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Die Gartenlaube (1891)/Heft 30

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1891
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[501]

Nr. 30.   1891.
Die Gartenlaube.


Illustriertes Familienblatt.Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Baronin Müller.

Roman von Karl v. Heigel.

(3. Fortsetzung.)


Als Ida aus dem Zimmer war, sperrte der Richter die Kasse ab und steckte den Schlüssel in die Tasche, doch gewann er es nicht über sich, die Kasse an ihren alten Ort zu tragen. Grauen und Ekel erfaßten ihn; stöhnend sank er auf einen Stuhl.

Da erschien der Amtsdiener mit dem Schreiber Franz. Das erste Wort des Alten war: „Der Herr Amtsrichter sehen übel aus, sehr übel –“

Vitus wehrte ihm mit der Hand. Was war das? Den ersten Blick richtete der Schreiber auf die Kasse, und seine Augen funkelten dabei so listig, so – war das Zufall, war es nur Einbildung? Er mußte sich zusammennehmen.


Der Naschmarkt in Wien.
Zeichnung von W. Gause.

[502] „Sie hatten ihn ja bald, Strobel!“ hob er an.

„Ja, sofort; er war im ‚Raben‘.“

„Ist das der Ort, ist dort die Gesellschaft für einen Reuigen?“ herrschte Vitus den Landstreicher an.

„Ich trat nur zum Verschnaufen unten ein,“ vertheidigte sich der andere mürrisch. „Ich wollte zwei Treppen höher, wollte Herrn Assessor Tannhauser um Arbeit bitten.“

Er log, kein Spitzbube ging dem Wärwolf Tannhauser freiwillig unter die Augen. Der Amtsdiener lachte höhnisch; auch Vitus wußte, daß der Bursche die Unwahrheit sagte, doch er, der Richter, konnte dem Lügner nicht fest ins Auge sehen.

„Zum Assessor wolltest Du?“ murmelte er, erfaßte die Papierschere und legte sie wieder hin. „So? so? … ich glaube nicht, daß er – indeß, vielleicht –“

Vitus hatte dem Schreiber kräftig seine Meinung sagen, ihm mit Polizei und Gesetz drohen wollen – das war ihm nicht mehr möglich. Er brachte nur Redensarten vor, die nicht den geringsten Eindruck auf den Sünder machten. Nach einem letzten Versuch, sich zu beherrschen und seinen Worten die nöthige Festigkeit zu geben, entließ er den Franz, der ihm noch einen bösen Blick zuwarf.

Wieder allein, bedeckte Vitus Müller in tiefster Erschütterung sein Gesicht mit den Händen. „Gott! Gott!“ stöhnte er, „was habe ich gethan!“


5.

Die Unterredung zwischen Ida und dem Präsidenten fand im Speisezimmer statt, denn die Majorin Langbein wich nicht. Excellenz empfing die Gesammtsumme der Kaution und ging mit Amtsmiene die Werthpapiere durch.

„Alles in schönster Ordnung,“ meinte er. „Ich danke Ihnen.“ Damit überreichte er der Baronin den schon ausgefertigten Empfangsschein.

„Aber warum wollen Sie sich selbst bemühen, Excellenz?“

„Der kleinste Dienst, den ich Ihnen, verehrte Frau, erweisen kann, macht mir Vergnügen. Auch wissen Sie nicht, wie schwerfällig man heute noch in solchen Dingen seitens unserer Behörden ist; ich mache das morgen im Handumdrehen ab. In drei Tagen bin ich wieder zurück.“

„Gut denn, so begleiten wir Sie zum Zug.“

„Ich bitte, nein. Das würde einem Abschied ähnlich sehen und ich mache nur einen Ausflug.“ Er horchte nach der Thür. „Trotzdem die Majorin keine kräftige Stimme hat, hört man sie durch zwei Zimmer. Ich werde ihrer Neugier durch jenen Ausgang entfliehen. Entschuldigen Sie mich bei Ihren Gästen und grüßen Sie Ihre Lieben!“ Er bot ihr die Rechte und fuhr mit einem Blick auf das Paket in seiner Linken fort: „Alles Geschäftliche ist hiermit erledigt, es fehlt nur noch die Weihe des Bundes; ich wünsche mit Ihnen, daß sie bald erfolgt.“

Er sah in die blinkenden Augen Idas und küßte die Hand, die er immer noch hielt, mit etwas altfränkischer Artigkeit. „Auf Wiedersehen! – Bitte, keinen Schritt! Auf frohes Wiedersehen!“

Ida blieb im Zimmer stehen. Das wäre abgethan. Jetzt konnte man aufathmen. Und doch – warum wollte denn dieser dumpfe Druck nicht weichen? Warum nur wurde sie den Blick nicht los, mit dem Vitus ihr die Geldsumme vorhin übergeben hatte? Ach was, Vitus nimmt die Sache zu ernst. Es handelt sich um einen kleinen Betrag und einige Tage – freilich die Nummern! Nun, statt der alten trägt man einfach die neuen ein.

Schon hatte sie die Thür geöffnet, um zur Gesellschaft zurückzukehren, allein die schnarrende Stimme der Majorin aus dem dritten Zimmer machte sie stillstehen. „Ja, ja, meine liebe Verena, die Residenz ist ein gefährlicher Boden für junge Ehemänner. Die Offiziere des Regiments ‚Erbprinz‘ werden dort die erste Rolle spielen. Beiläufig: der neue Oberst ist der Vater der geistreichsten, schönsten, überall gefeierten Dame unseres Adels. Gräfin Winegg soll freilich gefallsüchtig sein, doch mir scheint das Wort nicht richtig für eine Dame, die eben des Sieges sicher ist, sobald sie will. Klopft Ihnen da das Herz nicht ein wenig, meine Süße?“

Verena war offenbar um eine Antwort verlegen, denn ein paar Sekunden lang blieb alles still. Aber da fiel Helmuth mit frischem Tone ein: „Meine Gnädige, warum soll meine Braut Herzklopfen haben? Entweder hat man in der Hauptstadt meinen Geschmack: dann wird Verena ‚die geistreichste, schönste, überall gefeierte Dame‘ sein. Oder man hat ihn nicht: um so besser für mich!“

Er sprach das mit so ruhiger Heiterkeit, mit solcher Bravheit und Wärme – man mußte ihm glauben!

Ida hätte hineineilen und dem wackeren Schwiegersohn recht wenig würdevoll und schwiegermütterlich um den Hals fallen mögen, allein plötzlich schoß ihr ein Gedanke durch den Kopf und hielt sie fest. Wenn Helmuth so treu zu seiner Braut stand, war dann diese hastige Abwicklung der Geldangelegenheit überhaupt nöthig gewesen, hatte sie dann nicht übereilt gehandelt? Für Vitus schien der kleine Schritt heraus aus der breitgetretenen Straße des Gesetzmäßigen doch ein ungeheures Opfer gewesen zu sein. Alle Vorgänge in der Amtsstube traten ihr vor die Seele; sie erblickte sein gutes Gesicht Zug für Zug, die Verlegenheit, das Entsetzen, den Kampf und dann die tödliche Blässe. Hatte sie recht gethan?

Mit einem entschlossenen Ruck warf sie das Haupt zurück. Das fehlte noch, daß auch sie diesen kleinlichen Bedenken Raum gab. Ein Keil treibt den andern, jetzt wird Vitus den Onkel Anton drängen, und die Sache kommt noch einmal so rasch in Ordnung. Und, sagte sie sich mit einem Erröthen, das sie um viele Jahre verjüngte, jetzt weiß ich wenigstens, wie sehr er mich liebt – und Liebe für Liebe!

Heiter trat sie ins Zimmer, wo eben die Majorin und ihre Tochter Abschied nahmen. Vitus, der müde herübergekommen war, begrüßte seine Frau mit einem gedrückten Lächeln. Als der unliebsame Besuch sich entfernt hatte, hing sich Ida vertraulich an den Arm ihres Gatten.

„Warum,“ fragte dieser, „warum hast Du die Majorin nicht zum Thee gebeten? Wie mir schien, wartete sie darauf.“

„Freilich hat sie drauf gewartet! Eben darum nicht.“

Aber da Helmuth vor dem Abgang des Zuges zu seinem Vater muß, wirst Du mit mir allein sein!"

„Und wenn ich nun am liebsten mit Dir allein bin?“

Vitus sah sie staunend an, konnte jedoch nichts erwidern, denn in diesem Augenblick näherte sich Helmuth, um von ihnen Abschied zu nehmen.

Hinter dem verfallenen Gemäuer der Burg lag ein Gärtchen mit einem gemauerten Vorsprung und einem steinernen Sitz. Dorthin begab sich das Ehepaar. Nicht wegen der Aussicht auf die Ebene und das mächtige Gebirge, obwohl die Ferne gerade heute unter der glühenden Pracht des Abendhimmels wie ein schöner Traum herüberwinkte, heute suchten sie das Lugaus einzig wegen seiner einsamen Lage auf.

Als sie auf der Steinbank nebeneinander saßen, ergriff Ida die Hand ihres Mannes und fragte: „Bist Du jetzt beruhigt?“

„Nicht beruhigt,“ antwortete er, „aber gefaßt. Ich habe über mein Leben nachgedacht, von der Knabenzeit an bis jetzt. Nach Juristenrecht ist meine Vergangenheit makellos. Nun trübt ein Augenblick die Besonnenheit, macht mich alle Grundsätze vergessen, vernichtet den Gewinn dieses ganzen Lebens – den Ruf eines ehrlichen Mannes.“

„Du übertreibst.“

„Ich übertreibe nicht. Mein Vorgesetzter ist Dir bekannt, Du warst von ihm entzückt, hast Dir sein baldiges Wiederkommen nicht aus leerer Höflichkeit, sondern in herzlichem Gefühl gewünscht. Wenn er aber jetzt durch jene Thür treten würde, müßte er Dir nicht furchtbarer sein als ein Gespenst?“

Es überlief sie kalt, doch gewann ihr nüchterner Sinn alsbald die Oberhand. Sie tröstete Vitus, daß morgen alles wieder gut gemacht sei.

„Was ich begangen, wird nie wieder gut gemacht,“ sprach er traurig. „Und trotzdem würde ich ohne diese Schuld mein Unrecht gegen Dich niemals erkannt haben. Es war ein Verrrath an Deinen dankbaren, gütigen Empfindungen für mich, ein Verrath an der Freundschaft, Dich an mein Los zu binden. Ich armer Mann, arm in jedem Sinne, durfte nicht um Dich freien.“

„Vitus, ich bin Dir böse …“

Es wühlte in ihm tiefer und tiefer. „So sind denn Abgründe in jedem Gemüthe! Ich war ruhig, fühlte mich sicher. Da borgt sich der Versucher Deine Stimme, und ich erliege –“

Sie drückte sanft seine Hand, er schaute auf. Nie war sein [503] Weib ihm so strahlend schön erschienen wie in dieser Stunde. Machte ihn die Schuld jünger und zum Schwärmer? Eine Blutwelle schoß ihm in die Schläfen und feurig rief er:

„Verzeih’ das schlimme Wort. Du hast die Allgewalt der Liebe mich kennen gelehrt, und ich liebe Dich. O, verlange nie, nie wieder ein Unrecht von mir, ich müßte es um Deinetwillen abermals begehen!“

Was Ida vorhin gedacht hatte, sprach sie jetzt aus: „Liebe für Liebe!“ Und innig küßte sie ihren Gatten. –

Wahr! wahr! Ohne ruhiges Gewissen kein ruhiger Schlaf. So sagte sich Vitus, als er in der folgenden Nacht nach einem kurzen Schlummer, der mehr eine Betäubung als ein Ausruhen war, um zwei Uhr erwachte. Zwei Uhr! Wie lang noch bis zum Tag, bis es Zeit ist, zu Onkel Anton zu gehen! Durch das offene Fenster strömte die Nachtluft herein. Der Amtsrichter stützte sich im Bette auf. Was er nie aus dieser Ferne gehört hatte, das Rauschen des Flusses, es war deutlich vernehmbar. Hochwasser! Wenn die Fluth, wie es vor Jahren einmal geschehen war, den Bahndamm unterwühlte und den regelmäßigen Verkehr störte! Onkel Anton, dem Bequemlichkeit über alles ging, der furchtsam war, würde sicherlich in den Bergen bleiben. Vitus strich sich über die Stirn, sie war feucht; auch die Nacht hatte keine Kühle gebracht. Leise kleidete er sich an und begab sich in den Bogengang. Da konnte er auf und nieder gehen und seufzen aus tiefster Brust. Doch die Sorge lastete auf ihm und das Hin und Her ermüdete ihn bald. Er nahm zwischen den Blumen Verenas Platz, und so, den Kopf in die Hand gestützt, saß er dumpf brütend, bis der Hof in bleichem Lichte lag.

Es ist Tag! Die Hähne krähen, die Sperlinge begrüßen sich laut und im Gang gegenüber kann er jetzt deutlich das Wort „Amtsgericht“ über der Thür lesen.

So viele Jahre ist er dort aus und ein gegangen, ohne an diese Aufschrift zu denken. Jetzt blickt er mit einem ähnlichen ängstlichen Ausdruck auf die Tafel wie ein schuldbewußtes oder einfältiges Bäuerlein, bevor es anklopft.

Fort!

Er hoffte, unter freiem Himmel, angesichts des erwachenden Lebens, der beginnenden Arbeit ringsum seiner Beängstigungen Herr zu werden.

Er schritt durch das Gärtchen rasch zum Lugaus, allein die Ruhebank war schon besetzt: mit dem Gesicht auf dem Arm lag dort ein Schläfer in abgetragenen Kleidern und schmutzigen Stiefeln. Auf Müllers Anruf richtete er sich auf – der Schreiber Franz! Beide erschraken, doch faßte sich der Gauner schneller als der Richter. Er raffte seinen Hut von der Erde auf, machte einen Kratzfuß und wünschte „Seiner Gnaden“ unterthänigst guten Morgen.

„Ja, sehen Sie, Herr Amtsrichter,“ fuhr er fort, ohne dessen Frage abzuwarten, „ich bin seit gestern ohne Schlafstelle. Der Steig vom Schloßkeller hier herauf ist halsbrecherisch, aber meines Wissens kein verbotener Weg. Das Lager da wird mir niemand mißgönnen. Blumen sind vor uns sicher, und den alten Steinhaufen, die Burg, werd’ ich auch nicht forttragen.“

Der freche Ton brachte Vitus in Zorn. „Für Unterkunftlose ist die Polizeiwache,“ sagte er barsch. „Kommt es noch einmal vor –“

„Der Herr Amtsrichter würden an meiner Stelle ebenfalls der hölzernen Pritsche in der Wachtstube den härtesten Stein bei Mutter Grün vorziehen. Sie machen einem dort das Scheiden schwer, aus einer Nacht werden Wochen –“

„Still!“ unterbrach ihn Müller. „Merke Dir: der Weg hier herauf und hinab ist für jedermann verboten. Am Fluß sind jetzt Hände nöthig, das Hochwasser hat Schaden gethan. Sollte man Dich zurückweisen, so melde Dich bei mir – mittags in meiner Wohnung – Unglücksmensch, um Deiner ehrlichen Eltern willen, um –“ Vitus konnte vor Bewegung nicht weitersprechen; er winkte dem Burschen, ihm zu folgen, ging mit ihm über den Hof und schloß ihm selber das Burgthor auf.

Zum Lugaus kehrte der Richter nicht mehr zurück.

Kurz nach acht Uhr läutete er bei Onkel Anton an. Kathi öffnete, erröthete, knickste, bat ihn aber nicht, einzutreten, sondern theilte ihm zwischen Thür und Angel mit, daß ihr Herr mit dem Frühzug nicht angelangt sei.

„Sicherlich nicht,“ meinte sie, „denn er hat mir geschrieben. Es sind keine zehn Minuten, daß der Postbote den Brief brachte; Sie müssen ihm begegnet sein.“

Bei aller Zungenfertigkeit war sie offenbar verlegen, doch Vitus beachtete es nicht. Auf dem Herwege hatte er sich mit dem Gedanken vertraut gemacht, daß sein Onkel mit dem Frühzug nicht zurückgefahren sei, aller Wahrscheinlichkeit nach nicht. Gleichwohl traf ihn jetzt die Gewißheit mit der vollen Wucht der Enttäuschung.

„Schreibt der Onkel, wann er kommt?“ fragte er rauh.

Kathi wurde dunkelroth. Sie legte die Hand wie besänftigend auf den Arm des Besuchers. „Wissen Sie, Herr Amtsrichter, daß ich heute nacht kein Auge zugethan habe?“

„Ich auch nicht,“ entfuhr es Vitus unwillkürlich.

„Ich hatte nämlich ein schlechtes Gewissen – nein, nein,“ setzte sie, über den wilden Blick Müllers erschrocken, rasch hinzu, „denken Sie nichts Schlimmes! Das heißt, so gar schlimm ist’s nicht, aber freilich, wenn der Herr Amtsrichter sagen, ich hätte gestern gelogen, so ist’s beinahe die Wahrheit. Ich wußte nämlich schon gestern, daß der Herr Onkel heute nicht und morgen nicht, überhaupt so bald nicht wiederkommt.“

Vitus erblaßte bis in die Lippen.

„Wie Sie gehört haben, hatte ich gestern mit dem Herrn einen Zank. Erst wegen des Azor, dann wegen des Gartens und des Bedienten vom Herrn Lieutenant.“

„Aber Kathi, sagen Sie mir nur –“

„Alles, und heute mit voller Aufrichtigkeit. Herr Schütz und ich – Sie verstehen – mein Gott, man will doch auch einmal für den eigenen Hausstand kochen! Allein das paßt natürlich dem alten Herrn nicht. Wie er nun den Kriegerstand überhaupt und Herrn Schütz im besondern gar so heruntermachte, riß auch mir die Geduld, und ich erklärte ihm rund heraus, daß ich und Herr Schütz versprochen seien und daß wir einen Garten pachten wollten und so weiter. Aber so hab’ ich den Herrn noch nie gesehen, ganz zittrig war er vor Wuth. Doch ich blieb fest, und da verlegte er sich aufs Bitten. ‚Kathi,‘ sagt er, ‚ich gehe auf vierzehn Tage ins Gebirge. Kommen Sie zur Vernunft –‘ ‚Ich bin bei Vernunft.‘ ‚Sie finden landaus landein keinen solchen Herrn.‘ ‚Und der Herr keine solche Köchin!‘ Und da – denken Sie, die Beleidigung! – sperrte er außer der Küche und meiner Kammer alle Zimmer ab und machte sich auf und davon. ‚In vierzehn Tagen,‘ das war sein letztes Wort, ‚in vierzehn Tagen reden wir weiter!‘“

„Und das verschwiegen Sie mir gestern?“

Kathi lächelte mehr pfiffig als verschämt.

„Ja, sehen Sie, Herr Amtsrichter, die junge Männerwelt von heute, und nun gar zweierlei Tuch –! Wenn Herr Schütz gehört hätte, daß es Ernst wird – nichts Gewisses weiß man nicht. Vielleicht, dachte ich, will er Dich nicht und Du mußt in vierzehn Tagen doch wieder mit Dir reden lassen. Ich that jedoch meinem Bräutigam unrecht, er war abends bei mir und Feuer und Flamme – und kurzum, im September wird er frei, und unterdessen pachte ich den Schmiedgarten. Der Herr Amtsrichter kennen ja den Schmiedgarten –“

„Aber was soll mir der Schmiedgarten! Sagen Sie mir endlich, was der Onkel schreibt!“

Kathi griff in die Tasche. „Jesus!“ rief sie, „ich ließ den Brief in der Küche liegen. Aber ich weiß ihn auswendig. Der Herr schreibt gestern abend aus dem ‚Rappen‘ in Steinberg – Steinberg, Sie wissen, die dritte Station nach Hohenwart – schreibt, daß er sich besonnen habe und daß ich seinen Dienst sofort verlassen könne. Und ich soll mir vom Herrn Amtsrichter einen Vierteljahrslohn auszahlen lassen und dem Herrn Amtsrichter den Schlüssel zu Haus und Garten übergeben. Nobel ist das nicht, doch mir ist’s recht. Halt, da hab’ ich ja den Brief! Lesen Sie selbst, ich und der Herr haben keine Geheimnisse. Und richtig – da steht noch etwas für Sie.“

Das Schreiben, das der Richter mit einem Blick überflog, war offenbar in Wuth hingekritzelt, kurz, aber grob. In einer Nachschrift war die Bemerkung angefügt: „Sagen Sie dem Herrn Vetter Amtsrichter, über das Bewußte reden wir nach meiner Rückkehr nächste Woche weiter.“

„Es ist gut,“ versetzte Vitus, indem er ihr den Brief wiedergab. „Kommen Sie zwischen zwei und drei Uhr in meine Wohnung – Sie brauchen mich nicht zu begleiten,“ wehrte er ab und sah [504] sich mit einem schwachen Lächeln nach dem Garten um. „Es ist so hübsch hier, ich werde mich ein paar Minuten in die Laube setzen.“

Dort sank er vernichtet auf die Bank.

„Das sieht ihm ähnlich,“ klagte er, „das sieht ihm ähnlich!“

Allein sofort nahm er den Onkel vor sich selbst in Schutz. Konnte dieser wissen, wie es seinem Neffen unter den Nägeln brannte? ahnen, daß „der Herr Vetter Amtsrichter“ –

Er wischte den Schweiß von der Stirn.

Mit matten Augen blickte er auf die Blumenpracht vor der Laube, und das Wort des Schreibers fiel ihm ein: „Blumen sind vor uns sicher.“

Vor Vitus tauchte das fahle Gesicht des Verbrechers auf, sein geschorenes Haar – „Sammetkopf“ heißt man es in der Gaunersprache – und er fühlte die Lumpen des entlassenen Sträflings auf seinen Schultern.


6.

Es kam nicht, wie der Richter erwartet hatte; gerade in der gefürchteten Amtsstube fand er wieder Ruhe und Entschlossenheit. Er eins mit dem achtmal bestraften Schreiber? Zum Lachen! Am Ende auch eins mit dem „Pfannen-Gide“! Er warf den Kopf in den Nacken. Außer Ida und ihm selbst wird in alle Ewigkeit niemand um sein Vergehen wissen; er selbst ist sein Richter in dieser Sache und erkennt auf „Nichtschuldig“, denn die verbrecherische Absicht hat gefehlt.

„Strobel!“

Der Amtsschreiber in der Nebenstube, über den ungewohnt herrischen Ton erschrocken, stolperte eilig herein.

Vitus erzählte ihm seine Begegnung mit dem Schreiber. Der Garten dürfe kein Schlupf für allerlei Gesindel werden, man müsse deshalb den Steig vom Schloß zum Lugaus unbegehbar machen, heute noch.

Strobel kraute sich hinterm Ohr. Sein Gewissen war in dieser Sache nicht rein. Wie Ida ahnte, benutzte er zuweilen die Hinterthür und den Weg durch die Wildniß zu einem letzten Abstieg in den Schloßkeller, wo es im Bräustübchen immer eine gemüthliche Gesellschaft ohne Polizeistunde gab.

„Herr Amtsrichter,“ erwiderte er, „heute wird’s schwer fallen, Arbeiter zu finden, alle Hände sind am Fluß nöthig. Der steigt und steigt. Ich war heute früh in den Auen, greulich! Die niedrigeren Stege sind schon alle unter Wasser. Das Fährhaus ist eine wahre Arche Noäh. Natürlich, bei einer solchen Hitz’ müssen ja die ältesten Gletscher schmelzen.“

Die andauernde Hitze! Alle mit Ausnahme des Richters schienen unter ihr zu leiden. Sogar der gefürchtete Doctor juris Taxenbichler, der Rechtsanwalt, war weniger redselig und einwandreich als gewöhnlich. Sämmtliche Vorgeladenen trafen in Schweiß gebadet ein und waren kleinlaut und merkwürdig versöhnlich. Die Verhandlung in einer Scheidungssache mußte vertagt werden, weil weder „er“ noch „sie“ sich einstellte, denn sie wohnten auf dem jenseitigen Ufer. Die Abwesenheit eines Zeugen wurde ebenso triftig wie traurig damit entschuldigt, daß den Mann gestern der Schlag gerührt habe.

Vitus Müller legte im Gegensatz zu allen andern eine außerordentliche Arheitsgewandtheit und Arbeitsfreude an den Tag. Er gedachte, alles Dringliche am Morgen zu erledigen, um mit dem Zuge um zwei Uhr nach Steinberg fahren zu können. Der „Rappe“ in Steinberg war ein vortreflliches Gasthaus mit weitberühmter Küche und deshalb wohl von nachhaltiger Anziehungskraft für den Onkel Anton. Nach aller Wahrscheinlichkeit war also dieser noch in Steinberg. Was wird er ihm sagen? Die Wahrheit! Und wenn das Herz des Geldmannes von einem ehernen Ring umschlossen wäre, dieses Geständniß müßte selbst das Erz sprengen!

Endlich schlossen die Verhandlungen, und das Gerichtszimmer leerte sich. Als Vitus allein war, verwahrte er vorsichtig wie vor einer langen Reise alle Schriftstücke in seinem Schreibtische, zuletzt die eiserne Kasse in einem alten eichenen Schrank. Mit der gleichen Gewissenhaftigkeit wie alle Tage seiner langen Dienstzeit sperrte er die Eingangsthür ab und drückte zur Probe nochmals auf die Klinke. Dabei überlegte er bereits die morgende Tagesordnung. Alles gut, er kann reisen! Und während der hundert Schritte in seine Wohnung machte er schon den Weg nach Steinberg. Aus dem Brodem des Bahnhofes ins heiße Freie, stromauf durch Wiesengründe in die Berge. Er sah die wohlbekannte laubumrankte Wartehalle von Steinberg, im Hintergrunde das Dorf, den schlanken spitzen Kirchthurm und die verwitterten Felsenwände. Dicht bei der Kirche steht der Gasthof „Zum Rappen“ …

Ida eilte dem Gemahl entgegen und riß ihn aus seinen Gedanken. Sie hatte eine große weiße Schürze um. „Kommt Helmuth zu Tisch?“ fragte Vitus, der sich diesen Aufzug nicht anders erklären konnte.

„Nein, Helmuths Kameraden sind von ihrem Ausflug zurück und haben ihn zu einem Besuch bei Landraths gepreßt; einer von ihnen ist ein Neffe der Frau von Zorn. Helmuth wollte nicht mit, da stürmten sie mir ins Haus, und Verena und ich mußten ihn zwingen. Habt ihr denn den Höllenlärm, den die Jungens machten, nicht bis hinüber gehört?“

„Zum Landrath?“ wiederholte Vitus zerstreut. „Ein weiter Weg und immer in der Sonne.“

„Ach was, dafür sind sie Soldaten! Sie haben’s nicht heißer als ich in der Küche.“

„Aber warum bist Du in der Küche?“

„Was treibt den Weidmann in den Wald?“ sang sie – nur drei Takte, doch das Wenige falsch. „Du bekommst heute Dein Leibgericht.“

„Wie liebenswürdig Du bist! Indessen –“ setzte er hinzu, in der Erinnerung an die letzte Küchenüberraschung, die durchaus nicht fertig werden wollte, „ich mache Dich darauf aufmerksam, daß ich um zwei zur Bahn muß.“

„Amtlich?“

Sie waren in die Wohnstube getreten. „Verena?“ fragte der Richter mit einem bezeichnenden Blick.

„In der Küche. Niemand hört uns.“

Dennoch dämpfte er seine Stimme. „Onkel Anton kommt heute nicht, sondern erst in vierzehn Tagen. So fahre ich ihm nach.“

„Bravo! Dürfen wir mit?“

„Meine liebe Ida, es gilt eine traurige Fahrt und es ist klüger, wenn ich allein reise. So Gott will, kehre ich mit dem nächsten Zug zurück.“

„Bitte, bitte, nicht finster werden! Wer verzagt, der verliert. Wenn der Onkel nicht hilft, schaffe ich Rath. Der Bürgermeister ist mein Freund; ich wäre nicht die erste Frau, die heimliche Schulden hat!“

„Das niemals! niemals!“ rief er leidenschaftlich. „Du solltest – was fällt Dir ein! Lieber machen wir all unser Hab und Gut zu Gelde! – Du glaubst also, daß ich vergeblich nach Steinberg gehe?“

„Wie Du meine Worte verkehrst! Natürlich hilft der Onkel, wenn Du ihm bestimmt entgegentrittst. Lehre mich die Gevattern kennen! Aber jetzt verzeih’, weder Verena noch die Köchin dürfen Hand anlegen –“

Und fort war sie. Vitus grübelte über ihren Vorschlag nach. Der Bürgermeister, ein reicher Mann, rauh, doch gutherzig – der Bürgermeister würde dem Amtsrichter keinen abschlägigen Bescheid geben, und mit Verenas Heirath ließe sich der Schritt erklären. Indessen, Ida galt bisher als reich. Wenn der Bittgang ruchbar wurde – und was bliebe in Hohenwart geheim! – zuckte man nicht über ihn, sondern über die „Frau Baronin“ die Schulter. Einmal im Lästermund, blieb sie es immer – Still! noch war der nächste Schritt ungethan. Sein Blick fiel auf das Bild seiner verstorbenen Mutter. Wenn die Abgeschiedenen von unseren Schmerzen wissen – arme Mutter! Er betrachtete das gutmüthige Gesicht. Ihr Bruder Anton hat keinen Zug von ihr, mußte er denken. Aber die Blutsgemeinschaft ist wichtiger als Aehnlichkeit.

Mutter und Tochter kamen und hingen sich an ihn.

In dieser holden Nähe, beim Klang der lieben Stimmen empfand der Richter nur noch den Willen zum Leben. Je wärmer ihm das Herz wurde, desto leichter dünkte ihn seine Schuld. Die Reue blickt rückwärts, sie ist nicht fruchtbarer als Müßiggang; schaff’ das Geld und dann vergiß! Und wenn das Gestern wirklich seine fünfzehnjährigen guten Dienste zu nichte gemacht hätte, seine Zukunft soll es nicht verwirren! Er fühlt

[505]

Beim „Heurigen“.
Zeichnung von W. Gause.

[506] sich gesund und rüstig; er schaut auf sein Weib, das er niemals wärmer liebte als jetzt, schaut auf die glückliche Braut und sagt sich: die frohere Hälfte des Lebens steht noch vor dir.

Als Ida in die Küche ging, um ihr Werk selbst aufzutragen, harrte er der Festschüssel mit gleicher Ungeduld und ebenso viel Vergnügen wie in seinen unschuldigsten Tagen.

Ida kehrte ohne Mehlspeise, dafür mit einem Briefe zurück, der durch seinen großen Umschlag und durch das mächtige Siegel einen wichtigen Inhalt versprach.

Und allerdings war er wichtig! Ida las über die Schulter ihres Mannes mit diesem, aber laut die Mittheilung des Ministeriums der Justiz, daß er zum Stadtrichter erster Klasse in der Haupt- und Residenzstadt befördert sei, seinem Nachfolger in Hohenwart, dem bisherigen Amtsgerichtsassessor Thomas Tannhauser dort sämmtliche Gerichtssachen zu übergeben und innerhalb acht Tagen sein neues Amt anzutreten habe. Das alles war im Kanzleistil, gedrängt, dennoch schwerfällig gesagt.

Stadtrichter – erster Klasse!

Verena flog zu ihm hin. „O Papa!“ jubelte sie, „ich wußte es schon gestern. Tausend, tausend –“

Sein hohler Blick ließ sie verstummen.

„Schon gestern – schon gestern,“ wiederholte Vitus und lachte, allein seine Empfindungen und Gedanken hatten nichts gemein mit diesem Gelächter.

„Aber,“ fragte Verena betroffen, „freut Dich denn die Nachricht nicht?“

(Fortsetzung folgt.)



Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Wanderungen durch Wien.

Von V. Chiavacci.0 Mit Zeichnungen von W. Gause.
Vorstädte und Vororte.

Wie die Jahresringe einer mächtigen Eiche haben sich im Laufe der Jahrhunderte die gewaltigen Häusermassen, welche heute die zehn Bezirke und die sogenannten Vororte von Wien umfassen, um den Kern der inneren Stadt geschlossen, anfangs lückenhaft, vielfach von Feldern, Weingärten und saftigen Wiesengründen durchsetzt, dann immer dichter und dichter. Um die Besitzungen der Adelsgeschlechter und reicher Klöster bauten Handwerker, Gärtner, Fischer ihre ärmlichen Hütten; an den Heerstraßen, welche schon im 12. Jahrhundert einen lebhaften Verkehr mit Ungarn und Böhmen, mit den steyrischen Ländern und Kärnten, sowie mit dem „Reiche“ vermittelten, entstanden Einkehrwirthshäuser mit weitläufigen Gehöften, Wagenschuppen und Stallungen für das zahlreiche Lastfuhrwerk; und nach Jahrzehnten des Friedens schlang sich um die gewerbreiche Stadt ein anmuthiger Gürtel von Dörfern, Meierhöfen, Mühlen, die einzelne Gemeinwesen bildeten, welche den Namen „Luken“ führten und als die ersten Anfänge unserer Vorstädte sich bis nahe an die Stadtmauern drängten.

Eine der ältesten dieser Ansiedlungen war die St. Niklas-Vorstadt, welche an der Stelle der jetzigen Vorstadt Landstraße stand; ferner Michelbeuern, welches schon im 12. Jahrhundert als Ansiedlung um das gleichnamige reiche Kloster genannt wird. Der „mittelbairische Grund“ war bis in unsere Tage der Name einer der 34 Vorstädte.

Aber die Einfälle der Türken, Ungarn, Kurutzen vernichteten oftmals die aufblühenden Niederlassungen, und die Sicherheit der Stadt verlangte es, daß ein Theil von jenen, welche sich zu nahe an die Stadtmauern geschmiegt hatten, wieder abgetragen werden mußte. Eine Verordnung Rudolfs II. verfügt, daß niemand in weniger als 50 Klafter Entfernung vom Stadtgraben ein Gebäude aufführen dürfe. Vor dem zweiten Türkenkriege wurde diese Vorschrift auf 200 Klafter Entfernung ausgedehnt und nach demselben endgültig mit 600 Schritt bemessen. Vor allem besiedelten sich die Anhöhen, welche die späteren Vorstädte Mariahilf, Windmühle, Laimgrube, Gumpendorf bildeten. Das St. Theobaldkirchlein wird schon zu Anfang des 14. Jahrhunderts genannt; hier befanden sich bereits zu Ende des 13. Jahrhunderts ausgedehnte Ziegeleien, von welchen damals die erste Ansiedlung „ob der Laimgrube“ hieß. An den sanften Abdachungen gegen den Wienfluß zu zogen sich reiche und ergiebige Weingelände hin, welche den Herren von Gumpendorf gehörten.

Ein Stück vom alten Linienwall.

Bei der Währinger Linie.

Diese Weinrieden erzeugten den köstlichsten Tropfen in der ganzen Umgebung. Von ihnen behielt die Vorstadt Gumpendorf ihren Namen. Die Benennung der auf einem Hügel gelegenen Vorstadt Windmühle erklärt [507] sich von selbst. Längs des Wienflusses, der damals noch ein viel gewundeneres Bett hatte als heute, lagen zahlreiche Mühlen, die gegenwärtig noch theilweise erhalten, aber außer Gebrauch gesetzt sind. Die Bärenmühle, die Schleifmühle, die Heumühle stehen heute noch da. Das älteste dieser Gebäude, die Staubmühle bei der Stubenthorbrücke, ist erst vor wenigen Jahren ein Raub der Flammen geworden.

Als zu Ende des 17. Jahrhunderts die Einfälle der Kurutzen, eines wilden Reitervolkes aus den ungarischen Ebenen, immer kühner und verwegener wurden, ließ Prinz Eugen im Jahre 1704 von den Bürgern der Stadt rings um die Vorstädte einen Erdwall errichten, der in wenigen Wochen zustande kam und erst 34 Jahre später durch eine kunstgerechtere Anlage aus Ziegeln mit einem breiten Graben ersetzt wurde. Durch diesen Wall, der „Linienwall“ genannt, bekam die Stadt eine natürliche Abgrenzung; denn alle jene Liegenschaften, Gehöfte und kleineren Gemeinden innerhalb desselben wurden nunmehr der Stadt einverleibt und genossen deren politische und Gemeinderechte. Jener Wall, welcher bald seinen Zweck als Befestigungswerk verlor, diente später als Grenze des Verzehrsteuergebietes; die Verbindungen mit dem Flachlande wurden durch Einlaßthore, sogenannte „Linien“, vermittelt. An diesen Thoren werden noch heute die städtischen Verbrauchssteuern auf Lebensmittel und die Pflastermauthen für Fuhrwerke erhoben, und erst die folgenreichen Beschlüsse der jüngsten Zeit, welche uns den Anstoß zu diesen „Wanderungen“ gaben, haben darin Wandel geschaffen. Mit dem Schluß dieses Jahres wird die alte Steuergrenze durch eine neue ersetzt, weit, weit draußen vor den letzten Häusern der heutigen Vorstädte, und keine hemmende Schranke trennt dann mehr die Glieder von Groß-Wien.

Herr Hainfelder, welcher seinem Gast als kundiger Führer durch die innere Stadt, sowie durch das Stadterweiterungsgebiet gedient hatte, zeigte sich auch erbötig, ihn durch die Vorstädte zu geleiten.

Im Kaffeehause zur „Casa piccola“ am Eingang der Mariahilfer Straße trafen sie zusammen. Es ist eines jener alten Stammlokale, welche in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts gebaut wurden und die durch ihre vornehme Einfachheit und wohlige Behaglichkeit noch heute mit den modernen Prachträumen erfolgreich wetteifern.

„Sehn S’, lieber Herr von Werner,“ sagte Hainfelder zu seinem Schützlinge, „an dem Tisch is mein seliger Vater 40 Jahr’ lang jeden Tag g’sessen; net länger als a halbe Stund’; denn er war pünktlich wie eine Uhr. Da war halt seinerzeit ein schönes Platzl. Vor sich hat man die ganze Stadt mit’m Burgglacis g’sehn, links das Wagen- und Menschengewühl der Mariahilfer Straß’n, rechts die ‚’Treidmarkkasern‘ mit dem ‚’Treidmarktbergel‘, an derselben Stell’, wo jetzt die Rahl-Stieg’n steht. Im Winter, wenn viel Schnee g’fall’n is, sind wir Bub’n mit unseren Schlitten wie der Blitz über das ‚’Treidmarktbergel‘ hinabg’saust. Das war’n damals ganz andere Winter wie heutzutag; da is der Schnee monatelang liegen blieb’n. Ich weiß net, hat sich ’s Klima verändert oder räumt die Transportgesellschaft den ganzen Schnee weg; mir is halt so, als ob damals die Jahreszeiten pünktlicher ihr Programm eing’halten hätten. Jetzt is auf die Jahreszeiten gar kein Verlaß mehr. Grad’ so, wie sich die Wienerstadt geändert hat, is auch das Klima ein anderes word’n.

Zu meiner Zeit war in den Vorstädten oder ‚Gründen‘, wie man sie g’heißen hat, ein viel patriarchalischer’s Leben. Der Vorstädtler ist viel seltener in die innere Stadt gekommen, denn die Wanderung übers Glacis erschien ihm wie eine Landpartie. Tramway und Omnibusse hat’s damals auch nicht gegeben. Die Zeiselwagen vor den Linien hat man meist nur für Fahrten übers Land benutzt. So ist der seßhafte Bürger auf seinem ‚Grund‘ geblieben und hat sich in die Eigenart seines ‚Grundes‘ so eingelebt, daß ihm schon eine andere Vorstadt fremdartig erschienen ist. An Sonntagen ist er wohl nach Lerchenfeld, wo die zahlreichen Weinburgen g’standen sind, hinausg’wandert, oder weiter auf die ‚Länder‘ zum Heurigen. Manchmal im Jahr’ war auch ganz Wien auf den Beinen. So am 8. September, wo der Mariabrunner Kirchtag viele Tausende hinausg’lockt hat auf den Hadersdorfer Berg, oder zum Brigittakirchtag, wo es in der Brigittenau hoch her’gangen is. Damit war sein Bedürfniß, zu seh’n, wie’s draußen in der Welt zugeht, vollkommen befriedigt. An solchen Festtagen sind die alten Wiener zusammen gekommen wie die Eidgenossen aus den entlegenen Alpenthälern und haben beim Wein und beim Klang der Lannerschen Walzer erkannt, daß sie eines Stammes sind.

Die 34 Vorstädte haben alle ihre Eigenart gehabt, wie die Kantone der Schweiz, ja selbst die Sprache war verschieden. Wie oft habe ich eine Mutter, wenn ihr Bub’ einen ‚allzuharben‘ Dialekt angeschlagen hat, mit lokalpatriotischem Stolz sagen hören: ‚Schamst Di net, Bua, Du hast ja a Aussprach’ wie a Liachtenthaler;‘ denn der Dialekt von ‚Lichtental‘ oder vom ‚Thuri‘ hat ein ganz anderes Bukett g’habt wie der Dialekt von Erdberg oder Lerchenfeld. Der Bewohner der Vorstadt Wieden bildete sich ein, daß seine Aussprache klassisch sei im Vergleich zu der Redeweise derer vom ‚Ratzenstadtl‘.

Der Wiener der vormärzlichen Zeit (vor dem Jahre 1848) war an seine Vorstadt geheftet wie die Auster an den Meeresgrund, und es war der größte Stolz, wenn einer hat sagen können: ‚I bin a Kind von Grund; mei Vater und Großvater und Urgroßvater san alle in derselben Pfarr’ ’tauft worden.‘ Und hat ja einen einmal das Schicksal getroffen, daß er in eine andere Vorstadt hat übersiedeln müssen, so war ihm das grad’ so hart, als wenn er hätt’ nach Amerika auswandern müssen.

Aber zu leben, lustig und fidel zu leben hat der Wiener damals verstanden. Im Apollosaal, im Odeon, beim Dommayer in Hietzing, im Elysium und beim Sperl haben unsere Alten ihr Leben bei Tanz und Spiel genossen; Strauß Vater und Josef Lanner haben ihre seelenvollsten Weisen gefiedelt und der alte Silberzwanziger war damals noch die Wünschelruthe für ein ‚Tischlein deck’ dich‘ mit Backhendln und Salat. In den kleinen Wirthshausgärten der Vorstädte hat es bis in die späte Nacht geklungen vom ‚picksüßen Hölzl‘ (Flöte) und ‚Schunkenban‘ (Geige). Dazu haben die Volkssänger ihre lustigen Schnurren, Bänkel und Gassenhauer aufgeführt. An Sonntagabenden sind die Vorstädter in Scharen durch die Linien hereingezogen, singend und jauchzend, voran der Harmonikaspieler, der unermüdlich die feschen Tanz’ aufgespielt hat. Die Zuhausegebliebenen sind auch nicht ganz leer ausgegangen. Die Werkelmänner (Drehorgelmänner) und Harfenisten, die Liedersänger und Evangelienaufsager sind von Haus zu Haus gezogen und haben jung und alt mit ihren zweifelhaften Genüssen erfreut.

Ja, lieber Herr, unsere Alten haben es verstanden, ihr Leben zu genießen. Aber zu ihrer Ehre muß es gesagt sein, sie haben auch rechtschaffen gearbeitet. Manche blühende Industrie, die heute nur noch kümmerlich fortbesteht, hat damals Wohlstand und Behaglichkeit verbreitet. Die Band- und Seidenzeugfabrikanten von Schottenfeld haben’s zu großem Reichthum gebracht. Freilich haben sie auch eine Menschengattung in die Welt gesetzt, die Fabrikantensöhne vom ‚Brillantengrund‘, die’s verstanden haben, den erworbenen Reichthum mit vollen Händen zu vergeuden, und wie der Wettkampf mit dem Ausland schwieriger ’worden is, sind die Geschlechter rasch verarmt. Jetzt sind sie im Aussterben begriffen, die Fabrikanten vom Brillantengrund. Die Vorstadt Mariahilf war von jeher das gewerblichste Viertel der Stadt und die Mariahilfer Hauptstraße bildet noch heute die belebteste und gewerbfleißigste Verkehrsader unter den Wiener Vorstädten. Die Vorstadt Spittelberg war bekannt durch ihre Möbelfabrikation, die auch heute noch blüht. Auf der Wieden, Laimgrube und in Margarethen war die Meerschaumpfeifenindustrie zu Hause, die damals Tausenden reichlichen Verdienst bot. In der Rossau ist der Holzhandel im großen betrieben worden. Seinerzeit hat auch das Schanzel, eine Uferstrecke nächst der Stefaniebrücke, für den Handel mit Oberösterreich, Bayern und Württemberg große Bedeutung gehabt. Auf den mächtigen Getreide- und Obstschiffen sind sie herabgeschwommen, die biedern Bayern und Schwaben, und haben sich hier niedergelassen. Mit diesem stammverwandten Blut ist unser Wienerthum stark vermischt und der Charakter des Wieners hat etwas von dem rührigen und hitzköpfigen Schwaben, wie von dem schwerblütigeren gemächlichen Bajuvaren behalten.

Das patriarchalische Leben der Vorstädte hat aber eine gründliche Umwandlung durch die Stadterweiterung erfahren. Dadurch, daß der nicht überbaute Gürtel zwischen Stadt und Vorstadt gefallen ist, sind auch die schroffen Uebergänge geschwunden. Die [508] Zinspaläste der Ringstraße und des Stadterweiterungsgrundes haben sich unmittelbar an die Vorstädte angeschmiegt, und dadurch ist auch in den Straßen und Plätzen der Vororte die Baulust rege geworden. Viele alte Gebäude mußten den Forderungen des Verkehrs weichen; an die Stelle von großen, weitläufigen Gebäuden mit ungeheuren Höfen traten ganze Straßenzüge mit modernen Häuserfronten; in kurzen Zwischenräumen erscheint heute noch in den Zeitungen die Nachricht, daß ‚wieder ein Stück Alt-Wien‘ der großen Umwandlung zum Opfer gebracht worden ist, und dann erfährt man aus dem ‚Nachruf‘ die denkwürdigsten Geschichten aus dem Leben dieses ‚steinernen Organismus‘.“

Nachdem Herr Hainfelder seinen Gast genügend vorbereitet glaubte, trat er mit ihm den Rundgang durch die zehn Bezirke an. Die Mariahilfer Straße, das erste Ziel ihrer Wanderung, macht durch ihren überaus lebhaften Verkehr, die ununterbrochene Reihe von Verkaufsgewölben, die stattlichen, zum Theil modernen Häuser und öffentlichen Gebäude einen weltstädtischen Eindruck. Die Straße bildet die Grenze zwischen den Bezirken Mariahilf und Neubau und verbindet mit ihren Endpunkten die innere Stadt mit dem stark bevölkerten Vororte Fünfhaus. Abends, wenn die Arbeiterbevölkerung nach ihren in den Vororten gelegenen Wohnungen zurückkehrt, herrscht in der Straße ein derartiges Gedränge von Fußgängern und Fuhrwerk, daß man Mühe hat, durchzukommen. Die rechte Ecke der Mariahilfer Straße bildet das Hofstallgebäude, ein ziemlich ausgedehnter Bau, nach den Plänen des Fischer von Erlach ausgeführt. Es bildet jetzt den ziemlich schmucklosen Hintergrund des großartigen, seitwärts von den Hofmuseen eingerahmten Maria Theresia-Platzes. Weiter oben steht die neugebaute, mächtig wirkende Stiftkaserne mit der technischen Militärakademie. Der Thurm der Stiftkirche fällt durch seine zierliche Bauart mit der mehrfach durchbrochenen Krönung angenehm auf. Die Mariahilfer Kirche mit einem vielverehrten Gnadenbilde der Madonna giebt dem Bezirke seinen Namen. Vor derselben ist das von Natter ausgeführte Marmorstandbild Josef Haydns.

Die Karlskirche.

Durch das Barnabitengäßchen an der Langseite der Kirche vorbei gelangt man zum Esterhazygarten mit dem gleichnamigen Palais, einst ein Besitz des allmächtigen Kanzlers Fürsten Kaunitz. Durch einen Theil des Grundstückes wurde die mit prächtigen Neubauten umgebene Amerlinggasse geführt. Das geschäftige gewerbreiche Leben dieser Hauptverkehrsader setzt sich auch theilweise in dem anstoßenden Bezirke Neubau fort, insbesondere in der Kirchengasse und der ehemaligen Vorstadt Spittelberg.

Mit dem Bezirke Mariahilf sind die einstigen Vorstädte Laimgrube, Windmühle und Gumpendorf verschmolzen worden. Die Vorstadt Laimgrube bietet noch vielfach das Bild des früheren einfachen Lebens; doch hat auch hier schon die Baulust mächtig eingegriffen und manches altehrwürdige Gebäude der Vernichtung geweiht. An der Stelle des sagenumwobenen Jesuitenhofes steht gegenwärtig die k. u. k. Geniedirektion und die Kriegsschule. Das weitläufige Dreihufeisenhaus mußte der Engelgasse weichen, und auch das Wasenhaus, welches durch seine Schauspielerherberge „Im Loch“ eine burleske Berühmtheit erlangte, ist in jüngster Zeit abgebrochen worden. Nur die Laimgrubengasse, die stille Theobaldgasse mit dem ehemaligen Zwangsarbeitshause, die Bienen- und Fillgradergasse, dann die Königsklostergasse mit der Bettlerstiege sind bisher verschont geblieben. Ein nicht sehr erfreuliches Ueberbleibsel aus alter Zeit ist das „Ratzenstadtl“ auf dem ehemaligen Magdalenengrund, ein unschönes Häusergewirre mit Giebeln und Vorgärten und vernachlässigten ärmlichen Behausungen, in welchen merkwürdigerweise die Würstelindustrie, eine Spezialität des Wiener Selchergewerbes, blühte.

Der Bezirk wird an der Ostseite vom Wienflusse begrenzt. Zahlreiche Brücken stellen die Verbindung mit den Bezirken Wieden und Margarethen her. In der Nähe der Leopoldsbrücke ist das geräumige „Theater an der Wien“, ein blühender Musentempel, in welchem vorzugsweise die Operette gepflegt wird und der eine stolze Vergangenheit aufzuweisen hat.

Der Bezirk Margarethen, aus den Vorstädten Margarethen, Hundsthurm, Nikolsdorf, Matzleinsdorf bestehend, ist der Sitz des Kleinbürgerthums und hat in den letzten Jahren durch Neubauten von ganzen Straßenzügen eine große Bevölkerungszunahme zu verzeichnen. – Der Bezirk Wieden wird wegen seiner Lage zunächst den Verkehrsmittelpunkten, wegen seiner neuen und bequemen Häuserviertel und der im anstoßenden Bezirke Landstraße gelegenen großen öffentlichen Gärten gerade so wie der letztgenannte Bezirk mit Vorliebe von der wohlhabenden Bevölkerung, dem Gelehrten- und höheren Beamtenstand zum Wohnorte gewählt. Die Elisabethbrücke verbindet die Wiedener Hauptstraße mit der verlängerten Kärntnerstraße. In unmittelbarer Nähe der Elisabethbrücke befindet sich ein großer offener Marktplatz für Obst, Gemüse und Geflügel, der bei den Wienern sehr volksthümliche Naschmarkt, welcher in den Morgenstunden ein bewegtes, überaus buntes und lustiges Bild des Markttreibens bietet. Hier findet man noch eine Anzahl der urwüchsigen Wiener Typen beisammen: die zungengewaltige Naschmarkt-Fratschlerin (Hökerin), die jede Neckerei mit einem bilderreichen Schwall von Grobheiten beantwortet; den Greisler (Gemischtwarenhändler) mit seinem von einem Hunde gezogenen Handwagen; den Zwiesel-Kravat (Slowaken), die Kapäunlerin (Geflügelhändlerin), den Patschen- (Pantoffel-) und Waschel- (Scheuerbüschel-) Händler, den Vogelkramer und den Vogeldresseur, welcher abgerichtete Vögel hält, die den abergläubischen [509] Dienstmädchen kleine Papierrollen mit Prophezeiungen und Nummern ziehen, u. s. f.

Die Aspernbrücke.

Gegenüber dem Naschmarkt liegt das polytechnische Institut, ein ausgedehntes Gebäude mit schöner Fassade und Giebelgruppe. Davor, inmitten eines kleinen Parkes, das Denknal Ressels, des Erfinders der Dampfschraube. Rechts davon die herrlich wirkende Karlskirche, ein prächtiger Kuppelbau von Fischer von Erlach, welcher von Karl VI. zum Andenken an die Abwendung der Pest gestiftet wurde.

Hinter der Karlskirche breitet sich ein neues, elegantes Häuserviertel aus, welches von der Allee-, Schwind-, Karls- und Gußhausgasse durchschnitten wird. Zwischen der Alleegasse und der Favoritenstraße, welche zum Süd- und Staatsbahnhofe führen, liegt der stattliche Garten des Theresianums, einer Erziehungsanstalt für Söhne des Adels. Die Grenze zwischen den Bezirken Wieden und Landstraße bildet die Heugasse, deren eine Seite von den Wirthschaftsgebäuden und der Gartenmauer des fürstlich Schwarzenbergischen Palastes, eines Prachtbaues von Fischer von Erlach, und von einem Theile des Belvederegartens begrenzt wird. Hier reiht sich überhaupt Garten an Garten: der herrliche, im englischen Stile gehaltene Schwarzenberggarten, der kleine Garten der Arcieren-Leibgarde, welche ihr Quartier auf den Rennweg hinaus hat; dann der im französischen Zopfstile angelegte, durch prächtige Gitterthore ausgezeichnete Belvederegarten, welcher vom Rennwege aus terrassenförmig emporsteigt und an seinem oberen Ende von dem durch Hilbebrand 1724 erbauten „Belvedere“ gekrönt wird. Hier hatte einst Prinz Eugen von Savoyen seinen Wohnsitz und hier waren bis vor kurzem die kostbaren Bilderschätze der sogenannten Belvederesammlung zu sehen, welche jetzt in das neue Hofmuseum übergeführt werden. Endlich folgt noch der Klostergarten der Salesianerinnen und der botanische Garten.

Schmiedeeisernes
      Gitterthor
Das Belvedere.

In der Nähe dieser Gärten entstanden auf den sogenannten Metternichschen Gründen neue prächtige Quartiere. Die Hauptverkehrsadern dieses Bezirkes sind die Landstraßer Hauptstraße und der Rennweg, welche diesen Stadttheil mit dem aufblühenden Vorort Simmering verbinden; gleich dem zehnten Bezirk Favoriten bildet Simmering den Wohnsitz einer zahlreichen Arbeiterbevölkerung, welche in dem nahen Arsenal, auf dem Süd-, Staats- und Aspangbahnhof, in der Simmeringer Waggonfabrik, dem Schlachthaus und den zahlreichen Steinmetzwerkstätten beschäftigt ist.

Das k. und k. Artillerie-Arsenal vor der Belvederelinie, ein Gebäude von gewaltiger Ausdehnung, ist von den Architekten van der Nüll und Siccardsburg entworfen, während das im maurischen Stil aufgeführte Waffenmuseum, welches einen Theil dieses Riesengebäudes bildet, von Theophil Hansen gebaut ist. Durch den sonst so stillen Rennweg bewegen sich am Nachmittag zahlreiche Leichenzüge, da er die nächste Verbindnug mit dem Centralfriedhof bildet, dem riesigen und nach Aufhebung der zahlreichen Vorort-Friedhöfe einzigen Totenfelde der Wiener.

Hinter dem ehemaligen Rasumofsky-Garten, auf dessen Fläche jetzt ein stattliches Häuserviertel erbaut ist, beginnt Erdberg, eine ärmliche Vorstadt mit urwüchsiger Bevölkerung, welche der Wiener mit Stolz zu den „enteren“ (d h. draußen liegenden) Gründen zählt. Die Bevölkerung besteht zumeist aus Gärtnern, Wäschern und kleinen [510] Handwerkern. Hier findet man noch ganze Straßenzüge mit ärmlichen, verwahrlosten Hütten, von denen ein Wiener Gassenhauer singt:

„Wo d’ Fenster san verschmiert mit Lahm,
Is Unserans daham.“

Der Donaukanal bildet die Grenze zwischen den Bezirken Landstraße und Leopoldstadt. Er bietet, insbesondere von der mächtig wirkenden Aspernbrücke aus betrachtet, ein sehr belebtes Bild mit fesselnder Umrahmung. Links dehnt sich die stolze Häuserzeile des Franz Josefs-Quais, dann die innere Stadt mit ihren Thürmen und alterthümlichen Bauten, im Hintergrunde das Kahlengebirge. Zahlreiche Lokaldampfer vermitteln insbesondere an Renntagen den Verkehr mit dem Prater und weiter aufwärts mit Nußdorf, Klosterneuburg und Greifenstein. Rechts begrenzen die Häuserreihen der Leopoldstadt das Bild. An den Uferböschungen bietet sich ein ländlich behaglicher Anblick des Müßiggangs und der Beschaulichkeit. Geduldige Angler sitzen stundenlang unbeweglich, um immer wieder die Erfahrung zu machen, daß die Fische durch den Dampfschiffverkehr äußerst rar geworden sind. Arbeitsscheue Bursche, die der Wiener „Pülcher“ nennt, liegen ausgestreckt im Grase und lassen sich die Sonne auf den knurrenden Magen scheinen. Im Sommer gesellt sich noch eine eigenthümliche Berufsklasse dazu, die „Pudelscherer“, welche ihre Opfer zwischen den Knieen halten und sie behutsam mit der Schere von ihrem lästigen Vließ befreien.

Der Bezirk Leopoldstadt, ehemals der Sitz der Kaufmannschaft, hat durch deren theilweise Uebersiedlung auf den Franz Josefs-Quai viel von seiner ehemaligen Bedeutung eingebüßt. Dies und der Umstand, daß an die Leopoldstadt keine bevölkerten Vororte stoßen, ist die Ursache, daß Unternehmungen wie das Karltheater und die großen, ehemals sehr besuchten Gasthöfe mit Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Die Nordbahn und Nordwestbahn, welche in diesem Bezirke münden, bringen allerdings einen bedeutenden Fremdenzufluß; aber der Verkehr aus Ungarn, welchen früher die Nordbahn ausschließlich vermittelte, ist durch die Staatsbahnlinie zum großen Theile auf den Bezirk Wieden abgelenkt worden. Man hofft indessen von der neu errichteten Fruchtbörse einigermaßen einen Ersatz für die erwachsenen Schäden.

Die Hauptverkehrsader der Leopoldstadt, die Praterstraße, ist von den erwähnten Nachtheilen am wenigsten betroffen worden. Sie verdankt dies dem ausgedehnten Verkehr, welcher sich dort an schönen Sommertagen nach dem Prater, dem großartigsten und beliebtesten Vergnügungsorte des Wieners, entwickelt. An Sonntagnachmittagen bilden die ungeheuren sich überall stauenden Menschenmassen, die ununterbrochene Wagenreihe, der riesige Straßenbahnverkehr zwischen der Aspernbrücke und dem Tegetthoff-Denkmal einen wahrhaft weltstädtischen Anblick. Die Leopoldstadt besitzt außerdem einen zweiten Park, den Augarten, welcher noch bis zu Anfang dieses Jahrhunderts das Stelldichein der vornehmen Welt gebildet hat. Hier hielt Wolfgang Amadeus Mozart seine berühmten Morgenkonzerte ab, welche dann von anderen bis in die zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts fortgesetzt wurden. Allein gegenwärtig ist der schöne Park vereinsamt, und nur die zahlreichen Nachtigallen setzen zu ihrem Privatvergnügen die stolzen Ueberlieferungen dieses von den Klängen Mozartscher Melodien geweihten Naturtempels fort.

Eine ähnliche musikalische Erinnerung knüpft sich an das Gasthaus „zum wällischen Bauer“ in der Praterstraße, das unter anderem Namen heute noch besteht. Auf seinem ziemlich geräumigen Vorplatze haben Strauß und Lanner mit den beiden Brüdern Drahanek ihre ersten musikalischen Lorbeeren gepflückt. Hier saßen sie auf einer schmucklosen Tribüne, fiedelten ihre Weisen, welche später die Welt eroberten, und Johann Strauß, der ältere, damals ein Jüngling von 17 Jahren, ging nach den Stücken mit dem Teller von Tisch zu Tisch zum Einsammeln. Einige Jahrzehnte später spielte er am Hofe Louis Philipps, umjubelt und gefeiert von der ganzen französischen Gesellschaft.

Am rechten Ufer der neueingedämmten Donau sind die Häuserparzellen der in Aussicht genommenen Donaustadt abgesteckt, von der man hoffte, daß sie sich in kurzem zu einem Fabriks- und Handelsmittelpunkt entwickeln werde. Die hochgespannten Erwartungen sind aber nicht in Erfüllung gegangen. Still und einsam wie ein modernes Dornröschen liegen die Ufer des mächtigen Stromes, in tiefem Schlafe liegen die kühnen Entwürfe da und harren des Ritters, der sie dereinst wecken wird zu schönerem Leben.

Auch der Bezirk Alsergrund hat durch die Stadterweiterung eine gründliche Umwandlung erfahren; Thuri und Liechtenthal, diese urwüchsigsten unter den „enteren Gründen“, sind mit ihren niederen Häusern und engen Gäßchen stark zurückgetreten und haben stattlichen Straßenzügen Platz gemacht. Das Häuserviertel hinter dem Schottenring, der herrliche Votivkirchenplatz, die belebte Nußdorfer- und Währingerstraße, der Liechtensteinpark machen diesen Stadtteil zu einem bevorzugten Wohnort der wohlhabenderen Klassen. Ein ungeheures Gebiet von der Ausdehnung eines ganzen Stadtteils dient hier den öffentlichen Wohlthätigkeitsanstalten. Fast unmittelbar neben einander liegen: das allgemeine Krankenhaus, die Gebäranstalt, das Garnisonsspital, die Bürger- und Armenversorgungsanstalten und die niederösterreichische Irrenanstalt; letztere ein stattliches, nach den heutigen Anforderungen eingerichtetes Gebäude mit einem großen prachtvollen Garten. An den Kliniken des allgemeinen Krankenhauses, sowie in den Lehrsälen wirken Männer von europäischem Rufe zum Heile der leidenden Menschheit.

Die Bezirke Josefstadt und Neubau gehören zu den ältesten Wohnsitzen des bürgerlichen Mittelstandes und der mannigfachsten Fabrikationszweige. Hier hat sich noch zum großen Theile das Bild des vorstädtischen Lebens erhalten. Die engen Gäßchen um die ehemaligen Vorstädte St. Ulrich, Neustift und Spittelberg haben noch ganz das Gepräge der vormärzlichen Zeit. In andere Theile des Bezirkes hat freilich die Baulust schon Bresche gelegt und Licht und neues Leben in die steinernen Zeugen ehemaliger Enge gebracht. Von öffentlichen Gebäuden in der Josefstadt müssen erwähnt werden das massive festungsartige Gebäude des Landesgerichts mit geböschten Mauern und vergitterten Fenstern, die Hochschule für Bodenkultur, das Gebäude der geographischen Gesellschaft, das Palais Auersperg und die umfangreiche Reiterkaserne.

Unmittelbar anschließend an die westlichen und südlichen Bezirke dehnen sich die reichbevölkerten Vororte Döbling, Währing, Hernals, Ottakring, Neulerchenfeld, Fünfhaus, Sechshaus, Rudolfsheim, Gaudenzdorf, Meidling aus. Sie waren bisher durch den Linienwall vom übrigen Stadtgebiete getrennt und galten noch als Landgemeinden, hatten aber schon den Umfang großer Städte von nahezu 100 000 Einwohnern. Wegen der billigeren Lebensverhältnisse wurden sie nicht nur von der Arbeiterbevölkerung, sondern auch von der Beamtenschaft gerne zum Wohnsitze gewählt. Der Verbrauch in den Vororten war ein ungeheurer, da die Lebensmittel durch den Wegfall der Verzehrsteuer sich beträchtlich billiger stellten als im Stadtgebiete. Die ärmere Bevölkerung und der Mittelstand suchten daher gerne die Wirthschaften der Vororte auf, wo sie mit Kind und Kegel um ein bedeutendes billiger leben konnten. In Neulerchenfeld, Hernals, Währing, Weinhaus, Nußdorf, Grinzing, Sievering stehen zahlreiche große und kleine Wirthschaften, wo sich das Volk bei einem guten Tropfen und beim Klang der Fiedel oder den Späßen der Volkssänger gütlich thut. Der „Heurige“ (junge Wein) bringt das leicht erregbare Blut des Wieners schnell in Wallung und erzeugt jene Stimmung, welche die Sorgen des Tages auslöscht und das Leben in rosigem Lichte zeigt. Der Wiener wird in dieser Stimmung nicht nur nachsichtig gegen sich selbst, sondern gesprächig und gemüthsweich, so daß er die ganze Welt umarmen möchte. Trotz der schweren Köpfe kommt es nur selten zu groben Ausschreitungen; jeder Mißton wird mit einem Witz hinweggescherzt. In solchen Augenblicken hört die Welt auf, für den Wiener ein Jammterthal zu sein.

„I bin jetzt in Himmel,
Da braucht ma ka G’wand,“

jauchzt der leichtsinnige Arbeiter, der seinen ganzen Wochenlohn verjubelt und auch den Rock dem Wirthe läßt, um mit dem Erlöse seine Zechgenossen freizuhalten.

Letzteres bildet übrigens glücklicherweise nur eine Ausnahme. Die große Mehrzahl geht nicht soweit in ihrer Lustigkeit, sondern begnügt sich, wie eine große Familie in fröhlichem Geplauder beisammen zu sitzen und, nachdem bei den ersten Gläsern über den Gemeinderath, die Straßenbahn, Wasserleitung, Gasbeleuchtung, über das städtische Pflaster und den Miethzins, über die Schulen und die unerschwinglichen Steuern weidlich losgezogen wurde, bei [511] den folgenden Gläsern die „liebe Weanastadt“ als den schönsten Fleck Erde zu feiern und den „Weaner“ als das Meisterstück der Schöpfung zu preisen, der das beste Gemüth besitzt, denn:

„’S Herz von an’ echten Weana,
Da kann ma no ’was lerna“

spielen ihnen die „Schrammeln“ vor, das geschätzteste Volksquartett, das sich auch in hohen Kreisen großer Beliebtheit erfreut, und der „Xandl“ singt es ihnen vor und der „Baron Schan’“ pfeift es ihnen vor; und der „Hungerl“ und der „Bratfisch“, die Volksbarden unter den Fiakern, fügen neues Lob in neuen Tonarten hinzu und versichern ihre Zuhörer, daß der Wiener keinen Grund hat, den Kopf hängen zu lassen:

„Immer lustig, fesch und munter,
Denn der Weana geht net unter.“

Wirklich ist auch seine Natur so geartet, daß er selbst ohne klassische Bildung stets ein gut Stück dichterischer Empfindung in seinem Gemüthe trägt. Uebermüthig rühmt das Volkslied:

„Das hat ka Goethe geschrieben, das hat ka Schiller ’dicht’,
’s is von kan’ Klassiker, von kan’ Genie.
Das is a Weana, der zu aner Weanerin spricht,
Und klingt halt doch wie lauter Poesie.“

Mit dem stolzen Gefühl, den übrigen Völkern als Muster der Vollkommenheit voranzuleuchten, kann man sich dann beruhigt der lautesten Fröhlichkeit hingeben.

Die großen Wirthschaftsanwesen, „Gschwandner“, „Stahlener“, „Mandl“, „Tökes“, die „Waldschnepfe“ in Dornbach und die ungezählten Heurigenschenken in den westlichen Ortschaften sind denn auch an Sonntagen von einer lustigen Menge überfüllt. Obwohl in den meisten Wirthschaften warme Speisen oder wenigstens „heiße Würstel“ verabreicht werden, bringen doch viele Wurst oder kaltes Geflügel mit. Hausierer bieten zum Weine süßes Backwerk oder sogenannte „Korsikanerln“ an, alte Weiber spielen Riesenkipfel aus, der „Gotscheeber“ (Südfrüchtehändler) verlost seine Ware mit dem beliebten Spiele „Grad oder Ungrad“; Blumenmädchen, Zündhölzchenjungen, Kurzwarenhändler gehen von Tisch zu Tisch – alles will leben und alles lebt.

Sind die Vororte einerseits der Sitz der lautesten und urwüchsigsten Fröhlichkeit, so sind sie andererseits auch eine Stätte des Gewerbefleißes und zahlreicher Industrien. In Währing ist außerdem ein anmuthiges Villenviertel mit reizenden Landhäusern und freundlichen Gärten entstanden. Döbling und Heiligenstadt, Weinhaus, Gersthof, Pötzleinsdorf, Hietzing, Lainz, Speising dienen auch als Sommerfrischen.

Mit dem jüngst beschlossenen Falle der Linienwälle tritt die Entwicklung des ganzen großen Stadtgebietes in einen neuen Abschnitt ein. Die frühere Gemeinde Wien wird dadurch einen Bevölkerungszuwachs von nahezu einer halben Million erhalten. Das neue Verbrauchsteuergebiet wird fast sämmtliche im bisherigen Polizeirayon inbegriffenen Vororte und Landgemeinden enthalten. Große, weit ausschauende Pläne gehen mit dieser lang ersehnten Veränderung ihrer Verwirklichung entgegen. Der Bau einer Stadtbahn, die Ueberwölbung des Wienflusses, die Verlegung der Kasernen, die Ueberbauung der Linienwallstrecken – das alles soll möglichst bald in Angriff genommen werden. Man erhofft von diesen Unternehmungen eine großartige Blüthe der Baugewerbe, einen neuen wirthschaftlichen Aufschwung und damit die Heilung der Wunden, welche ungünstige Umstände politischer und wirthschaftlicher Art dem großen Gemeinwesen geschlagen haben.




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Leuchtbacillen.

Was aus der Bakterienlehre in die große Masse der Leser dringt, das sind in der Regel recht düstere Bilder: Cholera, Diphtheritis, Tuberkulose und wie alle diese Geißeln der Menschheit sonst heißen. Die Bakterienkunde hat es aber nicht ausschließlich mit solchen Krankheitserregern und Giftträgern zu thun; unter dem Mikroskop begegnen dem Forscher auch harmlose Kunden aus der unsichtbaren Welt, die durch ihre besonderen Eigenschaften die Aufmerksamkeit des Menschen auf sich lenken. Die Betrachtung dieser Wesen zählt zu den lichteren Bildern in der Bakteriologie, und aus diesen wollen wir einige wirklich leuchtende herausgreifen und unsern Lesern vorführen: winzige Wesen, die thatsächlich Licht erzeugen.

Bevor wir jedoch näher auf die Sache eingehen, möchten wir uns erlauben, einige Worte über die Bacillen selbst zu sagen. Veranlassung dazu giebt uns eine „Depesche“, die wir jüngst in einem Provinzialblatt lasen. In derselben wurde der Welt verkündet, daß ein englischer Professor den Krebsbacillus entdeckt habe, der zu der Hefeklasse zähle. Diese „Depesche“ ist bezeichnend für die Unklarheit, in welcher noch die weitesten Kreise der Gebildeten befangen sind, soweit es sich um die Errungenschaften der noch so jungen bakteriologischen Wissenschaft handelt. Wenn in der Zeitung die Nachricht stünde, daß ein Wolf, der einen Park unsicher machte, erlegt worden sei und daß man gefunden habe, er zähle zur Familie der Enten, so würde man über eine solche Notiz lächeln. Den „Witz“ aber, der in jener Depesche sich verbarg, haben wohl die wenigsten Leser bemerkt. Die Welt derjenigen kleinsten Lebewesen, welche man mit dem Gesammtnamen „Pilze“ umfaßt, haben die Forscher in verschiedene Klassen eingetheilt. Die erste bilden die Schimmelpilze, die zweite die Sproß- oder Hefepilze und die dritte die Spaltpilze oder Bakterien. Die Bakterien sind die kleinsten einzelligen organischen Gebilde, nahe Verwandte der Algen, und zerfallen wieder in drei Abtheilungen. „Mikrokokken“ oder „Kugelbakterien“ nennt man diejenigen, die rund wie eine Billardkugel aussehen, „Bacillen“ oder „Stäbchenbakterien“ diejenigen, welche cylinderförmig wie etwa ein Bleistift sind, und „Spirillen“ oder „Schraubenbakterien“ Gebilde, die einem Korkzieher ähnlich sehen. Die leuchtenden Wesen, mit denen wir uns befassen wollen, sind Bakterien von stäbchenartiger Form oder Bacillen.

Im gewöhnlichen Leben bemerken wir oft die Thatsache, daß rohes Fleisch oder sonstige Nahrungsmittel im Dunkeln grünlich leuchten. Es ist ein Bacillus, der dieses Leuchten verursacht, und man hat ihm darum den Namen Bacterium phosphorescens, der „Leuchtbacillus“, beigelegt. Unter dem Mikroskop entpuppt er sich als ein kurzes dickes Stäbchen, das an beiden Enden abgerundet und unbeweglich ist. Dieser Leuchtbacillus ist sehr verbreitet. Das beste Mittel, um ihn ausfindig zu machen, bieten Versuche mit frischen, noch nicht vertrockneten Seefischen. Nimmt man eine Anzahl frischer Dorsche oder Heringe und bewahrt sie zwischen zwei Tellern bei einer Temperatur von etwa 15° C. auf, so bemerkt man oft schon nach 24 Stunden, daß an der Oberfläche der Fische hier und dort einige leuchtende Punkte auftreten, die mit der Zeit, etwa am zweiten Tage, die ganze Oberfläche des Thieres überziehen. Ueberlassen wir die Fische sich selbst, so tritt die Fäulniß ein, die durch andere Bakterien bewirkt wird, und mit der fortschreitenden Zunahme derselben schwindet die Erscheinung der Phosphoreszenz, die uns durch ihren grünlichen oder grünlichweißen Glanz erfreute.

Man kann aber die Leuchtbacillen in ein mit Nährgelatine gefülltes Röhrchen überimpfen und sie in demselben fortzüchten. An solchen Kulturen hat man die Lebenseigenschaften des wunderbaren Wesens näher erforscht.

Das Bacterium phosphorescenz wächst schon bei Temperaturen von 0 bis 15° C., am besten allerdings bei solchen, die zwischen 15 bis 25° C. liegen. Es entwickelt sich sowohl in sauerstoffhaltiger wie in sauerstofffreier Luft, leuchten kann es indessen nur dann, wenn es Sauerstoff verbraucht. Fertigen wir uns ein Probierröhrchen derart an, daß wir die Glaswand nur mit einer dünnen Schicht der Gelatine überziehen, so entwickeln sich die Leuchtwesen auf der ganzen Fläche und das Röhrchen leuchtet alsdann so stark, daß man beim Scheine desselben die Zeiger auf dem Zifferblatte der Uhr erkennen kann; ja es ist sogar einem der Bakteriologen gelungen, die leuchtenden Kulturen bei ihrem eigenen Glanze zu photographieren.

Bei diesen Bakterien kann man auch die künstliche Abschwächung, die ja bei den Heilversuchen mit Bakterien eine so große Rolle spielt, augenscheinlich nachweisen. Anfangs gedeihen die Leuchtbacillen ganz gut auf der Nährgelatine und die Kulturen derselben behalten mitunter monatelang ihren geheimnißvollen Glanz. Impfen wir sie aber von Generation zu Generation auf frische Nährgelatine über, so bemerken wir, daß ihnen dieser künstliche Boden nicht zusagt, daß sie ihre leuchtende Eigenschaft nach und nach einbüßen. Anfangs leuchten noch die frischen Kulturen, aber der Glanz schwindet schon nach einigen Tagen, schließlich geht die Leuchtkraft völlig verloren. Allein sie kann wieder geweckt werden; wir brauchen der Nährgelatine nur 2 bis 3% Kochsalz zuzusetzen, und die Bakterien wachsen besonders üppig und glänzen von neuem. Damit hängt es auch zusammen, daß natürliches und künstliches Seewasser sowie gekochte Fische einen trefflichen Boden für die Entstehung der Phosphorescenz bieten.

Das Meer ist überhaupt die vornehmste Heimath leuchtender Wesen und es fehlen ihm wie gesagt auch nicht die Leuchtbacillen. In westindischen Gewässern wurde von Prof. Fischer ein besonderer Leuchtbacillus entdeckt, der sich von dem soeben beschriebenen <tt<Bacterium phosphorescens wesentlich unterscheidet; er bildet ein mittelgroßes Stäbchen, welches mit lebhafter Bewegung ausgestattet ist; das Licht, welches er ausstrahlt, ist nicht grünlich, sondern bläulichweiß. Er wurde zum Unterschied von dem bereits bekannten „Westindischer Leuchtbacillus“ genannt. Wir können ihn gleichfalls in Probierröhren fortzüchten, aber er hat seine besonderen Eigenschaften; er ist ein echtes Tropenkind und gedeiht nicht in der Kühle, in welcher das Bacterium phosphorescens sich noch fortpflanzen kann. Unter 15° C. schon hört das Wachsthum des Westindischen Leuchtbacillus auf und erst bei einer Temperatur von über 30° C. beginnt er, mit voller Kraft sich zu vermehren; dann kommt auch die Erscheinung des Leuchtens am schönsten zur Geltung. „Die beste Stelle für die Beobachtung derselben,“ sagt Professor Karl Fränkel in seinem „Grundriß der Bakterienkunde“, „ist freilich die Oberfläche gekochter Fische; mit einer kleinen Menge künstlicher Kultur beimpft, wird sie rasch, in wenigen Stunden, von einem schmierig aussehenden Bakterienrasen überzogen, welcher im Dunkeln ein prachtvolles, bläulichweißes Licht ausstrahlt.“

Aber auch unseren deutschen Meeren fehlen die Leuchtbacillen nicht. [512] Fischer hat in dem Wasser des Kieler Hafens einen Bacillus entdeckt, der in vieler Beziehung an den Westindischen erinnert. Er ist gleichfalls beweglich und strahlt gleichfalls bläulichweißes Licht aus; aber er hat außerdem seine besonderen Eigenschaften, so daß er in der Kleinwelt eine Art für sich ausmacht und darum im Gegensatz zu dem überseeischen Kollegen mit dem Namen „Einheimischer Leuchtbacillus“ bezeichnet wird. Er ist ein echter Sohn des Nordens. Während der Westindische erst bei 15° C. zu leben anfängt, behagen dem Einheimischen gerade niedrige Temperaturen, erst unter 15° C. fühlt er sich in seinem Lebenselement, ja er gehört zu denjenigen Mikroorganismen, deren Wachsthum selbst durch Frosttemperaturen von 0° und darunter nicht gehemmt wird. Er wächst und leuchtet noch in seinem bläulichweißen Lichte, wenn seine Umgebung den Gefrierpunkt anzeigt.

Den zahllosen Arten leuchtender lebender Wesen, welche durch die Lüfte schwirren und in dem Wellenschaume erglühen, hat die Wissenschaft noch die drei winzigsten Arten beigefügt. Wie aber alle diese Wesen Licht erzeugen, das ist noch immer das unentschleierte Geheimniß, an dessen Enthüllung schon so viele vergeblich gearbeitet haben. C. F. 




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Die Kamerunerin.

Eine romantische Geschichte von H. v. Götzendorff-Grabowski.
1.0 Stürme und Stimmungen.

Draußen tobte ein heftiger Schneesturm, er warf spitzige Hagelkörner an die Scheiben, rüttelte an den Fensterläden und heulte allerlei unheimliches Kauderwelsch durch den Kamin ins Zimmer hinein; drinnen aber war’s traulich und hell und warm. Die beiden Männer rauchten bei einer Flasche Rheinwein gemüthlich ihre Nachtischcigarre, und die junge Frau des einen, des Hausherrn, nähte mit Emsigkeit an einem Puppenkleidchen, wobei ihr der andere, der Gast, träumerisch zuschaute.

„Sie thun unserm braven Hochheimer heute gar nicht die gebührende Ehre an, Freund Claudius,“ sagte Frau Edith endlich. „Ist es, weil ich nicht genug nöthigte? O, Sie würden das begreifen und entschuldigen, wüßten Sie etwas von den hundert und aberhundert Fragen und Sorgen, mit denen der Kopf einer Hausfrau und Mutter vierzehn Tage vor Weihnachten angefüllt ist!“

„Sie verkennen mich, Frau Edith. Ich bin zu sehr daheim bei Ihnen, als daß es mir gegenüber jener Formen bedürfte. Ich habe mich ja von Anfang an bei Ihnen wie zu Hause fühlen dürfen.“

„Dank für dieses wohlthuende Wort, Freund Claudius! Nun müssen Sie aber auch darnach handeln oder wenigstens beichten, warum heute Ihre Stirn so umwölkt, Ihr Blick so trübe, Ihre Neigung zum sonst ganz wohlgelittenen Abendtrunk auf Null herabgestimmt ist!“

„Ist es so? Davon weiß ich selbst nichts. Vielleicht macht es die Nähe des vierundzwanzigsten Dezember. Weihnachten ist ein Familienfest, da erwachen in dem Alleinstehenden liebe Erinnerungen und er erkennt klarer als zu jeder andern Zeit die Leere und Freudlosigkeit seines Daseins.“

„Ganz recht,“ fiel der Professor ein. „So empfand ich ehemals auch, aber bald suchte ich mir das einzig unfehlbare Heilmittel gegen derartige Anfechtungen. Wer hindert Dich, es ebenso zu machen, alter Junge?“

„Ja, warum denken Sie nicht endlich einmal ernstlich an die Wahl einer Lebensgefährtin, Sie armer ‚alleinstehender‘ Mann?“

Doktor Claudius schien die Beantwortung dieser Frage ziemlich schwer zu finden, denn er wollte nicht gleich mit der Sprache herausrücken.

„Ich verstehe mich nicht auf den Umgang mit Frauen,“ entgegnete er nach einer kleinen, gedankenvollen Pause. „Dergleichen muß in der Jugend gelernt werden, und mir ließ man niemals Zeit dazu. Ich mußte mich frühzeitig mühen, um in die Stellung, in die Verpflichtungen hineinzuwachsen, welche mir durch des Oheims Erbe, die Farbenfabrik, auferlegt wurden. Während meine Altersgenossen – darunter auch Du, Eberhard – sich im Ballsaal, im Minnedienst die ersten Sporen verdienten, saß ich über meinen Büchern oder chemischen Versuchen. Das Laboratorium war mein Salon. Das Studium der Farbentechnik mußte mir dasjenige des Frauencharakters, die Lehre von der stofflichen Zusammensetzung meiner Fabrikerzeugnisse jene über den Verkehr mit dem weiblichen Geschlecht ersetzen. Im Fluge verging die Zeit, und eines Tages sah ich mich als den Besitzer von Hermannsthal. Die Leute nannten es eine ‚Goldgrube‘ und priesen mich glücklich, niemand erwog den Umstand, daß ich dieses Erbe mit meiner goldenen Jugend bezahlte! Ich hatte sie nicht genossen, sie war vorübergegangen wie ein harter Traum, und der Mann vermochte nicht nachzuholen, was der Jüngling versäumt hatte.“

„In gewissem Sinne kannst Du es dennoch, Claudius. Dein Herz ist jung geblieben. Und daß der schlanke Studiosus der Chemie zum stattlichen Doktor und Fabrikbesitzer geworden ist, sichert Dir ein um so wärmeres Willkommen beim schönen Geschlecht.“

„Laß es gut sein, Eberhard! Ich möchte etwaige Erfolge nicht diesen Aeußerlichkeiten verdanken. Außerdem haben die Frauen und Mädchen, denen ich hier begegne, wenig Anziehendes für mich. Ihr Lebenszweck ist das Vergnügen, ihr Ziel eine gute Partie, das will sagen: ein Freibrief für alles, was Geld kostet und außerhalb der Häuslichkeit, der eigenen vier Wände liegt. Oder meinen Sie, Frau Edith, daß eine von ihnen mit der Aufgabe, mein Stillleben durch ihre Anmuth, ihre sorgende Liebe zu verklären, einverstanden und zufrieden sein würde?“

„Eine aus der von Ihnen gezeichneten Spielart wohl kaum. Aber Sie können nicht leugnen, es giebt gottlob noch Mädchen, welche eine auf das Innenleben gerichtete Erziehung erhalten haben, welche gediegene Bildung mit schlichtem, häuslichem Sinne vereinigen und ihr Glück darin finden würden, Königin Ihres Herzens und Ihres kleinen Reiches zu sein.“

„Zugegeben! Allein auch Sie werden nicht sagen wollen, daß dieser weiße Rabe, dieser Wundervogel auf den Kasinobällen oder in den ästhetischen Theekränzchen unserer Stadt zu finden sei!“

„Dort so gut als anderswo! Auf welche Weise sollten heirathslustige junge Männer denn sonst zu Damenbekannrschaften gelangen?“

„Vielleicht gedenkt Claudius sich seine Zukünftige ‚auf diesem nicht mehr ungewöhnlichen Wege‘ zu gewinnen,“ sagte der Professor neckend. „Das wäre allerdings romantischer.“

„Eberhard!“ rief Frau Edith entrüstet.

„Warum denn nicht, Mäuschen? Schließlich ist ein Weg so gut als der andere, wenn das Glück mit dem Wanderer geht. Ein Glücksspiel, bei welchem alles gewonnen und alles verloren werden kann, bleibt die Ehe in jedem Fall.“

Frau Edith wurde ernstlich böse. „Wir lernten einander bei einer Landpartie des Cäcilienvereins kennen,“ sagte sie empfindlich, „und ich kann es durch zahlreiche Beispiele aus meinem Bekanntenkreise beweisen, daß die glücklichsten Ehen gerade auf derartige gesellige Vereinigungen zurückzuführen sind!“

„Das bleibt unbezweifelt, liebe Frau! Ebenso kann aber ich aus eigener Anschauung berichten, daß auch durch jene verpönten Zeitungsanträge – denen ich übrigens keineswegs das Wort reden will! – schon mancher zu seinem Glücke gelangt ist. Das Schicksal erwählt sich oft wunderbare Werkzeuge und Wege, um verwandte Seelen zusammenzuführen. Möge es auch unseren Freund, gleichviel auf welcher Straße, bald die Krone des Lebens finden lassen! Leeren wir darauf dieses letzte Glas!“

Die drei Kelche begegneten einander mit klingendem Ton und wurden auf einen Zug geleert. Dann verabschiedete sich Claudius.

Es hatte bereits zehn Uhr geschlagen und er wollte zu Fuß nach dem eine halbe Stunde von der Stadt entfernten Hermannsthal zurückkehren. Die breite, von Obstbäumen umsäumte Fahrstraße lief gerade darauf zu. Es wanderte sich gut durch die abendliche Einsamkeit. Der Sturm hatte nachgelassen, hier und da schimmerte ein Stern durch die zerrissenen Wolken. Claudius war tief in Gedanken. Das Gespräch dieses Abends hatte ihn erregt und eine besondere Saite in ihm zum Tönen gebracht. Ja, warum sollte nicht er so gut als andere eines Tages finden, was ihm noth that? Natürlich nicht im Gesangverein oder im

[513]

Gefährlicher Posten.
Zeichnung von Adolf Wald.

[514] klassischen Lesekränzchen von Kronfurth, sondern anderswo – in der Welt draußen! Ein Mädchen von Herz und Geist, schlicht in Erscheinung und Wesen, ernst in der Auffassung des Lebens, fröhlich in der Erfüllung der Pflichten, fähig, in guten wie in bösen Tagen des Mannes treue, verständnißvolle Gefährtin und Beraterin zu sein! Wie wollte er ihr, dieser Verborgenen, Namenlosen, das Glück danken, welches sie ihm gab! Wie wollte er ihr Dasein reich und hell machen, wie sollte sie ihr Wesen frei ausgestalten dürfen, nur durch das eigene Gefühl gebunden und regiert! Herrliche Träume, an denen das sehnsüchtige Herz sich erwärmte! Aber selbst wenn die Namenlose irgendwo vorhanden war, welcher unter den zahllosen, die Erde kreuz und quer durchschneidenden Fahr- und Fußwegen führte zu ihr? Wenn sie war, wie er sie dachte und wollte, fand er sie auf dem großen Markte nicht! Viel eher saß sie gleich ihm in irgend einem einsamen Erdenwinkel und träumte den gleichen unerfüllbaren Traum. Aus derartigen Lebenslagen und Empfindungen mochten manche jener unzart oder überspannt erscheinenden Zeitungsanfragen hervorgehen, über welche dann die Welt, wie heute Frau Edith, hart und absprechend urtheilte. Er selbst hatte ja bis zu diesem Abend wie die Menge gedacht. Und im Grundsatze mußte seine Ansicht von der Sache auch stehen bleiben. Indessen der einzelne Fall sprach doch wohl für sich selbst und konnte unter Umständen eine besondere Beurtheilung beanspruchen.

Hier zerriß der Gedankenfaden; rauhes Hundegebell ertönte, und Claudius, aus seinem Traume erwachend, gewahrte, daß er schon in Hermannsthal angelangt war. Das Herrenhaus lag einige Minuten von den Fabrikgebäuden entfernt sehr malerisch am Saum eines prächtigen Laubwaldes. Es war ein großer, seltsamer Bau, dessen wunderliche Eigenart wohl mehr der Willkür des Urgroßvaters von Claudius als dem Plane des Baumeisters ihre Entstehung verdankte. Letzterer mochte durch den wenig verfeinerten Geschmack des Fabrikherrn in stille Verzweiflung versetzt worden sein, schließlich aber dennoch seine Künstlerehre dem klingenden Vortheil des Geschäftes geopfert haben. Und so erstanden denn die großen, alterthümlichen Bogenfenster, die rundkuppeligen Seitenthürme mit ihren vieleckigen Erkern, die breite, von steinernen Drachen bewachte Freitreppe, sie erfreuten sich noch heute ihres Daseins und gefielen – allen Gesetzen des reinen Stils und guten Geschmacks zum Trotze – ausnahmslos jedermann auf den ersten Blick.

Weniger gewiß ließ sich das von dem soeben auf der obersten Treppenstufe erscheinenden Herrn Florian Amadeus Kalbfleisch behaupten, obschon besagte Persönlichkeit in ganz Hermannsthal nicht anders als der „schöne Amadeus“ genannt wurde. Dieser schmeichelhafte Beiname hing ihm aus der Vergangenheit an und mochte einstens gepaßt haben – einstens, da die lange, dürre Gestalt jung und geschmeidig, das spärliche blonde Haar glänzend und voll, die gerade, spitze Nase noch nicht roth gewesen war; einstens, da Herr Florian Amadeus noch nicht daran dachte, von seinen künstlerischen Bedientenrollen auf einem leidlich guten Provinzialtheater zum prosaischen Diener des Besitzers von Hermannsthal herabzusteigen. Das „Herabsteigen“ war übrigens nur bildlich zu nehmen. In Wahrheit befand sich der schöne Amadeus heute und hier um vieles besser als in der sogenannten Ruhm- und Glanzperiode seines Lebens, in welcher es neben eingebildeten Triumphen wirklichen Mangel, wirkliche Entbehrungen an allen Ecken gegeben hatte. Das Schicksal wollte dem armen Burschen aufrichtig wohl, als es ihn eines Abends zu unrechter Zeit in einer Versenkung verschwinden ließ und damit seiner künstlerischen Laufbahn ein jähes Ende bereitete. Der Unfall hatte einen Beinbruch, dieser lebenslängliches Hinken zur Folge, und so sah der ehrgeizige und begeisterungsvolle Jünger Thalias seine Theaterlaufbahn vernichtet, sich selbst einer ungewissen Zukunft preisgegeben. Aber das Schicksal vollbrachte seine Arbeit nicht halb, es führte dem Rathlosen in dem damaligen Besitzer von Hermannsthal einen Schutzpatron zu.

Doktor Claudius der Onkel besaß wie mehr oder minder jeder seines Namens und Stammes eine angeborene Hinneigung zum Ungewöhnlichen, eine Vorliebe für alles, was abseits vom ausgetretenen Wege des Althergebrachten lag. Er hatte des schönen Amadeus schreckliches Geschick, auf offener Bühne mit einem Präsentierbrett voller Flaschen und Gläser urplötzlich von der Erde verschlungen zu werden, zufällig miterlebt und den in dem Lustspiel nicht vorgesehenen „Zauber“ nicht gleich den übrigen Zuschauern als einen guten Witz belacht, sondern sofort theilnehmende Erkundigungen eingezogen. Das Ergebniß derselben veranlaßte ihn dann, dem schönen Amadeus zunächst eine Unterstützung zutheil werden zu lassen und ihn schließlich, als er brotlos geworden war, in seine Dienste zu nehmen. Weder Herr noch Diener fanden jemals Anlaß, diese Schicksalsfügung zu beklagen. Dagegen erheiterte der ehemalige Komödiant die letzten Lebensjahre des kränkelnden Fabrikherrn durch seinen auf vergangenen „Künstlerfahrten“ eingeheimsten, unerschöpflichen Vorrath an lustigen Vorträgen und abenteuerlichen Theatergeschichten recht erheblich.

„Du bist wahrlich ein begabter Bursche,“ pflegte der alte Herr zu sagen, wenn er wieder einmal die wohlthätige Wirkung eines zwerchfellerschütternden Lachens an sich verspürt hatte, „und ich glaube gern, daß bei geeigneter Ausbildung etwas Besonderes aus Dir geworden wäre.“

„Es hat schon mancher trotz einer von Hause aus vernachlässigten Erziehung hohe Ziele erstrebt und auch erreicht, Herr Doktor,“ lautete gewöhnlich die Entgegnung; „so hoffe auch ich durch Kraft und Ausdauer –“

„Ja, ja – die ‚Nachteule‘, lieber Amadeus,“ unterbrach ihn dann wohl der alte Herr mit zustimmendem Kopfnicken, „die ‚Nachteule‘!“ Und obgleich das ein bißchen spöttisch klang, bildete es doch allemal das Stichwort, auf das hin der schöne Amadeus mit dem Auskramen seiner innersten Gedanken, Absichten und Pläne begann.

Die „Nachteule“! Das war sein Lebenstraum, war der Schlüssel, mittels dessen er sich dereinst die Pforten des Nachruhms zu erschließen hoffte.

„Noch nicht heute oder morgen, Fräulein Mertens, wissen Sie,“ äußerte er in mittheilsamen Augenblicken zu der Küchenbeherrscherin, seiner zweiten Vertrauten. „Ich habe gar keine Eile damit, denn Hermannsthal, wo mir des Doktors Bibliothek und vollauf Zeit zu den erforderlichen Studien zur Verfügung steht, das ist gerade der richtige Ort, um mein Volksschauspiel, ‚Die Nachteule‘, zu einer des Gegenstandes würdigen Vollendung ausreifen zu lassen.“

Ein Umstand – und gerade dieser bildete das heimliche Band, welches den schönen Amadeus fester als irgend ein anderes an Hermannsthal knüpfte – blieb unerwähnt: daß Doktor Claudius seine angebrochenen Wein- und Rumflaschen stets offen umherstehen und zum Ueberfluß auch noch den Kellerschlüssel frei an der Anrichte hängen ließ und so dem Dichter der „Nachteule“ die unschätzbare Gelegenheit bot, sich für sein schwieriges und anstrengendes Werk noch aus andern Quellen als den trockenen alten Lederbänden der Bibliothek Kraft und Begeisterung zu schöpfen!

Der Besitzwechsel auf der Fabrik veränderte nichts. Doktor Claudius der Neffe hatte den schönen Amadeus testamentarisch mit übernommen und stand auf dem besten Fuße mit ihm, wenn er auch keinen besonderen Sinn für Theatergeschichten und keinerlei Antheilnahme für das Gedeihen der „Nachteule“ an den Tag legte.

„Unser jetziger Herr ist nicht so poetisch veranlagt als der vorige,“ erklärte Amadeus gelegentlich der Königin des Küchenreiches. „Aber aus diesem Mangel darf ihm natürlich kein Vorwurf gemacht werden.“

„Natürlich nicht,“ erwiderte die Mertens ohne eine Ahnung, um welchen „Mangel“ es sich eigentlich handle. „Natürlich nicht! Und eine Frau wird er doch wohl trotzdem bekommen, Herr Amadeus, wie?“

„An jeden Finger eine, wenn er nur wollte! Scheint jedoch in dieser Hinsicht seinem Herrn Onkel nachzuarten. ‚Süß getrunken, sauer bezahlt!‘ sagte der in Bezug auf die Ehe und blieb ledig!“

Damit griff der schöne Amadeus zur Lampe, um dem heimkehrenden Gebieter entgegenzugehen. Es war der Abend, an welchem Doktor Claudius den Weg von Kronfurth nach Hermannsthal wie im Fluge zurücklegte, an dem ein lichter, lieblicher Traum von Zukunftsglück an seiner Seite ging! Der schöne Amadeus – er konnte in seiner Abendgewandung, einem gestrickten grauen Wams und einer dito Hausmütze mit Ohrenkappen, recht wohl für das Titelbild seiner dramatischen Dichtung gelten! – verscheuchte das Gesicht. Aber es kehrte zu mitternächtiger Stunde dem einsam wachenden Fabrikherrn in verdoppelter Lieblichkeit zurück.



[515]
2.0 Wenn die Vernunft spazieren geht!

Obschon zwischen Doktor Claudius und den angesehenen Bewohnern von Kronfurth das beste Einvernehmen bestand, hatten diese dennoch bisher vergebens einen engeren Verkehr mit Hermannsthal angestrebt. Trotzdem ließ man es an keiner Aufmerksamkeit für den Mann fehlen, der seinerzeit mit dem Antritt seines Erbes eine große Schenkung an Kronfurth verbunden und sich seitdem an allen gemeinnützigen städtischen Unternehmungen in freigebigster Weise betheiligt hatte. Wer so handelte, nahm Antheil an der Stadt und konnte ihr nicht lebenslang fern bleiben, sondern heirathete sich schließlich doch noch darin fest! Das war die stille Zuversicht sämmtlicher Väter und Mütter der weiblichen Jugend von Kronfurth.

Diese Jugend! Dem Doktor kam es vor, als sei sie dutzendweis in einer Puppenfabrik entstanden und dutzendweis nach dem gleichen Muster modern herausgeputzt worden. Alle Puppen von vierzehn bis zu vierzig Jahren trugen die neueste Mode zur Schau, leider aber nicht in einer dem Alter und Aeußern der Einzelnen entsprechenden Verschiedenheit, sondern völlig uniform, so daß eine gesellige Vereinigung der jungfräulichen Kronfurtherinnen an nichts so sehr gemahnte als an eine militärische Parade.

Ernst Claudius entsann sich eines Junisonntages, an welchem er die Stadtpromenade wie eine Modenzeitung studiert hatte und schließlich durch anderthalb Dutzend Mozartzöpfe unter Rembrandthüten in die Flucht geschlagen worden war.

Als die Puppen eines Tages mit langen Stockschirmen und Herrenhüten erschienen, sagte Claudius – noch Schlimmeres gewärtigend – der Stadtpromenade und ihren Grazien für immer Lebewohl.

Das städtische Kasino, schließlich der einzige Ort, welchen er noch bisweilen zum Zweck des Zeitungslesens aufsuchte, hatte sich seines Besuches nun auch seit nahezu Jahresfrist nicht mehr erfreut. Da schien plötzlich eine Wendung zum Besseren eintreten zu wollen – eines Nachmittags, mehrere Tage, nachdem das zur Zeit noch verschleierte Bild der Namenlosen von des Doktors Gedanken Besitz genommen hatte, erblickten ihn die Kronfurther Stadtväter zu ihrer nicht geringen Genugthuung im Lesesaal des Kasinos, von Zeitungen umgeben und offenbar ganz in die Neuigkeiten vertieft. Er studierte eine Weile die „Norddeutsche Allgemeine“, dann schaute er gedankenvoll darüber hinaus und nun lag ein zerstreuter, unruhiger Ausdruck in seinen dunklen Augen.

„Vielleicht spekuliert er!“ flüsterte der Polizeirath Adler dem Bürgermeister Weinland ins Ohr.

„Oder er ist verliebt!“ entgegnete dieser, der glückliche Besitzer von einem halben Dutzend der erwähnten Mozartzöpfe, und setzte sich zurecht, um im Schatten der „Kölnerin“ den zur Begrüßung mit Claudius geeigneten Augenblick abzuwarten.

Leider vereitelte das Schicksal für diesmal seinen Plan. Als der Fabrikherr endlich einmal die Augen erhob, geschah es, weil jemand, der soeben eingetreten war, seine Schulter freundschaftlich mit der Hand berührt hatte. Dieser „jemand“ war eine in Kronfurth gleichfalls wohlbekannte Persönlichkeit: Herr Albert Gerlach, Frau Ediths Bruder und gleichzeitig zweiter Direktor von Hermannsthal.

Claudius hatte den jungen Mann bei Eberhards Hochzeit kennengelernt und sich sogleich durch dessen frisches, freimüthiges Wesen lebhaft angesprochen gefühlt. Bald wünschte er sich aufrichtig Glück, eine so tüchtige, vielseitige Kraft zur Mitwirkung gewonnen zu haben, und schätzte seinen Arbeitsgenossen um so höher, je mehr dieser nicht nur den Vortheil des Geschäfts klug und gewissenhaft vertrat, sondern auch ganz ersichtlich mit dem Herzen an Hermannsthal und dessen Eigenthümer hing. Sobald Gerlach nicht durch amtliche Reisen fern gehalten wurde, theilte er mit Doktor Claudius die trauliche Einsamkeit des Herrenhauses, welches er wegen der die Treppe hütenden steinernen Ungethüme die „Drachenburg“ getauft hatte. „Ich darf dies um so eher, da mein Chef sich eines fröhlichen, ledigen Standes erfreut,“ äußerte er gelegentlich in seiner scherzenden Art, „angesichts eines lebendigen Drachen würde mir doch der Muth dazu mangeln.“

Hinsichtlich der Kronfurther kannte und theilte der junge Direktor die Ansichten seines Freundes, aber es belustigte ihn dennoch, bisweilen an den städtischen Vergnügungen theilzunehmen und dieser oder jener der Puppen etwas weis zu machen. Vielleicht wurden seine leichten Aufmerksamkeiten nicht ernster genommen, als sie es verdienten, jedenfalls war Albert Gerlach den Kronfurtherinnen, welche nach Abzug der Ballväter und Eisonkel nur über sehr wenige Herren verfügten, als Tanz- und Kränzchenkavalier unschätzbar. Daß er einen wenn auch schwachen Verbindungsfaden zwischen Kronfurth und Hermannsthal bildete, stellte ihn natürlich noch erheblich höher im Kurs!

Erst diesen Nachmittag war der junge Mann von einer mehrwöchigen Abwesenheit zurückgekehrt und, da er den Doktor in der Drachenburg nicht vorfand, sofort nach Kronfurth gegangen.

„Eberhards, bei denen ich vorsprach, wußten nichts von Ihnen,“ sagte er nach der ersten, herzlichen Begrüßung. „Da begab ich mich aufs Gerathewohl hierher. Aber Sie scheinen ärgerlich oder verstimmt, werther Freund. Irre ich?“

„Leider irren Sie nicht, lieber Gerlach. Ich bin verdrießlich und unzufrieden.“

„Unzufrieden – mit wem?“

„Mit mir selbst! Haben Sie noch etwas in der Stadt zu thun, oder können wir nach Hermannsthal zurückkehren?“

„Sogleich, wenn Sie Ihre Zeitungen im Stich lassen wollen.“

„Ich bin fertig.“ Trotz dieser bestimmten Erklärung und obwohl sich Ernst Claudius unverzüglich erhob, schienen sich seine Blicke nicht von der Zeitung losreißen zu können, welche er eben aus der Hand gelegt hatte.

Gerlach errieth, daß es damit eine besondere Bewandtniß haben müsse. „Nehmen wir sie mit,“ sagte er halblaut. „Es ist eine ältere Nummer.“

Ernst Claudius blickte rasch auf und erröthete wie ein Schulknabe. „Sie sind sehr freundlich, lieber Gerlach, ich danke Ihnen.“

Das konnte für eine Ablehnung gelten, allein der junge Direktor verstand es anders und schob das Blatt in die Tasche seines Ueberziehers. Bald darauf befanden sich die beiden Männer auf dem Heimwege und schritten tapfer aus, um Hermannsthal vor dem Dunkelwerden zu erreichen. Lange Zeit sprach keiner ein Wort. Der unter ihren Schritten knisternde Schnee bildete fast das einzige Geräusch in dieser winterlichen Stille.

Endlich begann Claudius: „Können Sie sich vorstellen, lieber Gerlach, daß ein Mann meiner Art eines Tages urplötzlich seine gesunde Vernunft spazierengehen heißt und deren Abwesenheit dazu benutzt, eine rührselige Jünglingsthorheit, einen Narrenstreich, ein – ich finde keinen Namen dafür! – zu begehen?!“

„Warum nicht, Verehrtester? Gerade etwas derart, ein Quentchen göttlichen Leichtsinns, fehlte Ihnen in meinen Augen noch zur Vollkommenheit, oder besser: ich fand es jammerschade, daß jener leichte Muth so ganz unter Pflichten und Würden und gutsherrlicher Ehrbarkeit begraben lag; denn an seinem Vorhandensein habe ich niemals gezweifelt, auch niemals angenommen, Sie könnten sich diesen kostbaren Besitz um Gold und Ehren abkaufen lassen, wie jener Thor im Märchen sich das Lachen abkaufen ließ.“

„Das nenn’ ich geredet! Schließlich werden Sie mir gar meine Eselei als eine verdienstliche Leistung und die Fähigkeit, noch mit sechsunddreißig Jahren dem ‚dummen Jungen‘ zu spielen, als eine Tugend anrechnen!“

„Sicherlich, Doktor! Im Ernst gesprochen: diese Stunde rückt mich Ihnen doppelt nahe und ich wünsche aufrichtig, Sie möchten mir vollends Ihr Vertrauen schenken.“

„Das soll geschehen, noch heute, nach der Abendmahlzeit! Ich glaube auch, auf diese Weise am besten mit der Sache fertig zu werden.“

„Trefflich! Und lassen wir, wenn es Ihnen recht ist, eine Flasche Ihres ausgezeichneten alten Burgunders die Dritte im Bunde sein. Es beichtet und büßt sich besser mit feuchter Kehle.“

„Eine für Euch, eine für mich!“ murmelte der schöne Amadeus, als er, unter jedem Arm eine verstäubte Flasche, die Kellertreppe emporklomm. „Es kann niemand verlangen, daß ich die Verschwörungsscene, den Glanzpunkt der ‚Nachteule‘, bei Wachholderschnaps zustande bringe!“



[516]

Blätter und Blüthen.

Wilhelm Eduard Weber. Von Land zu Land, von Welttheil zu Welttheil verbreitete der Telegraph am 24. Juni mit Blitzesschnelle die Kunde von dem Tode Wilhelm Eduard Webers. Von Göttingen, der Geburtsstätte des magneto-elektrischen Telegraphen kam die Botschaft, und die Welt erfuhr nun, daß auch der letzte der Männer heimgegangen sei, denen die Menschheit das erstaunlichste aller Verkehrsmittel verdankt.

Am Anfang dieses Jahrhunderts war in Wittenberg ein Dreigestirn aufgegangen, welches berufen war, der Schar der Forscher auf neuen Bahnen voranzuleuchten. Es waren dies die drei Söhne des gelehrten Theologen Michael Weber.

Der älteste von ihnen, Ernst Heinrich, hatte die Medizin zu seinem Berufsstudium gewählt, aber als Physiolog und Anatom blieb er zugleich der Naturwissenschaft treu und suchte schwierige physikalische Fragen zu lösen. Von großer Bedeutung für die Erforschung der Naturkräfte ist die genaue Kenntniß der vielfältigen Erscheinungen, welche die Wellenbewegung darbietet. In ihr liegt der Schlüssel zum Verständniß der Erscheinungen des Schalles, der Wärme, des Lichts, der Elektricität. Wellen entstehen auch in tropfbaren Flüssigkeiten und lassen sich hier verhältnißmäßig leicht in den einzelnen Abschnitten ihrer Entwickelung beobachten. So bildete die Wellenbewegung des Wassers den Gegenstand, auf den sich die physikalischen Arbeiten Ernst Heinrich Webers bezogen, und an diesen scharfsinnigen Untersuchungen betheiligte sich bereits als ein junger Schüler sein Bruder Wilhelm Eduard. Die Ergebnisse dieser mühevollen Versuche wurden zusammengefaßt in dem Werke „Die Wellenlehre, auf Experimente gegründet“, welches im Jahre 1825 im Drucke erschien. Als der künftige Erfinder des Telegraphen durch den Antheil, den er an diesen Forschungen hatte, den ersten Grund zu seinem späteren Ruhme legte, war der am 24. Oktober 1804 zu Wittenberg Geborene kaum 21 Jahre alt. Der junge Gelehrte habilitierte sich zwei Jahre darauf an der Universität Halle, und schon im Jahre 1831 sehen wir ihn den Lehrstuhl für Physik an der Universität Göttingen bekleiden.

Hier fand er in Karl Friedrich Gauß, einem der größten Mathematiker aller Zeiten, einen ebenbürtigen Geistesgenossen, und im Verein mit diesem wandte er sich der Erforschung der elektrischen und magnetischen Erscheinungen zu. An Bestrebungen, diese Kraft in den Dienst eines Nachrichtenverkehrs in die Ferne zu stellen, hat es um jene Zeit nicht gefehlt, aber alle Pläne, die aufgetaucht waren, konnten sich praktisch nicht bewähren. Erst aus den Studien, die Weber und Gauß gemeinschaftlich über den Elektromagnetismus anstellten, ging der erste brauchbare elektromagnetische Telegraph hervor, der auf eine Entfernung von 9000 Fuß das physikalische Kabinett Webers mit der Sternwarte seines Freundes Gauß verband. Die Anlage wurde 1833 ausgeführt und im folgenden Jahre zum ersten Male in den „Göttinger gelehrten Anzeigen“ beschrieben. Die Technik griff den Grundgedanken der beiden Forscher auf; es war nun leicht, Verbesserungen anzubringen, und gerade zehn Jahre nach jener bahnbrechenden Erfindung wurden in Deutschland und Amerika die ersten großen Telegraphenlinien gebaut. Weber arbeitete indessen fort an der Ergründung der noch dunklen elektrischen Probleme. Um diese Zeit kam sein jüngster Bruder Eduard Friedrich nach Göttingen; er war Mediziner wie der Aelteste von den Dreien und wandte sich an den Physiker, um von diesem mit Rath und That bei seinen Untersuchungen über die Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge unterstützt zu werden. Als Frucht dieser gemeinsamen Arbeit erschien 1886 ein Werk der beiden, in welchem das Stehen und Gehen des Menschen erörtert und erklärt wurde; die Wissenschaft wurde dadurch um eine Fülle wichtiger, neu entdeckter Thatsachen bereichert, so vor allem durch die Beobachtung, daß das eigentliche Bindemittel, welches unsere Knochen in den Gelenken festhält, der Luftdruck ist.

Wilhelm Weber,
der Letzte der „Göttinger Sieben“.
Nach einer Photographie von B. Petri (Inhaber W. Grape) in Göttingen.

Ein Jahr darauf kam für den Gelehrten eine Prüfungszeit, in welcher er seine Charakterstärke und politische Ueberzeugungstreue bewähren sollte. Am 1. November 1837 wurde die hannoversche Verfassung, welche dem Lande vier Jahre zuvor gegeben und gewährleistet worden war, vom König Ernst August für ungültig erklärt; zugleich erging an sämmtliche Landesbeamte so auch an die Professoren von Göttingen die Aufforderung, auf Grund des neuen Rechtszustands auch neue Dienst- und Huldigungsreverse einzusenden. Mit sechs anderen Amtsgenossen (Jakob und Wilhelm Grimm, Gervinus, Dahlmann, Albrecht und Ewald) protestierte Wilhelm Eduard Weber gegen diesen Akt der Willkür. Die mannhaften Vertheidiger der Verfassung wurden sofort ihres Amtes entsetzt. Mochten sie auf diese Weise in äußerer Beziehung manches verlieren – das dankbare Gedächtniß des deutschen Volkes, für dessen Recht sie in den Grenzen eines einzelnen Landes brav und ohne Rücksicht auf das eigene Wohl in die Schranken getreten waren, hat sie für alle Verluste entschädigt durch den Ehrennamen der „Göttinger Sieben“, der überall da, wo man freie Mannesthat und unerschütterten Mannesmuth zu schätzen weiß, seinen guten alten Klang behalten wird. Mit Weber ist der Letzte dieser „Sieben“ zur Ruhe gegangen.

Die Freundschaft mit Gauß hielt den seines Amtes entsetzten anfangs längere Zeit in Göttingen zurück, später folgte er einem Rufe als Professor an die Universität Leipzig; im Jahre 1849 zog er, nachdem sich die Zeiten geändert hatten, in seine frühere Stellung in Göttingen wieder ein.

Im weiteren Verlauf seines arbeitsvollen Lebens bereicherte er die Elektricitätslehre durch eine Reihe grundlegender Versuche und Beobachtungsmethoden, die heute von der rüstig aufstrebenden Elektrotechnik praktisch verwerthet werden.

Das große Zeitalter des Dampfes geht zur Neige, ein verheißungsvolleres, das der Elektricität, beginnt zum Heil der Menschheit, und wenn wir Wilhelm Eduard Webers Verdienste kurz zusammenfassen wollen, so müssen wir ihn als einen der vornehmsten Bahnbrecher einer neuen Kulturepoche bezeichnen; die Elektriker haben in ihm einen ihrer siegreichsten Führer verloren.*      

Gefährlicher Posten. (Zu dem Bilde S. 513.) Es ist eine lustige Sache, ein Felddienst im Sommer zur Erntezeit, wenn die Frau Sonne ein Einsehen hat und nicht allzu heiß brennt, wenn ein frischer Lufthauch über die wogenden Felder streicht und Rossen und Mannschaften, Schnittern und Schnitterinnen Kühlung zufächelt. Bis dahin war’s meistens ziemlich langweilig gewesen, weit und breit kein Mensch zu sehen, keine verständnißinnige Seele, mit der man eine Unterhaltung vom Gaul herunter hätte anknüpfen können, oder die – noch verständnißinniger – einen kühlen Trunk auf den Gaul hinaufgereicht hätte. Was sollte man da anfangen auf solch einer „stehenden Patrouille“, wo man doch weiß, daß man keinen Feind sich gegenüber hat und der Gegner nur ein „angenommener“ ist? Ganz anders jetzt, wo das sichelreife Korn unter den fleißigen Händen des Landvolks zu sinken beginnt. Da giebt’s nichts Hübscheres für einen schmucken Reitersmann als einen etwas abseits von den scharfen Augen der Vorgesetzten gelegenen Posten wie denjenigen, welcher den Ulanen auf unserem Bilde zugefallen ist. Es ist ein Unteroffiziersposten auf dem äußersten rechten Flügel, und während der führende Gefreite mit seinen zwei Mann hinten in der flachen Bodensenkung die vergnüglichste Gesellschaft hat, müssen die beiden Vedetten vorn scharf aufpassen, ob keine Spur vom „Feinde“ – wer darunter zu verstehen ist, das wissen sie genau – in der Nähe oder Ferne sich zeigt. Seit vollends der witzige Kamerad von den Kürassieren, der als Meldereiter vorüberkam, sich zur Gruppe gesellt hat, da stiegen die scharf zugespitzten Scherzreden schneidig hinüber und herüber, keiner der kühnen Lanzenschwinger denkt mehr daran, wozu er eigentlich da ist. Vergeblich dreht sich die eine Vedette vorn im Sattel herum, um ein warnendes Zeichen zu geben, die hinten hören und sehen nichts davon. –

„Denn wer bei schöner Schnitt’rin steht,
Dem mag man lange winken –“

heißt’s in Scheffels Liede vom fahrenden Scholaren. Ja, mitten im Frieden giebt es recht gefährliche Posten!




Inhalt: Baronin Müller. Roman von Karl v. Heigel. (3. Fortsetzung). S. 501 – Wanderungen durch Wien. Von V. Chiavacci. Vorstädte und Vororte. S. 506. Mit Abbildungen S. 501, 505, 506, 508 und 509. – Leuchtbacillen, S. 511 – Die Kamerunerin. Eine romantische Geschichte von H. v. Götzendorff-Grabowski. S. 512 – Gefährlicher Posten. Bild. S. 513. – Blätter und Blüthen: Wilhelm Eduard Weber. Mit Bildniß. S. 516. – Gefährlicher Posten. S. 516 (Zu dem Bilde S. 513.)




Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.