Die Gartenlaube (1891)/Heft 41
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Nr. 41. | 1891. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Alle Rechte vorbehalten.
Ein Götzenbild.
(5. Fortsetzung.)
Waldemar Andree war im ganzen kein Mann der Gesellschaft und hatte in Rom sehr selten im Salon verkehrt – nur hier und da im engeren Familienkreise. Aber eine Persönlichkeit wie die seine, fest in sich beruhend und, obgleich ohne jede Ueberhebung, dennoch von einem gewissen Selbstbewußtsein erfüllt, das dem begabten Künstler wohl anstand, konnte sich auch in der glanzvollen Atmosphäre eines reichen Hamburger Patrizierhauses nicht linkisch oder beklommen benehmen. Seine tiefliegenden Augen hatten bisher mit klugem, kühlem Blick die prachtvollen Räume, die auf- und abwogende Menge, die kostbaren Toiletten gemustert; es gefiel ihm ganz wohl, hier zu sein; Licht und Glanz und Farbenpracht umschmeichelten ihm angenehm den angeborenen und tief entwickelten Kunstsinn Mit sicherem Anstand verneigte er sich vor der Dame des Hauses, ihre verbindliche Begrüßung mit höflichen Worten erwidernd, und auch der Prinz aus der Moldau schüchterte ihn keineswegs ein.
Aber als er nun Stella Brühl so nahe vor sich hatte, da überkam ihn ein eigenthümliches Gefühl … „Ich habe Angst vor ihr!“ hatte ihm Hilt gesagt. „Sie ist zum Fürchten schön.“ Nun, Angst war es nicht gerade, was Andree jetzt so seltsam bewegte! Aber Stella war heute und hier soviel schöner noch als vor einigen Tagen, da er sie auf der Straße gesehen – schön wie eines Künstlers Traum, wie die Verkörperung alles dessen, was seine fruchtbare Phantasie, wenn sie ihren höchsten Schwung nahm, ihm vorgezaubert hatte – und all seine künstlerische Begeisterung drängte sich ihm wieder mit Macht zum Herzen. Und dazu kam noch das Bewußtsein, daß es ihm, gerade ihm vorbehalten sei, diesem herrlichen Geschöpf einen großen Schmerz zuzufügen – sie würde doch einen großen Schmerz empfinden? Kein Zweifel daran! Ihn durchzuckte eine sonderbare Eifersucht auf diesen Toten, der sein liebster Freund gewesen war und dem dies junge Wesen sich in Liebe hingegeben hatte, zugleich aber rührte ihn ein tiefes Mitleid, wenn er an Werner Troost dachte, wie er so still unter den Cypressen schlief, fern von seiner deutschen Heimath, fern von ihr, die er über alles geliebt!
Und all diese Empfindungen, ineinanderströmend und halb verworren, wie sie waren, ließen einen Ausdruck auf seinem Gesicht erscheinen, der Stella Brühl befremdete, als sie jetzt zu ihm emporsah. Das war nicht nur die Bewunderung, die sie in dem Antlitz
[690] jedes Menschen, der ihr gegenübertrat, zu lesen gewöhnt war – in den Angen dieses fremden Mannes, den sie zum ersten Mal in ihrem Leben sah, stand etwas wie ein Schmerz und etwas wie Mitleid. Doch nicht etwa mit ihr selbst? Mitleid mit der schönen, gefeierten, sieghaften Stella Brühl?
Er hatte zu ihrem Vater, zu ihrer Mutter gesprochen, auch dem Prinzen, der ein paar herablassende Worte an ihn gewendet hatte, kurz und ruhig geantwortet – ihr allein stand er wortlos gegenüber! War das nur stumme Bewunderung?
Sie wartete noch einen Augenblick und fragte dann endlich, ein wenig unsicher: „Sie kommen direkt aus Rom?“
„Ja – direkt aus Rom!“ bestätigte er mit seiner tiefen, wohlthuenden Stimme und einem ganz sonderbaren Nachdruck, der ihr wiederum auffiel. Ihre Blicke trafen ineinander, es spann sich etwas wie ein geheimes Einverständniß zwischen ihnen …
„Ich hoffe,“ fuhr Andree fort, „Herr und Frau Senator, sowie Sie selbst, mein gnädiges Fräulein, gönnen mir die Ehre, auch künftig bei Ihnen vorzusprechen, um nach dem Gesellschafter auch den Menschen in mir zu Wort kommen zu lassen!“
Der Prinz fand im Stillen, dieser Maler sei ein anmaßender Mensch, und Stellas Eltern waren innerlich ein wenig erstaunt über den Fremden, der so ohne weiteres die Rolle eines Hausfreundes in Anspruch nahm. Aber Ton und Haltung waren durchaus ehrerbietig, und da der Künstler in Hamburg ganz unbekannt war, wie Hilt gesagt hatte, so bewies er schließlich Kühnheit und guten Geschmack, wenn er sich sofort in eines der besten Häuser, welche die alte Hansestadt aufzuweisen hatte, einzuführen wünschte.
So setzte die Dame des Hauses ihr verbindlichstes Lächeln auf, als sie entgegnete: „Ihr liebenswürdiger Wunsch kommt dem unsrigen zuvor, Herr Andree. Wir haben viel von Ihnen gehört, und es ist uns da in aller Stille ein Plan aufgestiegen, dem Sie vielleicht in einiger Zeit zum Leben verhelfen, falls er sich Ihres Beifalls erfreut!“
Sie blickte vielsagend auf die schöne Tochter, und Andree, der den „stillen Plan“ unschwer errieth, lächelte, während seine Augen begeistert aufleuchteten, dann versicherte er, sich jedem Plan zu fügen, in welcher Richtung er immer gehen möge.
Von links trat eine Gruppe neuer Gäste an die Damen heran, und Andree, der sich mit einer Verbeugung zurückzog, gewahrte unter ihnen einen jungen schmächtigen Herrn mit strohblondem, über den ganzen Kopf gescheiteltem Haar, das sorgsam in die Stirn hineinfrisiert war, mit offenem Munde und hellen Augen, die beständig zwinkerten und blitzschnell mit den Augenlidern klappten. Der Jüngling war mit Eleganz gekleidet und trug eine wunderschöne, auffallend große Perle als Schluß seines weit offenen Hemdkragens.
Stella nickte ihm zu wie einem alten Bekannten.
„Guten Abend, Kuno; vielen Dank für Ihr schönes Bouquet, das so gut zu meiner Toilette paßt – da, sehen Sie selbst!“ Sie hielt die Blumen an ihr Kleid und fragte: „Nun?“
„Gott – o Gott, liebste Stella!“ stammelte der blonde Herr und glich dabei Zug für Zug der Kopie, die Gerda vor zwei Stunden von ihm auf der Treppe geliefert hatte, „daß Sie meine Blumen genommen haben – das ist – Gott – das ist – eine Ehre für mich – und auch für sie – nein – du mein Himmel, ich meine nicht für Sie – sondern für sie, die Blumen.“
„Ja, ja, Kuno, ich weiß schon!“ nickte sie lachend, während der Jüngling, in ihren Anblick verloren, mehr denn je mit den Aeuglein zwinkerte, wie jemand, der zu lange in die Sonne gesehen hat. –
„Wer ist denn das?“ fragte Andree in leisem Ton den Maler Hilt, den er eben jetzt dicht neben sich bemerkte.
„Komm’ hierher, mein Sohn, dann erzähle ich Dir’s!“ Der kleine Maler zog ihn in eine der tiefen, von schwerer granatfarbiger Seide verhüllten Fensternischen, wo niemand sie belauschen konnte und von wo sie die ganze bunte Gesellschaft und ihr Treiben wie ein großes lebendes Panorama vor sich hatten.
„Zuerst einmal Deine Beichte, guter Freund!“ schmunzelte Hilt. „Wie findest Du sie?“
„Wen?“
„Kunststück! ‚Wen?‘ fragt er! Thu’ mir die Liebe, und spar’ Dir solche Witze, bei mir verfangen sie nicht und sie kosten uns unnütz Zeit. Du mußt sie ja früher schon gekannt haben –“
„Wer? Ich? Fräulein Stella Brühl? Denn von der wünschest Du doch wohl zu sprechen. Ich habe heute das erste Wort mit ihr gewechselt!“
„Du bist ungeheuer spaßig, mein Lieber! Dieser Duckmäuser, dieser Geheimnißkrämer! Geh’ und mach’ das alles einem andern weis als Deinem ergebenen Endesunterzeichneten! Um den an der Nase zu führen, mußt Du schon früher aufstehen.“
„Ich verstehe Dich gar nicht, Hilt!“ sagte Andree verwundert. „Es ist durchaus nicht meine Absicht, Dich zum besten zu halten. Was willst Du eigentlich von mir haben?“
„Ich will wissen, seit wie lange Du die Kronprinzessin dieses Hauses, Fräulein Stella Brühl, kennst.“
„Ich kenne sie seit heute abend, wo wir das erste Wort miteinander gewechselt haben!“
„Das ist stark, Freundchen! Auf Deine Ehre und Dein Gewissen?“
„Aber in des Teufels Namen: ja!“ Andree, der sich zu ärgern anfing, sprach leise, jedoch mit nachdrücklichster Betonung und ehrlicher überzeugender Stimme.
Hilt sah ihm starr in die Augen. „Wirklich kolossal!“ murmelte er mehr für sich. „Mit so einem Gesicht sich was abzuschwören! Mir soll gleich einer ’nen Storch braten, wenn ich aus der Geschichte klug werde! Ich, sonst kein übler Spürhund, wenn sich’s mir verlohnt! Na, also Du willst nicht heraus damit? Was war’s doch gleich, was Du von mir wissen wolltest?“
„Wer der junge blonde Mensch mit dem ungewöhnlich geistreichen Gesicht ist, der soeben kam. Er scheint hier gut bekannt zu sein.“
„Ist er auch! Sind klingende Gründe genug dafür da! ’s ist das Zehnmillionen-Männchen, Kuno, Ritter von Tillenbach. Ich will Dir kurz seine Geschichte berichten. Sieh, der Papa dieses hoffnungsvollen Jünglings ging noch vor kaum dreißig Jahren mit dem Probesäckchen voller Erbsen und Linsen zu den betreffenden Händlern und Maklern aufs Comptoir und freute sich ganz ungeheuer, wenn ihm einer etwas von diesen Früchten des Feldes abkaufte. Und so geschah es denn auch, daß er eines Tages durch sein gewandtes Wesen das Auge und das Wohlwollen eines reichen, dicken Maklers auf sich zog, der da fand, dieser strebsame junge Mensch sei zu gut, um mit Warenproben herumzulaufen, und ihm demzufolge Sitz und Stimme in seinem Comptoir anwies. Dieser Versuch glückte, und der Wohlthäter experimentierte weiter, indem er seinen Schützling in den Schoß seiner Familie einführte. In diesem sproßte und blühte ein einziges Töchterlein, vielmehr, um im Bilde zu bleiben, es sproßte und blühte nicht, sondern welkte und siechte – ein elendes Treibhauspflänzchen, gleich kümmerlich an Leib wie an Seele. Es war aber der junge Tillenbach von Ansehen ein hübscher Junge, frisch und stramm, und wohl geeignet, das Herz einer Jungfrau zu umstricken. Und siehe, es begab sich, daß das Mägdlein in Liebe zu seiner Persönlichkeit entbrannte, und als er dieses gewahrte, da entbrannte auch in ihm eine heiße und unbezwingliche Leidenschaft zu ihrem Portemonnaie – und der heilige Bund zweier Herzen war geschlossen. Der junge Tillenbach rückte siegreich als Compagnon ins väterliche Geschäft und träumte holde Zukunftsträume, denn die Gegenwart wurde ihm durch den Anblick seiner unlieblichen Lebensgefährtin nicht gerade versüßt. Aber die alte Mutter Natur läßt sich nicht spotten, das zeigte sich hier wieder einmal deutlich genug. Denn der Sohn und Erbe, der dem jungen Paar nach Jahresfrist geboren wurde und das einzige Kind ihrer Ehe blieb, war nicht so gut, dem Vater zu gleichen und ein hübscher, gescheiter Mensch zu werden, sondern er artete in allen Stücken seiner Frau Mama nach, ja, er übertrumpfte dieselbe noch und wurde ein blöder, stotternder, schafsdummer Trottel, zu nichts in der Welt nutz, als von aller Welt gehänselt, angepumpt, betrogen und ausgelacht zu werden, untauglich zu jeglichem Beruf, nicht ’mal imstande, sein Geld, das sich unter den Händen des umsichtigen Vaters ums Dreifache vermehrt hat, mit Anstand loszuwerden. Tillenbach senior ist zu Aemtern und Würden emporgestiegen, in den Adelstand erhoben und zum Ritter hoher Orden gemacht worden – Tillenbach junior ist ein kleiner Jammermann, eine lebendige Warnungstafel für alle die, so ihre freie Mannesseele um schnödes Geld verkaufen. Den ritterlichen Vater wurmt natürlich dieses Häufchen Unglück, welches er sich da als einzigen Sohn und Erben großgezogen hat, fürchterlich, er weiß nie recht, soll er diesen [691] Sprossen verachten oder bemitleiden, denn etwas aus ihm zu machen, das hat er längst aufgegeben. Sein einziges Dichten und Trachten geht nun dahin, dem Ritter Kuno von der traurigen Gestalt eine schöne und kluge Frau zu verschaffen, und zu diesem Posten ist dem klugen Rechner die schöne Stella Brühl gerade gut genug!"
Andree, der mit manchem Kopfschütteln zugehört hatte, fuhr empört zurück.
„Was?“ rief er laut – dann, da der Andere ihm die Hand auf den Arm legte, mäßigte er seine Stimme. „Ich denke, Du erlaubst Dir einen schlechten Witz mit mir!“
„Gar nicht!“ erwiderte Hilt kaltblütig. „Ich bitte Dich: zehn Millionen bedeuten eine schöne Ziffer, und wenn der geschäftskundige Ritter p. p. einmal seine Augen schließt, werden’s fünfzehn bis zwanzig sein.“
„Und wenn es hundert wären,“ sagte Andree hart, „so dürfte von solch einer Nichtswürdigkeit noch immer keine Rede sein!“
„Hm! Du sprichst die große Zahl gelassen aus, aber ihre Tragweite überlegst Du Dir entschieden nicht. Sie wäre doch die erste Titania nicht, die ihrem Zettel die langen Eselsohren zupfte. Und ob unser freundlicher Wirth, der brave Herr Senator, auf so festen vergoldeten Füßen steht, wie’s den Anschein hat, das kann auch niemand sagen – gemunkelt wird allerlei, ganz gelogen wird’s nicht sein, denn was treibt der Mann für einen Aufwand! Wieviel, meinst Du wohl, kostet solch ein Brokatkleid und solch ein Halbmond von Brillanten, wie sie heute die Prinzessin trägt? Glaub’ Du es mir dreist, so etwas könnte eine wirkliche Kronprinzessin unbeschadet bei einem Hoffest tragen – nur hätte sie dann noch lange nicht das Aussehen unserer Brühlschen Haustochter. – Wie ist mir denn: hat Dich der Senator schon seinem früheren Socius und Intimus Grimm vorgestellt?“
„Nein – er hat mich nur seiner Frau und Tochter zugeführt!“
„Tochter! Mit welchem Gesicht er das sagt! So unschuldig, so gut und tugendreich! O, diese stillen Wasser! Nun, dann verlaß Dich darauf, Grimm kommt bald an die Reihe, der Senator macht ihm ja förmlich den Hof und versäumt es nie, ihm jeden neuen Gast zu präsentieren, als wäre sein einstiger Kompagnon das seltenste Schaustück des Hauses. Wart’ – kommt er da nicht? Ich wette, daß er Dich sucht!“
In der That spähte der Hausherr, der sich soeben von einer Gruppe von Offizieren losgemacht hatte, das Sperberhaupt hoch erhoben, aufmerksam durch den Saal, und als sein Auge endlich die Fensternische traf, kam er mit lebhaften Schritten darauf zu.
„Hierher haben sich die Herren zurückgezogen! Rechter Beobachterposten – wie? Lieber Hilt, Sie entschuldigen, wenn ich Ihnen Ihren Freund entführe – ich muß Sie, mein bester Herr Andree, durchaus meinem Hausfreund Grimm vorstellen, habe es bereits unverantwortlich lange hinausgeschoben, wurde von zu vielen Gästen in Anspruch genommen. Mein Freund Grimm hat schon nach Ihnen gefragt – er weiß von Ihnen – interessiert sich enorm für die Kunst – ist selbst bedeutender Kenner – passionierter Sammler – ich lege großen Werth auf sein Urtheil – sehr großen –“
Die letzte Bemerkung, die so klang, als wenn Herr Senator Brühl gleichfalls Maler wäre, stand etwas außer dem Zusammenhang. Der eifrig redende Herr hatte den Arm in den seines hochgewachsenen Begleiters geschoben und dirigierte ihn rasch vorwärts. Andree ließ ihn reden und ließ sich auch willenlos führen. Seine Augen flogen über die besternten Herren, die bunten Uniformen, die schön frisierten Damenköpfe weg und suchten Stella. Dort stand sie, den Prinzen neben sich, ein paar andere dienstthuende Kavaliere um sich herum, unter ihnen Ritter Kuno. Ein widerliches Gefühl überkam den Maler. Nein – es war doch nicht möglich! Dieser Vater, an dessen Arm er jetzt ging – am liebsten hätte Andree seine Hand fortgezogen – er konnte doch nicht gemein und niedrig genug denken, um sein schönes liebreizendes Kind an diesen Halbidioten zu verkaufen!
Herrn Grimm vorgestellt zu werden, war dem Maler ganz gleichgültig – was ging ihn dieser fremde Mann an?
Aber als er nun seiner ansichtig wurde und mit raschem Blick die anziehende Erscheinung mit dem weißen Haar und dem fast jugendlichen Gesicht musterte, da hielt seine Gleichgültigkeit nicht stand, und er nahm die hübsche schmale Hand, die Herr Grimm ihm wie einem guten Freunde entgegenstreckte, und schüttelte sie ganz gemüthlich.
„Also das sind Sie!“ sagte der weißlockige Herr lächelnd, ohne auf des Senators vorstellende Worte zu warten. „Sehr erfreut, Sie kennenzulernen – diesmal ist das wörtlich zu nehmen, nicht etwa als höfliche Redensart. Sie müssen nämlich wissen, wir sind eigentlich alte Bekannte, Herr Andree; seit zwei Jahren hängt da oben in meiner kleinen Sammlung ein ‚fischender Knabe‘ der Ihnen merkwürdig vertraut sein dürfte. Wollen Sie mir einmal die Ehre Ihres Besuches anthun und sehen, wie der ‚kleine Fischer‘ bei mir aufgehoben ist und in welcher Gesellschaft er sich befindet?“
„Wie, Bernhard, Du bist im Besitz eines Gemäldes von Herrn Andree?“ rief der Senator rasch dazwischen, ehe noch der Künstler Zeit fand, zu antworten. „Davon hast Du mir ja kein Wort gesagt, alter Freund!“
„Warum hätte ich das denn sollen?“ lautete die kühl verwunderte Gegenfrage, und die gemessene Art Grimms stach seltsam ab von der eifrigen Vertraulichkeit, die der Senator zur Schau trug. „Wir besuchen einander ja doch nur bei feierlichen Gelegenheiten!“
Brühl biß sich etwas verlegen auf die Lippe und schwieg.
„Also Sie waren es, der meinen ‚kleinen Fischer‘ gekauft hat!“ rief Andree während dessen lebhaft aus. „Ein Kommissionär hat mir’s damals vermittelt, und ich wußte nichts weiter, als daß das Bild nach Hambnrg gekommen sei. Wenn Ihre freundliche Einladung ebenso ehrlich gemeint ist wie Ihr Vergnügen, mich kennenzulernen, verehrter Herr, dann stelle ich mich gern und bald einmal bei Ihnen ein, denn ich möchte meinen pescatore wohl wiedersehen und ein wenig Umschau bei Ihnen halten, was Sie sonst noch haben!“
„Kommen Sie nur!“ rief Grimm vergnügt. „Und kommen Sie um fünf Uhr – da werden Sie doch zu Mittag gegessen haben, wie? Ich speise um zwei Uhr und halte dann gewöhnlich ein behagliches Schläfchen. Sie finden bei mir Blumen, Katzen und Bilder – eine gute Tasse Hamburger Mokka nicht zu vergessen, den meine alte Müller nach meiner Angabe brauen gelernt hat.“
„Vor allem finde ich doch Sie selbst!“ gab Andree zurück, dem Herr Grimm immer besser gefiel.
„Auf diese Einladung können Sie sich etwas einbilden, Herr Andree!“ warf Senator Brühl mit bittersüßem Lächeln dazwischen. „Es giebt wenig Leute, die zu dieser Ehre gelangen, und ich kenne manchen guten Mann in Hamburg, der sie für sich umsonst erstrebt!“
„Dann gefällt mir eben ‚der gute Mann in Hamburg‘ nicht, oder ich habe sonst meine Gründe, ihn nicht einzuladen. Im übrigen ist ja nicht viel bei mir zu holen für Leute, die nicht ihren ganz besondern Geschmack an Bildern, Katzen und Sonderlingen haben!“ Grimm sah bei diesen Worten den Senator mit einem ausdrucksvollen Blick seiner dunklen Augen an, der deutlich sagte: „Warum gehst Du denn nicht? Wir beide können Deine Gesellschaft ganz gut entbehren!“
Der Senator wäre entschieden nicht von selbst gegangen, wenn man ihn nicht geholt hätte. Aber ein Bedienter erschien im Auftrage seiner Gebieterin – Konsul White sei gekommen; so mußte sich der folgsame Gatte verabschieden.
„Konsul White? Ein bekannter Name!“ meinte Waldemar Andree nachdenklich. „Könnte es wohl derselbe sein, den ich mehrfach in Rom beim deutschen Botschafter getroffen habe? Damals hatte er Anwartschaft auf einen Konsulatsposten und besaß eine hübsche brünette Frau, die ich malte!“
„Die ist inzwischen gestorben, und er sieht sich nach der zweiten um!“ bemerkte Grimm trocken. „Diesmal soll sie nicht brünett sein! Immer vorausgesetzt, daß es derselbe Konsul White ist, den Sie meinen. Dieser hier ist lang und hager gerathen, trägt englische Bartkoleletten und einen Zwicker mit blaßblauen Gläsern, sieht aber vornehm aus.“
„Dann ist’s derselbe! Die Beschreibung paßt genau! Also Frau White ist gestorben? Das thut mir leid – ein so lebensfrisches junges Wesen! Was mag aus seinem kleinen Töchterchen geworden sein?“
„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Hier im Hause interessiert sich niemand für kleine Töchterchen, es wird ihn daher auch keiner danach fragen!“
[692] „Hm!“ Andree sah seinen Nachbar, dessen Stimme einen eigenthümlichen Tonfall angenommen hatte, von der Seite an. „Und Konsul White bewirbt sich um die Tochter dieses Hauses?“
„Ja – er bewirbt sich!“
„Und hat auch Aussicht?“
„Das weiß ich wirklich nicht!“ Herr Grimm schaute ausdruckslos vor sich hin, und seine Stimme klang noch eigenthümlicher als vorhin. Andree hatte das sichere Gefühl, daß dem alten Herrn dies Thema unangenehm sei – warum mochte es ihm aber unangenehm sein?
Ein heller, feiner Glockenton gab jetzt das Zeichen zum Beginn des Soupers. „Wir werden wahrscheinlich weltenfern voneinander zu sitzen kommen!“ versetzte Grimm hastig und reichte dem Maler die Hand. „Aber ich sage: auf Wiedersehen! Wenn nicht heute und hier, dann bald in meiner Behausung. Ich habe Ihr Wort – Sie kommen?“
„Ich komme bestimmt!“ entgegnete Andree und begab sich auf die Suche nach der jungen Hamburgerin, der er gleich bei seinem Erscheinen vorgestellt worden war und die seine Nachbarin bei Tisch werden sollte. Ein junges Dämchen wie hundert andere! Ganz niedlich anzusehen, ganz wohl gewachsen, nicht entstellt durch häßliche Uebertreibungen der Mode, ganz freundlich im Wesen, weder eigenartig noch unterhaltend, aber auch ohne weitgehende Ansprüche an ihren Kavalier – ein Persönchen, wie man es alle Tage treffen konnte.
Nicht alle Tage konnte man dagegen dem verschwenderischen Luxus begegnen, der in Genüssen aller Art entfaltet wurde und ganz dazu angethan war, den verwöhntesten Geschmack zu befriedigen. Es gab ein ausgezeichnetes Souper, dazu die auserlesensten Weine, und ein vortrefflich geschultes Orchester spielte Stücke aus unsern besten Opern.
Nicht gewöhnlich war ferner das Gegenüber, dessen der Maler sich erfreute. Mitten in dieser Atmosphäre von Pracht und Glanz hob sich die schöne Tochter des Hauses in so einzigartiger Weise ab, daß die vielen andern sehr hübschen weiblichen Gesichter neben ihr gar nicht in Betracht kamen. Sie war eben unvergleichlich! Andree sah, wenn er sich ein klein wenig vorbeugte – und er that das oft, er mußte es thun! – über einer bizarr geformten Silberschale, die mit vielfarbigen Rosen angefüllt war, das weiche helle süße Gesicht aus dem blendend weißen Nacken auftauchen, als sei es mitten aus den Blumen hervorgewachsen. Satter Goldton lag auf dem herrlichen Haar – am Nacken schimmerte es wie flüssige Bronze, um die Schläfen wob es sich mit röthlichem Schein. Bei jeder Wendung des Köpfchens trieb der Kerzenglanz ein neues Spiel mit diesen wunderbaren Farbentönen, und die von dichten schwarzen Wimpern und Brauen umschatteten Augen strahlten in reinstem Blau – groß und freudig leuchtend, wohin immer sie blickten. „Licht! Licht!“ rief es in Andrees Herzen stets von neuem – er schaute sein Bild, sein neues Werk, das sein bestes, sein schönstes werden sollte, deutlich, handgreiflich vor sich, und dort vor ihm, nur wenige Schritte von ihm entfernt, saß die Göttin, die den treibenden Gedanken in ihm entzündet hatte!
Sie hatte Konsul White zum Nachbar, auf ihrer andern Seite den Prinzen, dem eine Generalstochter als Dame gegeben worden war, die sich augenscheinlich in sein melancholisches Gesicht verliebte. Ihn rührte das wenig, er hatte nur Auge und Ohr für Stella Brühl.
War Stella kokett? Andree hatte sich vorgenommen, das festzustellen, sie scharf zu beobachten – sie hatte sich ja gebunden, sie konnte sich nicht für frei halten, er wollte ein strenger Richter sein, wenn sie die Probe nicht bestand, die er ihrer Treue gegen Werner Troost stellte. Aber es gelang ihm nicht. Der Künstler sprach in ihm und ließ den Beobachter und gar den Richter nicht zu Wort kommen. Umsonst mühte er sich ab, zu prüfen, zu erwägen; seine Augen tranken durstig diese Schönheit in sich, sein ganzes Sein war in Aufruhr, er hätte sich’s eingestehen müssen, wenn er mit sich selbst hätte ins Gericht gehen können, daß es um ihn geschehen sei.
Und die Wogen des Festes gingen höher, Tischreden und Tusch und Bravorufe erklangen; Andree feierte eine lustige Wiedererkennungsscene mit Konsul White und wurde in ein allgemeines Gespräch gezogen, da man allerlei aus Rom von ihm zu hören wünschte. Er gab dem bereitwilig Folge und hatte es nicht acht, daß der Prinz des öfteren die Stirn runzelte und in seinen Champagnerkelch starrte. Seine Durchlaucht verdroß es, daß dieser Maler, ein Mann ohne Amt und Titel, hier das große Wort führte und daß Stella ihm so gern zuzuhören schien. Ja, das that sie entschieden! Immer häufiger tauchte ihr Gesichtchen aus den Rosen heraus, sie lachte ein paarmal herzlich auf und bemerkte unbefangen, gegen den Prinzen gewendet: „Herr Andree weiß so hübsch zu erzählen, ich sehe und höre ihn heute zum ersten Mal in meinem Leben, und doch erscheint er mir wie ein guter Bekannter!“
Darauf antwortete der Prinz ein sehr ausdrucksvolles: „In der That, meine Gnädigste!“ und legte den bittend traurigen Ausdruck einer tief verwundeten Seele in seine Augen, dem sobald kein Frauenherz widerstand, wie er aus vielfacher Erfahrung wußte. Aber dies Mädchenherz mußte mit siebenfachem Erz gepanzert sein, Stella behandelte ihn um kein Gran anders als alle übrigen Herren – was war es nur mit ihr?
Andree bemerkte wohl, daß die junge Schönheit den Prinzen mit Seelenruhe schmachten ließ, und dies konnte ihm um Werner Troosts Andenken willen nur lieb sein. Allein er dachte schon kaum mehr an Werner Troost. Ohne daß er es wollte oder sich dessen klar bewußt war, hatte er sich selbst an dessen Stelle gesetzt und freute sich der Thatsachen, die ihm gefielen, um seines eigenen Ich willen.
Das Souper war beendet, man stand vom Tische auf. Mit der Ungezwungenheit, die das lange Beieinandersitzen und der Genuß guter Weine entschuldigt und begünstigt, schüttelte man einander kameradschaftlich die Hand, oder wenn es eine besonders schöne oder liebe Hand war, dann küßte man sie auch. Und Waldemar Andree ließ seine Dame, die er an ihren Platz zurückgeführt hatte, mit einer hübschen Verbeugung stehen, eilte auf Stella Brühl zu und hob diese schöne Hand zu seinen heißen Lippen empor.
Schmetternde Walzerklänge, unwiderstehlich mitfortreißend in ihrem wiegenden Rhythmus, riefen in den Tanzsaal, – und Andree, der sich mit einem tiefen Seufzer des Bedauerns gestand, daß er ja nicht tanzen könne, schlenderte langsam in den Nebensaal, dann in ein daranstoßendes Gemach und von dort bis zum Wintergarten, der jetzt gänzlich vereinsamt war. Ließ er den Blick nach rechts schweifen, so gewahrte er durch die bis zur Wand zurückgeschobenen Thüren den bunten Wirbel der tanzenden Paare, links aber eine grüne, von blühenden Blumen durchflochtene Mauer, die den Eingang zum Wintergarten verdeckte.
Andree stand im Begriff, die blühende Wand zu umgehen, als er plötzlich lauschend stehen blieb. Es war ein Laut an sein Ohr gedrungen, ein langgezogener Seufzer, dem ein leises Schluchzen folgte. Befremdet sah er sich um: wer weinte hier in diesem Haus festlicher Freude? Vorsichtig auf den Fußspitzen näher schleichend, bog er um die Ecke und erblickte nun den Wintergarten vor sich, einen reizenden, ziemlich großen Raum – zierlich sich schlängelnde, mit feinem Sand bestreute Wege, hohe Boskette blühender Pflanzen, zu gefälligen Gruppen zusammengestellt, ernste Lorbeerbäume, Palmen und Agaven, dazwischen kleine silberfunkelnde Springbrunnen, aus zierlichen Becken emporsteigend, während farbige Lampen, in Gestalt von Tulpen, Lilien und Rosen aus dem Grün hervorschimmernd, ein sanftes buntes Licht ausstrahlten. Hier und da war aus einem Baumstamme, aus weißen Birkenästen ein hübsches Sitzplätzchen hergestellt, und in den Bosketten steckten zahlreiche lose Blumen und feine Früchte, welche die aufmerksamen Kavaliere hier für ihre Damen pflücken konnten.
Inmitten dieses malerischen Bildes, neben einem der Springbrunnen, stand ein dunkel gekleidetes Madchen, dem ein mächtiger brauner Zopf lang über den Rücken herabhing; es hatte das Gesicht in beide Hände gedrückt und weinte. –
Waldemar Andree wußte sofort, wer es war, und sein ohnehin erregtes Herz empfand halb Mitleid ha1b lächelnden Spott beim Anblick dieses kindischen Schmerzes, dessen Ursache er ohne Mühe errieth. Ohne sich weiter zu besinnen, that er ein paar auf dem weichen Sandboden unhörbare Schritte, legte seine Hand leicht auf das dicke Haar und sagte mit seiner tiefen treuherzigen Stimme:
„Wer wird denn so bitterlich weinen, Fräulein Gerda? Nur hübsch Geduld, unsere Zeit wird auch kommen und zwar bald!“
Alle Rechte vorbehalten.
Zu Rudolf Virchows siebzigstem Geburtstag.
Am 13. Oktober 1821 wurde Rudolf Virchow zu Schivelbein in Hinterpommern geboren. Man darf sich getrost zu den Gebildeten zählen, ohne von dem kleinen freundlichen Landstädtchen mehr als den Inhalt des obenstehenden Satzes zu kennen, und darf deshalb einem Ortskundigen verzeihen, wenn er hinzufügt, daß Schivelbein weder am Meeresgestade noch am Fuße romantischer Höhenzüge, sondern in flacher Ebene gelegen ist, daß daselbst in geschichtlicher Zeit niemals entscheidende Schlachten geschlagen wurden und daß aus vorgeschichtlichen Zeiten keine Sage von Riesen oder Berggeistern und ihren Wunderthaten an dieser Stätte zu berichten weiß. Als Geburtsort für Dichter oder Künstler dürfte Schivelbein daher recht ungeeignet erscheinen, dagegen paßt es mit seiner schlichten Umgebung gut zur Vaterstadt eines Mannes, welcher sein Leben in den Dienst der Wissenschaft und des Volkswohles gestellt hat. Denn auf diesen beiden Gebieten wird im 19. Jahrhundert niemand ein großer Mann, der die Welt nur mit dem begeisterten Auge des Dichters schaut und Menschen und Dinge betrachtet, wie sie sein könnten, sondern bloß der, welcher ruhig, kühl und mit heiligem Ernste prüft, wie sie thatsächlich sind – und Rudolf Virchow ist ein großer Mann geworden; ich darf dafür einen geistig Großen dieses Jahrhunderts als Zeugen anführen, den Fürsten Bismarck, der trotz seiner tiefen politischen Gegnerschaft Virchow einen Mann nannte, auf den das deutsche Vaterland stolz sein dürfe. Diese Anerkennung aus diesem Munde konnte naturgemäß nur dem Gelehrten gelten, denn über die Wege, welche zur Sicherung des Staates, zur Vertheilung von Rechten und Pflichten im Volke und zur Begründung der Volkswohlfahrt einzuschlagen seien, haben sich diese beiden Männer niemals geeinigt.
Wer aber verstehen will, welche Gaben den Sohn des Schivelbeiner Syndikus befähigt haben, eine solche Anerkennung zu verdienen und eine Bedeutung zu gewinnen, welche jeden Ruhm überragt, den ein deutscher Professor der Medizin jemals erworben hat, der muß nicht etwa die Schulzeugnisse des fleißigen sprachgewandten Knaben mit dem bewundernswerthen Gedächtniß studieren, um die Quelle für diese Sonderstellung aufzuschließen, sondern er muß das Buch der Zeiten befragen, die Gestirne am Himmel der engeren Wissenschaft erforschen, welche das Horoskop des jungen Gelehrten bestimmt haben. Dann wird er erfahren, daß das Geburtsjahr Virchows, 1821, noch dem dunklen, gewissermaßen mittelalterlichen Zeitabschnitt der Medizin angehörte, daß sich aber gegen das Jahr 1839 hin unter dem Dreigestirn Johannes Müller, Theodor Schwann und Matthias Jakob Schleiden der Anbruch einer neuen Zeit vorbereitete, welche einem reichbegabten, hochstrebenden und zugleich äußerst skeptisch veranlagten Geiste ungewöhnliche Früchte verheißen konnte. In diesen beginnenden Umschwung fielen die Studienjahre Virchows, als Student erlebte er den Aufgang der wissenschaftlichen Medizin, er sah mit eigenen Augen, wie aus dem Nebel tausendjähriger dogmatischer Zunftweisheit, aus naturphilosophischer Tüftelei und blindem Autoritätenglauben sich ein Kern guter, methodisch gewonnener und zuverlässig begründeter Beobachtungen auf dem Gebiete der Botanik und der Anatomie zu einer Theorie verdichtete, welche alsbald der erstaunten Zopfwelt zeigte, daß die Heilkunde einen Theil der Naturwissenschaft bilde, daß nur derjenige berufen sei, in der Heilwissenschaft das Wort zu führen, der zu beobachten, zu vergleichen, zu sichten und Gesehenes zu deuten gelernt habe.
Die Aerzte des 18. Jahrhunderts stritten sich um die Auslegung Galenscher Schriften, sie lernten die geheimnißvollen Naturanschauungen des Paracelsus, sie hielten vor allem an der Hippokratischen Lehre fest, daß im menschlichen Körper vier Säfte (humores) vorhanden seien, welche einander das Gleichgewicht halten sollten: das Blut (sanguis), der Schleim (phlegma), die Galle (cholè), die schwarze Galle (melas cholè), und sie glaubten, daß das Ueberwiegen eines dieser Grundsäfte je nachdem in dem sanguinischen, phlegmatischen, cholerischen oder melancholischen Temperament zum Ausdruck gelange. Die Gesundheit stelle die richtige Mischung (eukrasia) dar, die Krankheiten seien aus einer fehlerhaften Säftemischung (dyskrasia) zu erklären. Diese, „Humoralpathologie“ benannte Auffassung vom Wesen der Krankheiten beherrschte noch in den dreißiger Jahren die Medizin; von der Zusammensetzung und dem Verhalten der einzelnen Körpergewebe bei Krankheitszuständen besaß man nur außerordentlich dürftige Kenntnisse. In jene Zeit fallen nun die Entdeckungen von Schleiden und Schwann, welche die Zelle als die – einstweilen – kleinste lebende Einheit im Pflanzen- und Thierkörper erkannten; bald folgte die Anwendung dieser Lehre auf die Anatomie und Physiologie des menschlichen Organismus durch Johannes Müller.
Unter den begeisterten Schülern dieses großen Meisters saß in jenen denkwürdigen Jahren der junge Rudolf Virchow, und er ist es in der Folge gewesen, welcher die neue Kunde vom zelligen Aufbau normaler und krankhaft veränderter Organe zu ihrer höchsten Ausbildung erhoben hat. Nicht mehr die Säfte des Hippokrates, sondern die Zellen wurden von jetzt an als die Herde des Lebens betrachtet, aus ihnen setzen sich das Bindegewebe, Fett und Muskeln, Knorpel, Knochen, Drüsen, Blutgefäße, ja Gehirn, Rückenmark und Nerven zusammen, und diese Kenntniß vom normalen Bau der Körpertheile hat durch Virchow eine überaus fruchtbringende Bereicherung erfahren.
Sein eigentliches Feld aber wurde die Pathologie; er erforschte die Krankheiten auf Grund der Veränderungen, welche die erkrankten Organe und die sie bildenden Zellengruppen aufweisen, er erkannte, daß auch im Krankheitszustande die Zellen leben, sich ernähren und vermehren, daß jedoch diese Ernährung entweder abnorm gesteigert oder herabgesetzt ist. Im ersten Falle bilden die Zellen krankhafte Stoffwechselprodukte, entzündliche Anschwellungen mannigfacher Art oder Wucherungen, deren höchsten Grad die bösartigen Gewächse darstellen; im zweiten Falle gehen Theile der Organe vorübergehend oder dauernd verloren, die Thätigkeit wird gestört, bei lebenswichtigen Organen wie beim Gehirn kann selbst eine nur minutenlange Ernährungsstörung den Tod herbeiführen. Es ist heute fast in Vergessenheit geraten, daß auch die Entstehung der krebsigen Gewächse früher als eine Abscheidung schädlicher Säfte vom Blute her angesehen wurde, und daß erst Virchow gezeigt hat, jeder Krebs sei zuerst nur eine örtliche Wucherung von Zellen und man könne diesen Krankheitsherd entfernen, ja müsse ihn so frühzeitig als möglich entfernen, bevor die Wucherung sich ausbreite und den Kräfteverfall herbeiführe, welchen man noch heute mit „Krebsdyskrasie“ bezeichnet. Wenn also heute bei Tausenden von Krebskranken mit glücklichem Erfolge das Gewächs frühzeitig entfernt wird, so sind diese Heilungen ein Gewinn Virchowscher Gedanken, welche er nicht ohne erbitterte Kämpfe zum Gemeingut aller Aerzte gemacht hat.
Früher gab es eine Dyskrasie, die Wassersucht, welche auf krankhafter Zunahme des Schleimes (phlegma) beruhen sollte; Virchow wies nach, daß auch dieser Dyskrasie örtliche Ernährungsstörungen in den Nieren, in Herz oder Leber zu Grunde liegen, und daß jede Dyskrasie nicht als die Ursache, sondern erst als die Folge irgendwelcher Zellenerkrankungen und der Aufnahme krankhafter Stoffwechselerzeugnisse in die Blutbahn zu betrachten sei. Dies die Grundzüge der Virchowschen „Cellularpathologie“, der Siegerin über die Traditionen des Alterthums; sie beruht auf naturwissenschaftlicher Beobachtung, die Humoralpathologie auf deduktiv gewonnenen Dogmen.
Diese ungeahnte Erweiterung der medizinischen Kenntnisse hatte nun schon in ihren Anfängen die Folge, daß die bestehenden bescheidenen Prosekturen der Kliniken sehr bald in selbständige Lehrstühle der von Virchow in Berlin vertretenen pathologischen Anatomie und ihrer abstrakten Darstellung, der allgemeinen Pathologie, verwandelt wurden. Virchow selbst wurde 1849 nach Würzburg zu einer solchen Professur berufen, er fand begeisterte Hörer und Schüler, und schon hier, besonders aber als er 1856 nach Berlin zurückgekehrt war, wurde er die Seele einer Schule, aus welcher eine Reihe von akademischen Lehrern in den verschiedensten Gebieten der Medizin hervorgegangen ist.
Alles dies erklärt indessen noch nicht die außerordentliche Volksthümlichkeit des gefeierten Pathologen. Die Thätigkeit des pathologischen Anatomen an deutschen Hochschulen bringt es mit [695] sich, daß er Krankheits- und Todesfälle jeder Art beurtheilen muß, daß er heute mit dem Lehrer der inneren Medizin über Herz- und Lungenkrankheiten, morgen mit dem Chirurgen über die Folgen schwerer Knochenbrüche verhandelt, daß er über Wochenbettfieber und seine Ausgänge, über Geisteskrankheiten, Vergiftungen und gewaltsame Todesarten jeder Art unterrichtet sein muß. Zu einer Zeit nun, wo alle diese Fächer erst mit einem wissenschaftlichen Inhalt gefüllt werden sollten, wo es keine Spezialärzte und keine Fachlitteratur im heutigen Sinne gab, da brachte jeder Tag neue Entdeckungen; es mußte eine Zeitschrift (Virchows „Archiv“) begründet werden, um alle Beobachtungen zu sammeln, in der medizinischen und geburtshilflichen Gesellschaft in Berlin mußten die neuen Lehren gegen die alten Vorurtheile unter Vorlegung der Beweismittel vertheidigt werden, und so wurde Virchow der Lehrer – nicht nur der heranwachsenden Generation, sondern aller zur Zeit am wissenschaftlichen Leben betheiligten Aerzte überhaupt. Erst in den nächsten zwei Jahrzehnten nach 1856 ist die Abtrennung der medizinischen Spezialfächer zu ihrer heute erreichten Vollendung gediehen, die reiche wissenschaftliche Ausbildung jedes dieser Fächer ruht aber noch heute auf den Grundlagen, welche Virchow geschaffen hat, er ist der geistige Mittelpunkt geblieben, um welchen sich alle Vertreter der einzelnen Disciplinen willig gruppiert haben, er hat unausgesetzt die deutschen Aerzte angeregt, ihre Beobachtungen zu verwerthen und mitzuarbeiten an dem großen Werke der Wissenschaft, das doch in letzter Linie bestimmt ist, Menschenwohl und Menschenliebe zu fördern.
An dieser hohen Aufgabe mitzuwirken, haben alle Menschen das Recht, und Rudolf Virchow hielt sich nicht für so erhaben, um sich gegen die weiten Kreise der Laien abzuschließen; er eröffnete durch seine im Verein mit Holtzendorff herausgegebene Sammlung populärer Vorträge einem jeden die Möglichkeit, in das neue Reich des Geistes einzuziehen und den Aberglauben vergangener Kulturperioden für sich zu besiegen. Darin liegt das Geheimniß, daß überall im deutschen Volke Rudolf Virchow gekannt ist: er hat für die populäre Belehrung bahnbrechend gewirkt, und wenn auch mancher Beitrag über medizinische Fragen, der heute in den Tagesblättern erscheint, eine etwas rußende Fackel ist, so leuchtet sie doch immerhin, und wir dürfen nicht anstehen, den Fortschritt, welchen die allgemeine Antheilnahme an der Gesundheitspflege unter der Einwirkung Virchows genommen hat, als einen geradezu gewaltigen schon jetzt mit Dankbarkeit anzuerkennen.
Im engsten Zusammenhange mit dieser weit umfassenden Thätigkeit auf dem Gebiete der Pathologie steht das so oft verkannte Bestreben Virchows, seine Erfahrungen auch praktisch dem allgemeinen Wohle nutzbar zu machen. Seine Untersuchungen über den Hungertyphus in Oberschlesien, über die Noth im Spessart, über die Choleraepidemien, über Kriegstyphus, Diphtheritis, Pocken, seine Sterblichkeitsstatistik, seine Arbeiten über Krankenhäuser, Kriegsheilkunde, über Städtereinigung, Abfuhrwesen und Kanalisation, über Schulhygieine, gerichtliche Medizin, über Trichinen und andere Thierkrankheiten – das alles legt ein beredtes Zeugniß dafür ab, daß auf dem Gebiete der praktischen Gesundheitspflege kein Gelehrter von gleich umfassender und gleich fruchtbarer Thätigkeit unter den Lebenden weilt. Die großen wissenschaftlichen Verbesserungen, welche im preußischen Sanitätscorps zur Durchführung gelangt sind, haben an Virchow immer eine Stütze und Förderung und auf dem X. Internationalen ärztlichen Kongreß eine aufrichtige Bewunderung erfahren; die hervorragendsten Vertreter der vergleichenden Pathologie, die Lehrer der Thierarzneikunde sind großentheils bei ihm in die Schule gegangen. Wer sich aber in die erwähnten Arbeiten aus diesen praktischen Gebieten vertieft, der begreift erst, was den über alles Maß beschäftigten Mann reizen konnte, fortdauernd als Stadtverordneter an der Ausführung der Berliner öffentlichen Bauten am Friedrichshain, in Dalldorf, am Urban, an den Arbeiten über Wasserversorgung und Kanalisation theilzunehmen, denn diese Thätigkeit gab immer wieder die neuen Anregungen zu weiteren Untersuchungen, zur Erschließung neuer Forschungsgebiete, und sie gab jenen Lohn, ohne welchen der glühendste Ehrgeiz schließlich verglimmen muß: den Erfolg – einen Erfolg nicht in Gold und äußeren Ehren, sondern in dem erhebenden Gefühl, für das Wohl der Mitbürger etwas vorwärts gebracht zu haben.
Nach anderem Lohn hat Rudolf Virchow nie getrachtet; er hat sich einem Forschungsgebiete zugewandt, welches keine Schätze verleiht; er hat seine Nächte den Arbeiten der wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen und anderen Aemtern gewidmet, nicht um hohe Gunst und die sonst üblichen Rangerhöhungen zu erwerben, denn deren bedarf er nicht. Er hat eine Arbeitskraft, welche vielleicht für sich allein die durchschnittliche Leistungsfähigkeit eines wissenschaftlichen Forschers repräsentiert, auf Schädelmessungen und Studien über die Menschen und Völker der vorgeschichtlichen Zeit verwendet, ohne etwas anderes zu erstreben als das stolze Bewußtsein, auch auf diesem Wissensgebiete der deutschen Geistesarbeit unter den Kulturvölkern Anerkennung erworben zu haben.
Selbstlos und prunklos ist Virchow durch ein arbeitsvolles Leben gegangen, stets bereit, im Kampfe für Wahrheit und Recht gegen jeden seine ehrliche Ueberzeugung zu vertheidigen, bereit aber auch, einen Irrthum freimüthig zuzugestehen.
Virchow hat oftmals den menschlichen Körper mit einem Staate verglichen, in welchem die Zellen die einzelnen Staatsangehörigen sind, welche sich zu gemeinsamem Wirken in Organe und Systeme vereinigen, welche alle dem einen Zwecke, der Erhaltung und höheren Vervollkommnung der Gesammtheit, dienstbar sind, welche aber innerhalb dieser Pflichten einen breiten Spielraum für ihre eigene Freiheit und Unabhängigkeit beanspruchen dürfen.
Von diesem Gesichtspunkte aus ist Virchow als Mann, als Gelehrter und als Volksvertreter zu beurtheilen; er ist seinen Verbindlichkeiten gegen die Gesammtheit mit einer vorbildlichen Pflichttreue nachgekommen; er hat ein Leben als Volksanwalt hinter sich, an dem auf lichtem Grunde kein Fleckchen haftet.
Wer aber das Glück gehabt hat, diesen Mann in seinem Heim oder als Lehrer und Freund in gemeinsamer Arbeit schätzen und lieben zu lernen, der hat erfahren: er ist nicht nur ein großer, sondern ein echter deutscher Mann, ein Mann, von dem man versucht sein könnte mit dem Dichter zu sagen:
„So ringt sich aus der Menschheit Schoß
Jahrhundertlang kaum einer los.“
Paul Grawitz.
Alle Rechte vorbehalten.
Die Namenlosen.
Das Gehöft lag ungefähr eine Stunde oberhalb der kleinen Ortschaft, auf freier Hochebene, wo die Frucht nur noch in kurzen Halmen gedieh und die Kartoffeln nie über den Zustand der Käsigkeit hinauskamen. Aber die beiden Kinder, welche im Schatten einer mächtigen Buche ihr Wesen trieben, machten mit ihren sonnverbrannten Gesichtchen und rundlichen Händchen den Eindruck vollkommensten Gedeihens.
„Weißt,“ meinte das schlankere und zierlichere der beiden ganz gleich großen Mädchen, „weißt, Podenzl, jetzt bauen mir die Schul’ –“
„Aber mir haben ja zuerst ’s Ort bauen wollen, Podagratzl,“ sagte die Angeredete, mit dem Ausdruck kummervoller Bedächtigkeit die Händchen über den runden Magen faltend.
„Nein, zuerst kommt die Schul’,“ ereiferte sich Podagratzl, „und dann bin ich der Herr Lehrer; aber dazu muß ich den Dreck nasser haben – lauf’ Podenzl und hol’ mir ein bißle Wasser!“
Das Podenzl besann sich einen Augenblick, dann ging es mit seinem Blechgeschirr zum nahen Brunnen, das Verlangte zu holen; langsam und nachdenklich kam’s mit dem Wasser zurück.
„Weißt was jetzt,“ rief ihr Podagratzl schon von weitem entgegen, „jetzt bau’ ich die Kirch’, und dazu brauch’ ich einen Haufen Stein’ –“
„Aber Podagratzl,“ greinte Podenzl, „du hast doch wollen die Schul’ bauen.“
„Ja, aber die Kirch’ ist schöner, geh’, hol’ mir die Stein’ zusammen, Podenzl, ’s pressiert.“
Podenzl schaute betrübt über die Fruchtlosigkeit seiner Bemühungen in das Blechschüsselchen, leerte dessen Inhalt mit einem [696] Seufzer auf die Erde und machte sich an das Suchen der Steine.
In dieser Weise ging das Spiel fort; Podagratzl hatte immer die Ideen, Podenzl führte sie aus und hielt stets noch an der ersten fest, wenn Podagratzl längst an der vierten war.
In ihrer Unschuld ahnten sie nicht, welch’ schweres Verhängniß sich unterdessen über ihren jungen Häuptern zusammenzog.
Drinnen bei der Bäuerin saß die Nachbarin, trank eine Schale Kaffee um die andere und hörte dafür mit unermüdlicher Geduld die jammervollen Auseinandersetzungen der Bäuerin mit an, die einen völlig abgegriffenen Kalender vor sich liegen hatte, den ihre großen derben Hände krampfhaft umfaßt hielten, während ihr rundes gesundheitstrotzendes Gesicht in Thränen schwamm.
„Da schaut her,“ meinte sie, auf ihren Kalender weisend, so hat sich noch keiner da drin verstudiert wie ich, aber ’s hilft nix, ich kann halt die Namen nit finden, ich kann die Schreibnamen vom Podagratzl und Podenzl nit rausfinden. Und jetzt ist Ostern vorbei, und ich hab’ den dritten Zettel kriegt, daß die Kinder in die Schul’ müssen, und wie soll ich sie denn in die Schul’ schicken, wenn ich ihre Namen nit weiß und nit aufschreiben kann? So eine Schande darf ich doch auf die Eltern von meinen Kindern nit laden! ’S ist halt damals gar so drunter und drüber ’gangen bei der Sach, denn man verschreckt doch, wenn auf einmal zwei Kinder kommen statt einem. Hernach bei der Taufe, wie’s so geht, ist der Mann vorher im Wirthshaus drunten einkehrt, und mir war’s heiß vom Weg, da hab’ ich halt auch ein paar Schluck ’trunken, und wie wir vor dem Pfarrer stehen, hat er’s grad’ so eilig, weil noch eine Leich’ war, und wie’s heißt: ‚wie sollen die Kinder heißen?‘ bringt der Mann nix raus, und ich war so verschrocken, daß ich halt auch nix ’rausbring’ – da hat der Herr Pfarrer gesagt: ‚Nehmen wir denn zwei Kalenderheilige,‘ und nimmt so zwei kuriose Namen und wir können’s halt nur halb verstehen. Und nun will’s Unglück, daß der Mann mit dem Taufschein’ noch einmal ins Wirthshaus geht, und wie er heimkommt, hat er bei Gott den Hut mitsammt dem Taufschein verloren, und jetzt sitz’ ich da mit dem Kreuz und fang’ ich dem Mann davon an, gleich sagt er, ich verleid ihm 's daheim sein, und rennt mir ins Wirthshaus – o Ihr armen Tröpfle!“ schluchzte sie beim Anblick ihrer Kinder auf, die eben mit allen Zeichen innerer Aufgebrachtheit über die Schwelle stürzten und nach der Mutter schrieen. Die Thränen auf dem kugelrunden Gesicht der Bäuerin machten sie verstummen; Podagratzl sprang der Mutter auf die Kniee, Podenzl schmiegte sich an ihren Arm, und beide heulten mit der Mutter um die Wette.
Die Nachbarin ließ sich in ihrem Kaffeegenuß nicht stören, aber sie gab zu: „Ja, es ist schon ein Kreuz, ein schweres, wenn man seinen eignen ehrlichen Namen nit einmal weiß.“
„Und wie mich das Denken angreift,“ schluchzte die Bäuerin, „das glaubt kein Mensch; o wenn mir doch jemand sagen könnt, was ich thun soll!“
„Wartet nur“, tröstete die Nachbarin, „’s wird mir schon was einfallen, wenn ich den Kaffee noch eine Weil’ riech’ –“
Die Bäuerin fiel über die Kanne her und beeilte sich, die leere Tasse des Besuchs von neuem zu füllen.
„Ich hoff’, er ist gut,“ meinte sie.
„Hm, die Milch könnt’ besser sein,“ lautete die Antwort, „und der Kaffee ist noch schlechter.“
„Mutter,“ fiel Podagratzl der Nachbarin in die Rede, „warum weinen mir denn, Mutter?“
„Hör’ einer das unvernünftig’ Kind,“ seufzte die Bäuerin, „weil ich Eure Namen nit weiß, von was reden mir denn sonst!“
„Aber der Vadder weiß sie,“ behauptete Podagratzl.
„Der weiß sie auch nit, dummes Kind, einfältiges, sonst wär uns ja geholfen.“
„Aber der Herr Pfarrer,“ beharrte Podagratzl, „der weiß alles.“
„Jesus Maria,“ polterte die Bäuerin, „was ich mit dem Kind aussteh’! Ich werd’ zum Herr Pfarrer laufen und ihm sagen, ich wisse die Namen von meinen Kindern nit – ja,“ seufzte sie auf, „wenn ich ins Kirchenbuch schauen dürft’, da steht’s drinnen, wie jedes getauft ist.“
„Mutter,“ fiel ihr Podagratzl ins Wort, „so hol’s Kirchenbuch!“
„Um Gotteswillen, was ist das nit, jetzt mußt halt Schläge haben, Kind, denn für gottlose Reden kann’s nix andres geben!“
Und die Bäuerin führte ihr Vorhaben aus, indeß die Nachbarin ein wenig den Hals reckte, um in die große Kaffeekanne schauen zu können; da sie dieselbe leer fand, erhob sie sich zum Gehen.
„Ja, und einen Rath wißt Ihr nit?“ fragte die Bäuerin.
„Ich will in Gottesnamen morgen wiederkommen,“ lautete die Antwort: „wo ein Unglück ist, da kehr’ ich allweil gern ein, ’s ist noch ’s Unterhaltlichst’ auf der Welt, wo man sonst so wenig hat. Aber der Kaffee dürft’ ein bißle stärker sein; behüt’ Gott beinand’!“
Und die Nachbarin schritt davon.
„Mutter. geh’, wein’ nit!“ bat’s Podenzl.
„Gelt Mutter, lach wieder!“ schmeichelte Podagratzl, der noch die Thränen von den Schlägen über die Wangen liefen.
Die Bäuerin fuhr sich mit dem Rücken der Hand übers Gesicht. „Ich muß jetzt aufs Feld, dem Vadder helfen, spielt und seid brav bis zum Abend!“ Mit diesen Worten nahm sie ihr Kopftuch, schnitt jedem der Kinder ein Stück Brot vom Laib und schritt dann über die Wiese, hinter der die Sonne sich schon in die gelben Kornähren senkte, die Bäuerin in ihrem rothen Kopftuch mit einem goldenen Lichtmeer übergießend.
Die Kinder schauten ihr lange nach, die Augen mit den Händchen beschattend; plötzlich sagte Podagratzl:
„Du, mir holen der Mutter ’s Kirchenbuch, dann weint sie nimmer.“
Podenzl war so erstaunt über die Größe dieses Vorhabens, daß sie eine volle Minute brauchte, bis sie imstande war, die neue Idee in sich aufzunehmen. Dann nickte sie: „Ja, daß sie nimmer weint,“ nahm die Schwester bei der Hand, und unverzüglich machten sie sich auf den Weg.
Da Podenzl mit ihren drallen Beinchen etwas schwer auftrat, Podagratzl aber mit ihren flüchtigen bloßen Füßchen kaum [697] den Boden berührte, so ließen sie sich nach kurzer Zeit los, und jedes wandelte in seinem eigenen Tempo den leise sich neigenden Berg hinab.
Plötzlich flog über den Weg ein Schmetterling, auf dessen Flügel die untergehende Sonne einen glänzenden Schimmer warf. Den Sommervogel sehen und ihm nachsetzen, war für Podagratzl das Werk eines Augenblicks, während Podenzl am Wege stehen blieb und über die Verzögerung der wichtigen Angelegenheit sich tief unglücklich fühlte. All ihr Rufen und Warnen half nichts, das leichtsinnige Podagratzl war im tollsten Zickzacklauf hinter dem Schmetterling her, schrie und jubelte und konnte nicht genug kriegen, bis es mit einem Mal strauchelte und auf der Erde lag. Nun kam das bedächtige Podenzl angewackelt; die Hände über dem Magen, pflanzte es sich vor der schreienden Schwester auf.
„So, da hast Du’s, warum bist Du so dumm – ja, was mir für eine Noth haben mit Dir. Jetzt mach’ und steh’ auf, sonst sind mir noch nit daheim mit dem Kirchenbuch, bis die Mutter kommt.“
Da schnellte Podagratzl in die Höhe. „Jesus, das hab’ ich ganz vergessen!“
Und nun ging’s für eine Weile in schönster Eintracht weiter, bis plötzlich Podagratzl eine große wurmstichige Kartoffel entdeckte.
„O schau, Podenzl, dem machen wir einen Leib und eine Nas’, dann haben mir ein Püpple, gelt, Du gehst und holst mir das Holz dort, wann ich recht schön bitt’?“
Aber Podenzl rührte sich nicht von der Stelle, sondern nagte in stillem Groll an der Unterlippe, wohl wissend, daß es gegen die Einfälle der Schwester nicht aufzukommen vermochte.
Podagratzl wartete ihre Willfährigkeit nicht ab, holte selbst herbei, was sie für ihre Zwecke nöthig hatte und ging mit großem Eifer an die Herstellung ihrer Puppe. Hierauf schlug sie mit dem Ausdruck stiller Seligkeit ihr kurzes Unterröckchen um die traurige Gestalt, die unter ihren Händen entstanden war, und wiegte sie zärtlich hin und her.
„Ei ja“, frohlockte sie, „jetzt habe ich ein gar schön’s Püpple.“
„Nein“, sagte das unglückselige Podenzl, „es ist kein schön’s.“
Da flog ihr die Kartoffelpuppe an den Kopf, und im nächsten Augenblick gab’s ein großes Geschrei, Gezause und Gebalge, dann wollte jedes in anderer Richtung zur Mutter heim.
„So, so,“ schluchzte Podenzl, „und jetzt kriegt sie auch ’s Kirchenbuch nit, und das geschieht Dir recht!“
Podagratzl war wie aus den Wolken gefallen.
„Und doch kriegt sie’s“, erklärte sie, packte Podenzl herrisch bei der Hand, und nun ging es im Galopp den Berg vollends hinab.
Inzwischen war der Vollmond am Himmel erschienen, es dunkelte stark, und im Dörflein war weder ein Huhn noch ein Mensch mehr unterwegs; nicht einmal in dem der Kirche gegenüber liegenden Spittelhaus brannte noch ein Licht. Nur der alte, im Ruhestand und im Spittel lebende Gemeindediener Peter Schnell, der seiner Gichtschmerzen wegen nicht schlafen konnte, war noch auf, lag mit der Tabakspfeife unter dem Fenster und ließ sein kahles Haupt vom Mond bespiegeln. Der alte Mann sah gerade in eines der Kirchenfenster, das offen stand und in das der Mond einen silbernen Streifen sandte. Mit einem Male wurden die Augen Peter Schnells um ein Gehöriges größer, er nahm die Pfeife aus dem Mund und streckte sich, so weit es ging, aus dem Fenster.
„Heiliges Kreuz!“ murmelte er, „da drin regt sich was!“
Er rieb sich die Augen und blickte wieder hin.
„Freilich regt sich was – heiliges Kreuz!“
Jetzt hing er die Pfeife an einen Nagel, stülpte sich eine Zipfelkappe über die Ohren und holte seinen Rock aus der Ecke. Dort hinten standen zwei Betten, und in einem schnarchte einer.
„Du, Birzel!“ schrie ihn der Gemeindediener an, „steh’ mal auf!“
Der also Angerufene schnarchte ruhig weiter.
„Heiliges Kreuz, aufstehen sollst!“ schimpfte Peter und nahm seinen Stock zu Hilfe. Darauf hin hörte das Schnarchen auf, Birzel erwachte und ließ sich verständigen. Nachdem er sich angekleidet hatte, hampelten die beiden auf die Gasse.
Die Hilfe, die sich der gichtbrüchige Gemeindediener geholt hatte, bestand aus einem kurzen, runden, einarmigen Mann, der an Athemnoth litt.
„Wenn ein Kerl in der Kirch ist, den will ich gleich haben“, erklärte dieser, „nur gesehen muß ich ihn haben – da stell Dich einmal vors Fenster, Peter, und halte Dich fest, ich steige Dir schnell auf die Schulter.“
Als das dem Birzel nach einer längern, höchst mühseligen Turnerei gelungen war und er einen Blick ins Innere der Kirche gethan hatte, kam er nicht eben sanft und mit dem erstauntesten Gesicht auf den Erdboden herab.
„Nun, hast Du’s gesehen?“ fragte Peter Schnell und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
„Ich werd’s nit gesehen haben!“ entgegnete Birzel. „Was das aber ist, das ist kein gewöhnlicher Mensch, sag’ ich Dir, das geht ja hoch über den Altar ’naus und hat einen Kopf wie ein gespaltener Kürbis; mit so einem bandl’ ich nit an, ja, wenn’s einer wär’ wie ich oder Du – aber so nit.“
Da standen sie und kratzten sich hinter den Ohren.
„Wenn wir nit die einzigen Mannen im Spittel wären,“ meinte Peter, „so könnt’ man sich zusammenthun.“
„Das kann man doch“, erklärte Birzel, „indem man einfach die Weiber vorausschickt, denn wenn was passiert, für die ist’s kein Schaden.“
„Das ist richtig“, gab der Gemeindediener zu und schlug Lärm im Spittel.
Es dauerte nicht lange, da kam’s aus dem baufälligen Hause gehinkt und gewankt, und ein halbes Dutzend alter Weiber fragte und schrie durcheinander. In Zeit von einigen Minuten stand’s fest, in der Kirche spukten langmächtige Geister, die mit den Köpfen bis an den Thurm hinauf ragten, und sie hatten’s auf nichts weniger als auf das Opfergeld abgesehen. Als jedoch die zwei Mannen den Weibern zumutheten, den ersten Schritt in den Ort des Schreckens zu wagen, gab’s große Meinungsverschiedenheit. Sie standen, in schnell übergeworfenen Kleidern dicht aneinander gedrängt, vor der Kirchenpforte, redeten wirr durcheinander und gruselten sich über die Maßen.
Endlich sagte Peter Schnell:
„Es ist eine Schand und ein Spott, daß Ihr so wenig Korasch habt, ich will meinetwegen den Herrn Pfarrer wecken, aber Du mußt mitgehen, Birzel, allein thu’ ich’s nit.“
Birzel hatte nichts dagegen einzuwenden: kaum jedoch wankten die beiden Gestalten davon, als ihnen die Weiber laut schreiend nachgestürzt kamen – sie wollten nicht allein zurückbleiben, das könne kein Mensch von ihnen verlangen.
Und so zogen sie denn alle miteinander vors Pfarrhaus, klopften den hochwürdigen Herrn aus dem Schlaf und ließen ihm kaum Zeit zum Anziehen. Unter ihren Berichten wuchsen die Geister ins Unendliche. Der Geistliche zündete zwei Handleuchter an und schritt, diese vor sich hinhaltend, die Leute hinter sich, über die Gasse zur Kirche. Als er deren Thür öffnete, entstand für einen Augenblick eine Todesstille, dann drängte sich alles ihm nach ins Innere, und hier –!
„Ihr Esel!“ platzte der Pfarrherr los, denn vor ihm auf der Erde, den Kopf gegen die Altartreppe gelehnt, lag’s Podagratzl und schlief, während das ausdauernde Podenzl auf dem Altar selbst kniete, wo es sich bereits seit einer halben Stunde [698] vergeblich bemühte, das schwere Meßbuch von der Stelle zu bewegen.
„Du liebe Zeit, das sind ja die Zwilling’ von droben!“ hieß es jetzt von allen Seiten.
Der Pfarrer hob das in Thränen ausbrechende Podenzl auf die Erde, Podagratzl fuhr gleichzeitig aus dem Schlaf empor, und nun klammerten sich beide Kinder wie zwei verirrte Schäflein an den Rock des Geistlichen, der sie zur Kirche hinausführte, begleitet von den ganz in Mitleid für die Kleinen aufgehenden Spittelweibern.
Nur die paar Mannen humpelten eilig weiter, der Gemeindediener voran, hinter dem Birzel wüthend dreinschimpfte:
„Du weckst mich wieder, Kerl, wart’, Du weckst mich wieder!“
„So, Kinder,“ fing der Geistliche draußen an, wobei ihm ein paar Weiber andächtig mit den Lichtern ins Gesicht leuchteten, „vor allen Dingen, wo ist die Mutter?“
„Daheim,“ heulte Podenzl, und das schlaftrunkene Podagratzl jammerte laut auf:
„Ja, heim, heim will ich!“
„Seid Ihr denn ganz allein in der Kirche gewesen?“
„Ja!“
„Was habt Ihr denn da wollen so spät?“
„Weiß nit,“ sagte Podagratzl, das bedächtige Podenzl jedoch erklärte:
„s’ Kirchenbuch haben mir wollen.“
Längst schon hatte sich ein kleiner Lichtschein vom Berge her dem Thale genähert, jetzt tauchte er in der schmalen Gasse auf, und als eben der Pfarrherr mit den Spittelweibern über das Schicksal der beiden Kinder berathschlagte, stand dessen Elternpaar mit der Stalllaterne vor dem erregten Häufchen Menschen.
„Jesus, da sind sie ja!“ kreischte die Bäuerin auf und riß ihre beiden Kinder an sich, während der Bauer die Laterne hoch hielt und alles zusammen schwatzte und zeterte.
„Liebe Frau,“ unterbrach der Geistliche den allgemeinen Lärm, „erklärt mir doch: die Kinder waren in der Kirche und wollten ’s Kirchenbuch –“
„Ja, ja,“ fiel ihm Podenzl in die Rede, „’s Podagratzl hat gesagt, wir holen ’s Kirchenbuch für die Mutter, daß sie nimmer weint.“
„Da haben wir’s wieder,“ jammerte die Bäuerin, auf deren Schulter die Anstifterin allen Uebels bereits im besten Schlummer lag, „immer ’s Podagratzl! Wo das Kind nur seine Dummheit her hat? ’s ist nit zum Sagen, was ich mit dem Kind seiner Dummheit aussteh’. Und daß ich’s nur grad’ sag’, Herr Pfarrer, weil’s halt jetzt doch schon halbwegs verrathen ist – sie haben’s gehört, wie ich mich verlamentiert hab’, daß ich ihre Namen nit weiß und mich schäm’, danach zu fragen, und sie halt nit um die Welt im Kalender finden kann, und weil wir die Taufschein’ verloren haben, und die Kinder in die Schul’ sollen, und sie halt nirgends sonst als im Kirchenbuch stehen, da hat halt ’s Podagratzl – ich sag’s ja, wir sind gestraft mit dem Kind – in seiner Dummheit wieder was angestellt, und wir sind droben fast vergangen vor Angst, wo die Kinder hingekommen sind, und Gott sei Lob und Dank, daß wir sie wieder haben!“
Sämmtliche Weiber nahmen mitfühlend Antheil an dieser Auseinandersetzung, der Geistliche aber sagte:
„Macht, daß Ihr mit ihnen heimkommt, und daß Ihr’s wißt: ’s Podagratzl heißt Pankratia und ’s Podenzl Hortensia; jetzt behaltet’s, und somit Gott befohlen!“
„Du,“ sagte die Bäuerin zu ihrem Mann, als sie, jedes mit einem Kind auf dem Arm, ihren Berg hinaufzogen, „das wollen wir aber gewiß nimmer vergessen; weißt was, ich hab’ eine Idee, jetzt sagst Du auf dem ganzen Heimweg nichts anderes vor Dich hin als Horenzl, und ich will Pankatzl sagen, dann wird’s, so Gott will, sitzen, und wir sind unser Kreuz los.“
Alle Rechte vorbehalten.
Die Vertheilung Afrikas unter die europäischen Mächte.
Als zu Anfang der achtziger Jahre Stanley die ersten Grundsteine zum Aufbau des künftigen Kongostaates mit der Behauptung gelegt hatte, ein zweites Indien dem ausfuhrbedürftigen Europa erschlossen zu haben, da erscholl in Deutschland der schmerzliche Ruf: „Jetzt ist die Welt ganz vertheilt und wir stehen wieder mit leeren Händen und Taschen da!“
Kaum aber hatte Lüderitz ungeheure Strecken, wenn auch scheinbar wüsten Landes, durch Verträge mit eingeborenen Häuptlingen erworben, kaum hatte das Deutsche Reich zu allgemeiner Ueberraschung seine Flagge in Togo und Kamerun gehißt, da zeigte es sich, daß noch weitausgedehnte Gebiete innerhalb des afrikanischen Festlandes unberührt und herrscherlos dalagen und daß einzelne Sitze an der Küste, die von politischer Bedeutung oder von Wichtigkeit für den Handel waren, nur den Schein einer Herrschaft bis in das Innere verbreitet hatten. Dem Vorwärtsdrängen von den Gestaden des Atlantischen und Indischen Oceans aus gab die Berliner Kongokonferenz von 1885 eine vorläufig geregelte Richtung, indem sie das Hinterland dem Besitzer des Küstenstriches zuerkannte, zugleich aber die Besitzergreifer mit Einsetzung einer wirksamen Behörde belastete. Am raschesten und tiefsten griff darauf der Entdeckungszug des deutschen Forschers Peters in den dunklen Welttheil hinein; durch die Zertrümmerung der Scheinherrschaft des Sultans von Sansibar schuf er freie Bahn für weitblickende Kolonialunternehmungen, sodaß die seit Jahrzehnten an der Küste thätigen Engländer erkannten, die Zeit allmählicher und langsamer Ausbreitung ihres Einflusses sei jetzt vorüber und ein thatkräftiges Vorwärtsgehen auch ihrerseits geboten. Franzosen und Portugiesen wurden von demselben Ausbreitungstrieb erfaßt. Die Grundlagen und die Ausgangspunkte der kolonialen Eroberungszüge nach dem Inneren waren durch gegenseitige Abkommen der betheiligten Staaten wohl vorläufig geregelt; allein von Jahr zu Jahr verlängerten sich die zu kurz bemessenen Ansatzlinien, und es ergab sich, daß diese so, wie sie den verschienenen Nationen angehörten und zugebilligt waren, nicht parallel zu einander verliefen, sondern sich kreuzten und zu Zwistigkeiten führen mußten. Das sollte vermieden werden, um so mehr, als anerkannt gültige Vorrechte bei dem Mangel thatsächlicher Besitzergreifung häufig fehlten. Man einigte sich endlich im Sommer 1890 und Frühjahr 1891 in den Abmachungen zwischen Deutschland, England, Frankreich, Italien und Portugal, welche das Kolonisationsgebiet jedes einzelnen Staates begrenzten; allein [699] auch hier gelang es nicht, einen vollkommenen Abschluß zu erzielen, da einzelne „Interessensphären“ in gänzlich unerforschte oder noch nicht genügend erforschte Gegenden verlaufen und deshalb hier die Grenzlinie hätte ins Blaue hinein gezogen werden müssen.
Nachdem durch eine derartige vorläufige Vertheilung Afrikas eine gewisse Stetigkeit in das koloniale Drängen gekommen ist, so mag es erwünscht sein, den Werth und die Entwicklungsfähigkeit sämmtlicher, also auch der längstbestehenden europäischen Kolonien in Afrika, ihre Beziehungen zu einander und die Möglichkeit künftiger Meinungsverschiedenheiten einer Betrachtung zu unterwerfen.
Bei der Werthbeurtheilung der europäischen Besitzungen in Afrika, namentlich in dem innerhalb der Wendekreise gelegenen Theil desselben, hat man sich einerseits vor allzu hoffnungsvoller Vergleichung mit den Leistungen anderer Welttheile und damit vor Ueberschätzung zu hüten, andererseits aber ebenso vor Unterschätzung sämmtlicher Kolonien in Bausch und Bogen, mit Rücksicht auf die thatsächlich seit Jahrzehnten sich steigernde Ertragsfähigkeit einzelner Gebiete. Afrika birgt nicht den überquellenden Reichthum an kostbaren Naturerzeugnissen wie Ost- oder Westindien; es liefert nur dann Schätze von namhaftem Betrage, wenn andauernde geistige und körperliche Thätigkeit von Europäern in Verbindung mit europäischem Kapital die Kulturarbeit übernimmt. Da – abgesehen von der Mittelmeerküste und von Abessinien – allein in Südafrika die klimatischen Verhältnisse eine massenhafte Verwendung europäischer Arbeiter gestatten, so ist auch Südafrika das lohnendste Kolonisationsfeld geworden und geblieben. Die Thatsache, daß die übrigen Kolonien der Engländer, Franzosen und Portugiesen im „tropischen“, innerhalb der Wendekreise gelegenen Theil von Afrika trotz jahrzehnte-, ja jahrhundertelangen Bestehens nur einen verhältnißmäßig bescheidenen Ertrag abwerfen, verringert unbedingt die allgemeine Glaubwürdigkeit und Brauchbarkeit jener Reiseberichte, welche in begeisterten Worten von einem „Paradies“ Innerafrikas zu erzählen wissen. Die vorhandene und durch europäischen Einfluß gewiß zu vermehrende Menge von Naturerzeugnissen im tropischen Afrika reicht gerade hin, um den Aufwand von Kräften und Kapital einigermaßen zu rechtfertigen und mäßige Ansprüche auf Gewinn zu befriedigen.
Nordwestafrika, von Tripolis bis zu den Mündungen des Niger, zerfällt in zwei Handelsgebiete: im Norden und Westen herrscht der französische, im Süden der englische Einfluß vor. Frankreich gebietet hier über zwei alte Kolonien, Algier und Senegambien, welche zwar durch die Sahara auseinander gehalten sind, in Timbuktu aber einen magnetisch wirkenden Vereinigungspunkt besitzen. Während die Wüste ein Fortschreiten vom Mittelmeer nach Süden wesentlich hemmte, wurde vom Atlantischen Ocean aus der zeitweise weithinauf schiffbare Senegal die verlockende Straße, welcher die Franzosen bis tief in das Innere folgten, bis sie den Niger und mit ihm einen Wasserweg nach Timbuktu erreichten. Der Reichthum Senegambiens an Erdnüssen, Gummi, Palmöl, Straußenfedern und Elfenbein und namentlich die ungemein fruchtbaren Gebirgsgegenden von Futa Djalon und die märchenhaft glitzernden Goldländereien von Bure übten in früheren Zeiten eine mächtige Anziehungskraft aus, die jedoch allmählich sich abschwächte. Der vermeintliche Goldreichthum erwies sich als geringwerthig, die Kosten der Verwaltung sind äußerst hoch. Die französische Kolonialpolitik strebt deshalb danach, durch gewinnreichere Handelsbeziehungen bis tief in das Innere des Landes die Höhe der Ausgaben auszugleichen; sie begnügt sich nicht mehr mit der Beherrschung des oberen Senegal und des Nigerlaufes bis Timbuktu, sondern sie strebt unzweifelhaft danach, in dem ganzen Bereich zwischen dem Nigerbogen und der Guineaküste (also in Wassullu, Kenedugu, Kong, Muschi und Dagomba) ihren Einfluß zum allein geltenden zu machen. Als Stützpunkt dienen die alten gesicherten Besitzungen am oberen Niger und am Golf von Guinea, Groß-Bassam und Porto Novo. Damit aber droht Frankreich in den englischen Machtbereich an der Goldküste und in den deutschen im Togolande hinterrücks einzugreifen. Salaga ist der Punkt, wo es seine Kraft einsetzen müßte, um sich des gesammten Handelsverkehrs zwischen dem West-Sudan und der Südküste zu bemächtigen. Deutschland hat sich schon mit England über die Neutralität von Salaga verständigt. In der Zukunft liegt es, ob Frankreich diese Neutralität anerkennen wird oder nicht. Von den wichtigen Haussastaaten (Sokoto und Adamaua) sind die Franzosen durch ihren jüngsten Vertrag mit England ausgeschlossen. Dagegen ist ihnen der unbehinderte Zugang nach Bornu vom Mittelmeer aus vollkommen gesichert worden. In jüngster Zeit hatte man in der französischen Expedition Crampels (1890/91), welche vom Kongo und Ubangi aus in gerader Linie nach Norden ging, um den Weg zum Tsadsee und nach Bornu aufzuschließen, eine That von außerordentlicher kolonialpolitischer Tragweite gesehen. Allein nach den neuesten Nachrichten ist die Unternehmung auf dem Marsche verunglückt.
Eingekeilt in Französisch-Senegambien liegen die englischen Niederlassungen am Gambia und in Freetown, sowie Portugiesisch-Guinea. Hier begnügt man sich mit den nicht gerade bedeutenden Erträgnissen der Küstenstriche. Die Engländer haben sich von den Franzosen in der Ausdehnung des politischen Einflusses nach dem Inneren (Futa Djalon) überflügeln lassen. Es ist bisher eine Eigenthümlichkeit der englischen Kronkolonien gewesen – und zu diesen gehören die an der Guineaküste gelegenen –, alle Kraft auf die Ausbeutung der vom Meer oder von den Flüssen aus zu beherrschenden Landstriche zu vereinigen und den etwaigen Zuzug aus dem Hinterland abzuwarten, es sei denn, daß ihre Küstenstellungen durch unmittelbare Feindseligkeiten, wie z. B. 1873 durch die der Asante, ernsthaft bedroht würden.
Den südlichen Theil des Handelsgebietes von Nordwestafrika nehmen in zunehmender Stärke die Engländer ein: an der Goldküste, in Lagos, den Niger und Benuë aufwärts bis in das Herz der Haussastaaten, im Oelflüssegebtet von den Nigermündungen bis zum Old Calabar. Die Begrenzung nach dem Inneren ist an der Goldküste und bei Lagos bestimmt gezogen, auch für die „Royal Niger Company“ (wenige Kilometer landeinwärts zu beiden Seiten des Niger bis Bida und des Benuë bis Ribago), welche bis tief in die Haussaländer eingreift. Der neueste englisch-französische Vertrag, welcher den Einfluß Frankreichs durch die Grenzlinie Say-Barrua von den reichen Ländern zwischen dem mittleren Niger und dem Tsadsee ausschließt, weist auf die Absicht Englands hin, mit der Zeit auch Bornu, und zwar von der Grundlage des Niger und Benuë aus, in seinen Machtkreis zu ziehen. Die wichtigsten Ausfuhrartikel der Guineaküste sind: Palmöl, Palmkerne, Gold, Kautschuk, Kolanüsse, Elfenbein. Gold wird nur als Goldstaub in ziemlicher Menge an der Goldküste gewonnen. Am meisten von allen englischen Kolonien in Nordwestafrika gedeihen die Unternehmungen der „Royal Niger Company“; sie besitzt 50 bis 60 Stationen und eine Stromflotte von 20 bis 30 Dampfern.
Als die für England empfindlichste Einkeilung in seinen Kolonialbesitz am Golf von Guinea muß die aufblühende deutsche Niederlassung im Togoland angesehen werden. Die Engländer hatten es daher an den mannigfachsten Ränken gegen uns nicht fehlen lassen, um mindestens die Entwicklung der deutschen Kolonie zu hemmen, bis endlich mit dem Abkommen vom 1. Juli 1890 das Hinterland, das wir für Togo nothwendig brauchen, uns gesichert und dadurch der altgewohnte Karawanenverkehr wieder von Salaga nach Lome, also in deutsches Gebiet geleitet wurde. Die mit Frankreich vereinbarte Ostgrenze von Togo reicht nur bis 7° 50′ nördlicher Breite; sie bedarf bei zunehmender Ausdehnung der beiderseitigen Handelsbestrebungen eines endgültigen Abschlusses in nordwestlicher Richtung. Togoland ist ungemein fruchtbar und liefert nicht nur eine reichliche Ausbeute an Palmöl und Kautschuk, sondern verspricht auch dem jetzt begonnenen Plantagenbau von Kokospalmen und Baumwolle lohnende Früchte. Endlich verdient das Hochland nördlich des Abossogebirges Beachtung, da es sich vielleicht zu einträglicher Schafzucht eignet.
An der Westküste von Afrika folgen aufeinander, durch bestimmte Grenzen fast überall geschieden, das deutsche Kamerun, Französisch-Kongo (Gabonie), der Kongostaat, das portugiesische Angola, das deutsche Südwestafrika und das englische Kapland.
Die Nordgrenze von Kamerun konnte bei der Mangelhaftigkeit des vorhandenen Kartenmaterials noch nicht genau zwischen Deutschland und England festgestellt werden, vorläufig gilt als solche eine von der Mündung des Old Calabar nach Jola in Adamaua gezogene Linie. Gegen Osten dehnt sich Kamerun bis jetzt noch uneingeschränkt aus. Doch hat die erwähnte Expedition des Franzosen Crampel gerade den Raum zu durchschneiden versucht, welchen wir bisher als unerforschtes und herrenloses Hinterland in Gedanken zu unserer Kolonie geschlagen haben. Eine billige Verständigung mit den Franzosen dürfte jedoch um so [700] leichter sein, als der nächste Zielpunkt unserer Handelsinteressen nicht im Osten von Kamerun, sondern im Norden, in Adamaua, also westlich vom 15. Grad östlicher Länge gelegen ist. Dem wurde auch in dem deutsch-englischen Abkommen Rechnung getragen, welches uns vollkommene Handelsfreiheit und „freien Durchgangsverkehr in den Gegenden nördlich vom Benuë und nach dem Tsadsee“ sichert. Das für Kamerun wichtigste und längst erstrebte Ereigniß bleiben die beiden erfolgreichen Expeditionen von Dr. Zintgraff und Lieutenant Morgen 1889 und 1890; durch sie wurde der Urwaldgürtel am Mungo und Sannaga durchbrochen, Verbindungen mit den jenseits wohnenden Eingeborenen angeknüpft und damit das Handelsmonopol der Duallahäuptlinge vernichtet. Kamerun ist entschieden im Aufblühen begriffen. Ohne wesentliche Störung durch Feindseligkeiten der Eingeborenen mehrt sich in der jungen Kolonie der Handel mit Palmöl, Kautschuk, Elfenbein und europäischen Erzeugnissen von Jahr zu Jahr; auch der Plantagenbau steigert gleichmäßig seine Erträgnisse. Die Kolonisation hat hier ohne viel Lärm, weil langsam, sich Bahn gebrochen und festen Grund unter den Füßen gewonnen.
Französisch-Kongo, von Gabun aus mühsam erworben, weitausgedehnt nach dem Inneren bis zu den Ufern des Ubangi, fristet bis jetzt ein kümmerliches Dasein, denn der versuchte Plantagenbau in der Nähe von Libreville kostet mehr, als er einbringt.
Weitaus den größten Raum von allen europäischen Kolonien in Afrika nimmt der internationale oder vielmehr belgische Kongostaat – auf der Karte ein. Er ist die Schöpfung Stanleys und besitzt wie alle Unternehmungen dieses Mannes den Charakter des Großartigen, wenigstens dem Scheine nach. In Wirklichkeit mußte er nach achtjährigem Bestehen einer Umgestaltung, und zwar in finanzieller Beziehung, unterworfen werden, d. h. ohne Umschweife: er war bankrott. Die Verwaltungskosten vermehrten sich von Jahr zu Jahr, die Einnahmen aus den Ausfuhrzöllen blieben unter der berechneten Höhe; trotz der Zuschüsse des Königs der Belgier verblieb ein jährlicher Fehlbetrag von mehr als 2 Millionen Mark. Der Staat Belgien leistete im Juli 1890 Hilfe: er gewährte ein unverzinsliches Darlehen von 20 Millionen Mark unter der Bedingung, nach 10 Jahren den Kongostaat als Kolonie in Besitz nehmen zu dürfen. Durch die Brüsseler Afrikakonferenz wurde am 9. Februar 1891 dem Kongostaat zur Vermehrung seiner Einnahmen die Erhebung von Einfuhrzöllen, welche die Kongoakte von 1888 ausgeschlossen hatte, und ebenso eine ziemliche Steigerung der Ausfuhrzölle zugestanden. Trotzdem erscheint in dem Staatshaushalte für 1891 ein Zuschuß von 3 Millionen Franken aus der belgischen Kabinetts- und Staatskasse bei einer Gesammteinnahme von 3 511 000 Franken. Wohl haben die Erträgnisse des Handelverkehrs seit 1890 einen bedeutenden Aufschwung genommen. Der Werth der Gesammtausfuhr betrug 1887 nur etwa 6 Millionen Mark, 1890 dagegen schon 11 Millionen Mark (wozu jedoch das Gebiet des Kongostaates selbst nur für 6½ Millionen Mark Güter lieferte). Der werthvollste Artikel ist Elfenbein (4 Millionen Mark); außerdem spielen Palmöl und Kautschuk eine nicht unbedeutende Rolle. Dennoch bleibt es sehr fraglich, ob die seit 1890 im Bau begriffene Eisenbahn vom unteren Kongo nach dem Stanley Pool sich jemals rentieren wird. Denn die unausbleiblichen Zerstörungen durch die tropischen Regengüsse werden die Kosten der Unterhaltung ganz außerordentlich steigern und die Regelmäßigkeit eines gewinnbringenden Frachtverkehrs muß so lange bezweifelt werden, bis die dauernde und massenhafte Ansammlung von Naturerzeugnissen aus dem oberen Kongobecken sichergestellt ist, was gegenwärtig noch nicht der Fall sein dürfte. In einer Beziehung aber hat der Kongostaat Unvergängliches geleistet: er hat durch seine zahlreichen Stationen und Entdeckungszüge die geographische Kenntniß eines großen Theiles von Innerafrika in kurzer Zeit uns erschlossen.
Zu den ältesten europäischen Niederlassungen im tropischen Afrika gehört die portugiesische Kolonie Angola; zuerst fast ausschließlich einträgliche Ausfuhrgegend für den Sklavenhandel, dann Einfuhrgebiet für deportierte Verbrecher, hat sie sich in den letzten Jahrzehnten durch ausgedehnteren Plantagenbetrieb einigermaßen in die Höhe gearbeitet; wirklich ergiebige Fruchtbarkeit beschränkt sich auf das von Kaffeepflanzungen strotzende Lucallathal und auf den Küstenstrich zwischen Benguela und Mossamedes. Uebrigens zieht der Volkswohlstand Portugals geringen oder fast gar keinen Nutzen aus dieser Kolonie; ein unnöthig zahlreiches Beamtenpersonal vermehrt die Verwaltungskosten, die übermäßig großen Landgüter werfen bei der Trägheit und Sorglosigkeit ihrer Besitzer karge Erträgnisse ab.
Ein lange Zeit drohender Zusammenstoß mit dem Kongostaat wurde im Mai 1891 durch einen Vertrag beseitigt, nach welchem beide Mächte das Reich des Matiamvo unter sich theilten und den Oberlauf des Kassai als Grenzlinie bestimmten.
Deutsch-Südwestafrika (Damara- und Namaland) gilt zur Zeit als ein recht trostloses Gebiet. Und doch könnte vielleicht hier mit Aufwand von Kapital und unternehmungslustiger Arbeit eine überraschende Veränderung zum Besseren eintreten. Ein wichtiger Umstand begünstigt die Möglichkeit einer solchen Aussicht: ein überaus gesundes Klima, welches die dauernde Ansiedlung von Europäern gestattet. Das ganze Land ist eine ungeheure Weidefläche, der Boden an und für sich ist nicht ertragsunfähig; er bedarf nur einer regelmäßigen Bewässerung, welche durch Anlegung von Teichen und Cisternen, freilich erst allmählich und mühselig, erreicht werden könnte. Alle Arbeitskraft müßte sich in den nächsten Jahren oder Jahrzehnten auf sachgemäßen Betrieb der Viehzucht richten; es wäre des Versuches werth, ob man mit der Schafzucht nicht ähnliche Erfolge erzielen könnte wie in den Karroofeldern der Kapkolonie und in dem sandigen Australien. Bei ausgiebiger Bebauung und Besiedelung des Landes kann der Zufall vielleicht zu Goldminen führen wie in Transvaal; denn Gold ist thatsächlich vorhanden. Doch Arbeit bleibt immer und überall der einzige Begründer wachsenden Wohlstandes, und auf sie soll man in erster Linie vertrauen, nicht auf zufällige Geschenke der Natur. Mißlich sind allerdings die Hafenverhältnisse. Die günstig gelegene Walfischbai gehört der Kapkolonie, die nicht geneigt ist, sie an Deutschland abzutreten; noch besser ist Sandwichhafen, aus dem aber der Aufstieg zum Binnenland große Schwierigkeiten bereitet, auch Kap Croß oder die Mündung des Tsoachoubflusses. Am besten ist der Hafen von Angra Pequena, doch liegt dieser sehr entfernt von dem geeignetsten Kolonisationsgebiet. Wir stoßen allenthalben auf Schwierigkeiten; allein sie wurden stets und überall da überwunden, wo die klimatischen Verhältnisse dem Europäer erlaubten, mit zielbewußter Arbeitskraft einzusetzen, und das könnte in Damara- und Namaland der Fall sein.
Wer sich überzeugen will, wo die wirklichen Reichthümer des modernen Afrika zu suchen sind, der vergleiche den Warenumsatz der Kapkolonie, des kleinen Natal, der schwachbevölkerten Boersstaaten mit jenen von Senegambien, von der Goldküste, von Angola. Hier an der Südspitze Afrikas sind diese Schätze in Massen aufgethürmt und vermehren sich von Jahr zu Jahr. Bei eingehender Betrachtung findet man, daß sie durchaus nicht, wie man oberflächlich annehmen könnte, hauptsächlich aus Diamanten und Gold bestehen, sondern in Früchten, welche europäische Arbeitskraft einer widerspenstigen Natur abgerungen hat. Die Edelmetalle spielten wie in Kalifornien und Australien nur die Rolle der Verführer; sie lockten die Menge heran, bereicherten rasch die ersten Ankömmlinge und zwangen die später Gekommenen zur Bearbeitung des an anderen Naturerzeugnissen ziemlich ergiebigen Bodens. Bei dem Mangel an größeren und schiffbaren Flüssen, bei der Feindseligkeit der kriegslustigen Eingeborenen entwickelte sich Südafrika sehr langsam; ein plötzlicher Aufschwung begann im Anfang der siebziger Jahre, als die Entdeckung der Diamantgruben von Kimberley europäische Unternehmungslust weckte, massenhafte Einwanderer in das Land führte und der südwestliche Theil mit einem Netz von Eisenbahnen überspannt wurde. Der umfangreichste Ausfuhrartikel ist jetzt Schafwolle; in der Kapkolonie allein beläuft sich die Anzahl von Schafen und Angoraziegen auf beinahe 20 Millionen Stück. Im großen und ganzen betreiben die Hafenstädte der Kapkolonie den Handel; die Boersstaaten Getreidebau, Viehzucht und Goldgräberei; Natal Plantagenbau (Zuckerrohr und in jüngster Zeit auch Thee). Südafrika birgt in sich die Nothwendigkeit eines einheitlichen Wirthschaftsgebietes, aber gegenwärtig trennt noch nationale Abneigung und Absonderung die unternehmungstüchtigen Engländer von den zäh-konservativen Boers. Die Engländer drängen mittels der „südafrikanischen Gesellschaft“ nach dem Norden, nach dem fruchtbaren Goldland der Matebele und Maschona, während die vom Weltverkehr bisher fast ganz ausgeschlossenen Transvaaler jetzt vor allem danach trachten, eine von der Kapregierung unabhängige
[701][702] Bahnverbindung mit der portugiesischen Hafenstadt Lorenzo Marques herzustellen und sich in der Sordwana-Bucht im Amatongaland einen ihnen allein gehörigen Ausfuhrplatz zu verschaffen. Doch die Partei der „Afrikander“ (die politische Vereinigung aller im ganzen Kapland geborenen Weißen) treibt unablässig zur Verwirklichung einer allgemeinen südafrikanischen Republik. Ihr dürfte es zuzuschreiben sein, daß der „Volksraad“ von Pretoria, wenn auch widerwillig, im August v. J. die sogenannte „Swasi-Konvention“ genehmigte, wonach Transvaal sich bereit erklärt, der Gebietserweiterung der Engländer im Matebeleland nicht entgegenzuwirken, dagegen möglicherweise binnen 6 Monaten einem Zollverband mit der Kapkolonie, dem Oranje-Freistaat und dem Betschuanenland beizutreten.
Mit unleugbarer Rücksichtslosigkeit gegen das kleine Portugal und mit unermüdlichem Scharfsinn hat die „Britische südafrikanische Gesellschaft“, seit 1889 unterstützt von der heimischen Regierung, die für sie vortheilhafteste Grenzregulierung zwischen Matebeleland und Manika-Gasaland durchgesetzt und die Bestätigung derselben durch den englisch-portugiesischen Vertrag vom Mai 1891 erhalten. Ihr Bestreben war zuerst auf eine über den Sambesi reichende Vereinigung mit der „englischen Seengesellschaft“ gerichtet, welche seit 1879 die Uferlandschaften des Njassa- und Tanganikasees, allerdings mit geringem Erfolg, für den Handel ausbeutete. Sobald sie aber die Herrschaft über das ganze Matebeleland gewonnen hatte und durch die Goldfunde immer weiter nach Osten verlockt worden war, mußte sie bei der zunehmenden Entfernung von der Kapstadt (2880 Kilometer) eine kürzere Ausfuhrstraße und zwar nach dem Indischen Ocean ins Auge fassen, und diese bot sich, in einer Länge von nur 400 Kilometern, in dem Thale des Pungwe dar. Während die „Südafrikanische Gesellschaft“ auf ein möglichst nahes Heranrücken an die Ostküste erpicht war, verlangte die „Seengesellschaft“ unablässig den Besitz des Makolololandes und die Freiheit des Schiffverkehrs auf dem Sambesi. Beide Ziele erreichte die englische Politik, indem sie zuerst übertriebene Forderungen stellte und dann durch Nachgiebigkeit in Nebendingen die verletzten Portugiesen einigermaßen befriedigte. So überließ England großmüthig einen mächtigen, aber wohl ziemlich werthlosen Landstrich nördlich vom Sambesi (zwischen dem Schire und Loangwa) an Portugal und nahm dafür als Entschädigung den räumlich unbedeutenden, durch seinen Goldreichthum aber sehr wichtigen Ostrand der Manika-Hochebene für sich in Anspruch. „Njassaland“ ist seit Frühjahr 1891 die offizielle Bezeichnung der englischen Schutzgebiete nördlich und südlich vom Sambesi; die gebräuchlichste Benennung des letzteren Theiles ist Britisch-Sambesia.
Während man nun der „Seengesellschaft“ troz dieser Vergrößerung ihres Gebietes nicht eben eine günstige Zukunft voraussagen kann, erscheinen in Deutsch-Ostafrika die Aussichten auf kolonisatorische Erfolge ungleich besser. Diese Kolonie besitzt zwei wesentliche Vortheile: erstens ein einheitliches Handelsgebiet von großem Umfang und zweitens Landstriche, die sich zum Plantagenbau eignen. Der unmittelbarste Nutzen fließt aus dem Handelsgebiet, dessen althergebrachte Verkehrsstraßen an den Gestaden der drei mächtigen Binnenseen (des Njassa, Tanganika und Viktoria-Njansa) beginnen und an den Küsten des Indischen Oceans enden. Sie gehören nach dem deutsch-englischen Vertrag ausschließlich dem deutschen Machtbereich an. So umfangreich schon jetzt dieser Handelsverkehr erscheint, so wird er doch noch sehr gesteigert werden, wenn in erster Linie die Beseitigung des Wegzolles in Ugogo und des Räuberunwesens in Usukuma die Beförderungskosten vermindert hat, und wenn in zweiter Linie Militärstationen in größerer Anzahl den Karawanen Sicherheit gewähren. Wie sehr diese Sicherheit trotz aller Schutzmaßregeln noch immer bedroht ist, wie viel die Kraft der räuberischen Stämme noch vermag, das zeigt neuerdings das traurige Schicksal der Expedition des Lieutenants von Zelewski, die den größten Theil unserer ostafrikanischen Schutztruppe umfaßte und trotzdem der Uebermacht der Wahehe zum Opfer gefallen ist. Möglicherweise hat neben den angeführten Maßregeln in dieser Beziehung einen bessernden Einfluß auch die Einrichtung einer Dampfschiffahrt auf den Seen, wenn dadurch die Handelsbeziehungen der Uferbevölkerung mit der deutschen Kolonie in einen lebhafteren Zusammenhang gebracht sein werden.
Sesam, Kautschuk, Kopal und vor allem Elfenbein werden gegenwärtig noch in namhaften Massen ausgeführt. Die Zunahme marktfähiger Naturerzeugnisse kann mit der gesteigerten Thätigkeit der Eingeborenen und mit dem wahrscheinlichen Aufblühen des Plantagenbetriebes im Küstengebiet eintreten. Letzterer beweist trotz seiner spärlichen Anfänge das Vorhandensein eines anbaufähigen Bodens und die theilweise Verwendbarkeit der einheimischen Bevölkerung als Arbeiter.
Der Nachtheil, welcher Deutsch-Ostafrika unvertilgbar anhaftet, besteht darin, daß eine Benutzung europäischer Arbeitskräfte unmöglich ist. Es wird deshalb auch nie an eine starke Einwanderung von Weißen zu denken sein, welche allein den Bedarf von Einfuhrwaren in großen Mengen sichern würde. Aus diesem Grunde wird das kleine Natal stets reichere Erträgnisse abwerfen als die weitausgedehnte deutsche Kolonie; dennoch hat diese nach der Ansicht selbst nüchterner Berichterstatter eine gleiche, wenn nicht größere Zukunft als die Mehrzahl der europäischen Niederlassungen im tropischen Afrika. Wohl sind mehr als zwei Drittel des Landes unbebaut und unfruchtbar, wohl kann vorläufig das mächtige Seengebiet nur als Handelsgebiet in Anschlag gebracht werden; aber dennoch dürfte eine nicht zu große Anzahl von Kaufleuten und Pflanzern gute Erfolge erwarten; auch wird es möglich sein, bisher unbenützten Boden in den Kreis der Bebauung zu ziehen. Alles kommt darauf an, nicht auf einmal zu viel Kapital vertrauensselig in ostafrikanische Geschäfte zu stecken. Man wird gut thun, zuerst den Ertrag der jetzt in Angriff genommenen kurzen Eisenbahnstrecken von Bagamoio nach Dar es Salaam und von Tanga nach Korogwe abzuwarten, ehe man zu größeren Unternehmungen schreitet.
Hätten nicht schon seit Jahrzehnten englische Konsuln, Kaufleute und Missionare eine den Arabern und Schwarzen imponierende Stellung im Palaste des Sultans von Sansibar und in den größeren Orten des Festlandes eingenommen und jede Gelegenheit zur Mehrung und Stärkung ihrer Handelsverbindungen ausgenützt: unzweifelhaft würde dann heute die deutsche Flagge längs der ganzen Sansibarküste und auf den vorgelagerten Inseln wehen. Unter den bestehenden Verhältnissen aber waren wir auch nach unserem verblüffenden Auftreten von 1884 bis 1888 nicht imstande, die Engländer ganz aus ihrer Stellung zu verdrängen, und mußten zu diplomatischen Auseinandersetzungen greifen. Die erste von 1886 genügte nicht; die zweite vom 1. Juli 1890 beseitigte durch eine beträchtliche Erweiterung von Englisch-Ostafrika die bestehenden Streitpunkte und jedmögliche Veranlassung zu künftigen Reibungen. Der werthvollste Besitz für die englisch-ostafrikanische Gesellschaft ist zur Zeit unstreitig das Protektorat über die Insel Sansibar; denn dort ist der ganze ostafrikanische Handel zwischen Indien und Europa seit langer und noch für lange Zeit vereinigt.
Die Küste von Englisch-Ostafrika selbst hat bei weitem nicht die zum Plantagenbau einladende Beschaffenheit wie jene von Deutsch-Ostafrika. Das unmittelbare Hinterland von Mombas ist Wüste, wie zum größten Theil das zwischen dem Tana und Juba liegende Gebiet; nur ein schmaler Streifen wirklich fruchtbaren Bodens umsäumt die beiden Ufer des Tana. Daß die Engländer auf die Erwerbung Ugandas einen ganz besonderen Werth legten, läßt sich nicht ausschließlich aus dessen Reichthum an Kaffee- und Bananenpflanzungen erklären; auch nicht aus der Absicht, den Handel der Waganda von dort nach Mombas zu leiten, denn dieser wird vorläufig den sicheren und altgewohnten Weg durch das deutsche Gebiet beibehalten; eine Erklärung liegt vielmehr nur in der Erwartung der Engländer, ihren jetzt in Aegypten herrschenden Einfluß dermaleinst über das ganze Nilgebiet auszubreiten und den Handelsverkehr aus dem Inneren Afrikas auf dessen bequemster Wasserstraße, dem Nil, in die Hand zu bekommen. Um die Erreichung dieses Zieles zu beschleunigen, trachteten sie danach, am Viktoria-Njansa festen Fuß zu fassen und so vom Süden her schrittweis nach Norden vorzurücken. Das scheinen die großen, fernen Ziele der englischen Regierung zu sein.
Die englische Besetzung der Insel Sokotra und der Küstenstrecken am Golf von Aden von Zeila bis Bender Gasim gilt vornehmlich der Sicherung des Seewegs nach Indien.
England traf in jüngster Zeit hier und in Oberägypten mit den Kolonisationsbestrebungen der Italiener zusammen, welche durch kriegerische Erfolge die Umgegend von Massaua und die Schutzherrschaft über Abessinien und durch Verträge die ganze [703] Somaliküste vom Jub bis zur Negrobai erworben hatten. Die englisch-italienische Uebereinkunft vom März 1891 regelt in befriedigender Weise die beiderseitigen Ansprüche und Wünsche; nur wurde Italien mit allem Nachdruck von jeder Beziehung zum Nilgebiet ferngehalten. Es wird und muß den Schwerpunkt seiner sogenannten „Erythräischen“ Kolonie in der Beherrschung, vielleicht auch Besiedelung des klimatisch günstigen Abessinien suchen. Dagegen dürfte es aus dem noch wenig erforschten Somaliland schwerlich einen nennenswerthen Gewinn herausschlagen.
Zum Schlusse dieser Uebersicht der europäischen Machtbereiche in Afrika und zur Bestätigung mancher dabei aufgestellter Behauptungen wird eine Uebersicht über den Werthbetrag der Ein- und Ausfuhr in den größeren Kolonien nicht ohne Interesse sein. Wenn auch die einzelnen Zahlen in ihrer Entstehung auf verschiedenen Grundlagen beruhen und als streng genau nicht betrachtet werden können, so ist doch die Größe der Unterschiede so bedeutend, daß ein Vergleich zu einer richtigen Werthbemessung beitragen kann. Unter dem gleichen Vorbehalt – da selbstverständlich auch hier nur annäherungsweise bestimmte Zahlen gegeben werden können – sind auch der Gebietsumfang und die Stärke der Bevölkerung beigefügt.
Nation | Kolonie | Im Jahre |
Waren- umfang in Mill. ℳ |
Flächen- inhalt in Qu. Kilom. |
Bevölkerung |
---|---|---|---|---|---|
Französisch | Senegambien | 1888 | 27 | 358 500 | 1 850 000(?) |
Englisch | Sierra Leone | 1889 | 12 | 7 800 | 75 000 |
Englisch | Goldküste | 1889 | 17 | 76 100 | 1 426 000 |
Englisch | Lagos | 1889 | 18,5 | 2 700 | 100 000 |
Englisch | Royal Niger Company | 1890 | ? | 260 000 | ? |
Deutsch | Togo | 1888 | 4 | 61 000 | ? |
Deutsch | Kamerun | 1888 | 5 | 319 500 | ? |
Französisch | Französisch-Kongo | 1888 | 5 | 670 000 | 1 700 000 |
International | Kongostaat | 1890 | 17(?) | 2 091 000 | 700 000(?) |
Portugiesisch | Angola | 1886 | 10,5 | 300 000 | 1 000 000 |
Deutsch | Südwestafrika | 1888 | – | 832 600 | ? |
Englisch | Kapkolonie mit Basuto und Zululand |
1889 | 367 | 640 290 | 1 800 000 |
Englisch | Natal | 1889 | 123,5 | 54 000 | 530 000 |
Englisch | Njassaland mit Matebeleland |
1890 | – | 800 000(?) | ? |
Holländisch | Oranje-Freistaat | 1887 | 40 | 107 493 | 133 500 |
Holländisch | Transvaal | 1889 | 100(?) | 315 590 | 800 000 |
Portugiesisch | Mozambique | 1888 | 16,5 | 208 000 | 500 000 |
Deutsch | Ostafrika | 1888/89 | 7 | 939 100 | ? |
Englisch | Ostafrika mit Sansibar | 1890 | ? | 1 000 000(?) | ? |
Italienisch | Erythräa mit Abessinien | 1891 | – | 1 000 000(?) | ? |
Neue Trompeterlieder.
Lied jung Werners.
Der Wächter rief die Mitternacht
Im Städtlein unten am Rheine,
Da stand ich auf des Eggbergs Höh’,
Auf moosigem Gesteine.
Den finstern Pfad erhellet,
Die hab’ ich dort mit starker Faust
Hoch in die Luft geschnellet.
Der Wächter unten schlug ein Kreuz,
„Behüt’ uns, heil’ger Fridolin,
Vor Geistern und Irrwischen!“
Mein Lieb im Thal, erbange nicht,
Die flammenden Gespenster,
Nach deinem Erkerfenster.
Lied Margaretas.
Er sah mich an so fragend,
So treu, so stumm, so still,
Er sah mich an – ich weiß nicht,
Was er nur von mir will.
Die Welt ist groß und schön,
Und drin ist außer mir noch
Viel andres anzusehn.
Und doch – ’s möcht’ ihn betrüben,
Ich glaub’, ich muß ihn lieben,
Den schlanken, fremden Mann.
Aus Welschland.
Es ist ein Schnee gefallen,
Ein Schnee im welschen Land,
Hell glänzen rings die Berge
Im weißen Festgewand.
Solch’ Freude lang nicht ward.
Es fliegt dem Kapuziner
Der Schneeball in den Bart.
In Sommersgluthen lag ich
Verschmachtend wie die Blume,
Die lang kein Thau getränkt.
Und fruchtlos wollt’ dem Auge
Des Heimwehs Thrän’ entfliehn,
Eh’ sie zum Trost gediehn.
Drum heiß’ ich, scharfer Winter,
Dich tausendmal willkomm,
Vom Schnee umstöbert athmet
Durchweh’ mit deinem Hauche
Mir Lockenhaar und Kleid,
Und sing’ mir ’was von Tannen
Und deutscher Weihnachtsfreud’.
Polizei und Verbrecherthum der Reichshauptstadt.
Die Hilfsmittel, welche der Kriminalpolizei bei der Jagd auf den Verbrecher zu Gebote stehen, sind ebenso mannigfach wie sinnreich und versetzen den, der zum ersten Mal einen Einblick in dieselben erhält, in das lebhafteste Erstaunen. Obenan steht das Verbrecheralbum.
Ja, die Photographie ist ein getreuer Bundesgenosse bei der Ueberführung eines Schuldigen und der Vertheidigung eines Unschuldigen geworden. Mehr und mehr wird daher die photographische Wissenschaft von der Polizei zu Hilfe gezogen. Nicht nur, daß man Verbrecher und Verdächtige photographiert und ihre Bilder in Hunderten von Exemplaren an die auswärtigen Polizeibehörden versendet, damit diese erforderlichenfalls den Betreffenden bei „Gastreisen“ die nöthige Aufmerksamkeit schenken oder die Flüchtigen ergreifen; auch andere Dinge, die für die Aufklärung eines Verbrechens von Wichtigkeit sind, werden durch die Platte festgehalten und tragen durch ihre photographische Verbreitung zur Entdeckung bei.
Vor mehreren Jahren war in Berlin eine alleinstehende Frau ermordet und beraubt worden. Man hatte keinerlei Anhaltspunkte, wer der Mörder sein könnte, außer einem Zettel, welcher in der Wohnung unter den Sachen der Ermordeten gefunden wurde und zwei Zeilen Schrift von einer männlichen Hand enthielt, natürlich ohne daß ein Name genannt war. Diesen Zettel ließ die Polizei photographieren und den Berliner Zeitungen in Abzügen zustellen mit der Bitte um Veröffentlichung. Es geschah, der Schreiber eines Rechtsanwalts sah in einer Zeitung die Handschrift, sie kam ihm bekannt vor, er blätterte die Akten durch und traf wirklich bei einer Zeugenaussage auf dieselbe Schrift. Sofort benachrichtigte er die Polizei, diese verhaftete jenen Zeugen und stellte nach kürzester Zeit in ihm den Mörder fest.
In einem anderen Fall wirkte die Photographie als Retter eines Unschuldigen: ein junges Mädchen war ermordet und ein Mann als muthmaßlicher Thäter eingezogen worden; an der Schulter des Mädchens hatte man ein Haar gefunden, welches man für ein Barthaar des Angeklagten hielt. Die durch Photographie erzielte sechzehnhundertfache Vergrößerung des Haares zeigte aber, daß dasselbe von einem Hunde stamme, und zwar von einem älteren, gelben, kurzhaarigen, und in dem Besitzer eines solchen Hundes wurde denn auch später der Mörder ermittelt.
Namentlich bei der Untersuchung, ob Blutspuren von Menschen oder Thieren herrühren, ist die Photographie von größter Wichtigkeit. Ein eines Mordes Verdächtiger, an dessen Kleidung sich Blutflecken befanden, behauptete, daß diese von einer Ziege herrührten, die er geschlachtet habe, und er konnte auch die Wahrheit seiner Aussage nachweisen. Die Photographie aber zeigte bei zehntausendfacher Vergrößerung, daß außer dem Ziegenblut noch Menschenblut an dem Rock klebte, und der Verhaftete wurde seiner Schuld überführt.
[705] Aehnliche große Dienste leistet die Photographie bei Entdeckung von Urkundenfälschungen, da die verschiedenen Tinten im Bilde je nach ihrer chemischen Zusammensetzung verschieden erscheinen. So war einmal ein Zeuge zum 21. eines Monats vor Gericht geladen; er hatte die Frist versäumt und dann, um der kleinen Geldstrafe zu entgehen, aus der 1 eine 4 gemacht; die Photographie wies ihm seine „Verbesserung“ nach, und er erhielt wegen Urkundenfälschung eine Gefängnißstrafe. Auch Radierungen treten in der vergrößerten photographischen Abbildung deutlich hervor, welche so die Entlarvung manches klug angelegten Betruges zur Folge gehabt hat.
Doch nun zum Verbrecheralbum! Auf seine Einrichtung und seinen Umfang darf die Berliner Kriminalpolizei mit vollem Recht stolz sein, denn es hat sich in unzähligen Fällen als ein unschätzbares Hilfsmittel erwiesen. Seine eigentliche Anlage verdankt es der Umsicht des Inspektors der Kriminalpolizei, des um letztere hochverdienten Herrn von Meerscheidt-Hüllessem, der sich 1876 für seine persönlichen Zwecke eine Sammlung von Photographien aller möglichen Verbrecher anlegte und diese rasch erweiterte, bis er sie zum Besten des Dienstes an die Polizei abtrat. Heute besteht das vielgerühmte „Verbrecheralbum“ aus zwölf dunkel eingebundenen Großfoliobänden und enthält insgesammt an achttausend Photographien, von dem mehrfachen Mörder an, bei welchem ein Kreuz auf einem Grabhügel seine Hinrichtung bedeutet, bis zu der zwölfjährigen Spitzbübin, die in einem Laden einige Meter Seidenband gestohlen. Die Eintheilung der Bände ist folgende: I. Mörder und Einbrecher. II. Taschendiebe. III. Laden- und Marktdiebe. IV. Schlafstellendiebe. V. Bauernfänger. VI. Hochstapler, Fälscher, Betrüger. VII. Boden-, Colli-, Paletot-, Billardball-, Gasarm- und Thürklinkendiebe. VIII. Verschiedene Verbrecher, die keine „Spezialität“ erwählt haben. IX. Dirnen, welche stehlen. X. Zuhälter. XI. Photographien von auswärts, Landstreicher. XII. Photographien internationaler Diebe und Betrüger.
Man sieht, eine nette Sammlung, mit deren einzelnen Typen wir uns später zu beschäftigen haben werden.
Jeder Photographie sind nähere Angaben über den Photographierten beigefügt: zunächst der Name, dann sein Körpermaß, weiter eine kurze Personalbeschreibung. Also zum Beispiel: „187. Friedrich Karl Schulze. 1,73. Haar schwarzbraun, Augen braun, Nase lang und schmal, Lippen aufgeworfen, Schnurrbart braun.“ Oder: „510. Ernst August Lehmann. 1,85. Haar dunkelblond, kraus, etwas meliert, Augen blaugrau, Nase gestülpt, Vollbart dunkelblond, Stirn links eine gezackte weiße Narbe, nach unten gebogen.“
Die Durchsicht dieser Bände ist einerseits sehr fesselnd, andrerseits wieder in höchstem Grade abstoßend; zwar entspricht es nicht eigentlich den Thatsachen, wenn man von einem „Verbrechertypus“ spricht, denn manche dieser Mörder und Einbrecher sehen äußerst harmlos aus und würden selbst gewiegte Physiognomiker irreführen. Dann aber kommen wieder Gesichter vor, die soviel Rohheit, Heimtücke und Haß ausdrücken, daß man sich mit Entsetzen abwendet. Unter den Bauernfängern fällt uns eine ganze Reihe eleganter Erscheinungen auf, die, wenn man sie irgendwo träfe, niemals den Verdacht erwecken würden, daß ihres Daseins einziger Zweck Betrug und Gaunerei ist. Auch unter den „Damen“ fehlt es nicht an reizvollen, scheinbar vornehmen Gestalten, ebenso wenig unter den internationalen Dieben, die mehrere Sprachen gewandt sprechen und geschickt mit dem Ordensbändchen im Knopfloch zu kokettieren verstehen. Für Mannigfaltigkeit in der Toilette ist ebenfalls gesorgt: hier sehen wir eine vom Ball weg in Haft gebrachte schlanke Blondine in pikantem Maskenkostüm, dort eine Marktdiebin mit dem Korb in der Hand, einen Einbrecher als Postboten verkleidet, einen Collidieb in der Tracht eines Rollkutschers, eine ganze Zahl von Männern in Frauenkleidungen, einen Paletotdieb, den dürren Körper in zwei gestohlene Ueberzieher gehüllt, einen mit Schaffellmütze und Schnürrock versehenen Perser, der gelegentlich eines kleinen Einkaufes in einem Juweliergeschäft mehrere Diamantringe „aus Versehen“ einsteckte, und einen Mulatten, der umfassende Gasthofschwindeleien verübte.
Manche der Bilder zeigen uns, daß es den also Ausgezeichneten durchaus nicht erwünscht war, gratis abkonterfeit zu werden, mehrfach sieht man theilweise oder vollständig verzerrte Gesichter, hier ein zugekniffenes Auge, dort einen verzogenen Mund oder eine heruntergeklappte Kinnlade. Auf anderen Porträts erblickt man den Verbrecher in der Zwangsjacke, oder es werden als Randverzierung die Hände und die Gestalten der Polizisten sichtbar, welche den zu Photographierenden mit Gewalt auf seinen Sitz niederdrücken. Früher mußten derartige Maßregeln, die in schroffem Gegensatz zu dem sonstigen: „Bitte, recht freundlich!“ der Photographen stehen, häufiger angewendet werden, heute macht die Blitzphotographie ihrem Namen zu sehr Ehre, als daß der Verbrecher zu besonderen Verstellungen noch Zeit behielte.
Das photographische Atelier befindet sich dicht bei den Zimmern des Inspektors der Kriminalpolizei und besteht aus einem kleinen halbdunklen Raum, in welchem stets Gas brennt; an zwei Seiten flackern mehrere Spiritusflammen, ein leichter Druck auf einen Gummiball entzündet das Magnesiumpulver, bei dessen Licht photographiert wird, und im selben Augenblick ist auch schon die Aufnahme fertig, die fast immer lebendig und anschaulich ausfällt. Ist der Verbrecher halsstarrig, so schreitet man gegenwärtig nur noch im äußersten Nothfalle zur Gewalt, meistens versucht man durch List, ihn zur Ruhe zu bringen; ein Beamter plaudert mit ihm oder stellt sich, als ob er ihn verhöre, Akten werden ihm vorgelegt und Fragen an ihn gestellt, bis plötzlich das Magnesium aufzischt und der Beamte ironisch lächelnd sagt: „Schönsten Dank, das Bild wird vorzüglich werden!“ Kann man aber einen Verbrecher um keinen Preis zum „ruhigen Sitzen“ bringen, so wird er, ohne daß er es merkt, während einer Verhandlung oder eines Verhörs gezeichnet; nach dieser Zeichnung fertigt man dann eine Photographie an. Von jeder Photographie werden vier Abzüge gemacht: [706] einer kommt in das Verbrecheralbum, einer in die Personalakten, den dritten erhält der Vorstand der Kriminalabtheilung und der vierte gelangt an die Beamten derselben zur genauen Kenntnißnahme.
Welche Dienste das Verbrecheralbum thut, geht am besten daraus hervor, daß es täglich mehrfach benutzt wird und jährlich einige hundert Entdeckungen vermittelt.
Eine Dame hat ein Dienstmädchen angenommen und ist mit dem bescheidenen, fleißigen, am liebsten Plattdeutsch sprechenden Landkinde sehr zufrieden; nach acht Tagen jedoch ist die Küchenfee verschwunden und mit ihr allerhand Wäsche, Kleider, Gold- und Silbersachen aus dem Besitze der Herrschaft; man räth der Dame, sich an die Kriminalpolizei zu wenden, und hier legt man ihr sofort das Verbrecheralbum, Band IX, vor. „Auf der sechsten Seite wird sie wohl sein, diese Emma Schubel,“ sagt mit ruhiger Bestimmtheit der Beamte. „Sie hieß aber Auguste Pechow,“ versetzt schüchtern die Dame. „O, die hat noch mehr Namen, auch adlige, – sehen Sie her, diese ist es doch?“ und der Kriminalbeamte weist auf eine der Photographien. Aber die Dame schüttelt den Kopf: „Nein, nein, das ist sie nicht!“, denn ihr blickt eine vornehme Salonerscheinung entgegen, in enganschließendem Sammetjaquet, mit modernem Hütchen, unter dem kunstvolle Löckchen hervorgucken, mit dem zierlichsten Sonnenschirm und den elegantesten Handschuhen. „Sie wird’s wohl doch sein,“ meint der Polizist, „diese Emma Schubel liebt die Verkleidungen: heute Baronin und morgen Dienstmädchen, dann wieder Bonne oder Stütze der Hausfrau; aber wir haben ja mehrere Aufnahmen von ihr – wie steht’s denn mit dieser?“ und er zeigt auf ein hübsches Dienstmädchen mit einem Hamburger Häubchen auf dem glattgescheitelten Haar, mit weißer Schürze und baumwollenem Kleide. „Ja, das ist die Auguste!“, ruft die Dame fast erschrocken aus. – „Ja, ja, die macht gern solche Späße,“ versetzt der Beamte, „wir müssen uns beeilen, sie zu fassen, sonst finden wir von den Sachen überhaupt nichts mehr; ’s ist ’ne alte Bekannte von uns, sechsmal bestraft!“ –
Neuerdings hat die Berliner Kriminalpolizei auch die Messungen der Verbrecher eingeführt, gemäß dem[WS 1] von Dr. Bertillon in Paris begründeten „anthropometrischen System“, welches, gestützt auf die Ergebnisse der Anatomie, in der Messung gewisser Gliedmaßen besteht und auf diesem Wege das spätere Wiedererkennen erleichtern will. In Berlin geht man nicht so weit wie in Paris, man nimmt hier nur vier Messungen vor, die der Schädellänge, der Schädelbreite, der Länge des Mittelfingers der linken Hand und der Länge des linken Armes vom Ellbogen bis zur Spitze des Mittelfingers. Ob und wie sich diese Messungen in der Praxis bewähren, kann erst nach einer längeren Erfahrung entschieden werden.
In Verbindung mit dem Verbrecheralbum stehen die Registerblätter sowie die Merkmalverzeichnisse, welch letztere noch als Anhang eine Sammlung der Verbrecherspitznamen haben. Die Registerblätter, deren Nummern mit denen des Verbrecheralbums gleichlaufen, enthalten die für die Untersuchung nothwendigen Personalangaben. Angenommen, ein Dieb sei aus dem Verbrecheralbum festgestellt worden. Nummer 310 steht unter seiner Photographie; schlägt nun der Beamte Nummer 310 der Registerblätter auf, so findet er zunächst nochmals ein Bild des Diebes, neben diesem sodann die schriftlichen Ergänzungen: „Himmelmann, Friedrich (eigentlich Herschel); Schuhmacher, Handelsmann. Geboren 7. März 1853 in Warschau. W. 2931, A. G. (Aktennummern der Warschauer Polizei). 1883 wegen bandenmäßigen Taschendiebstahls zu Saarlouis – 2 Jahre Zuchthaus. 10. April 1884 Taschendiebstahl (Constanz) – 2 Monate Gefängniß. 13. Juli 1888 Bandendiebstahl (Bonn) – 2 Jahre 9 Monate Zuchthaus.“ Mit Leichtigkeit kann der Kriminalkommissar oder Untersuchungsrichter sich nun weitere Aufschlüsse über diesen Dieb verschaffen.
Die Merkmalverzeichnisse, welche gleichfalls einen sehr starken Großfolioband füllen, sind eingetheilt nach Haaren, Augen, Nasen. Ohren, Händen, Füßen, Narben, Buckel, Tätowierungen und Stottern. Schlagen wir einmal das Kapitel der Nasen auf, so finden wir beispielsweise: „Thiele, Ernst, 2201 (dies ist wieder die Nummer der Registerblätter, folglich auch die des Verbrecheralbums), Nasenrücken nach links gebogen“; bei den Füßen etwa: „Werktag, Friedrich, 751, das linke Bein kürzer als das rechte,“ oder bei den Tätowierungen, die man häufig bei den Verbrechern antrifft: „Schmidt, Ernst, 6610, auf der Brust einen Adler, auf dem rechten Arm zwei gekreuzte Schwerter, einen Engel und eine Frau, auf dem linken Arm ein Schlächterwappen und eine Schlange.“ –
Ganz merkwürdig ist die alphabetische Zusammenstellung der Verbrecherspitznamen, theils mit den Vornamen, theils mit dem Geburtsort oder den ehemaligen Gewerben oder endlich mit dem Aeußern ihres Trägers in Verbindung stehen. Diese Aufzeichnungen lauten etwa: „Kellner-Emil. – Emil Bäcker, Kellner; 21. Mai 1862 geb. in Berlin. – Einbrecher.“ Oder: „Stralsunder Albert. – Albert Brutz, Schlächter; 18. Juni 1856 geb. in Stralsund. – Bauernfänger.“ Oder: „Karambolagen-August. – Karl Friedrich Ernst Schneider, gen. Schulze; 4. Januar 1859 geb. in Berlin. – Einbrecher.“ – Um nur noch einige Namen zu nennen, erwähnen wir, daß die Berliner Verbrecherwelt einen „Totenkopf“, „Ulanen-Otto“, „Bäcker-Ede“, „Grauen Anton“, „Matrosen-Albert“, „Kameruner-Fritze“, „Glatzköpfigen Adolf“, „Schwarzen-Richard“, „Kühnen Oswald“, „Maler-Gustav“, „Sammetkäppchen“, „Blonden August“, „Studenten-Oswald“, „Kuchen-Otto“ etc. kennt.
Auch diese Zusammenstellung von Spitznamen hat schon manchen Vortheil gebracht. Einst war in der Mauerstraße ein verwegener Einbruchsdiebstabl verübt worden und man fahndete vergeblich auf die Thäter; da meldete sich eines Tages ein in derselben Straße wohnender Handwerker bei der Kriminalpolizei und theilte mit, sein zwölfjähriger Sohn habe mehrere Abende hindurch zwei Männer vor der Hausthür getroffen, von denen er zufällig zweimal den Namen „Rother Otto“ gehört habe. Die Kriminalpolizei ließ von nun an den „Rothen Otto“, auf den sie bis dahin keinerlei Verdacht gehabt hatte, scharf beobachten, dann Haussuchungen bei ihm halten und entlarvte ihn richtig als einen der bei jenem Einbruch betheiligten Verbrecher.
Sehr umfangreich ist ferner das Material, um jener Betrüger habhaft zu werden, die in Handschriftenfälschungen und Stempelnachahmungen „arbeiten“. Ein vielumfassender Kasten ist ganz mit derartigen Fälschungen gefüllt, und auf jedem Blatt steht der Name des Fälschers. Nehmen wir an, auf Grund eines gefälschten Briefes oder Firmastempels sei bei einem Kaufmann ein Posten Waren entnommen worden und der Geschädigte setze unter Vorlegung des gefälschten Schriftstücks die Kriminalpolizei davon in Kenntniß. Ist der Betrüger nicht ein „Neuling“, so darf man mit ziemlicher Sicherheit darauf rechnen, daß sich unter den vorhandenen Papieren schon eine Fälschung von ihm befindet und er durch den mit dieser Aufgabe [707] betrauten und in der Schriftkunde sehr erfahrenen Beamten leicht entdeckt wird.
Scheinbar sehr umständlich und doch ungemein einfach ist auch die Einrichtung, daß binnen zwei Stunden sämmtliche Berliner Gasthöfe und Pensionate von der Polizei durchsucht werden können, um zu erforschen, ob ein von auswärts nach Berlin geflüchteter Verbrecher sich in einem derselben verborgen hält. Berlin ist in dreißig Bezirke eingetheilt; die Gasthäuser und Fremdenwohnungen jedes Bezirks sind auf je einem Blatt verzeichnet. Soll nun eine derartige „Razzia“ stattfinden, so werden dreißig Kriminalbeamte abgesandt, von denen jeder die auf seinem Blatt verzeichneten Häuser zu durchsuchen hat; nach zwei Stunden kann jeder an den Chef berichten, ob die Untersuchung von Erfolg begleitet war oder nicht.
So groß auch diese Hilfsmittel der Kriminalpolizei sind, so reichen sie doch nicht aus, um den Kampf mit dem Berliner Verbrecherthum siegreich durchzuführen – es gehören auch noch dazu lebende Unterstützungstruppen, und dies sind die sogenannten „Vigilanten“ oder „Fünfgroschenjungen“; den letzteren Namen führen sie noch von jenen Zeiten her, wo sie für jeden ihrer Dienste fünf Silbergroschen erhalten haben sollen. Die Vigilanten sind meist aus den Verbrecherkreisen hervorgegangen oder halten mit diesen doch so enge Fühlung, daß man sie zu ihnen rechnen kann; sie bekommen auf diese Weise manche Kunde von einem beabsichtigten Streich und theilen ihre Beobachtungen der Polizei rechtzeitig mit, sodaß diese ihre Maßregeln zu treffen vermag. Sind die Verbrecher erst dahintergekommen, daß einer der Ihrigen den Angeber spielt, so ist dieser auf alle Zeiten verfehmt; oder aber er wird zum unabsichtlichen Werkzeug seiner früheren Genossen, indem sie ihm absichtlich falsche Nachrichten zutragen und auf solche Weise die Polizei täuschen. Zuweilen steht auch der Vigilant gleichzeitig in den Diensten der Polizei und der Verbrecher, das heißt, er dient der Partei, welche ihn am besten bezahlt, und läßt sich insbesondere von seiten der Verbrecher sein Schweigen theuer bezahlen. Fast immer hat man es hier mit unlauteren, wenig verläßlichen Charakteren zu thun, aber die Kriminalpolizei kann der Vigilanten nicht entbehren und muß ihre Zuträgereien beachten.
Vor allem gilt jedoch auch bei der Kriminalpolizei wieder das Wort: „Hilf Dir selbst!“ und die Kriminalbeamten sind in den meisten Fällen einzig auf ihre eigene Thätigkeit angewiesen; Willenskraft, Findigkeit, gewandtes Wesen, Verstellungskunst, körperliche Stärke – das sind etwa die Eigenschaften, über die ein tüchtiger Kriminalbeamter verfügen muß, wenn er Hervorragendes leisten will. Ihre Pflichten sind die schwersten, die man sich denken kann, ihre Entschlüsse können Menschenleben retten, können aber auch ganze Familien in Unglück und Elend stürzen. Oft in persönlicher Gefahr, im Kampfe mit dem Abschaum der Menschheit, müssen sie stets Ruhe und Klugheit bewahren, eingedenk ihrer großen Verantwortlichkeit. An ihren Scharfsinn werden die weitesten Ansprüche gestellt: heute auf der Spur eines durchgegangenen Kassierers, steht der Beamte in der Tracht eines Packträgers auf einem der Bahnhöfe, anscheinend den soeben eingetroffenen Reisenden keinerlei Beachtung schenkend und doch jeden aufs genaueste beobachtend; morgen finden wir ihn in eleganter Kleidung unter den „Linden“, wo er den naiven Fremden spielt, um diesen oder jenen Gauner anzulocken; an einem der nächsten Tage folgt er, als Arbeiter verkeidet, einem verdächtigen Verbrecher auf Schritt und Tritt durch Berlin, gesellt sich in Kneipen unauffällig zu ihm und beobachtet dort seinen Verkehr. Oder er läßt sich in eine Wohnung einschließen, in welche Diebe einzubrechen beabsichtigen, und überrascht die Herren, wenn sie in emsiger Thätigkeit sind. –
Kriminalbeamte und Verbrecher stehen – Ausnahmen sind selbstverständlich auch vorhanden – durchaus nicht auf so gespanntem Fuße, wie man annehmen sollte. Der Verbrecher sieht natürlich in dem Kriminalisten seinen Feind, aber wie er von der Wahrheit seines Grundsatzes: „Eigenthum ist Diebstahl“ überzeugt ist, so ist er es auch davon, daß es eben der Beruf des Kriminalisten ist, ihn, den Verbrecher, zu verfolgen und möglichst unschädlich zu machen; das ist dessen Amt und dafür wird er bezahlt; man kann ihm also die Sache nicht gar so übelnehmen! Ja, man ist versucht, zu sagen, es bestehe zuweilen zwischen diesen sich so schroff gegenüberstehenden Parteien eine Art gegenseitiger Achtung vor der List und Mühe, mit der man einander habhaft zu werden, beziehungsweise einander zu entgehen sucht, und es ist nichts Seltenes, daß man aus dem Munde eines Verbrechers das Lob eines besonders tüchtigen Kriminalbeamten vernimmt. Es kommen daher auch nur wenig blutige Kämpfe zwischen Kriminalbeamten und Verbrechern vor, und es kann sogar sein, daß Vertreter beider Gattungen einträchtig bei einem Glase Bier sitzen und von ihren Erlebnissen berichten, wenn so ein Spitzbube gerade seine letzte Strafe verbüßt und eine neue noch nicht verwirkt hat.
Die Hauptmasse der Kriminalbeamten bilden die Kriminalschutzmänner. Sie sind aus der uniformierten Schutzmannschaft hervorgegangen, aus der sie zunächst versuchsweise auf sechs Monate entnommen und der Kriminalpolizei zugetheilt werden; bewähren sie sich, so treten sie endgültig in deren Dienst ein und hängen die Schutzmannsuniform für immer an den Nagel, da sie in ihrer neuen Eigenschaft nur Civil tragen. Ihr Erkennungszeichen ist eine thalergroße Medaille aus Metall, welche auf der einen Seite den Adler über der Stadt Berlin, auf der anderen die Worte [708] „Königlich Preußischer Polizeibeamter“ sowie die Nummer der Medaille trägt. Auf Grund dieses Zeichens kann jeder Kriminalbeamte sofort Verhaftungen vornehmen und die Hilfe der uniformierten Polizeimacht beanspruchen.
Eine Bewaffnung der Kriminalbeamten, und zwar mit Revolvern, ist erst vor kurzer Zeit verfügt worden. Die Leute benutzen die Waffe jedoch nur in den alleräußersten Nothfällen – wie vor einigen Monaten, wo ein Kriminalbeamter einen Einbrecher, übrigens nicht einmal mit Absicht, erschoß; sonst vertrauen sie ihrer Körperkraft, die sie denn auch fast nie im Stiche läßt. Ebenso selten verwenden sie bei der Weiterbeförderung eines Verhafteten die Handschellen. Es sind dies zwei kleine, an einem kurzen aus feinen Darmsaiten gedrehten Strick befindliche Holzknebel, welche der Beamte in der linken Hand behält, nachdem er den Strick um das rechte Handgelenk des Verhafteten geschlungen hat; bei der geringsten fluchtähnlichen Bewegung des letzteren schneidet der Strick aufs empfindlichste in das Fleisch ein; zudem hat der Beamte stets die rechte Hand frei, um jeden Widerstand seines Gefangenen bewältigen zu können. –
Mit jedem neuen Tage treten an die Kriminalpolizei neue Aufgaben heran, und mit jedem Tage wächst ihre Arbeitslast, die bewunderungswürdig schnell und sicher erledigt wird; nimmt man doch an, daß gegenwärtig in Berlin 30000 Menschen auf verbrecherische Weise ihren Erwerb suchen!
Blätter und Blüthen.
Ein schwäbischer Stürmer und Dränger. Am 10. Oktober enthüllt man zu Aalen in Württemberg ein Denkmal des Dichters Schubart. Es sind an diesem Tage hundert Jahre, daß der reich begabte stürmische Mann nach einem unruhigen, wechselvollen Leben die Augen schloß. An Aalen knüpft sich eine Fülle von Erinnerungen an den Dichter. Es war im Mai 1775, als Schubart von Ulm aus, wo er seit Anfang des Jahres seine „Deutsche Chronik“ herausgab, zur Hochzeit seines Bruders, des Stadtschreibers von Aalen, in seine Vaterstadt zurückkehrte, in der er von 1740, von seinem zweiten Lebensjahre an, seine ganze Jugendzeit verbracht hatte. Bei der Hochzeit wurde dem Dichter ein kleiner Knabe, der Sohn eines Lebküchners, der spätere Prälat Pahl, vorgestellt. „Er legte,“ erzählt Pahl selbst, „seine Hand auf meinen Kopf und sprach mit seiner Stentorstimme: ‚Gottfried! Werde ein ganzer Kerl und mache deiner Vaterstadt Ehre, wie ich.‘ Diese Worte wirkten auf mich, als hätte sie ein Heiliger gesprochen; der Eindruck derselben wurde auch nicht geschwächt, als der Dichter unmittelbar darauf das Lessingsche Gedicht: ‚Gestern Brüder! könnt ihr’s glauben?‘ unter Musikbegleitung sang und gräßliche Grimassen dazu schnitt.“ – Daß er selbst noch vor kurzer Zeit seiner Vaterstadt wenig Ehre gemacht hatte, als er aus Ludwigsburg vertrieben in der Welt umherirrte, das hatte der leichtlebige geniale Dichter schon lange vergessen; durch seine „Chronik“ stand er jetzt auf der Höhe seines Ruhmes.
Noch ein Jahr vorher hatte Schubarts Vater, ein Original gleich diesem – „Ahnherr Felsenmasse – Sohn Figur“, sagt der Enkel Ludwig Schubart von beiden – von seinem Sohne geschrieben: „Sie verlangen Nachrichten von meinem umherirrenden Sohne? Ach, daß ich antworten könnte: er ist auf einer friedlichen Insel gelandet, und die Seinigen sind versammelt um ihn, bedeckt vom Fittig seines Geistes. Noch befindet er sich in Augsburg, giebt in den ersten Häusern Unterricht in der Musik, hält Vorlesungen über Klopstocks Messias und schreibt seine Chronik – die ihm aber viel Verdruß und Verfolgungen zuzieht. Wie konnte der brausende Wolf nur auf den Einfall gerathen, in Deutschland ein politisches Blatt zu schreiben? So was müssen bei uns ausgetrocknete Schulmeister thun, die vor dem – – eines Großen den Hut abnehmen und vor seinem Räuspern Fieberstöße bekommen – der Mann von Genie hüte sich vor der Krone, denn Blitze fahren heraus. Es giebt andere Tummelplätze genug, wo er seine Kraft zeigen und austoben lassen kann. Das habe ich meinem Sohne erst kürzlich wieder geschrieben und ihm die Besorgniß meines Vaterherzens nicht verhehlt, daß seine Zeitung das Unglück seines Lebens sein werde.“
Seine Zeitung wurde nur zu bald das Unglück seines Lebens. Sein Vater hat das zum Glück nicht mehr erlebt. Am 22. Januar 1777 wurde Schubart auf Veranlassung des Herzogs Karl von Württemberg aus Ulm weggelockt und in sein „Kerkergrab“ auf den Asperg gebracht. – Mehr als durch seine Gedichte und durch seine Chronik ist Schubart durch sein Unglück, durch die ausgesuchte Grausamkeit seiner zehnjährigen Gefangenschaft auf dem Hohenasperg bekannt und berühmt geworden. Was hatte er verschuldet, daß er so grausam bestraft wurde? Durch die neuesten Forschungen sind merkwürdigerweise die von Schubart selbst angeführten Gründe zum größten Theil als nicht stichhaltig erwiesen worden. Den angeblichen österreichischen Einflüssen kommt jedenfalls nicht die Bedeutung zu, welche Schubart selbst ihnen beizulegen für gut fand. Seinen schlimmsten Feind hat er offenbar, das tritt immer deutlicher hervor, in Württemberg selbst gehabt und das war – eine Frau, war Franziska von Hohenheim, die spätere Gemahlin Herzog Karls. In Schubarts Beziehungen zu ihr – er war ihr Lehrer im Klavierspiel in Ludwigsburg gewesen – und in seinen Aeußerungen über sie sind wohl die letzten Ursachen seines furchtbaren Geschickes zu suchen. Dem Dichter gegenüber hat sich Franziska jedenfalls nicht als der gute Engel erwiesen, für den sie von einer schmeichlerischen Zeit gehalten worden ist.
Es ist Schubarts Kerkermeistern gelungen, ihn windelweich und fromm zu machen; aber wenn es ihm auch noch auf dem Asperg vergönnt war, die tiefsten und schönsten Töne zu finden, so in den Liedern über sein Elend und in dem in der ganzen Welt gesungenen Kaplied, seine Geisteskraft war gebrochen und vernichtet. Seinem fürstlichen Peiniger mußte er Loblieder singen, und Jahr um Jahr that er es, ehe er zum Dank dafür die Freiheit fand. Erst als er auch zum Preise der herzoglichen Freundin in die Saiten griff, durfte er im Mai 1787 aus ihrem Mund das Wort der Erlösung hören. In welcher Stimmung mag Schubart auf das Geburtsfest der Gräfin Franziska das in die Sammlung seiner Gedichte nicht aufgenommene Lied gedichtet haben, das nach unserer Ansicht die Thüre seines Kerkers geöffnet hat:
„Franziska, nie hat meine Hand
Die Harf’ entlüpft der Kerkerwand,
Ein Lied von Dir zu singen;
Denn deutschen Barden ziemt es nicht,
Mit erdekriechendem Gedicht
Sich Gnade zu erringen.
Des Deutschen Lied ist frei und groß,
Es reißt sich von der Seele los
Wie von Gebirgen Felsen. –
Doch heut an Deines Festes Strahl
Soll mein Gefühl von Dir einmal
Im sanften Liede schmelzen.“
Schubart war frei, aber er hat immer das Gefühl gehabt, daß seine Kette nur „um einige Ringe verlängert“ worden sei. Ein halbes Jahr nach seiner Freilassung besuchte er die alten Stätten seiner Wirksamkeit, Geislingen, wo er sechs Jahre lang die immer unerträglicher werdende Last des Schulamts getragen hatte; Ulm, wo er seinen wahren Beruf gefunden, wo er am glücklichsten gewesen war, und die alte Heimath Aalen. Seine Reise gestaltete sich zu einem wahren Triumphzug. In Aalen, wo die alte Mutter den dem Grabe Entstiegenen ans Herz schloß, wurde er von dem biederen Magistrate, der sich wie so viele Edelgesinnte, hoch und nieder, um die Freilassung des unglücklichen Dichters vergeblich bemüht hatte, im Namen der Stadt bewirthet. Alle die Ehrenbezeigungen, mit denen er überschüttet wurde, sagten es ihm jetzt laut, daß er der Stolz der Stadt war. Dieser frohe Empfang war einer der wenigen Lichtpunkte, die ihm vor seinem Tode am 10. Oktober 1791 noch zutheil wurden.
Wollen wir nun noch verwundert fragen: warum in Aalen ein Denkmal und nicht in Obersontheim, wo Schubart geboren, oder in Stuttgart, wo er gestorben ist? Gewiß haben die Urenkel jener Männer, die in ihm mit solcher Freude den Ihrigen sahen, ein volles Recht, am hundertsten Gedenktage seines Todes dem noch immer unvergessenen Dichter ein Denkmal zu weihen. Mögen sie dabei von dem Geiste des tapferen deutschen Mannes einen Hauch verspüren! K. G.
Kleiner Briefkasten.
B. M. in W. Sie haben recht, unsere Abbildung in Nr. 38 giebt Körners Grabstätte bei Wöbbelin nicht in ihrem heutigen Zustande wieder, sondern so, wie sie unmittelbar nach dem Tod des Dichters ausgesehen hat. Um jeden Irrthum auszuschließen, ist im größten Theil der Auflage die Unterschrift unter dem Bilde durch die Worte „im Jahre 1813“ erweitert.
- ↑ Mit freundlicher Erlaubniß der Verlagshandlung (A. Bonz & Comp. in Stuttgart) der demnächst erscheinenden Sammlung nachgelassener Scheffelscher Gedichte „Aus Heimath und Ferne“ entnommen.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Vorlage: em