraussetzt und ihm mein Lebensglück nicht mehr gilt als eine taube Nuß, wird er so lange spüren und forschen, bis er meine Schuld nachgewiesen hat. Das Geld ist wohl vorhanden, meine Ehre dennoch dahin!“
Er richtete sich mühsam auf. „Ida,“ fuhr er mit zitternder Stimme fort, „mache Dich auf die Wahrheit gefaßt: ich bin verloren!“
Sie fielen einander in die Arme, und Ida, über den Umfang des Unglücks nicht mehr im Zweifel, brach in Thränen aus. – –
Verena fand nur noch die Mutter im Eßzimmer.
„Leise!“ Die Richterin deutete auf die Thür ins Nebenzimmer.
„Schläft Papa?“
„Er versucht’s. Die Nachricht hat ihn angegriffen.“
Verena blickte nachdenklich drein. „Ich mache mir jetzt Vorwürfe, daß ich Helmuth zu schweigen gelobte. Es würde besser gewesen sein, Papa auf das Ereigniß vorzubereiten.“
„Ach, freilich wär’s besser gewesen, unendlich besser!“
Das Mädchen schmiegte sich an die Mutter. „Weißt Du, ich begreife Papas Erschütterung vollkommen. Wenn ich früh morgens dem Tag die Fenster öffne, dann ist mir jedes Mal, als müßte ich rufen: Du liebe, schöne Heimath du! Und Papa ist so viele Jahre hier. Wenn er aus dem Fenster schaut, kann er sich sagen: Von der Burg bis zu den Bergen ist kein Haus und keine Hütte, in der ich nicht gekannt bin. Gekannt und geliebt. Der alte Strobel hatte vorhin Thränen in den Augen. ‚Einen Mann wie den,‘ meinte er, ‚kriegt Hohenwart in alle Ewigkeit nicht mehr! Und nun wird der Herr Tannhauser Amtsrichter. Eifrig ist der ja auch; wenn ich nicht gesagt hätte, daß die hohe Familie auf dem Schloß jetzt bei Tisch sitze, wäre er im Schlafrock heraufgelaufen! Eifrig ist auch er, aber – aber!‘ Ach, Mama, wir hätten nicht fortverlangen und Hohenwart und die treuen Freunde hier nie verlassen sollen!“
„Und Helmuth und Du?!“ – Verena schwieg betroffen. – „Für uns Alte freilich – aber ich hab’ es gewollt, und geschehene Dinge, Kind, sind leider, leider nicht ungeschehen zu machen.“ Und seufzend begab sich Frau Ida ins Nebenzimmer, um nach ihrem Manne zu sehen.
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Der neue Amtsrichter wurde zu seiner Enttäuschung nicht vom Hausherrn, sondern von den Damen empfangen. Er war zwar sonst für die Lieblichkeit Verenas nicht unempfindlich, allein an jenem Nachmittag war er sich selbst genug. Das Hohenwarter Amtsgericht war die Welt, und er brannte vor Eifer, die Welt zu regieren. Die Unterhaltung mit den Damen verzögerte diesen großen Augenblick.
Er hatte das Gesicht verbunden, sein Scheitelhaar sträubte sich hinter der schwarzen Seide widerborstig empor. Obgleich er in seine Mienen sanfte Trauer legte, trat er doch ungleich zuversichtlicher auf als früher; er war ja des Hausherrn Nachfolger in Amt und Würden und – in der Wohnung.
Ida entschuldigte die Abwesenheit ihres Gatten; die Nachricht, die völlig unerwartet gekommen sei, habe ihn tief erschüttert.
„Frau Baronin,“ betheuerte Tannhauser, „auch mich; unerwartet und tief. Der Weggang Ihres Herrn Gemahls ist für uns ein großer, beinahe möchte ich sagen, unersetzlicher Verlust. Mein einziger Trost ist, daß der Mann, der in die Lücke tritt, sein leuchtendes Beispiel vor Augen hatte. Ich kann die Frau Baronin versichern, daß der neue Amtsrichter die Ueberlieferung hochhalten wird.“
„Wir übergeben Ihnen die Wohnung im besten Zustande,“ entgegnete die Richterin trocken. „Ein gemütliches Heim. Heute ist es allerdings auch hier oben heiß.“
Tannhauser benutzte die Gelegenheit, um neugierig um sich zu blicken. „Herrschaftlich. Uebrigens würde mir die Hälfte, was sag’ ich, ein Drittel, eine Ecke zum Schlafen genügen. Mein wahres Daheim liegt drüben. – Hoffentlich wird mein verehrter Herr Vorgänger heute noch sichtbar sein?“
„Hoffentlich!“ wiederholte Ida frostig und richtete sich kerzengerade auf. „Doch nahm ich ihm bereits das Versprechen ab, heute kein Wort mehr von Geschäften zu reden, sondern sich uns zu widmen. Und auch Sie bedürfen ja der Schonung. Oder sind Sie nicht mehr leidend?“
„Sehr, aber die Pflicht –“
„Bester Herr Amtsrichter, mein Mann denkt über Pflicht und Dienst so streng wie Sie; allein es giebt gewisse Rücksichten. Ich würde diese Hast, das Alte loszuwerden, tadelnswerth finden. Das Ereigniß bildet einen Wendepunkt in Ihrem wie in unserem Leben, freuen wir uns mit Würde!“
Tannhauser fühlte sich unbehaglich, Verena nahm sich des Verlegenen an. „Herr Tannhauser,“ fragte sie, „was werden Sie denn mit Ihrer neuen Wohnung anfangen, wenn Sie selbst so wenig davon brauchen?“
„O, ich werde Mutter und Schwester zu mir nehmen – sie wohnten seither in Altkirchen – Dorf mit fünfhundert Einwohnern, mein Geburtsort. Unsere Verhältnisse sind sehr bescheiden; mein Vater war Dorfschulmeister, und als er starb, war ich noch so klein.“ Er hielt die Hand etwa einen Fuß hoch über die Erde. „Trotzdem machte es die Mutter möglich, daß ich das Gymnasium besuchen konnte. Auf der Hochschule half ich mir selbst, hart, aber dennoch. Und so – und jetzt – jetzt kann ich Mutter und Schwester bei mir haben. Meine Mutter ist hoch in den Sechzigen, die Schwester auch nicht mehr jung, doch brav, sehr brav. Und insofern freut es mich, daß die Wohnung hübsch und geräumig ist.“
Das war der griesgrämige häßliche Tannhauser von vorhin nicht mehr. Er sah frischer aus, und mit eins wurde es ihm behaglich. Als ihm Verena den Hut aus der Hand nahm, hatte er nichts dagegen einzuwenden, sondern setzte sich tiefer in den Sessel und musterte nunmehr mit Muße das Zimmer. „Herrschaftlich! wie gesagt, herrschaftlich! … So kann ich mich nicht einrichten, das ist klar. Immerhin, da Mutter und Schwester zur Schwärmerei geneigt sind, werden sie hier oben wie im siebenten Himmel wohnen. Eine Ritterburg, wo vor so und soviel hundert [519] Jahren vielleicht auch eine Tannhauserin aus dem Fenster schaute; allerlei große und kleine Schränke in der Wand, Erker für die Nähmaschine mit Blick aufs Gebirge –“
„Einen Vorschlag, bester Herr Amtsrichter!“ unterbrach Ida seinen Redefluß. „Wir gehen in den Kurgarten. Wenn mein Mann nachkommt, um so besser, wenn nicht, müssen Sie mit unserer Gesellschaft vorlieb nehmen. O, wir werden uns schon unterhalten!“
„Wir werden uns herrlich unterhalten! Wenn die Damen gern Gefrorenes essen – am Eingang zum Kurgarten hängt ein Riesenzettel: ‚Heute Gefrorenes!‘ Allein die Damen müssen meine Gäste sein!“
„Angenommen beim Gefrorenen, nachher – –“
„Frau Baronin, wer heute früh so leidend war und nachmittags so gesund und vergnügt wird wie ich, ist der Schuldner der Götter und Göttinnen!“
Wenn das keine feine Wendung war! Fort alle Schüchternheit, fort der Zahnschmerz! Und –
„Herr Amtsrichter, wenn’s gefällig ist –“
„Frau Baronin, zu Befehl!“
Während des Ganges von der Burg zum Kurhaus überlegte Tannhauser als ein „Mann von Welt“, wie er sich heute wohlgefällig nannte, ob es schicklich sei, der Baronin den Arm zu reichen, aber man war im Kurgarten, bevor er mit der Frage im Reinen war. In der Sommerlaube hinterm Kurhause war es schattig und, da rings auf den Rasenplätzen Wasserkünste spielten, sehr angenehm und frisch. So gab es denn zahlreiche Gesellschaft, außer den Fremden Hohenwarter Damen die Fülle.
Wie ein Drache aus der Höhle schoß die Majorin auf die Ankömmlinge los, die unschlüssig dastanden. Doch lag ihr feindliche Absicht fern, sie brachte nur Tannhauser ihren Glückwunsch dar. Im Nu war der Würdevolle von mehr als einem Dutzend alter und junger Frauen und Jungfrauen umringt und hörte seinen neuen Titel von Sopran- und Altstimmen wie vieltöniges Festgeläut. Auch Ida und ihre Tochter wurden beglückwünscht; diese Glocken indessen hatten dumpfen Klang; für die Hohenwarter trat die Richterin schon mit einem Fuß ins Grab, binnen kurzem wird sie zu den Toten zählen – Thomas Tannhauser, der Bleibende, er ist der Löwe des Tages!
Nichts lernt man leichter ertragen, als Auszeichnung. Nach einem Stündchen schien es Tannhauser, als sei er zeitlebens ein verhätscheltes Sonntagskind gewesen. Er wurde geschwätzig, wurde von dem Ehrgeiz erfaßt, sich reden zu hören und gehört zu werden. In seinem Uebermuth nahm er die Schmerzensbinde ab und gebrauchte sie als Fächer. Der neue Stadtrichter kam nicht, allein der neue Amtsrichter war deshalb durchaus nicht böse. Sein eigener funkelnagelneuer Glanz würde durch das Erscheinen einer Nebensonne doch verlieren. Und er fühlte sich als Alleinherrscher so wohl! Frau und Fräulein Langbein hatten ihn ganz mit Beschlag belegt und suchten ihn mit hundert Liebenswürdigkeiten zu gewinnen, denn auch der Referendar war vorgerückt und der Nachfolger Tannhausers geworden; den Vorgesetzten unserer Freunde zum Freund zu haben, ist unter allen Umständen staatsklug und ersprießlich.
Je wohler es dem Gefeierten in der lauten Tafelrunde wurde, desto unbehaglicher fühlte sich bei der lärmenden Unterhaltung die Richterin. Wie hatte sie jemals an diesem Klatsch, an diesem Gelächter ohne Grund und Ende Gefallen finden können! Hatten diese Frauen denn keine Sorgen? Ihr unglücklicher Mann saß für sie mit an der Tafel wie Bankos Geist in Makbeths Schloß, saß da mit dem bleichen, kummervollen Gesicht … Ist denn keine Hilfe? Oft kommt die Rede auf Geld. Die Notarin erzählt von der großen Mitgift, die der Einödbauer seiner Tochter in die Ehe giebt; die Apothekerin hat eine reiche Tante beerbt, und Tannhauser sagt, daß der Rabenwirth seiner Höhle überdrüssig sei, alle Nachbarhäuser kaufe und großartige Um- und Neubauten plane. Die Zwanzig-, Fünfzig-, Hunderttausende schwirren durch die Luft. Welche Mienen würden diese Damen machen, wenn sie wüßten, welch geringe Summe die Familie Müller in Sorgen und Verzweiflung gestürzt hat.
Was thut Vitus jetzt? Zum ersten Male möchte Ida aus der Gesellschaft weg in die Einsamkeit, zum ersten Mal empfindet sie Sehnsucht nach dem Alleinsein mit ihrem Mann, brennende unbezwingliche Sehnsucht. Sie brach plötzlich aus und verbat sich jede, vor allem Tannhausers Begleitung. Der war es ganz zufrieden, seinen Festtag fortsetzen zu können, und so traten Mutter und Tochter ihren einsamen Heimweg an.
„Die Frau Baronin war ja heute ganz Baronin,“ flüsterte die Apothekerin der Frau Langbein zu.
„Mein Gott, als ob man nicht wüßte, wie alt diese adelige Würde ist!“ antwortete diese. „Uebrigens können wir mit dem Tausch einverstanden sein!“ setzte sie lauter hinzu.
„Ich hielt ihn bisher für einen Wärwolf,“ zischelte die andere.
Die Majorin wackelte mit dem Kopf, daß die Mohnblumen und Kornähren an ihrem Hute zitternd raschelten. „Meine Liebe, so lang man unter den Scheffel gestellt wird, kann man nicht leuchten! – Herr Amtsrichter, der Major wird sich unendlich freuen – –“
Frau Ida stieg schweigend am Arm ihrer Tochter bergan. Endlich unterbrach Verena die Stille und sagte mit einem ängstlichen Blicke nach den Wolken, die sich drohend am Himmel zusammengezogen hatten:
„Wenn Helmuth ins Gewitter käme –“
„Würde er naß,“ fiel ihr Ida rauh ins Wort. „Weun es sonst kein Unglück gäbe!“
Das Mädchen ging eingeschüchtert neben der Mutter her. Im Schatten der Bäume am Weg erschien Idas Gesicht schreckhaft bleich. Oder war’s nicht vom Zwielicht? Ihre dunklen Brauen waren düster zusammengezogen. Ein böser Tag, und Verena hatte so hohe Erwartungen von ihm gehegt!
Im Schloßhofe ließ Ida den Arm ihrer Tochter jählings los und flog voraus, die Treppe hinan. Die kleine Dienerin, welche, die Ellbogen auf die Kniee, den Kopf auf die Fäuste gestützt, schläfrig auf der obersten Stufe saß, war im Augenblick empor und munter. „Der Herr – ? Der Herr ist zu Hause!“
Stürmisch umarmte Ida den Gatten. „Du kommst zu früh,“ sagte er düster.
„Sprich nicht so!“ schrie sie, Thränen liefen ihr über die Wangen. „Gott sei gedankt, daß ich nicht zu spät komme!“
Als Ida gefaßter war, erzählte ihr der Richter, er habe nach Steinberg telegraphiert, daß er versetzt und befördert worden sei. Wenn der Onkel seine Rückkehr nicht beschleunige, treffe er den Neffen nicht mehr in Hohenwart an.
„O das ist gut!“ rief Ida, „daraufhin muß und wird er sich beeilen.“
„Zu spät.“
Das Wort klang nicht weniger schrecklich, weil er es gelassen aussprach.
Idas Nerven, ihre stählernen Nerven waren erschüttert. Jetzt hatte sie die Furcht vor dem Nachfolger. Wenn Tannhauser doch noch erscheinen würde –
„Mag er kommen,“ versetzte der Richter, „heute ist und bleibt das Amt geschlossen. Aber morgen, morgen Schlag acht Uhr ist er da. Wie ich ihn kenne, wird er sein heutiges Vergnügen morgen betrauern. Wehe dann dem Schuldbewußten! Er wittert ihn wie der Schweißhund das angeschossene Wild. Ich bin verloren!“ – –
Verena war in Sorge um ihren Verlobten. Der Weg vom Zornschen Gut zur Stadt läuft durch Felder nahe am Fluß hin – und sie hatte heute nachmittag soviel von den Schrecken des Hochwassers gehört. Die Düsterkeit der Wohnung machte sie beklommen. Sie eilte nach dem Lugaus, aber der weitere Umblick von dort beruhigte sie nicht. In brütender Stille und fahlem Lichte lag die Landschaft da. Am Himmel wälzten sich auf grauem Grunde schwärzliche und weißschimmernde und rostgelbe Wolken; der Wind hatte sich erhoben und wirbelte stoßweise den Staub empor. Doch kein Tropfen fiel. Ein Schauer überlief das einsame Mädchen, eine unfaßbare Angst beengte ihr den Athem. „Ein böser Tag!“ sagte sie bei sich, „wie wird er zu Ende gehen?“
Mittlerweile war es dunkel geworden, und der Gedanke an ihre Eltern bewog Verena, ins Haus zurückzukehren. Im Wohnzimmer, wo die Hängelampe einen freundlichen Schein verbreitete, traf sie die Gesuchten. Auf dem Tisch, zwischen Büchern und Zeitschriften, prangte ein Blumenstrauß; bequeme Lehnsessel luden zur Rast ein. Allein der traute Anblick gab den Dreien kein Behagen. Verena las, um abzulenken, aus der Zeitung vor. [520] Idas Augen folgten dem Gemahl, der ruhelos auf und ab schritt; beider Gedanken waren nicht beim Vortrag. Die Leserin selbst wußte kaum, was sie ihren Hörern bot, sie machte lange Pausen, während welcher sie lauschte.
Der Wind ward Sturm; in die Glocken der Stadtkirche greifend, meldete er sich selbst an und stürzte sich heulend gegen die Burg. Die Läden im Wohnzimmer klapperten, ein offenes Fenster im Nebenraum ging in Scherben. Vitus eilte, es zu schließen und die Läden vorzulegen; er dachte an das Hochwasser und horchte hinaus, durch das Pfeifen und Heulen des Orkans klang es wie Wogenrauschen.
„Wird das Gewitter zum Ausbruch kommen?“ fragte Verena den Zurückkehrenden.
„Mehr als eins,“ erwiderte Ida statt des Angeredeten mit einem Anflug wilder Laune, „aber keines will den Anfang machen. Ich kann das lange Fackeln nicht leiden. Bald zehn Uhr! Helmuth kommt nicht mehr. Willst Du nicht schlafen gehen?“
Ein Donnerschlag ersparte Verena die Antwort. Das Unwetter „fackelte“ nicht mehr.
Nach einer Schreckensnacht voller Gewitter, die wie das wilde Heer die Burg umtobten, schlief das Ehepaar erst gegen Morgen ein. Als sie ins Wohnzimmer traten, lag ein wunderbar blauer Himmel vor den Fenstern. Aber für sie war der Tag kein Freund.
Die Magd brachte den Kaffee, ihr auf dem Fuße folgte der alte Amtsdiener, er sah blaß und verstört aus. „Frau – Herr – Herr Amtsrichter!“ stammelte er, „es ist – man hat – die Thüren drüben stehen sperrangelweit auf, die Schränke sind aufgebrochen. Kommen Sie, sehen Sie – –“
„Bleib!“ sagte der Richter zu Ida.
Nach wenigen Minuten kehrte Strobel allein zurück. Der Herr lasse der gnädigen Frau mittheilen, daß nachts im Amtsgericht eingebrochen und die Kasse mit den Mündelgeldern gestohlen worden sei. Eben sei Herr Tannhauser eingetroffen, schloß er seinen Bericht, und er müsse gleich wieder hinüber.
Sobald Ida allein war, sank sie in die Kniee, streckte die Arme gen Himmel und rief aus befreiter Seele: „Gerettet!“
Inzwischen war Tannhauser in die Amtsstube des Gerichts eingetreten, nachdem er jede Thür untersucht und betastet hatte. „Wie ich erwartete,“ hatte er wohlgefällig gebrummt, „mit Gewalt, dennoch mit Geschick – Schlosserarbeit!“
Vitus Müller saß unweit des aufgesprengten Eichenschrankes, von der jähen – durfte er sagen: glücklichen? – Wendung betäubt. „Guten Morgen, Herr Stadtrichter!“ redete ihn der Nachfolger an, indem er ihm mit ungewöhnlichem Freimuth die Hand bot. „Vor allem meinen Glückwunsch!“
„Wozu?“ fragte Vitus mit schwacher Stimme. „Zu diesem Abgang?“
„Auch dazu. Für Sie ist das Ereigniß eine Art Rechtfertigung. Ich bezeuge, daß Sie wiederholt an maßgebender Stelle auf die Nachtheile und Schäden der alten Burg als Amtsgebäude aufmerksam gemacht, daß Sie vergebens auf Vorsichtsmaßregeln und Aenderungen gedrungen haben. Sie brauchen sich nichts vorzuwerfen. So mußte es kommen.“ Er warf den Kopf zurück, steckte die Hände in die Taschen und durchmaß das Zimmer, jetzt sein Gebiet. „Um dem Heren Kollegen vorläufig in Kürze die Ergebnisse meines Eingreifens mitzutheilen –“
Dieser Hinweis auf eine schon vorgenommene Untersuchung traf Vitus wie ein Schlag. Was mochte zu Tage gefördert worden sein? „Wenn auch Ihr neues Amt Sie zu solchem Vorgehen ermächtigt,“ fiel er Tannhauser ins Wort, „so würde es doch freundschaftlich gewesen sein, mich beizuziehen.“
Tannhauser nahm den Vorwurf gelassen hin und fuhr in halb geschäftsmäßig kühlem, halb wichtigthuendem Tone fort: „Als voraussichtlicher Gehilfe bei dem Einbruch ist der Schreiber Franz zur Haft gebracht. Die Kasse –“ Er hielt inne, denn der Amtsschreiber war inzwischen eingetreten. „Kommen Sie näher, Herr Huber! Stellen Sie die Kasse auf den Tisch! – Die Kasse ist, wie der Augenschein zeigt, gefunden – allerdings erbrochen und geleert.“
Vitus war beim Anblick der Kasse emporgeschnellt, jetzt sank er aufathmend in den Stuhl zurück.
„Das ist freilich unangenehm,“ setzte Tannhauser hinzu und sah nachdenklich vor sich hin, „aber für mich ohne Belang. Ich weiß, wer der eigentliche Thäter ist, und das weitere wird sich finden. Auch Sie, Herr Kollege, werden über die Hauptperson bei dem Anschlag nicht im Zweifel sein!“
„Der ‚Pfannen Gide‘?“
„Errathen! Noch ist er flüchtig, doch da bekannt ist, wo er steckt, läuft er nicht lange. Von Stund an, Herr Stadtrichter, bitte ich Sie um Ihren werthen Beistand. Herr Huber, verlesen Sie den Bericht, den ich Ihnen heute früh diktiert habe!“
Der Schreiber nahm die Bogen näher an sich heran, räusperte sich und begann mit eintöniger Stimme zu lesen. Der Verfasser stand mit der Haltung und Würde eines Porträts am Tische; Vitus saß beiden gegenüber, die Hände im Schoß gefaltet, und blickte starr auf das Schriftstück.
Ich, Thomas Tannhauser, wollte mich mit dem neuesten Regierungsblatt spät abends noch zu meinem Amtsvorgänger begehen. Drohende Gewitter standen am Himmel; als sie losbrachen, war ich noch unterwegs. Ich beschloß umzukehren, verlor aber in der plötzlichen Dunkelheit den Fußsteig, den ich eingeschlagen hatte um rascher daheim zu sein, und mußte nun wohl oder übel wieder aufwärts, denn so kam ich wenigstens zur Burg und konnte von dort aus mich wieder zurechtfinden. Der Wind blies stark und mir entgegen, auf der Plattform droben packte er mich so, daß ich taumelte. Ich suchte nach einem Halt und ergriff einen menschlichen Arm. ‚Holla!‘ rief ich. Gleichzeitig empfing ich einen Stoß gegen die Brust und erkannte beim Schein eines Blitzstrahls den Mann als den kürzlich aus der Haft entlassenen Schreiber Franz. Der Bursche warf sich auf mich, wir rangen und fielen beide. Er war zuerst auf und entsprang, ich verfolgte ihn schreiend den Burgweg hinab bis zum Kurhause. Dort hielt ein Fuhrwerk, dessen Kutscher auf meinen Ruf herbeieilte und mir den Flüchtling dingfest machen half. Wir verbrachten ihn ins Kurhaus, von wo ich Nachricht in die Stadt sandte. Nach kurzer Zeit erschien der Wachtmeister mit einem Gendarmen, und wir begaben uns mit unserem Fang auf die Polizeiwache. Dort wollte ich den Schreiber verhören, allein dieser heuchelte völlige Erschöpfung, warf sich auf die Erde und rührte sich trotz alles Redens und Rüttelns nicht mehr. Was sollte ich machen? Die Sache war äußerst verdächtig; denn was hatte der Mann so spät auf der Burg zu schaffen? warum griff er mich an? Da erinnerte ich mich der Kameradschaft des Verhafteten mit dem berüchtigten ‚Pfannen-Gide‘; vermuthlich hatten beide einen gefährlichen Anschlag miteinander ausgeheckt. Ich schickte nach dem gewöhnlichen Unterschlupf des ‚Pfannen-Gide‘, der Strolch war nicht anwesend. Nun zog es mich nach der Burg, dort war vielleicht eine Spur zu entdecken. Allein da ich eben aufbrechen wollte, traf die Nachricht ein, daß der Sturm einen großen Baum der Allee entwurzelt und zwischen Kurgarten und Schloßkeller über den Weg gelegt habe; gleichzeitig kam ein triefender Mann – angeblich mit Lebensgefahr – von der Furt: das Fährhaus drohe mit Mann und Maus fortgeschwemmt zu werden. Die Feuerwehr wurde zusammengeblasen; die Gendarmerie, alle Hände waren am Fluß nöthig. So mußte ich auf meinen Plan verzichten. Nachgerade fühlte ich mich auch todmüde, ich streckte mich auf einer Holzbank aus und schlief ein. Gegen sieben Uhr erwachte ich, alle rüstige Mannschaft war noch am Fluß. Alte Leute mußten aufgeboten werden, um den Burgweg frei zu machen. Man meldete mir, daß er binnen einer halben Stunde gangbar sei. Ich benutzte die Frist, um Vorstehendes dem Gerichtsschreiber zu diktieren.“
Der Vorleser machte eine Pause. Ohne die Augen von dem Schriftstück zu verwenden, sagte Vitus tonlos und doch mit einer Stimme, die vor verhaltener Spannung zitterte: „Und weiter hat sich nichts ergeben?“
„Doch, Herr Kollege! Wie Ihnen die Kasse dort verrathen dürfte, sind wir auf guter Spur.“ Tannhauser sah bei dieser Antwort den zusammenzuckenden Vitus im Bewußtsein seiner richterlichen Findigkeit überlegen an, und auf seinen Wink las der Schreiber weiter:
„Während ich die Niederschrift meines Berichtes durchflog, wurde mir ein hiesiger Badegast. Herr Lieutenant von Imhof, gemeldet. Er erschien in Begleitung seines Dieners und hinterlegte eine eiserne Kasse. Sie wurde von mir sofort als diejenige erkannt, welche im Amtsgerichte hier zur Verwahrung der Mündelgelder
[521][522] dient. Sie war offen und leer, offenbar durch Anwendung eines Stemmeisens gewaltsam erbrochen. Darüber, wie sie in seinen Besitz gelangt ist, gab Herr von Imhof folgendes zu Protokoll:
‚Ich war gestern mit Kameraden auf dem Gute des Landraths von Zorn zu Besuch. Als sich ein fürchterliches Unwetter entlud, wollte unser Wirth seine Gäste nicht ziehen lassen. Da ich aber aus besonderen Gründen am nächsten Morgen in Hohenwart zu sein wünschte, so bat ich gegen Mitternacht um ein Pferd und ritt davon. Der Weg war schauerlich, und das endlose Blitzen und Gepolter machte das Thier dumm und wild wie eine Hummel, so daß ich seelenvergnügt war, als mit dem erwachenden Morgen die Burg Hohenwart in Sicht kam. In diesem Augenblick, wo ich abgezogen war durch die erfreuliche Aussicht, bald daheim zu sein, und auf die Dinge um mich her weniger achtete, sprang ein kräftiger Kerl vor mir auf und warf einen schweren Gegenstand von sich. Im Nu war er jenseit der Straße verschwunden. Ohne mich zu besinnen, schwang ich mich auf den Boden, band den Gaul an einen Baumast und verfolgte den Mann, der offenbar kein gutes Gewissen hatte, über den Damm zum Flusse hin. Der Boden war glitschiger Lehm; vor mir tauchte ein Rücken über dem niedrigen Strauchwerk auf; geduckt bewegte sich die Gestalt vorwärts, schnell, doch auf so eigene Art, daß ich vermuthete, der Fliehende hinke. Schon hatte ich ihn fast erreicht, da richtete er sich gerade auf und ein Schuß krachte. Dann hatte der Nebel den Mann verschluckt, und wie ich vorwärts drängte, gerieth ich an eine breite Kluft, mit einem schmutzigen raschen Gewässer in der Tiefe; ein schmaler, halb von der Fluth überströmter Steg führte hinüber. Ich gab die nutzlose Verfolgung auf, da der Bursche das Gelände jedenfalls besser kannte als ich. Oben auf der Straße sah ich mich nach dem Ding um, das der Strolch weggeworfen hatte, und fand eine leere Kasse. Als mir gleich darauf der Gendarm von Jöching mit der Nachricht entgegenkam, daß ich wegen Hochwassers nicht hundert Meter weiter könne, schickte ich ihn dem Gauner auf die Fährte.‘“
„Soweit die amtliche Aufnahme,“ ergriff wieder Tannhauser das Wort. „Der Lieutenant ritt nach der nächsten Bahnhaltestelle zurück, gab das Pferd ab und fuhr mit dem Frühzug hierher, sammt der gefundenen Kasse. Er ging zunächst nach der Polizeiwache, wo er von mir empfangen und vernommen wurde. Das ist vorläufig das ganze Ergebniß, ich hoffe aber –“ Tannhauser rieb sich vergnügt die Hände – „ich hoffe, wir werden bald weiter sein.“
Der neue Beherrscher des Amtsgerichts von Hohenwart wandte sich mit einer triumphierenden Gebärde an den Gerichtsschreiber Huber und rief: „Man führe mir den Gefangenen von heute nacht vor!“
Dieser wurde hereingebracht und blickte Tannhauser trotzig an. „Ich möchte wissen, Herr Assessor, warum Sie mich gestern verhaften ließen; ich erhebe Beschwerde bei dem Herrn Amtsrichter,“ begann er, ohne eine Frage abzuwarten.
Tannhauser nahm diese Frechheit gelassen hin. „Schweig’, bis Du gefragt wirst!“ entgegnete er ruhig, „und damit Du’s weißt, ich habe jetzt hier zu befehlen, ich bin seit gestern der oberste Richter in Hohenwart. Warum ich Dich verhaften ließ? Sieh Dir einmal diese Kasse an! Ist sie Dir nicht bekannt? Ja, nun hast Du Deinen Lohn. Der ‚Pfannen-Gide‘ ist mit dem Heidengeld entkommen und jetzt irgendwo in Sicherheit und lacht sich ins Fäustchen über Dich ungeschickten Neuling.“
Was Tannhauser vorausgesehen hatte, traf ein. Der Schreiber Franz kam in solche Wuth über das Glück seines Genossen, daß er sich selbst verrieth, nur um den Kameraden womöglich mit zu verderben. So gestand er denn.
Die Kenntniß vom Inhalt der Kasse und die Vertrautheit mit den Gewohnheiten der Burginsassen hatten folgenden Plan in ihm gereift. Er hatte sich am gestrigen heißen Nachmittag abermals in den Lugaus gestohlen. Unter den Blumen lag er verborgen, während Verena sich dort aufhielt. Als Strobel erschien, um alsbald ins Dickicht hinabzutauchen und seinen gewohnten Weg zum Schloßkeller einzuschlagen, wußte Franz, daß die Richterfamilie daheim und der Thorweg verriegelt sei. Ein Dietrich öffnete ihm die Hinterthür, die aus dem Gärtchen ins Haus führt. Er horchte im Hof, am Thor; drinnen und draußen alles still! Nun schob er die Riegel zurück, ließ den harrenden „Pfannen-Gide“ ein und schlüpfte hinaus, um Wache zu stehen. Nach Verabredung sollte „Pfannen-Gide“ im Gerichte einbrechen und die Kasse stehlen. Dann wollten sie gemeinschaftlich fliehen, zunächst an den Fluß, wo wegen der Schutzarbeiten immer Kähne lagen. „Pfannen-Gide“, stark und im Rudern erfahren, fürchtete die Hochfluth nicht. Das Ufer auf der andern Seite war öde, er kannte die Schmugglerpfade in die Berge und über die Grenze. Jenseit der Grenze glaubten sie sich jenseit der Gefahr. Den Umsatz der Staatspapiere stellten sie sich nicht schwierig vor, Hehler finde man überall.
Als der „Pfannen-Gide“ auffallend lange nicht erschien, wurde Franz unruhig und wollte in die Burg, um nach dem Säumigen zu sehen, entdeckte jedoch zu seinem Schrecken, daß das Thor geschlossen war. Er fürchtete, die Sache sei verrathen, und war im Begriff, sich davonzumachen, als der Amtsrichter vor ihm stand.
„Es ist gut,“ beendete Tannhauser nach diesem Geständniß das Verhör. „Und Du kannst Dir also nicht denken, wie es zuging, daß die Riegel am Burgthor plötzlich wieder vorgelegt waren? Dann will ich Dir’s erklären: der ‚Pfannen-Gide‘ ist ein wenig schlauer als Du, sicherlich hat er selbst Dich hinausgesperrt, damit er in Ruhe auf der Hinterseite mit seiner Beute entwischen könne und sie nicht mit Dir theilen müsse. Begreifst Du jetzt? Ja, werde nur wüthend, Du wirst Zeit bekommen, Deinen Zorn an den Gefängnißmauern auszutoben. Und nun kannst Du abtreten.“
Alle Rechte vorbehalten.
Wo eines Kaisersohnes Wiege stand und ein Kurhut vergessen ward.
Eine klappernde Mühle am murmelnden Bach und eine gebrochene Burg auf steiler Höhe, fern abgelegen vom geräuschvollen Verkehre des Tages und für das Gedächtniß der Menschen verschollen! Mit ihren Mauern verknüpft die Erinnerung keine welterschütternden Ereignisse – und doch flüstert sie leise von Vorgängen, welche nicht ohne Einfluß auf die deutschen Geschicke blieben und in ihren späteren Folgen auf die Lose der europäischen Völker nachwirkten.
Die grüne Isar, das wilde Bergkind, ist der großen Menge gar wohl bekannt, weil in ihren eilenden Wellen die Paläste des neuen Athen, der Kunst- und Biermetropole, sich spiegeln und weil, den Lockungen der blauduftigen Berge folgend, Jahr um Jahr Tausende von Naturfreunden flußaufwärts in das Hochthal wandern, in welchem ihre Quelle rieselt. Doch die wenigsten kennen den untern Theil des Flußlaufes von München abwärts durch die bayerische Hochebene, wo die Fluthen sich ein breitsohliges Thal eingewühlt haben. Und doch fehlt es auch dort nicht an Strecken von hoher landschaftlicher Schönheit, über welchen die Schatten reicher geschichtlicher Vergangenheit schweben und welche der Reiz denkwürdiger Erinnerungen verklärt. Schon des Flusses Name weckt dergleichen aus mehrtausendjährigem Schlummer; denn er reicht weit zurück über die Tage, in welchen für uns die Morgenröthe historischer Kunde jene Gegend zu erhellen beginnt. Nicht die deutsche Zunge hat ihn zuerst gebraucht, sondern die Lippen der Kelten sprachen ihn vorher schon aus, jenes gewaltigen Volkes, dessen Stämme ganz Mitteleuropa innehatten, bis sie von den Germanen zurückgedrängt und von den Römern unterjocht wurden. Der Name der Isar wiederholt sich darum dort, wo gleichfalls Kelten saßen, im savoyischen Hochlande als Isere und im böhmischen Riesengebirge als Iser. Und hier im Bayerlande, auf dem hohen Thalrande der Isar, kommen unter den Wurzeln uralter Bäume oder unter den Schollen des Feldes allerlei Geräthe und Geschirre zu Tage, welche die Sachkundigen niemand anderem zuschreiben als den einstigen Einwohnern keltischen Stammes. Dem [523] Schwerte der Römer erlagen sie, und nun zogen diese ein vielmaschiges Straßennetz über das Land und bauten feste Schanzen, sodaß Hochdämme und Hohlwege, Wälle und Warten an vielen Orten die Isarufer begleiten.
Vor dem mächtigen Ansturme germanischer Völker wichen die Römer wiederum über die Alpen zurück, und nun besiedelten die Sippen der Bajuwaren das Land, und jeder Familienvater erbaute sein Gehöfte just da, wo ihm auf sonnigem Hügel oder an sprudelnder Quelle das Plätzlein gefiel; heute noch sitzen die Nachkommen auf den weithin zerstreuten „Einöden“. Dann schritt eine Zeit der Noth und Drangsal über die Gaue: da sicherten die vornehmen Geschlechter und die Fürsten ihre Sitze und führten auf steilen Hügeln oder vorspringenden Bergnasen die festen Burgen auf, deren Thürme schutzverheißend in das Land hinausblickten, und hinter einem schirmenden Mauerringe barg sich die Bürgerschaft der neugegründeten Stadt Landshut. Emsigkeit und Fleiß brachte ihr bald Wohlstand, mit frommem Sinne und mit vereinten Kräften schuf sie Gott zu Dank, St. Martin zu Ehren und sich selbst zum Preise ein prächtiges Gotteshaus, dessen Thurm als einer der höchsten in Deutschland (er mißt 133 Meter) kühn zum Himmel ragt.
Solche Bilder steigen vor dir auf, wenn du auf den Höhen um jene lustige und luftige Hauptstadt Niederbayerns wanderst und das Auge über die liebliche Gegend schweifen läßt. Wie ein Silberband zieht der rauschende Fluß durch das weite Thal an reichen wohlgebauten Ortschaften vorbei, zahlreiche Kirchen und Schlösser schauen von den Höhen auf ihn herab, ein welliges Gelände, überwoben vom Teppiche üppiger Wiesen, fruchtprangender Ackerfluren und hochstämmiger Waldungen, breitet sich bis zum fernverschwimmenden Horizonte aus, den gegen Mittag die feinen blauenden Linien der Alpen und gegen Mitternacht und Morgen die ernsten dunklen Umrisse des Bayer- und Böhmerwaldes umsäumen. Und wenn dein Auge sich an dem herrlichen Bilde ergötzt, so tauchen wohl auch an dem oder jenem Orte die Gestalten der Vergangenheit auf und erzählen dir von ihrem Geschicke, von Lust und Leid, das ihr Herz einst ebenso empfunden wie das deine, und von dem Wechsel aller irdischen Dinge, von ihrem Aufstieg und von ihrem Niedergang.
Willst du mit mir wandern, vom glänzenden berühmten Herzogsschlosse Trausnitz ob Landshut mit den grünen Wellen der Isar einige Stunden gegen Norden? Dort am Hochgestade des rechten Ufers, entlang der kurzen Wegstrecke von einer Drittelmeile, krönen fünf alte „Burgställe“ – so heißt der Volksmund die untergegangenen Burgen – die Bergvorsprünge, der Reihenfolge nach von Süd gegen Nord: Straßburg, Sterneck, Neudeck, Schaumburg und Wolfstein. In der Anlage gleichen sie sich alle, insofern sie die zwei typischen Bestandtheile der mittelalterlichen Burgen aufweisen: die Vorburg, als Vorwerk dienend und die Wirthschaftsgebäude einschließend, und hinter ihr, durch einen tiefen Graben getrennt, die Hauptburg mit dem eigentlichen festen Baue und dem trutzigen Bergfried, das Ganze von einem oder mehreren tiefen Gräben umfangen. Längst sind die festen Thürme, sind Pallas und Kemenate spurlos verschwunden, ja wir kennen nicht einmal mehr die Namen der Edelgeschlechter, welche in grauer Vergangenheit auf diesen Burgen saßen, ausgenommen Schaumburg und Wolfstein. Nach der Schaumburg nennt sich ein Graf Heinrich, der in den Jahren 1150 bis 1160 häufig im Gefolge der bayerischen Pfalzgrafen aus Wittelsbachischem Stamme auftritt, und auf Wolfstein hauste seines Vaters Bruder Udalrich. Bald darauf erscheinen beide Burgen im Besitze der nunmehr zur Herzogswürde gelangten Wittelsbacher, und Wolfstein gewinnt den Vorrang vor der Nachbarburg, um diesen nach kurzem Zeitraume an die neue Gründung Herzog Ottos I., an Burg und Stadt Landshut zu verlieren. Zu je höherer Blüthe aber Landshut gedieh, desto mehr trat Wolfstein zurück, endlich, 1418, wurde dieses von Herzog Heinrich an Herrn Schweigker von Gundelfingen zu Leibgeding verliehen, und aus dem Jahre 1517 melden die Urkunden, daß Maurer und Zimmerleute „das Ueberzimmer und Ausladung um und um niedergelegt, desgleichen die Tächer abgebrochen“ haben, 6 Jahre später aber besteht dort bereits die „Tafern“, in welcher die Besucher heute noch labende Erquickung finden.
Zum Wirthshause ist die stolze herzogliche Burg herabgesunken; das ist das Schicksal der Mauern, in welchen die Wiege des letzten Hohenstaufen, des letzten Edelreises auf dem Stamme des glänzenden Kaisergeschlechtes, gestanden hatte! Denn hier war es, wo der unglückliche Konradin „am Montag den 25. März 1252 nachmittags zwischen 3 und 4 Uhr, aber näher der ersteren Stunde“, das Licht der Welt erblickte. So meldet gewissenhaft und genau eine Aufzeichnung aus gleicher Zeit von der Hand eines ghibellinischen Italieners, welche vor beiläufig dreißig Jahren zu Brüssel in einem alten Buche aufgefunden wurde. Durch diese Notiz ist dem Zwiste ein Ende gemacht worden, ob Regensburg oder Landshut oder andere Orte im Bayerlande die Ehre beanspruchen dürfen, die Geburtsstätte des ritterlichen Königssohnes zu sein, der fern von der Heimath zu Neapel unter dem Beile des Henkers verbluten mußte.
Wenig Glück lächelte dem Prinzen, auf den die stolzen Hoffnungen zweier Reiche gerichtet waren. Auf seinem Haupte ruhte niemals die segnende Hand des Vaters; denn als der heiß ersehnte Sohn geboren wurde, da focht Konrad IV. im fernen Süden für die Rechte der kaiserlichen Krone und seines Hauses. Nachdem Kaiser Friedrich II. die Augen geschlossen hatte, war König Konrad nach Italien geeilt (im Oktober 1251) und hatte seine Gemahlin Elisabeth, mit welcher er am 1. September 1246 auf der alten, nun auch in Trümmern liegenden Vohburg in Glanz und Schimmer Hochzeit gefeiert hatte, in der Obhut ihres Vaters zurückgelassen, des Herzogs Otto des Erlauchten. Mit welch’ sehnsüchtigem Verlangen mag die Fürstin ihre Blicke hinübergesandt haben zur blauduftigen Alpenkette, jenseit deren dem Könige das Auge brach, ohne daß es je den Sohn geschaut hätte! –
Die Burg Wolfstein liegt auf einer Bergnase, die sich von der Thalhöhe gegen die Sohle des Isarthales vorschiebt und mit steilgeböschten Wänden nach drei Seiten hin abfällt, während die Ostseite mit dem Lande zusammenhängt. Hier sicherten einst tiefe Gräben und eine hohe und starke Mantelmauer das Burginnere, da binnenwärts das Gelände bedeutend ansteigt und somit gegen eine dem Vertheidiger recht unbequeme Ueberhöhung Vorkehrung zu treffen war. Von den Gebäuden der eigentlichen Burg ist nichts mehr vorhanden. Ihren Umfang bezeichnen die jetzt vorhandenen Häuser: die „Taferne“ mit Stadel, Stall und Scheunen, welche im offenen Viereck den Burghof umschließen. Als die einzigen Ueberreste der vormaligen Herrlichkeit sind unter dem Wirthshause noch die alten in den Felsen gehauenen Keller vorhanden, darunter ein größerer, dessen Wölbung eine starke Säule stützt; sodann die auf den Felsenrand des Ufersteilhanges aufgesetzte, westwärts schauende Mauer von etwa 20 Metern Länge und fast 2 Metern Stärke, an und auf welcher das Wirthshaus steht und durch welche die Erdgeschoßfenster des letzteren wie Schießscharten durchgebrochen sind. An der Außenseite dieser Mauer hat der historische Verein des Kreises Niederbayern pietätvoll eine Marmortafel mit entsprechender Inschrift anbringen lassen.
Eine herrliche Rundsicht in das lachende Isarthal und weit hinaus in das Hügelland belohnt den Wanderer, der seinen Fuß auf die geschichtlich geweihte Stätte gesetzt hat. Ehe wir sie verlassen, erinnern wir uns noch daran, daß Wolfstein zur bräutlichen Morgengabe Kaiser Ludwigs des Bayern an seine zweite Gemahlin, Margaretha von Holland, gehörte, und daß dort in stiller Zurückgezogenheit Ludwigs Sohn, Otto V., Markgraf von Brandenburg, sein vielbewegtes Leben noch in schönster Manneskraft beschloß. Sein Name wurde einst mit vielem Tadel und starken Schmähungen überhäuft, aber mit Unrecht, denn der Fürst wurde das Opfer der Verhältnisse und hätte ein besseres Schicksal verdient. Hören wir seine Geschichte.
Nachdem Ludwig der Bayer den deutschen Kaiserthron bestiegen hatte, war ein Hauptziel seiner Politik die Gründung einer starken Hausmacht. Hierzu war er gezwungen, wenn er überhaupt die Krone in seinem Hause vererben wollte; allein er bewies keine politische Voraussicht und keine glückliche Hand beim Erwerb der Lande, die er für Wittelsbach gewann. Der Besitz Tirols, welches er durch die Vermählung seines Sohnes Ludwig mit Margaretha Maultasch an sein Haus gebracht hatte, war eine Lebensfrage für den Bestand des habsburgischen Gebietes, und darum ruhten die österreichischen Herzöge nicht eher, als bis das herrliche Bergland ihnen gehuldigt hatte; Holland, Seeland und Brandenburg waren durch zu große Entfernungen von den bayerischen Stammlanden getrennt, als daß sie anders denn in [524] Form von Sekundogenituren, d. h. Ausstattung für Nebenlinien, von den Wittelsbachern hätten behauptet werden können. In der That währte es nicht lange – und die Errungenschaften Ludwigs waren seinen Nachkommen wieder entwunden.
Die Mark Brandenburg entriß den Wittelsbachern der verschlagene Meister ränkevoller Diplomatenkunst, Kaiser Karl IV., der zu jedem Mittel griff, um das werthvolle Gut mit der Krone Böhmens zu vereinen, und den besten Bundesgenossen für die Durchführung seiner Pläne fand er an der Zwietracht, welche die bayerischen Fürsten spaltete. Kaiser Ludwig hatte drei erwachsene und drei unmündige Söhne hinterlassen, die durch Theilungen ihren Besitz zersplitterten, anstatt ihre Macht zu gemeinsamem Frommen einträchtig zusammenzuhalten. Im Verlaufe dieser Auseinandersetzungen kam die Mark Brandenburg durch den Vertrag von Luckau (1351) an das Brüderpaar Ludwig den Römer und Otto V., von denen der erstere ein Jüngling von 21, der letztere ein Knabe von 5 Jahren war. Gegen die Unerfahrenheit der beiden jugendlichen Prinzen hatte der Kaiser leichtes Spiel und er wußte die Zwistigkeiten, in welche sie Erbschafts halber mit ihren Brüdern, den oberbayerischen Herzögen, geriethen, mit solcher Schlauheit auszunutzen, daß sie sich als blinde Werkzeuge vollständig in seine Hand gaben. Das Meisterstück dieser Politik waren die Verabredungen auf dem Nürnberger Fürstentage (1363), welche Ludwig zugleich auch für seinen in Nürnberg gar nicht anwesenden Bruder Otto einging. Hier sicherten die Markgrafen gegen die Zusage kaiserlichen Schutzes für den Fall ihres Absterbens ohne männliche Nachkommenschaft den Söhnen des Kaisers und dessen Bruder Johann die Nachfolge in den Marken zu, und Otto wurde mit des Kaisers fünfjähriger Tochter Elisabeth verlobt.
Das war ein arger Mißgriff Ludwigs, und deren ließ er sich noch eine ganze Reihe zu schulden kommen. Daß Otto ihm darin beistimmte und daß er nach Ludwigs kinderlosem Tode (1365) im Anfange die alten verderblichen Bahnen weiter wandelte, ist wohl erklärlich, denn an die Regierung und an die Sorge für das Wohl seiner Unterthanen war er nie gewöhnt worden und immer hatte er nur gehört, daß der Kaiser es gut mit ihm und seinem Bruder meine. Ottos widerstandslose Fügsamkeit ging sogar so weit, daß er die ihm bestimmte Braut Elisabeth gegen des Kaisers ältere Tochter Katharina umtauschen ließ, die an Jahren reifere Witwe Herzog Rudolfs von Oesterreich. Durch Abschluß dieser Heirath arbeitete er den schlauen Plänen des Kaisers unmittelbar in die Hände; denn diese Ehe Katharinas wurde ebenso wenig mit Kindern gesegnet wie ihre frühere, die Vereinbarungen des Nürnberger Vertrages mußten sonach zur Thatsache werden. – Und des Kaisers Rechnung war nicht falsch.
Nur in der Beurtheilung seines Schwiegersohnes irrte er sich. Endlich war dieser doch zur Erkenntniß seiner Lage gelangt, mit einer ungeahnten Thatkraft suchte er seine Selbständigkeit zu erringen: es kam sogar zum Kriege mit dem Kaiser, als dieser die Maske fallen ließ und Otto rundweg zur Uebergabe seiner Lande aufforderte. Obwohl der Waffengang nicht ungünstig für Otto ausfiel und dieser auch wieder Anschluß an seine bayerischen Verwandten gefunden hatte, behauptete doch die Politik des Kaisers das Feld: im Frieden von Fürstenwalde (15. August 1373) traten die Wittelsbacher die Mark Brandenburg an den Kaiser ab, allerdings gegen eine Geldentschädigung, welche für die damalige Zeit außerordentlich hoch zu nennen war. Somit hatte das Haus Luxemburg das wichtige Land erworben, nur die Rechte und der Titel eines Kurfürsten verblieben Otto auf Lebenszeit.
Weltüberdrüssig und menschenscheu nach so herben Erfahrungen und bitteren Schicksalen zog er sich auf die stille Burg Wolfstein zurück und suchte Zerstreuung in den Freuden des edlen Weidwerks, wozu die Wälder und Auen der Umgegend reiche Gelegenheit boten. Die aufgedrungene ungeliebte Gemahlin aber hatte sich von ihm getrennt und lebte an des kaiserlichen Vaters glänzendem Hofe im hundertthürmigen goldenen Prag. –
Vom Berge herab steigen wir zu Thal in die lachende Uferau und lenken noch einmal den Blick zurück zur Höhe, welche die altersgraue Burgmauer krönt, umrahmt von den breiten Massen prächtigen Waldes. Es ist ein herrliches Landschaftsbild – wie malerisch muß es gewesen sein, als die Thürme und Giebel der Burg noch hoch gen Himmel strebten!
Den gleichen Pfad, den wir verfolgen, ist auch Markgraf Otto oftmals gewandelt, den Jagdspieß auf der Schulter. Er eilte an eine lauschige Stätte zu Füßen der alten Straßburg. Daß dort oben auf der riesigen Fläche die auf den römischen Straßenkarten genannte Station Jovisura – ein vielumstrittener Zankapfel der gelehrten Forscher – vielleicht zu suchen ist, daß hier über die Isar die römische Heerstraße setzte, welche aus Noricum kam, den Innübergang bei Pons Oeni (Pfunzen bei Rosenheim) mit dem römischen Hauptwaffenplatz an der Donau, Castra Regina [525] (Regensburg), verband und der alten Feste den bedeutungsvollen Namen gab – darüber grübelte der Prinz sicherlich nicht nach; ihn zog des Herzens Verlangen zu der Mühle, die noch heute nach seiner Geliebten den Namen der „Gredlmühle“ trägt.
Diese ist ein Gehöfte im uralten Stile bajuwarischer Siedlungen; um den Hof gruppieren sich im offenen Vierecke die Gebäulichkeiten, auf der einen Seite das langgestreckte Wohnhaus mit Stall, auf zwei anderen Schupfe und Stadel. Auf steinernem, weiß getünchtem Sockel ist das Wohnhaus aus festen, durch die Stürme der Jahrhunderte dunkelbraun gebeizten Balken gezimmert. Zahlreiche Blumenstöcke, besonders blutrothe Nelken, an den niedrigen und kleinen, aber blitzblanken Fenstern verleihen dem schmucken Aeußern ein anheimelndes Gepräge. Schupfe und Stadel sind einfache Holzbauten, mit hoch ansteigenden steilen Strohdächern, deren dichte Moosschicht in weitentlegene Zeiten zurückreicht. Am Wege steht eine Reihe Ulmen mit dicken, starken Stämmen, aber leider mit gekappten Kronen; ob es noch dieselben Bäume sind, in deren Schatten der Sage nach die Mühle sich barg, als Herzog Otto sie so gern besuchte?
Damals als er, verlassen von der Gattin und vom Glücke, in die Heimath zurückkehrte und mit wenigen Getreuen Aufenthalt auf der schon längst vereinsamten Burg Wolfstein nahm, hauste in der Mühle ein ehrsamer Müller mit seinem rechtschaffenen Weibe und einer jugendlichen, in blühender Schönheit prangenden Tochter Margaretha oder „Gredl“, wie der Volksmund den Namen kürzt.
Wenn Gredl ihre Flechten löste, dann fielen, so heißt es, die goldbraunen Haare nieder bis über den Gürtel; wenn sie die Wimpern hob, leuchtete ihr Auge wie das Himmelsblau, und wenn die kirschrothen Lippen lachten, dann klang es aus ihrer Kehle wie silberner Glockenton.
An einem schwülen Hochsommertage war es, da kehrte der von der Anstrengung der Jagd und von des Tages Hitze ermüdete Fürst in der Mühle ein und begehrte eine Erfrischung. Des Müllers Töchterlein kredenzte ihm einen Trunk „gestandener Milch“ – und von Stund an kam der Markgraf öfter und öfter und schließlich alltäglich, bis er die Gredl auf die rothen Lippen küßte, um so nach manchem trüben Tag sich neuen Lebensmuth zu schöpfen. Die rechtmäßige Gemahlin war ihm gewissermaßen in betrügerischem Handel aufgenöthigt worden und sie hatte ihn verlassen, nachdem ihr Vater, der Urheber des schnöden Tausches, den Eidam schmählich um sein ererbtes Land gebracht hatte; am Herzen der schönen Müllerstochter fand der Vergrämte Trost für die Unbill, fand, was ihm bis dahin fremd gewesen war, das stille Glück selbstloser Liebe, in ihren Armen vergaß er der schweren Sorgen, mit denen der Kurhut von Brandenburg sein Haupt belastet hatte, vergaß er seiner Würden und der Händel im Heiligen römischen Reiche. Und als nach einigen glücklichen Jahren am 15. November 1379 das Herz des Fürsten stille stand, das nur für sie geschlagen hatte, da blieb Gredl trauernd unter dem väterlichen Dach zurück und die Wasser des Baches mischten sich mit den Thränen aus ihren rothgeweinten Augen. –
So verrann die letzte Welle eines weltgeschichtlichen Stromes an den Mauern der Burg Wolfstein und in der Idylle der Gredlmühle.
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Aus der Kleinwelt.
Durch eine Ausstellung in Antwerpen feiert man in diesem Jahre ein Jubiläum, das auch für weitere Kreise Bedeutung hat und sich an die Erinnerungsfeier der Entdeckung der neuen Welt anreihen läßt; denn es betrifft die um rund 300 Jahre zurückliegende Erfindung des Mikroskops, welche zur Entdeckung der „unsichtbaren Welt“, der Kleinwelt der Organismen führte, die nicht weniger reich an Wundern ist als die neuen Erdtheile.
Man hatte schon früher Vergrößerungsgläser gekannt. Der berühmte Lehrer Neros, Seneca, berichtet in seinen „Quaestiones naturales“, was man etwa mit „Naturwissenschafliche Betrachtungen“ übersetzen kann, daß „selbst kleine und undeutliche Schriften durch Glaskugeln, die mit Wasser gefüllt sind, größer und deutlicher erscheinen.“ Noch älter ist eine Stelle in den „Wolken“ des griechischen Komödiendichters Aristophanes (400 Jahre v. Chr.), aus der wir ersehen, daß den Griechen Brenngläser bekannt waren. Seltsamerweise fand sich keiner der Forscher des Alterthums veranlaßt, mit Hilfe dieser Vergrößerungsgläser die winzigen Geschöpfe und Bildungen der Natur zu beobachten. Und nicht besser erging es der konvexen Glaslinse im Mittelalter. Sie wurde nur als Brennglas benutzt, und alte Urkunden sprechen oft von einem eigenartigen Gebrauch derselben. In Freising wurde z. B. am Charsamstag das heilige Feuer am Lichte der Sonne entzündet, und weit verbreitet war die Sitte, das Brennglas als Heilmittel zu verwenden, so zum Brennen der Epileptischen.
Die vergrößernde Kraft der konvexen Linsen wurde erst später fruchtbar gemacht und zwar in der Verfertigung von Brillen für Weitsichtige, worüber bestimmte Nachrichten aus dem 13. Jahrhundert vorliegen. Dann verging wieder eine lange Zeit, bis in der Zunft der Brillenschleifer die wichtigsten optischen Instrumente erfunden wurden: das Mikroskop, das gegen Ende des 16. Jahrhunderts Johannes und Zacharias Jansen zusammenstellten, und das Fernrohr, das im Jahre 1608 von Johannes Lippersheim erfunden wurde. Middelburg in den Niederlanden war die Vaterstadt dieser drei berühmten Männer.
Das Fernrohr wurde sofort gegen die Sterne des Himmels gerichtet und trat einen raschen Siegeszug an; das Mikroskop führte anfangs ein viel bescheideneres Dasein, es war nicht mehr als ein merkwürdiges Spielzeug, dessen Bedeutung man nicht mit einem Male erfassen konnte.
Es ist uns nicht bekannt, wie das erste Mikroskop von Jansen aussah, es scheint nach einem Briefe aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts ein zusammengesetztes mit zwei konvexen Linsen gewesen zu sein. Wir sind jedoch in der Lage, zwei der ältesten Mikroskope nach Abbildungen aus dem Werke „Ars magna lucis et umbrae“, das heißt auf deutsch „die große Lehre von Licht und Schatten“, von Athanasius Kircher aus dem Jahre 1646 unsern Lesern vorzuführen. Der gelehrte Pater beschreibt die Vergrößerungsgläser unter dem Namen „Smikroskope“. Das erste ist sehr einfach: es besteht aus zwei Glaskugelsegmenten, die mit Wasser gefüllt und am Fuße M befestigt sind; von dem letzteren zweigt sich der Halter R ab, auf dessen Spitze der zu beobachtende Gegenstand N befestigt wird. O auf unserer Figur bezeichnet die Stelle, welche das Auge des Beobachters einzunehmen hatte. „Andere aber,“ schreibt Kircher, „schließen, dank einer neuen sehr sinnreichen Erfindung, in einem Rohr (A B) kleine Glaskugeln C ein, deren Durchmesser nicht größer ist als der kleiner Perlen. Wenn Ihr das Bein eines Flohes nahe bei dem Glase C zwischen das Auge (E) und das Licht (D) bringt, so werdet Ihr es so groß wie einen Pferdeschenkel sehen; ein Haar vor dieses Glas gebracht wird so dick wie ein Balken erscheinen etc.“
Die Smikroskope Kirchers werden selbst den Laien auf den ersten Blick belehren, daß mit ihnen genaue Beobachtungen nicht anzustellen waren. Die Gelehrten machten sich damals ihre Linsen selbst, indem sie Glastropfen an der Spitze eiserner Stäbchen schmelzen ließen. Die Ausstattung war mitunter sehr schön, wie dies z. B. bei den Mikroskopen von Cornelis Drebbel, der lange Zeit als Erfinder des Instruments galt, der Fall gewesen ist: da ruhte die vergoldete kupferne Röhre auf einer Scheibe von Ebenholz und drei kupfernen Delphinen; aber die Seele des Mikroskopes, die Linsen ließen noch viel zu wünschen übrig.
Um die Mitte des 17. Jahrhunderts wurde der erste Schritt zur Vervollkommnung von Anton Leeuwenhoek in Delft gethan. Er war der erste, der das Senkblei der Wissenschaft in die Tiefen der Kleinwelt auswarf. Von Beruf Kaufmann, hatte er sich vom Geschäft zurückgezogen und mit dem Posten eines Stadthauskastellans in seiner Vaterstadt begnügt, um ein unabhängiges Leben ganz allein der Enthüllung verborgener Naturgeheimnisse zu widmen. Auch er stellte sich seine Linsen selbst her, die von ausgezeichneter Beschaffenheit waren und mit denen er die überraschendsten Entdeckungen machte. Bis dahin waren Haare und dergleichen die Gegenstände, mit deren Betrachtung die Besitzer der „Flohgläser“, wie man die Mikroskope damals nannte, ihre Neugierde befriedigten. Leeuwenhoek wurde zum Columbus der unsichtbaren Welt.
Um die Mitte des September 1675 untersuchte Leeuweuhoek mit Hilfe des Mikroskops Regenwasser, das wenige Tage in einer ausgepichten Tonne gestanden hatte.[1] Er fand darin zu seiner Ueberraschung eine große Zahl lebender Geschöpfe verschiedener Art, wohl zehntausendmal kleiner als die keinsten der bis dahin beobachteten Wasserinsekten; eine Art hatte vorn zwei Hörnchen, die sich beständig bewegten, wie die Ohren eines Pferdes, hinten schleppten sie einen langen Schwanz nach; eine andere Art veränderte beständig ihre Gestalt; eine dritte zerfloß, sobald das Wasser vertrocknete, eine vierte, in der wir die in neuester Zeit so wichtig gewordenen Bakterien erkennen, war so klein, daß Leeuweuhoek ihre Gestalt nicht unterscheiden konnte.
Frisch aufgefangenes Regenwasser sowie frisch geschmolzener Schnee zeigten keine Thierchen, sobald das Himmelswasser aber einige Tage gestanden hatte, erschienen die Geschöpfe und vermehrten sich von Tag zu Tag. Und wenn es gar auf gestoßenen Pfeffer und andere Pflanzenstoffe gegossen wurde, vermehrten sie sich ins ungeheure, so daß in einem Tröpflein 6000 bis 10 000 gezählt werden konnten.
Aber Leeuwenhoek war nicht bloß Beobachter von ungewöhnlichem Scharfblick, sondern auch ein kühner, selbständiger Denker, er stellte sich sofort die Frage: Woher stammen diese Geschöpfe? Die Antwort lautete: Sie sind nicht von selbst aus dem Wasser entstanden, sondern sie haben sich aus Keimen entwickelt, die in der Luft vorhanden waren. Wenn in Aufgüssen von Pflanzenstoffen sich diese Thiere besonders zahlreich entwickeln, so liegt der Grund in der reichlicheren Ernährung, welche ihre Vermehrung begünstigt.
Um jene Zeit hatten auch englische Gelehrte die mikroskopische Forschung bedeutend gefördert: Hooke hatte im Jahre 1665 zum ersten Male im Korke die pflanzlichen Zellen erblickt, die ähnlich wie die Zellen in den Honigwaben angeordnet waren. Aber selbst diese Männer, die in der „Königlichen Gesellschaft der Wissenschaften“ zu London damals unbestritten den Mittelpunkt aller naturwissenschaftlichen Forschungen bildeten, wollten den Berichten Leeuwenhoeks keinen Glauben schenken, und sie waren zu entschuldigen, denn ihre Mikroskope waren sämmtlich zu schwach, um die Wunder der Kleinwelt zu enthüllen. Robert Hooke arbeitete indessen unausgesetzt an der Verbesserung seiner Instrumente, bis es ihm nach jahrelanger Mühe gelang, sein Ziel zu erreichen. Am [527] 15. November 1677 machte er in der Sitzung der Königlichen Gesellschaft den erstaunten Zuhörern die Mittheilung, daß auch er im Pfefferaufguß eine Anzahl ungewöhnlich kleiner Thiere gesehen habe, ja er lud die Zuhörer ein, sich von der Wahrheit durch Augenschein zu überzeugen. Jetzt unterlag das Vorhandensein einer unsichtbaren Welt von Organismen keinem Zweifel mehr; ein Protokoll wurde unterzeichnet, und berühmte Männer wie Nehemia Grew, der Begründer der Pflanzenanatomie, und Christoph Wren, der Erbauer der Paulskirche, setzten ihre Namen darunter.
Die Nachfolger Leeuwenhoeks, der 1723 starb, verfielen in einen großen Fehler — sie verlangten zu viel. Wie die unerfahrenen Anfänger in unseren Tagen wollten sie nur mit möglichst gesteigerten Vergrößerungen arbeiten. Sie beobachteten bei direktem Sonnenlicht unter Anwendung allzu starker Okulare; dadurch wurde natürlich die Klarheit der Bilder beeinträchtigt, um so mehr, als jene Mikroskope keineswegs achromatisch waren, sondern die Bilder in der Regel von Farbenringen umgeben zeigten.
Infolgedessen häuften sich ungenaue Beobachtungen; mit solchen Mikroskopen und bei solcher Benutzung derselben konnte man alles sehen, was man eben wünschte. Die Mikroskopie gerieth dadurch bei strengen Forschern in Mißachtung, bis eine neue Zeit des Aufschwungs kam.
In den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts, um das Jahr 1830, wurde sie nämlich durch die Untersuchungen Ehrenbergs wieder zu Ehren gebracht, und deutsche Forscher waren es auch, welche die Arbeiten eines Leeuwenhoek, Hooke und Grew fortsetzten. Die Botanik eilte wieder den anderen Wissenschaften voraus. Durch die Arbeiten Browns, von Mohls, Ungers, namentlich aber Schleidens wurde festgestellt, daß alle Gewebe der Pflanzen weiter nichts seien als Anhäufungen von mehr oder weniger veränderten Zellen. Man hatte die Grundeinheit, den Baustein des pflanzlichen Lebens gefunden — die Zelle; alle höher organisierten Pflanzen, die Gräser, Kräuter und Bäume, erschienen als Zellenstaaten, als Gesellschaften von Zellen.
Man hatte auch Zellen im thierischen Körper gefunden, in der Haut, in Drüsen, in den Nervencentren; aber man hielt deren Vorkommen mehr für eine Ausnahme, die meisten Gewebe des thierischen Körpers zeigten keinen Zellenbau.
Einer der gewandtesten Mikroskopiker jener Zeit, die unter dem Altmeister Johannes Müller in Berlin in die Geheimnisse des Baues und der Thätigkeiten unseres Körpers eindrangen, war der Arzt Theodor Schwann. Eines Tages speiste er mit Schleiden zu Mittag, und der berühmte Botaniker erzählte dem Mediziner von seinen soeben abgeschlossenen Untersuchungen, von der wichtigen Rolle, welche der Zellenkern in der Entwicklung der pflanzlichen Zellen spiele. Da erinnerte sich Schwann, daß er einen ähnlichen Kern in den Zellen eines thierischen Gewebes[2] gesehen habe, und wie ein Blitz schoß ihm der Gedanke durch den Kopf, welche Bedeutung seine Entdeckung erlangen würde, wenn er nachweisen könnte, daß die Rolle der Zelle im thierishen Körper ähnlich wie jene in der Pflanze beschaffen sei. Dieser Gedanke war eines der Blitzlichter, mit welchen der Genius der Menschheit neue Wege offenbart. Sofort begaben sich die beiden Forscher in das anatomische Laboratorium, um die fragliche Zelle anzusehen, und Schleiden erklärte, daß ihr Kern durchaus dem der Pflanzenzellen gleiche.
Schwann ging nunmehr unverdrossen an die mühselige Arbeit, seinen Fund durch thatsächliche Beweise zu stützen. Damals lag die mikroskopische Technik völlig danieder, aber der Schüler des unermüdlich nach Klarheit ringenden Meisters Johannes Müller überwand alle Schwierigkeiten und wies mit voller Bestimmtheit nach, daß auch im thierischen Organismus die Zelle die lebendige Grundeinheit bilde, daß alle Gewebe des thierischen Körpers, also auch des menschlichen, aus Zellen entstanden und nur veränderte Zellen seien. Schwann veröffentlichte seine „Mikroskopischen Untersuchungen über die Uebereinstimmung in der Struktur und dem Wachsthum der Thiere und Pflanzen“ im Jahre 1839. Und heute nach einem halben Jahrhundert ist seine Lehre ausgebaut und fest begründet, heute ist sie nicht nur dem engen Kreise der Gelehrten bekannt, sondern durch volksthümliche Schriften und durch die Schule in die weitesten Kreise verbreitet.
Das Mikroskop hat noch eine andere wissenschaftliche Frage aufgerollt, die Frage von der „Urzeugung“: woher kommen die Zellen, woher die in dem Tropfen Regenwasser wimmelnden winzigen Wesen? Entstehen sie aus unorganischen Stoffen von selbst, oder muß jeder Zelle eine andere vorausgegangen sein? Der Streit um die Urzeugung führte zu den glänzenden Untersuchungen über die in der Luft enthaltenen Keime, und wenn die Akten über jene Frage noch nicht als gänzlich abgeschlossen betrachtet werden können, so ist wenigstens mit Bestimmtheit erwiesen, daß in allen uns bis jetzt bekannten Fällen jede Zelle die Tochter einer älteren sei, daß es im menschlichen Körper und in dem Wassertropfen keine Urzeugung gebe. Wichtiger als dieser theoretische ist aber der praktische Gewinn aus den mikroskopischen Studien. Sie führten uns zu der näheren Erkenntniß der Bakterien, sie enthüllten uns in einigen derselben die Träger von allerlei Krankheiten und gaben uns Mittel an die Hand, uns zu schützen. Und wenn diese Mittel auch vielfach noch der Vervollkommnung bedürfen, so ist das bisher Erreichte darum doch nicht gering zu schätzen, wir dürfen es vielmehr als eine Bürgschaft für künftige segensreiche Fortschritte betrachten. Welchen Gewinn die Menschheit schon heute von jener Bakterienforschung zieht, das lehrt uns, um nur das Beispiel anzuführen, die antiseptische Wundbehandlung. Blutvergiftung, Hospitalbrand, langwierige Eiterungen und andere schwere Komplikationen, welche früher mit Verwundungen so oft verbunden waren und den Schrecken der Lazarethe bildeten, sie sind heute zu den größten Seltenheiten geworden, seitdem die Aerzte in den Bakterien deren Ursache erkannt und die Krankheitserreger unschädlich zu machen gelernt haben. Es wäre müßig, den Einfluß des Miksroskops auf andere Zweige der Wissenschaft und der Industrie zu erörtern. Jedermann weiß ja, wie unentbehrlich dieses Instrument im Laufe der Zeit geworden ist. Es entlarvt die Fälscher und spielt vor dem Richterstuhl eine bedeutende Rolle; wie oft wurde mit Hilfe des Mikroskops ein scheinbar unbedeutender Fleck, ein einziges Härchen zum Schuldbeweis gegen den Verbrecher!
Diese großartigen Erfolge verdanken wir aber auch der rastlosen Thätigkeit der Optiker und Mechaniker, die das früher so unhandliche und unzuverlässige Instrument auf eine Stufe hoher Vollkommenheit gebracht haben. Wie wir schon erwähnt haben, hielt man früher diejenigen Mikroskope für die besten, welche am stärksten vergrößerten. Heute wissen wir längst, daß die Güte eines Mikroskops keineswegs allein in dessen vergrößernder Kraft liegt; es kommt vor allem auf die Klarheit des Bildes an. Die neueren Instrumente mit verbesserten Linsen, die nur zweihundert- bis dreihundertmal vergrößern, zeigen daher viel mehr Einzelheiten als die älteren mit einer 600 bis 700fachen Vergrößerungskraft. „Ein gutes Instrument,“ sagt Vogel, „muß scharf umrissene Bilder zeigen; der Gegenstand, den man beobachtet, muß wie in Kupfer gestochen aussehen und einen eleganten Anblick darbieten.“
Ursprünglich pflegte man die Güte des Mikroskops an der Betrachtung des Flohs zu prüfen. In der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts wurden als Prüfungsgegenstände verschiedene Haare oder Schmetterlingsschuppen genommen. Heute greift man zu noch feineren Zeichnungen der Natur, wie sie z. B. in dem Kieselpanzer der Diatomeen zu entdecken sind. Sehr leistungsfähige Instrumente zeigen auf demselben ein System in die Länge gezogener sechseckiger Feldchen. Von der Kleinheit dieser Objekte können wir uns kaum eine Vorstellung machen; denn von diesen feinen Längslinien gehen 3200 auf den Raum eines Millimeters!
Trotz aller Fortschritte der Mikroskopie ist es uns aber noch lange nicht gelungen, bis in die letzten Einzelheiten der Kleinwelt einzudringen. Die feinsten Gebilde der Materie, die Atome und Moleküle, kann selbst das best bewaffnete Auge nicht erblicken. Nach den Berechnungen der Forscher umfassen die kleinsten Raumgebilde, die wir mit den besten Mikroskopen wahrnehmen können, immer noch etwa zwei Millionen Moleküle!
Wir sind an den Grenzen der heutigen Forschung angelangt. In der Kleinwelt bildet jede Zelle eine Welt für sich, ihr Inneres ist ein unermeßlicher dunkler Welttheil, der noch des Entdeckers harrt, welcher kühn in sein Herz eindringt und Licht hineinbringt in die ewigen Geheimnisse des Lebens! C. F.
Alle Rechte vorbehalten.
Wissen.
Wissen soll bescheiden machen,
Thoren macht es dünkelhaft,
Wie die Sonne, Licht verbreitend,
Eulen raubt die Sehekraft.
Vergiß keine Wohlthat! (hebräisch).
In den Brunnen zu keiner Zeit
Sollst du Steine senken,
Der voll Milde stand bereit,
Durst’ger, dich zu tränken.
Der Sperling.
Der Sperling, der das Korn uns stiehlt,
Ruft jedem zu: „Dieb! Dieb!“
So traut man stets dem andern zu
Das, was man selber trieb.
Indischer Spruch.
Schmeißfliegen sind es, die die Fäulniß suchen;
Die Bienen aber fliegen nach der Blüthe.
Gemeine Seelen spähen stets nach Fehlern,
Vorzüge sucht ein edeles Gemüthe.
Neid.
Neiden
Bringt Leiden;
Doch ist der Leidende
Nicht der Beneidete, sondern der Neidende.
Alle Rechte vorbehalten.
Die Kamerunerin.
(1. Fortsetzung.)
So schnell sich Claudius durchweg in die freundlichen Räume der Drachenburg eingewöhnt hatte – ein Zimmer unter allen hielt er besonders werth. Es lag im linken Seitenflügel und sein vieleckiger Erker gewährte einen reizvollen Rundblick ins Land hinein. Hier war das Reich der Arbeit, aber auch dasjenige der Träume. Hier stand der altmodische, von einer schönen Aristotelesbüste gekrönte Schreibtisch, dessen sich schon so mancher Claudius bedient hatte, um in ernster Arbeit der Zeit Schätze abzuringen. Rings an den Wänden liefen hohe, dichtbesetzte Bücherständer hin und zwischen diesen hatte Claudius seine wenigen Erinnerungen aus der Vergangenheit angebracht, die über dem Cereviskäppchen gekreuzten Rapiere und einige sonstige Waffen, seiner Eltern Bilder, die Schattenrisse mehrerer Studienfreunde. Hier flossen ihm Vergangenheit und Gegenwart in eins zusammen; hier ward er sich seines Werthes als Mensch und Arbeiter klarer bewußt als draußen im Tageslärm; hierher, zu seinen Büchern, zu seinen Träumereien über Menschenbeglückung rettete er sich, wenn seine Seele matt werden wollte im Kampfe mit der Selbstsucht, Engherzigkeit, Verständnißlosigkeit ringsum – mit den unzähligen kleinen Bitternissen des täglichen Lebens, gegen deren Skorpionenstiche er, der Alleinstehende, keinen heilkräftigen Zauber besaß. Daß die so empfangenen Wunden bisweilen schmerzten, würde Claudius allerdings niemand, kaum sich selbst zugestanden haben, und niemand wäre es in den Sinn gekommen, hinter dem tüchtigen Geschäftsmanne, welcher ein so gleichmäßiges, ruhig kühles Wesen zur Schau trug und der doch, wenn es der Augenblick gebot, ein heiterer und anziehender Gesellschafter zu sein verstand, noch eine andere, weltschmerzliche Seite zu suchen. Selbst Albert Gerlach hatte von einer solchen bis zum heutigen Abend nichts gewußt; bis zum heutigen Abend, an welchem der Fabrikherr und sein Direktor unter den Augen des alten Aristoteles ihre Flasche Burgunder leerten.
„Ich kann Ihnen wirklich nicht genau sagen, wie die Tollheit so plötzlich über mich kam, Gerlach! Hab’ ich doch schon so manches liebe Jahr meinen einsamen Weihnachtsabend gehabt und schon eine geraume Weile in Eberhards glückliches Eheleben hineingeschaut, ohne mein freies Junggesellendasein darum weniger anziehend zu finden. Es ist nun aber einmal so, daß mich heuer alle Vorbereitungen zum Christfest, jedes sinnig ausgeschmückte Schaufenster, jedes lächelnde Kinderantlitz davor, jeder unschuldige Tannenbaum, den man zufällig an mir vorbeitrug – daß mich alle diese Dinge stören und verdrießen. Als ich letzthin bei Eberhards vorsprach, unterhielten sich die Mägde auf der Treppe vom bevorstehenden Kuchenbacken. Im Wohnzimmer saß der Professor in Hemdärmeln und wirthschaftete mit Pinsel und Kleistertopf. ‚Tritt nur näher, ich tapeziere eine Puppenstube für unser herziges Nellychen,‘ rief er mir vergnügt entgegen. ‚Und ich nähe ein Festgewand für das dazugehörige Puppenfräulein,‘ fügte Edith strahlend hinzu. Später mußte ich noch die Liebesgaben begutachten, mit welchen sich das Ehepaar gegenseitig zu überraschen gedachte, und ward zu diesem Zweck von jedem insgeheim bei Seite genommen! Danach schmeckte der Hochheimer sonderbar bitter. Ins Pfefferland mit all dem sentimentalen Krimskrams! dachte ich, gleich darauf aber: es ist doch herzlich traurig, an diesem Feste der Liebe so mutterseelenallein dazustehen, ohne ein von freundlicher Hand angezündetes Weihnachtskerzlein, ohne ein noch so geringfügiges Gedenkzeichen, das die Theilnahme ersann und das von menschlicher Zusammengehörigkeit zeugt!“
„Nun, ich muß bekennen, ungeschickt gearbeitete Schlummerrollen, auf denen man sich Beulen in den Kopf liegt, Visitenkartentaschen, die zu klein, Cigarrentaschen, die zu groß sind, Hausschlüsselfutterale, welche nur dazu bestimmt scheinen, dem glücklichen Besitzer heimtückisch aus der Tasche zu rutschen, und dergleichen verhängnißvolle weibliche Liebesgaben niemals unter die Annehmlichkeiten der Familienfeste gerechnet zu haben,“ entgegnete Gerlach lachend, als Claudius innehielt. „Und was das ‚herzige Nellychen‘ angeht, den kleinen Unhold, der täglich mindestens zweimal frisch gewaschen wird, aber trotzdem immer so schwarz wie ein Mohrenkind aussieht und seinen ganzen nach dieser Richtung leider schon recht entwickelten Verstand dem edeln Zwecke widmet, die gehorsamen Eltern in alle erdenklichen Verlegenheiten und Aengste zu versetzen – ich weiß wirklich nicht, ob dessen Besitz Ihnen eine erhebende Weihnachtsfeier sichern würde! Die Ehe an sich endlich –“
Gleichfalls lachend erhob Claudius die Hand. „Schweigen Sie, Gerlach! Es bedarf keiner Standrede gegen die Ehe, weil ich nicht daran denke, zu heirathen.“
„So ist es keine Liebesgeschichte, welche Sie mir beichten wollen?“
„Nicht eigentlich, wenigstens handelt es sich dabei nicht um ein Weib von Fleisch und Blut. Wir haben es nur mit einem Traumbild zu thun, mit einem Traumbild von Liebe und Glück, welches während eines Gespräches mit Eberhards urplötzlich in mir aufstieg. Frau Edith hatte mich gefragt, warum ich nicht endlich an die Wahl einer Lebensgefährtin denke, ich bemühte mich, ihr das ‚Darum!‘ klar zu legen. Schließlich entspann sich zwischen den Eheleuten ein kleiner, scherzhafter Streit über die Wege, auf welchen ein Mann die ‚Rechte‘ finden, verwandte Seelen zu einander gelangen könnten. Ihr Schwager meinte: auf jedem, wenn das Schicksal es will, sogar auf jenem nüchternen durch die Zeitung. Und da stand plötzlich mein Traumbild vor mir! Ich fühlte mich in einen Rausch wie von süßem Most versetzt! Ja, warum sollte ich nicht auch einmal die ‚Rechte‘ finden? Und warum sollte es nicht geschehen können mit Umgehung jenes entsetzlichen gesellschaftlichen Spießruthenlaufens bei Freunden und Verwandten, das jeder regelrecht zustande kommenden Verbindung in unseren Kreisen vorangeht? Meine Bewegung hielt noch an, als ich durch die frische Abendluft
[529][530] heimgegangen war, und verleitete mich zu jener großen Thorheit, deren ich mich heute, bei klaren Sinnen, so gründlich als möglich schäme! Alles weitere sagt Ihnen das Zeitungsblatt, das Sie mitgenommen haben.“
„Hier!“
Claudius wies auf eine im Anzeigentheil der Zeitung befindliche Stelle. „Lesen Sie!“
Gerlach las: „Ein alleinstehender Mann in gesicherter Lebenslage, den besondere persönliche Verhältnisse sowie ein starker Widerwille gegen die heutige Mädchenerziehung bisher vom geselligen Verkehr in Damenkreisen zurückgehalten haben und der gegenwärtig nicht mehr geneigt ist, das Versäumte auf dem herkömmlichen Wege nachzuholen, wünscht mit einem Mädchen von gediegener Erziehung und schlichtem häuslichen Sinne in brieflichen Verkehr zu treten. Sollte dieser Aufruf in die rechten Hände, das heißt in diejenigen eines weiblichen Wesens gelangen, welches weder Herrenhut noch Stockschirm trägt, Freude am eigenen Heim und Sinn für ein harmonisches Stillleben besitzt, welches ein gutes Buch einer seichten Unterhaltung und anregenden Geistesverkehr anspruchsvollen, geselligen Vergnügungen außerhalb des Hauses vorzieht – so möge man unter ‚Freimuth, postlagernd Grützburg‘ ihn erwidern.“
Claudius, welcher den Lesenden scharf beobachtete, nahm sehr wohl das verrätherische Zucken in dessen Mundwinkeln wahr. „Platzen Sie nur heraus, Gerlach. thun Sie sich keinen Zwang an!“ sagte er gutmüthig. „Ich erwarte und verdiene nichts anderes, als tüchtig ausgelacht zu werden.“
Jetzt blickte Gerlach rasch auf. „Aber ich denke nicht daran, Sie auszulachen, Doktor! Was eben meine Heiterkeit erregte, ist nur der Gedanke, wie wir Menschen uns unter einander anzuführen, oder, wenn Ihnen das besser gefällt, in einander zu irren vermögen! Wer würde in Doktor Ernst Claudius, dem Vertreter des gesunden Wirklichkeitssinnes, dem Musterbilde eines Groß-Industriellen, den Verfasser dieser merkwürdigen schriftstellerischen Leistung vermuthen?“
„Spotten Sie immerhin, mein Freund, aber bedenken Sie auch, was ich Ihnen sagte: die Anfrage ward in einer Art Trunkenheit – anders kann ich den Zustand wirklich nicht bezeichnen – von mir niedergeschrieben. Nachdem sie noch in derselben Morgenfrühe abgegangen und der Tag mit seinen Berufspflichten wieder in seine Rechte getreten war, kam ich schnell genug zum Bewußtsein meiner Narrheit und schämte und ärgerte mich so gründlich als möglich!“
„So haben Sie das Gesuch in der That vollkommen ernsthaft gemeint?“
„Während ich es schrieb, vollkommen. Erschien es mir doch in jenen verzauberten Nachtstunden fast als gewiß, daß sie, die ‚Rechte‘, meinen Ruf vernehmen und wie etwas längst Erwartetes aus der Tiefe ihres Herzens beantworten werde!“
„Nun, was das anbetrifft, einige Beantwortungen wird der ‚Aufruf‘ sicherlich finden.“
„Vielleicht! Aber keinesfalls befindet sich ein Mädchen unter den Schreiberinnen, wie ich es schilderte. Ein solches würde – heute, mit klaren Sinnen, weiß ich das recht wohl! – sich niemals dazu verstehen, auf dem Zeitungswege Bekanntschaften anzuknüpfen. Uebrigens hab’ ich jenen Traum von Zukunftsglück gleich vielem anderen sachte ins Grab versenkt. Und jetzt – füllen Sie unsere Gläser, Gerlach! – jetzt soll die ganze Angelegenheit abgethan und vergessen sein!“
Das erscheint mir durchaus nicht als das Richtige. Wir Männer sollten unter allen Umständen den Muth haben, einmal Begonnenes auch, so oder so, zu Ende zu führen! Eberhard sagte mir einmal, Sie seien in Ihren Jünglingsjahren ‚unnatürlich vernünftig‘ gewesen und es brause noch ein gutes Theil unverbrauchter Jugendlust in Ihnen. Wohlan! Erklären wir uns so jene ‚Trunkenheit wie von süßem Most‘ und behandeln wir Ihren Einfall, wie er es verdient: als guten Scherz. Ich selbst werde, sofern Sie mich dazu ermächtigen, die unter ‚Freimuth‘ eingelaufenen Briefe von der Grützburger Post abholen."
„Thun Sie, was Ihnen gefällt, Gerlach, nur lassen Sie mich aus dem Spiel! Es ist übrigens nicht wahrscheinlich, daß sich Ihr anderthalbstündiger Ritt nach Grützburg in irgend einer Hinsicht lohnen wird.“
„Mag sein; allein ich habe nun einmal zu der Sache Stellung genommen, und Sie, Doktor, müssen mit mir durch dick und dünn! So verlangt es die Gerechtigkeit.“
Der nächste Tag brachte beiden Männern viel Arbeit durch wichtige, vortheilhafte Geschäftsabschlüsse.
„Das war ein gesegneter Tag,“ sagte Gerlach, als sie beim Abendessen zusammentrafen – „und wenn Sie mir nachher noch eine kurze Unterredung im Aristotelestempel gewähren wollten, so wäre ich in der Lage, ihm einen würdigen Abschluß zu geben.“
„Ich traue Ihnen nicht ganz, Gerlach! Sie waren doch nicht etwa in Grützburg?“
„Zu dienen. Und mein Pflichteifer ward glänzend belohnt. Unsere Ernte besteht in vier, sage vier jungfräulichen Episteln, an deren Eröffnung wir gehen können, sobald Sie sich in die erforderliche weihevolle Stimmung versetzt haben werden.“
„So kommen Sie, Erbarmungsloser! Ich sehe schon, daß mir nichts geschenkt werden soll, und will die Früchte meines Handelns mit Würde verzehren.“
Da lagen nun die vier unschuldigen Brieflein auf der mit grünem Tuch ausgeschlagenen Tischplatte. „Welchen zuerst?“ fragte der junge Direktor mit lustig blitzenden Augen.
„Jenen mit den kühn geschwungenen Schriftzügen, wenn es denn sein muß! Lesen Sie vor!“
"Hochzuverehrender Herr!
‚Es gießt keinen Zufall,‘ sagt schon Schiller – ‚und was uns blindes Ungefähr nur dünkt, gerade das steigt aus den tiefsten Quellen!‘ Daran mußte ich denken, als mir gestern einer meiner Zöglinge eine zusammengeballte Zeitung ins Gesicht schleuderte und ich, aus gewohnter Ordnungsliebe sie wieder glättend, Ihre Anfrage darin fand. Mein Herr! Ich begrüße Sie als das Ideal, nach welchem meine Seele ein langes Leben hindurch vergeblich geseufzt hat! Wenn ich sage, ein ‚langes‘ Leben, so dürfen Sie daraus keine Schlüsse auf mein Alter ziehen. Ich befinde mich in den besten Jahren. Aber ein Leben der Knechtschaft muß dem zur Freiheit geborenen Geiste immer lang erscheinen. ‚Das Leben ist sonnenlose Nacht, wenn nicht die Freiheit drüber lacht!‘ sagt im ‚Pharus‘ ein gewisser Duller, von dem ich sonst nichts weiß. Mein Herr! Ich bin Lehrerin. Das sagt Ihnen genug. Ich bin arm an schnödem Mammon, aber reich an Geist und Gemüth und allen weiblichen Tugenden, in deren wichtigster, der Geduld, ich mich dank meinen Zöglingen täglich mehr vervollkommne. ‚Dulde, mein Freund! Geduld ist die schönste Zierde der Edlen!‘ sagt Herder, wie Ihnen bekannt sein dürfte … Ich spreche und lese sieben Sprachen, weiß die Klassiker aller nennenswerthen Litteraturen beinahe auswendig und habe in meinen Mußestunden zwei Bände Poesien, ‚Trübsalstropfen‘, verfaßt, deren Erscheinen nur das eine im Wege steht, daß ich noch keinen Verleger fand. Wenn sich ein Briefwechsel zwischen uns entspinnen sollte, so werden Sie finden, daß derselbe nicht nur unterhaltend, sondern auch bildend und belehrend für Sie sein wird.“
Hier ward der Vorleser durch ein heiteres Lachen des Fabrikherrn unterbrochen und er stimmte sogleich mit ein.
„Bravo, Doktor! Das ist Ihnen herzlich gesund,“ rief er. „Sehen Sie nun, wie recht ich hatte, die heilkräftigen Papyrusrollen nicht selbstsüchtig für mich zu behalten?“
„Sie sind ein trefflicher Bursche, Gerlach. Weiter!“
– – „sondern auch bildend und belehrend für Sie sein wird. Ihre Ansichten über die heutige Mädchenerziehung stimmen wahrscheinlich mit den meinigen überein. Ich finde, daß alle modernen Vergnügungen, besonders das Tanzen und die Gesellschaftsspiele, geradezu entsittlichend auf das weibliche Geschlecht wirken! Meine selige Mutter, eine Tochter des bekannten Pädagogen Wacker, ließ uns Mädchen an dergleichen niemals theilnehmen. Wenn Vater männlichen Besuch erhielt, nahm uns Mutter bei der Hand und führte uns hinter das Haus. Mit achtzehn Jahren hatte ich noch kaum mit einem Manne, Vater und Lehrer ausgenommen, ein Wort gewechselt. Ja, mein Herr! So wurden wir erzogen! Und nun stehe ich schutzlos in dieser Welt, welche inzwischen noch viel verderbter geworden ist.
Die Pünktlichkeit, meine zweite Grundtugend, zwingt mich, diesen Brief zu schließen. In fünf Minuten beginnt der Unterricht.
[531] Meine Zöglinge stehen vor meinem Fenster. Adolf wirft nasse Erdklöße an die Scheiben, Laura schneidet respektswidrige Grimassen und Edelfried, der künftige Majoratsherr, streckt die Zunge gegen mich heraus. Ja, mein Herr, die Zunge! Und ich muß zufrieden sein, wenn es dabei bleibt. Ziehen Sie daraus keine nachtheiligen Schlüsse auf meine Person, hochzuverehrender Herr! Ich bin nur als Lehrerin angestellt und darf mich in die Erziehung nicht mischen … Einer baldigen Antwort entgegensehend bin ich einstweilen, mein Herr,unter dem Druck der Sklavenketten seufzende
Adele Finnig,
geprüfte Lehrerin.
Groß-Woltersdorf bei M …
Nachschrift.
Die ‚Trübsalstropfen‘ erhalten Sie zur Einsicht, sobald ich Ihre Adresse habe.“
„Das verhüte der Himmel!“ sagte Claudius mit Inbrunst. „Aber wir könnten der armen Person vielleicht ohne Namensunterschrift eine kleine Weihnachtsüberraschung bereiten. Etwa durch Uebersendung einiger Flaschen guten, alten Weines mit der Bezeichnung: ‚Trostestropfen‘!“
„Ein hübscher Einfall! Sehen wir nun, wie es die Briefschreiberin Nummer zwei anfängt, Ihr Herz zu gewinnen. Sie schreibt Ihnen auf parfümiertem rosa Papier und in der ängstlich regelrechten Handschrift eines Schulmädchens:
,Berlin SW.
Geehrter Herr!
Ich bin nicht abgeneigt, mit Ihnen in Briefwechsel zu treten. Auch ich wünsche mir über alles einen interessanten Geistesverkehr mit einem Unbekannten! Schon in der Pension schwärmten wir dafür und Alma probierte es auch, als wir eines Tages ein schwungvolles Gedicht, worin sich jemand fürchterlich nach einer ‚verwandten Seele‘ sehnte, in der Zeitung fanden. Sie korrespondierten danach ein Vierteljahr, Alma und der Unbekannte; er schrieb Briefe wie ein Gardelieutenant, sage ich Ihnen. Abgrundtief poetisch! Schließlich wollte er Alma aber auch kennenlernen, und das war das Schlimme. Alma trauert noch heute um ihren schönen Traum. Ihr Seelenfreund entpuppte sich als Apothekergehilfe. Seinen Beruf hätten wir ihm indessen nicht verübelt, denn ‚Pharmaceut‘ klingt ja recht hübsch wie alle Fremdwörter. Aber, was meinen Sie, er erschien mit Zwirnhandschuhen und schiefgelaufenen Stiefelabsätzen beim Rendezvous, roch ganz abscheulich nach Baldrian und Pfefferminze und lud uns – Therese und ich hatten Alma natürlich begleitet – schließlich zu einem Glas Bier in die ‚Zelte‘ ein! Sofort Kehrt machen und den Unseligen auf immer stehen lassen, war für uns das Werk eines Augenblicks! – –
Seitdem behalfen wir uns ohne Romantik. Nun aber, da wir die Pension verlassen und uns trennen mußten, geht es doch nicht mehr so. Das Leben daheim ist schmählich öde, besonders wenn man schon seine ganze Zukunft im voraus weiß. In zwei Jahren soll ich nämlich meinen Cousin Julius heirathen, der das große Wein-Importgeschäft unter den Linden hat. Wenn es Ihnen recht ist und mir Ihre Briefe gefallen, so könnten wir uns in der Zwischenzeit einander platonisch widmen. Ihre Briefe müßten natürlich so gehalten sein, daß ich vor Alma und Therese damit Ehre einlegen kann. Ich werde sie (die Briefe!) in einer verschließbaren Kassette aufbewahren – so etwas kommt in allen besseren Romanen vor! – und an meinem Hochzeitstage unter Thränen verbrennen. Das ist so poetisch! Und es wäre doch auch zu abgeschmackt, wenn nur die Männer an diesem wichtigsten Wendepunkte des Lebens etwas zu verbrennen haben dürften!
Uebrigens hoffe ich, daß Sie weit von Berlin wohnen und niemals herkommen werden. Nicht wegen etwaiger Zwirnhandschuhe oder schiefer Absätze, sondern wegen der Romantik. Die ist gleich futsch, sobald man sich kennt! …
Lieben Sie Paul Heyse? Ich rasend. Essen Sie gern Pralinées? Ich furchtbar gern. Gehen Sie gern ins Theater? lch lasse mein Leben dafür! Wie denken Sie über Ibsen und Karl Bleibtreu? Letzterer erscheint mir weit bedeutender!
Da wäre gleich Stoff für Ihren nächsten Brief. Ich werde mir denselben am Sonnabend vor Weihnachten von der Hauptpost abholen. Bitte zu adressieren: La Rabbiata. Berlin. Hauptpostlagernd. Betty.‘“
Diese Epistel wirkte noch um ein gutes Theil erheiternder als die vorangegangene auf Claudius und seinen Vertrauensmann. „Der Berliner Backfisch, wie er im Buche steht,“ meinte Gerlach, „das natürliche Ergebniß einer Erziehung, bei welcher die widerspruchsvollen Einflüsse der Töchterschulen-Dressur und des eigenartigen Berliner Großstadtlebens durcheinander wirken! ‚Cousin Julius‘ wird es nicht ganz leicht haben, in diesem zweifellos reizenden Köpfchen einigermaßen aufzuräumen, da Sie aber keinesfalls wünschen werden, sich der Kleinen auf zweijährigen Accord ‚platonisch zu widmen‘, so können wir nichts weiter in der Sache thun –“
„Und gehen daher zu Nummer drei über. Ganz recht, lieber Freund. Ich beginne wahrhaftig, an dem ‚Feenreigen‘ Geschmack zu finden!“
„Hinsichtlich der dritten ‚Fee‘ muß ich Sie leider enttäuschen, wie ich sehe. Hören Sie!
‚Ew. Hochgeboren
geistreiches Inserat in der ‚Norddeutschen Allgemeinen Zeitung‘ enthält zwar das Wort ‚Heirath‘ nicht ausdrücklich, doch ist eine solche, wie ich mit Sicherheit annehme, des Pudels Kern
und ich glaube Ihnen daher einen Dienst zu erweisen, indem ich Sie auf ein Institut hinweise, dessen segensreiches Wirken von zahllosen Glücklichen beiderlei Geschlechts anerkannt und gepriesen wird. Mein Ehevermittlungs-Bureau arbeitet mit glänzendem Erfolge für alle Kreise und verfügt stets über die Mittel, jeder, selbst der exquisitesten Geschmacksrichtung Rechnung zu tragen. An jungen Damen der von Ihnen gewünschten Gattung könnte ich zur Zeit drei Stück empfehlen:
Nr. 1, höhere Beamtentochter, Waise, Erbin einer uralten Tante, in deren Hause sie lebt. Sehr gediegen und häuslich erzogen. Fügsam und geduldig. Evangelisch. Regelmäßige Kirchenbesucherin. Brünett. Sechsundzwanzig Jahre alt.
Nr. 2, Offizierstochter; von Adel. Hoffähig. Lebt mit Mutter von deren Witwen-Pension und kleiner Stiftsrente. Vierundzwanzig Jahr alt. Auffallend schön. Blond. Fein erzogen. Zur Repräsentation geeignet. Evangelisch. Heiteren Temperaments.
Nr. 3, Rentierstochter. Mutterlos. Vater ehemals Seifensieder, möchte die Tochter gern unter die Haube bringen, um seine Freiheit besser genießen zu können. Mindestens achtzigtausend Thaler Mitgift. Gut erzogen. Etwas dick, sonst recht nett. Hochblond. Vierundzwanzig Jahr alt. Etwas sentimental und schwärmerisch. Wäre vielleicht ganz nach Ew. Hochgeboren Geschmack.
Ich kann Ew. Hochgeboren nur rathen, der Sache näher zu treten, und stehe in jeder Hinsicht zu Dero geneigter Verfügung. Geschätzte Zuschrift erbitte unter ‚Eden‘. Erstes deutsches Centralbureau für Ehevermittelung. Berlin SW. III."
„Da haben wir’s!“ sagte Claudius lachend. „Die sündige Menschheit besitzt wieder ein Eden!“
„Und dieses versendet die Aepfel der Versuchung durch die Post, in Gestalt solcher Musterkarten moderner Even! Jedenfalls das eigenartigste Stück unserer Ernte, diese Epistel aus Eden! … Nun haben wir es nur noch mit dem vierten und letzten Briefe zu thun. Kritzelige Handschrift, unleserlicher Poststempel.
‚Werthgeschätzter Herr Einsender des bewußten Inserats!
Ich bin sonst durchaus nicht für so etwas. Aber man muß immer wissen, wenn man es darf, und dieses ist das erste Mal, wo es mir so scheint. Also bitte, verkennen Sie mich nicht. Es ist nur wegen der Fortbildung! Im übrigen geht es mir gut, mein Geschäft blüht und es fehlt mir ebensowenig nicht an achtbarem Umgange. Der eine Herr, wo ich meistens die Theaterbilljette von kriege, macht sich nächstens selbständig in Wollwaaren und ließ schon mehrfach etwas fallen, woraus ich auf seine Absichten schließen kann. Aber das erlauben mir meine strebsamen Anlagen nicht (mein Vater war überseeischer Reisender in Tabak!), mich hier in Krummwinkel zu vergraben, umringt von einem Erdball, den ich noch nicht kenne, und unter Leuten, die keinen Schein von einem höheren Aufschwunge besitzen! Nein! ich will auf flüchtigen Schienen die Welt durcheilen, will den Erdball kennenlernen, wenigstens da, wo er ziehvielisirt ist! Vorher aber mir eine gewisse, sozusagende Salon-Politur und etwas
[532] Weltkenntniß aneignen, ohne die man heutzutage auf Reisen nicht durchkommt und doch auch nicht für die Erste, Beste gehalten werden möchte!
Ich hoffe mich klar und vertrauensvoll ausgedrückt zu haben, woraus Sie ersehen werden, daß es mir nur um eine geistreiche bildende Korrespondenz mit einem feinen Herrn zu thun ist, der nebenbei mit Herz begabt ist und auf das Innere sieht, wie aus Ihrem Inserat hervorgeht. Auf Wunsch sende ich Photographie, bin aber auch zu persönlicher Vorstellung bereit, wenn Sie solche vorziehen sollten. Meine Mittel erlauben es mir, jedem Ihrer allerwerthesten Vorschläge entgegenzukommen, was noch durch ein Aeußeres unterstützt wird, von welchem ich aus Bescheidenheit nichts weiter sagen will.
Ich hoffe mich nicht in Ihnen getäuscht zu haben, insofern als indem wenn Sie bereits einer zuvorigen Reflektantin den Vorzug gegeben haben sollten, Sie es mir dann wenigstens zu wissen thun und einige Bestellungen bei mir machen werden. Für diesen Fall halte ich mein Prima-Handschuh-Geschäft bestens empfohlen. Preisliste gratis und franko. An Kunden werden alle Sendungen portofrei effekuiert und Ausbesserungen unentgeltlich vorgenommen. Da ich keinen Grund habe, mich meinerseits anonym oder inkognito zu verhalten, erlaube ich mir zu sein
einem guten Erfolge entgegensehende
Julie Banz.
Krummwinkel bei B …
„Wissen Sie, daß es mir vorkommt, als hätten wir miteinander einer Lustspiel-Vorstellung beigewohnt, Doktor," rief Albert Gerlach, nachdem auch die Krummwinklerin weidlich belacht worden war. "Sie sind ganz fröhlich geworden, und selbst der alte Aristoteles dort oben scheint verstohlen zu lächeln."
„Ja, und doch hat auch dieses ‚Lustspiel‘ seine ernste Seite. Das heißt: jeder dieser Briefe zeigt uns eine aus den Eigenthümlichkeiten unserer Zeit herausgewachsene Menschenart, stellt also gewissermaßen ein Blatt aus der Zeitgeschichte dar.“
„Nicht abzuleugnen! Aber heute erlaube ich Ihnen nicht mehr, irgend ein Ding der Welt mit Weltweisheit zu beleuchten. Sie sollen zur Ruhe gehen und im Traume weiter lachen. Gute Nacht!“
Blätter und Blüthen.
Eine gestörte Mahlzeit. (Zu dem Bilde S. 521.) Wir sind an einem der Ströme Südamerikas, die durch tropische Waldungen ihre Fluthen dem Atlantischen Ocean entgegenwälzen. Eine großartige Wildniß umfängt uns; mit urwüchsiger Macht schießt hier die Vegetation empor und die Thierwelt scheint zu verschwinden in diesem Pflanzenmeer. Doch der Naturforscher versteht sie auch hier zu belauschen. Am Ufer eines Flusses, am Stamme eines halbgestürzten Baumes, der in seinem Fall von einem anderen niedergestreckten Riesen des Urwaldes aufgehalten wurde, erblickt er eine sonderbare Familie. Es sind Thiere, die auf den ersten Blick unseren Schweinen nicht unähnlich sehen und von deutschen Reisenden Wasserschweine genannt wurden; die Indianer nennen sie Capügua, woraus die Spanier Capybara gemacht haben, und in den Verzeichnissen der Wissenschaft sind sie unter dem Namen Hydrochoerus Capybara eingetragen. Merkwürdige „Charakterzüge“, wie sie sonst das Thierleben so oft bietet, kann man dem Wasserschwein nicht ablauschen. Es ist plump gebaut, trotzdem nicht ungeschickt in seinen Bewegungen, aber träge von Natur. Wenn die Noth es zwingt, kann es mit Leichtigkeit über meterhohe Hindernisse springen, es schwimmt auch meisterhaft; allein für gewöhnlich offenbart sich in seinem Thun und Treiben eine plumpe Schwerfälligkeit und Gemächlichkeit. In einer Beziehung ist das Thier besonders bemerkenswerth: es ist das größte Mitglied der Ordnung der Nager, der riesige Vetter unserer Ratten und Mäuse. Ein erwachsenes Exemplar erreicht die Größe eines jährigen Hausschweines, ein Gewicht von beinahe einem Centner und eine Höhe von 50 cm und mehr am Widerrist. Seine Färbung ist undeutlich, braun mit einem Anstrich von Roth oder Röthlichgelb.
In seiner Heimath lebt es nur an Flußufern, von denen es sich selten entfernt; es nährt sich von allerlei Sumpf- und Wasserpflanzen, wälzt sich im Schlamm und wäre ein rechtes Schwein, wenn es nicht einen Theil seiner Zeit im Wasser zubringen würde. Man kann die Jungen dieser Thiere leicht zähmen, in Europa besaß Brehm ein gezähmtes junges Wasserschwein, das seinem Rufe folgte – aber es gehorchte nur, wenn es eben wollte, eine besondere Freude bereitete es dem Naturforscher nicht.
Draußen in den Wäldern des Orinoko, Amazonas und La Plata wird es von den Indianern gejagt, die gern sein Fleisch verzehren, obwohl es einen thranigen Beigeschmack hat. Aus letzterem Grunde verschmähen die weißen Bewohner Südamerikas dieses Wildbret und jagen die Capybara nur zur Belustigung.
Tag und Nacht aber beschleicht die gemüthlichen Familien der Wasserschweine der schlimmste Raubgesell Südamerikas, der schlaue Jaguar; wie ein Blitz fällt er auf die Ahnungslosen nieder. Sprungbereit sehen
wir ihn auch auf unserem Bilde. Die Familie thut sich gütlich an den Wasserpflanzen, die am Ufer wachsen. Da wittert das Männchen die Nähe des Erzfeindes; ein Ferkelchen schnobert empor und blickt entsetzt in die funkelnden Lichter des Jaguars. Doch es ist bereits zu spät: bevor die Wachsamen die Flucht ergreifen und ihre Gefährten warnen können, saust der Räuber hernieder und streckt sein Opfer zu Boden. Mit einem durchdringenden Schrei, der wie „Ap!“ klingt, stürzen die übrigen ins Wasser; man sieht nur die Nasenspitzen aus der Fluth hervortauchen und bald sind auch diese im Rohrdickicht verschwunden. Eine Scene des unerbittlichen Kampfes ums Dasein, der die ganze Welt erfüllt, hat sich abgespielt; vielleicht erreicht den Räuber in demselben Augenblick ein gleiches Geschick. Lautlos stiegt ein winziger vergifteter Pfeil durch die Luft, den ein Indianer gegen den Jaguar abgeschnellt hat – und in wenigen Minuten ist auch der Sieger neben seiner Beute ein Opfer des Todes. *
Haushaltungsschulen. Der Gedanke, Haushaltungsschulen für Arbeiterinnen zu gründen, hat in manchen Gegenden des Deutschen Reiches bereits Verwirklichung gefunden, so in Berlin, Karlsruhe, Frankfurt a. M., Kassel. Gegenwärtig geht man auch in Oesterreich daran, solche ins Leben zu rufen. Bereits besteht eine derartige Schule zu Dornbirn in Vorarlberg, eine Fabrikschule zu Aussig in Böhmen verfolgt die gleichen Zwecke, und nunmehr gedenkt man auch in Wien eine ähnliche Anstalt zu errichten. Bei der Kostspieligkeit der Lebensführung in der österreichischen Hauptstadt thun jeder Frau, vor allem aber der des verhältnißmäßig gering bezahlten Arbeiters, wirtschaftliche Kenntnisse dringend noth; man klagt über den Verfall so vieler Haushaltungen und glaubt in dem Umstande, daß die erwerbende und seit ihrer Kindheit in der Fabrik oder an der Nähmaschine beschäftigte Frau ihrem Haushalte nicht entsprechend vorstehen kann, mindestens theilweise die Ursache erblicken zu können. –
Dadurch, daß diesem Uebelstande abgeholfen, die Frau in den Stand gesetzt wird, den Mittagstisch einfach, aber schmackhaft herzustellen, das schmale Einkommen sparsam zu verwalten, hofft man, der Geldnoth der Arbeiterfamilien wenigstens von einer Seite her vorzubeugen und den Versuchungen, welche die zahlreichen Bier- und Weinhäuser der Residenz dem heimkehrenden Familienvater bieten, einen Damm entgegenzusetzen. Vorläufig sollen Abendkurse eingeführt werden, in denen die Arbeiterinnen Kochen, Nähen und Flicken wie alle anderen Verrichtungen, welche in ihrem kleinen Haushalte vorkommen, erlernen können. Geeignete Vorträge sollen zur Belehrung über den Nährwerth der Speisen, über häusliche Oekonomie, Kinderpflege etc. dienen. Zur Anbahnung des Unternehmens, das vorläufig noch der Privatwohlthätigkeit überlassen bleibt, hat sich ein Ausschuß gebildet, an dessen Spitze der k. k. Central-Gewerbeinspektor, Hofrath Migerka, steht. R. U.
Kleiner Briefkasten.
Frau Oberst B., Sachsen. Haben Sie denn die „Gartenlaube“ Jahrgang 1890, Seite 723 nicht gelesen? Dort steht ein Artikel, der genau das ausspricht, was Sie wollen. Im übrigen sind wir der Ansicht, daß in Beziehung auf richtige Haltung beim Schreiben die Eltern mehr thun können als die Lehrer. Die letzteren haben meist eine große Anzahl von Kindern gleichzeitig vor sich, können also naturgemäß die einzelnen nicht in gleichem Maß beaufsichtigen wie die Eltern zu Hause.
F. B., Linz a. d. Donau. Die Zubereitung von Rhabarberstengeln als Gemüse ist dieselbe wie die von Schwarzwurzeln. Absieden in Salzwasser, Aufkochen in einer leichten Buttersauce. Aber der eigenthümliche Rhabarbergeschmack ist nicht jedermanns Sache, darin liegt wohl der Grund, warum das allerdings sehr gesunde und verdauungbefördernde Gemüse nicht allgemein gegessen wird. Am besten macht sich Rhabarber noch mit Zucker, Wein und Gewürz versetzt als süße Speise. Sie finden in Webers „Universal-Lexikon der Kochkunst“ (Leipzig) eine ganze Anzahl Rezepte zu Kompott, Marmelade, Gelee, Auflauf, Kuchen und Pudding, ja auch zu einem Rhabarberwein. – Die Wurzel der Rhabarberpflanze dient zu den bekannten medizinischen Zwecken, doch verwendet man dazu nicht die hauptsächlich in England gezogenen, theilweise getriebenen großblätterigen Sorten, sondern eine in Mittelasien gedeihende Pflanze, deren Wurzeln dann getrocknet aus Arabien zu uns gelangen.
'B. F. in Lüttich. Der verstorbene Komponist Wilhelm Taubert war beinahe 80 Jahre alt. Sie finden näheres über ihn in einem für Musikfreunde höchst brauchbaren, empfehlenswerthen Nachschlagebuch, „Julius Schuberths Musikalisches Konversationslexikon“, herausgegeben von Professor Emil Breslauer, das kürzlich bei J. Schuberth u. Komp. in Leipzig in elfter Auflage erschienen ist.
Inhalt: Baronin Müller. Roman von Karl v. Heigel (4. Fortsetzung). S. 517. – Gestörte Mahlzeit. Bild. S. 521. – Wo eines Kaisersohnes Wiege stand und ein Kurhut vergessen ward. Von Hugo Arnold. S. 522. Mit ABbildungen S. 517, 524 und 525. – Aus der Kleinwelt. Zur Erinnerung an die Erfindung des Mikroskops. Mit Abbildung S. 526. – Denksprüche. Von Daniel Sanders. S. 528. – Der Dorfbarbier. Bild. S. 529. – Die Kamerunerin. Eine romantische Geschichte von H. v. Götzendorff-Grabowski (1. Fortsetzung). S. 528. – Blätter und Blüthen: Eine gestörte Mahlzeit. S. 532. (Zu dem Bilde S. 521.) – Haushaltungsschulen. S. 532. – Kleiner Briefkasten. S. 532.
- ↑ * Vgl. den Vortrag von Prof. Ferdinand Cohn, der auf der 47. Versammlung deutscher Naturforscher und Aerzte zu Breslau den Inhalt eines bis dahin noch nicht gedruckten Briefes von Leeuwenhoek an Constantin Huyghens wiedergab.
- ↑ Es handelte sich um die Zellen in der chorda dorsalis, dem Rückenstrang.