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Die Gartenlaube (1891)/Heft 42

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1891
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[709]

Nr. 42.   1891.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf.   In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf.   In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Am Nelkenfenster.

Von Max Haushofer.

Im kleinen Haus, wo der Wald anfängt,
Das Fenster – soll ich dir’s zeigen?
Das Fenster, das voller Nelken hängt,
Aus dem die Blüthen sich neigen?

5
Ein Mädchenkopf lugt lieb heraus

Hinter den Nelken da drinnen;
Ein Köpfchen, mit Haaren blond und kraus,
Verloren in Sehnen und Sinnen!

So schauten auch, zwanzig Jahr sind’s bald,

10
Zwei Augen in seliger Wonne

Heraus in das Dorf und den Nachbarwald
Und in die sinkende Sonne.

Dann kam ein Sturm, vom Herbst geschickt,
Ein Sturm von vielen Wochen;

15
Da wurde Blüthe um Blüthe geknickt

Und ein armes Leben zerbrochen.

Ein schlichtes Kreuz am Friedhof nur
Ist von dem allem geblieben;
Und eine schwache Erinnerungsspur,

20
Ein bißchen vergessenes Lieben.


Verlorenes Glück – zerbrochene Treu’
Und Leid und Sehnsucht von Jahren –
Wie lang schon sind sie still und scheu
Hinab zu den Todten gefahren?

25
Doch wieder blühen die Nelken dort,

Und lächelnd grüßt es hernieder; –
Erneut das Glück sich immerfort?
Verjüngt sich alles denn wieder?

[710]
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Ein Götzenbild.

Roman von Marie Bernhard.

(6. Fortsetzung.)

Gerda war erschrocken zusammengezuckt, als sie die Berührung Andrees fühlte, und hatte eine rasche Bewegung zum Davonlaufen gemacht. Als sie aber erkannte, wen sie neben sich hatte, blieb sie stehen.

Ein verweintes Gesicht kann niemals hübsch sein, und dies hagere, lang in die Höhe geschossene, halbentwickelte Mädchen hatte ohnehin keine hübschen Züge. Ein schönes Bild bekam also Andree keineswegs zu sehen, aber die dick verschwollenen Augenlider, die Thränenspuren auf den Wangen und der wie bei einem Kinde hilflos zuckende Mund rührten ihn doch.

„Noch ein Jährchen oder höchstens zwei, und Sie fliegen dort“ – er machte eine Kopfbewegung nach rechts hinüber – „mit den andern jungen Damen um die Wette über das Parkett!“

Sie konnte zunächst noch nicht sprechen und schüttelte nur in heftiger stummer Verneinung den Kopf.

„Nicht? Sie meinen, nicht? Aber warum denn in aller Welt?“

Gerda hob ihre thränenschweren Augen zu ihm auf und sah ihn eine kleine Weile aufmerksam an, dann schüttelte sie von neuem den Kopf.

„Ich kann es Ihnen nicht sagen,“ kam es endlich stockend von ihren Lippen, und in der Stimme zitterte noch das Schluchzen nach, „Sie würden es mir nicht glauben, mich auch nicht verstehen. Allein es ist doch so: ich werde nie da drinnen tanzen!“

Er blickte sie an, in stummem Erstaunen über ihren leidenschaftlichen Ernst. „Und Sie tanzen gern, nicht wahr?“ fragte er endlich zögernd.

„Brennend gern!“ rief Gerda begeistert, und wie bei Kindern, die „Lachen und Weinen in einem Sack haben,“ brach jetzt ein strahlendes Lächeln um ihre Augen und Lippen hervor.

„Haben Sie denn Tanzstunde gehabt?“

„Jawohl, als kleines Mädchen! Damals, als Mama noch glaubte …“ Sie hielt inne.

„Nun?“ forschte er leise. „Was glaubte Ihre Mama damals?“

Sie freute sich im stillen an seiner sanften Art, mit ihr umzugehen, und an seiner angenehmen Stimme.

„Ich möchte es lieber nicht sagen, es würde häßlich klingen, und Sie würden schlecht von mir denken!“ Sie drehte hastig den Kopf. „Kommt auch niemand hierher? Dann müßte ich fort!“

Andree lachte gutmüthig. „Also ich bin für Sie niemand?“

Das Kind wurde etwas verlegen.

„Sie haben mich ja überrascht. Hätte ich gewußt, daß Sie mich fänden, dann wär’ ich weggelaufen!“

„Können Sie denn von hier etwas sehen?“

„O ja, das kann ich, ich habe sehr gute Augen. Kommen Sie einmal hierher; da, zwischen den Zweigen ist eine Lücke, ein richtiger Ausguck! Da hab’ ich durchgesehen, und die Musik hört man ja ganz deutlich. Hören Sie, jetzt tanzen sie Kreuzpolka!“

„Ist es denn auch vernünftig, daß Sie sich herschleichen, um sich das Herz schwer zu machen?“

„Nein, es ist dumm von mir!“ gab sie zu. „Aber ich konnte gar nicht anders! Sie werden niemand sagen, daß Sie mich hier fanden – nein? Denn sonst, die Schelte!“

„Gott bewahre!“ versicherte der Maler ernsthaft. „Das ist schon das zweite Geheimniß, das wir mit einander haben, Fräulein Gerda! Ich treffe Sie immer in kritischen Augenblicken an!“

„Richtig!“ Sie lachte kurz auf. „Neulich auf der Treppe, als ich die Jungen mit meinem Zopf schlug!“

„Ja, der schöne Zopf ist mir gleich aufgefallen.“

„Den finden Sie schön?“ gab sie verächtlich zurück. „Greulich ist er! Jeder reißt und zerrt an ihm herum, und es ist schauderhaft langweilig, ihn zu flechten; überall ist er mir im Weg, und aufstecken läßt er sich nicht, weil er zu schwer ist! Ich betrachte ihn als meinen persönlichen Feind. Sie sind ja ein Maler, schauen Sie ihn doch nur an!“ Sie holte den Zopf unwillig hervor und hielt ihn mit herausfordernder Miene vor Andree hin. „Wie das Ding aussieht! Kein bißchen lockig oder wellig – glatt wie ein Katzenschwanz! Und wie hübsch ist das immer in Romanen zu lesen: ‚ihr Haar leuchtete wie Gold‘, oder: ‚die Sonne streute Goldfunken auf ihr Haar!‘ Und es giebt solches Haar, ich brauche ja bloß meine Schwester Stella anzusehen, die hat es! Aber mein dummer Zopf – nichts! Sogar jetzt, wo soviel Licht von allen Seiten auf ihn fällt – ich kann ihn drehen, wie ich will: braun, nichts als langweiliges, stumpfes, gleichförmiges Braun! Ach!“ Sie warf die schwere Flechte ungeduldig weg, wie ein werthloses Ding, sodaß sich dieselbe auf dem Rücken hin- und herbewegte wie ein Perpendikel.

Andree belustigte sich nicht wenig über das zornige junge Fräulein.

„Also Sie lesen auch Romane?“ forschte er weiter.

„Natürlich! So oft ich dazu komme! Ich muß nur leider zuviel lernen.“

„Ist die Schule so anspruchsvoll?“

„Schule? Aber ich besuche ja gar keine.“ Ihre großen Augen maßen ihn verwundert, daß er das nicht wußte. „Ich werde ja mit Wolfgang privatim unterrichtet und lerne alles mit ihm, weil er allein gar nicht weiterkam und es auf dem Gymnasium erst recht nicht mit ihm ging!“

„Und da müssen Sie auch Lateinisch und Griechisch lernen?“

„Gewiß! Wir lesen den Ovid und Xenophon und dann den Homer!“

„Wirklich? Wie finden Sie die alten Griechen und Römer?“

„Scheußlich!“ sagte Gerda mit anerkennenswerther Offenheit. „Wir müssen uns greulich mit ihnen abquälen, namentlich Wolf, dem das Lernen der alten Sprachen so schwer wird – und wozu eigentlich?“

„Aber der Homer ist doch schön!“

„Ich würde ihn deutsch viel schöner finden. Wenn ich mir erst siebenundzwanzig Vokabeln aufsuchen muß, ehe ich einen Satz zusammenbekomme, dann ist mir der Sinn für die Schönheit schon lange verloren gegangen.“

Andree nickte; er konnte sich das denken, obgleich er selbst, für Sprachen ungewöhnlich gut beanlagt, seine Ilias und Odyssee mit großem Genuß auf der Schule gelesen hatte.

„Aber wer in aller Welt hat denn so über Sie verfügt?“ rief er in ehrlichem Erstaunen. „Ein junges Mädchen in Ihrem Alter hat doch andere Dinge zu thun, als den Xenophon zu studieren! Ihre Eltern müssen – –“

„Es sind nicht meine Eltern, die das bestimmt haben!“

„Nun, wer war es denn sonst?“ warf er unwillig dazwischen.

Sie schüttelte wieder den Kopf mit dem verschlossenen Gesichtsausdruck, den sie bei Beginn des Gesprächs gehabt hatte; dann warf sie trotzig die Lippen auf.

„Was hilft es alles? Zu ändern ist’s nicht, ich muß sehen, wie ich mich mit meinen Griechen und Römern abfinde! Erzählen Sie mir lieber ein bißchen von heute, Herr Andree! Wen hatten Sie zur Tischnachbarin?“

„Fräulein Lina Birkmann!“

„So, also die! Gefiel sie Ihnen?“

Andree lächelte. „Solch eine Gewissensfrage, Fräulein Gerda – –“

„Mir könnten Sie das ruhig sagen – aber wie Sie wollen! Wen hatten Sie denn zum Gegenüber?“

„Ihr Fräulein Schwester mit Herrn Konsul White!“

„Das ist der!“ Gerda deutete durch eine Geberde seine langen Bartkoteletten an. „War denn der Prinz nicht in der Nähe?“

„Gewiß, er saß rechts von Ihrem Fräulein Schwester!“

„Und Ritter Kuno?“

„Ihr schräg gegenüber!“

Gerda nickte. „Ganz wie ich es mir dachte!“ Sie schaute vor sich hin. „Und natürlich ist Stella wieder die Schönste!“

„Weitaus die Schönste!“ Er musterte aufmerksam das junge blasse Gesicht, das er vor sich hatte, um einen Zug zu entdecken, der an die schöne Schwester erinnern könnte.

„Geben Sie sich keine Mühe!“ sagte Gerda mit einem Lächeln, das merkwürdig gereift und überlegen aussah. „Ich gleiche ihr nicht im mindesten.“

„Haben Sie meine Gedanken sofort errathen?“ fragte er erstaunt.

„Natürlich! Ich sah es Ihnen am Gesicht an!“

Hier näherten sich Schritte und Gerda machte eine Bewegung, [711] um davonzulaufen. Zuvor jedoch spähte sie mit einem raschen Blick durch die Lücke in der Blumenwand und rief in erleichtertem Ton: „Ach, Gott sei Dank, es ist Onkel Grimm!“

„Ja, es ist Onkel Grimm!“ bestätigte der genannte Herr und bog um die blühende Mauer. „Merkwürdig, daß ich hier die beiden einzigen Menschen finden muß –“ er räusperte sich und verstummte, und Andree dachte für sich, hier sei offenbar der Platz für unvollendete Sätze.

„Also Du bist noch nicht zu Bett, Töchterlein!“ begann der weißhaarige Herr freundlich und strich mit seiner feinen Hand zärtlich über das braune Haar, das die Besitzerin eben noch so lieblos beurtheilt hatte.

„Nein, Onkelchen! Ich wollte hier noch heimlich ein bißchen zuschauen.“

Sofort, beim ersten Blick und Ton, hatte Waldemar begriffen, daß da ein vertrauliches, gutes Verhältniß herrsche, und er freute sich dessen.

Herrn Grimms kluge schwarze Augen waren von kleinen freundlichen Weingeisterchen belebt, sein Gesicht hübsch geröthet, seine Lippen umspielte ein vergnügliches Lächeln.

„Das Studium hier gefällt Dir wohl besser als das Deiner Wissenschaften? Sie müssen nämlich erfahren,“ – hier wandte er sich zu Andree – „daß dies Fräulein alte Sprachen treibt. Was lernen wir denn jetzt in der griechischen Grammatik?“

„Die Verba auf mi, Onkel Grimm, die schrecklichen Verba auf mi!“

„Aber das ist ja zu töricht!“ rief Andree eifrig. „Herr Grimm, Sie sind doch ein alter Freund der Familie, und der Herr des Hauses scheint besonderes Gewicht auf Ihr Urtheil zu legen. Was soll denn ein junges Mädchen in dieser Lebenslage, in diesen Verhältnissen sich abquälen mit den Verba auf mi und dem Ovid? Wenden Sie doch, bitte, Ihren Einfluß auf, um dem ein Ende zu machen!“

„Das kann ich leider nicht!“ Herr Grimm sah sehr ernst, fast bekümmert aus. „Der Einfluß, dem ich entgegenzuarbeiten hätte, ist weit stärker als der meine!“

„Und welcher wäre denn das?“

Die dunkeln Augen hefteten sich fest auf den Maler. „Sie werden ihn auch noch kennenlernen!“

In diesem Augenblick schwieg die Tanzmusik, wie durch Zauberschlag standen die Paare still, und einzelne Gruppen begannen, sich in die anstoßenden Gemächer zu verfügen.

„Adieu, Onkel!“ flüsterte Gerda hastig, als stehe jemand zwei Schritte vor ihr, um sie zu belauschen. „Ich komme sehr bald zu Ihnen! Adieu, Herr Andree!“ Sie reichte ihm die Hand und machte ihren ungeschickten Knix dazu; sie empfand ihre Unbeholfenheit sofort, und sie und Andree lachten einander ungezwungen ins Gesicht. „Grüßen Sie Hafis, Onkel!“ rief sie noch zurück, und dann war sie wie ein Schatten verschwunden.

„Das ist ja ein liebes Kind!“ sagte Andree und schaute hinter ihr her.

„Ganz recht, ein liebes Kind!“ betonte Herr Grimm nachdrücklich und nickte ein paarmal mit dem Kopfe.

Die beiden Herren traten aus dem Wintergarten heraus.

„Wer ist denn Hafis?“ fragte Andree im Weiterschreiten.

Ueber seines Begleiters Züge flog ein belustigtes Lächeln. „Sie werden ihn kennenlernen, wenn Sie mich besuchen. Sie sollen ihm vorgestellt werden!“




10.

Wenn es richtig ist, daß im Wein die Wahrheit ist, – und ich habe immer gefunden, daß es ein guter Spruch ist, der sich sehr oft im Leben bestätigt! – dann stand Herrn Hilt die Wahrheit nicht gut zu Gesicht. Er war ein ausgesprochener Feinschmecker und hatte sich herzlich wenig um seine Tischnachbarin gekümmert, die sein Schönheitsgefühl nicht im mindesten befriedigte, dagegen hatte er des Herrn Senator Brühl auserlesene Weine einer sorgfältigen und liebevollen Prüfung unterzogen, und das Ergebniß dieser Prüfung war nun, daß dasjenige, was als Firniß und Kulturprodukt an Herrn Hilts Wesen haftete, rasch, wie neuer Schnee an der Sonne, dahinschmolz und die unverfälschte Natur, das eigentliche Ich dieses Kunstjüngers zum Durchbruch kam.

Er hatte sich, nachdem die Tafel aufgehoben war, mit einigen andern Herren, die ungefähr gleichen Geistes waren, in eines der hübschen kleinen Seitengemächer „gerettet“, wie er es nannte, um nicht zum Tanzen gepreßt zu werden. „Denn um diesen Wahnwitz mitzumachen,“ verkündete er, „dazu ist mir jetzt das allerschönste Weib nur gerade gut genug, so zum Beispiel die Tochter des Hauses! Weil ich aber bemerkt habe, daß selbige schon beim Beginn dieses Festes nicht mal mehr für einen Prinzen von Geblüt einen Tanz übrig hatte, so halte ich dafür, meine Kräfte und Lungen lieber einer würdigeren Aufgabe zu widmen als der, wie ein Tollhäusler durch den Saal zu rasen und Staub und Hitze einzuathmen. Prosit, meine Herren! Die göttliche Stella Brühl soll leben!“

Man kann nicht anders sagen, als daß die Herren dieser Aufforderung mit Begeisterung entsprachen. Der Gegenstand verlangte es gebieterisch und der „Stoff“ dazu. Ein paar vielversprechend aussehende Flaschen standen auf einem mit Mosaik eingelegten Tisch vor ihnen, und der Bediente hatte ihnen auf ihren Wunsch verschiedene Sorten Gläser zurechtgestellt. Wer konnte alten Bordeaux aus einem Römer und Rüdesheimer Auslese aus einem Champagnerkelch trinken!

„Wunderbar schön ist sie, es hält sich keine neben ihr!“ rief ein junger Mann mit einer auffallend in die Höhe gestülpten Nase und dünnen röthlichen Haaren. „Die duldet keine andern Götter neben sich, aber ihre Eltern wissen auch, was sie an ihr haben! Kaum hat sie Koppay für ein gehöriges Stück Geld in Pastell gezeichnet, da soll sie schon wieder gemalt werden; der Vater hat es mir verrathen, es stehe noch nicht ganz fest, sei aber große Wahrscheinlichkeit!“

„Stella – malen?“ fragte Kuno von Tillenbach aufgeregt dazwischen. Er hatte sich der Gesellschaft angeschlossen, nicht weil er noch mehr Wein trinken wollte, sondern dem unbestreitbaren Umstand zufolge, daß er im Tanzsaal eine traurige Figur spielte. „Wer soll sie malen? Sagen Sie es doch, Leskow! Für wen denn? Wer soll es – das Bild – ich meine, wenn es ein Bild wirklich wird – –“

„Ich fürchte, für Sie wird es nicht bestimmt sein, Kuno, selbst wenn es ein Bild wirklich wird!“ entgegnete Leskow mit großem Ernst und entfesselte damit ein dröhnendes Gelächter, während dessen sich der junge Ritter von Tillenbach rathlos und eingeschüchtert nach allen Seiten umsah. „Soweit ging die väterliche Beichte überhaupt nicht, daß sie mir gleich den beglückten Empfänger bezeichnete. Ich erfuhr nur, daß der Maler ein gewisser Andree sein soll, übrigens ein bekannter Name, kommt aus Rom, hat da namhafte Bilder geleistet –“

„Und dürfte mit dem fraglichen Gegenstand merkwürdig vertraut sein!“ warf Hilt dazwischen und goß den Sekt in langem Zuge hinunter.

„Andree? Ist das der auffallend große brünette Mann, der mit Grimm zusammen stand?“ fragte jemad, aber Leskow rief nur ein ungeduldiges: „Ja, derselbe!“ und wandte sich gleich wieder zu Hilt: „Warum merkwürdig vertraut? Der Mann kommt frisch von Italien herauf und hat die schöne Stella bisher mit keinem Auge gesehen!“

„So? Auch gut!“ sagte Hilt langsam und holte sich eine frische Flasche herüber. „Wer’s glauben will, der kann es ja glauben!“

„Aber was machen Sie denn für’n verrücktes Gesicht dazu!“ rief der junge Barckwitz – großes Exportgeschäft, Barckwitz und Sohn – über den Tisch herüber.

„Barckwitz hat an Ihnen ein verrücktes Gesicht bemerkt!“ meinte Leskow bedächtig. „Das ist gravierend! Dahinter steckt irgend etwas! Erzählen Sie einmal, Hilt!“

„Ja, natürlich!“ – „Er weiß etwas!“ – „Unsinn, er thut bloß so, und es ist nichts damit, ich kenne ihn!“ – „Nein, er hat was in petto, ich kenne ihn auch!“ – „Also los, Hilt, wir warten!“

Hilt leckte sich die Lippen, blickte mit seinen weingetrübten Augen im Kreise umher und witterte mit erhobenem Kopf in die Luft. Er erzählte für sein Leben gern ein kleines pikantes Geschichtchen, und dies war doch immerhin der Mühe werth, zumal er selbst nicht einmal den Zusammenhang kannte! Und war denn Andree sein Freund? Was heißt Freund? Hatte er überhaupt einen solchen? Für unsern „vernünftigen“ Hilt war das Wort „Freundschaft“ gleichbedeutend mit dem „Hainbund“, mit romantisch schwärmenden Jünglingen, die unter ihren Sammetröcken [712] und weißen Jabots Ideale im Busen trugen. Er, wie er da war, trug andere Dinge als Ideale in seinem Busen! Andree hatte ihm ein paar hundert Mark geborgt, das war alles! Hätte er sie nicht besessen, hätte er sie ihm nicht leihen können! Daß er dies that, war ja gut, aber Hilt würde auch Geld hergeben, wenn er es einmal daliegen hätte – es verbot sich bei ihm nur von selbst! –

„Ja – also, wie legen Sie sich das zurecht: ein Mensch, der soweit einen ganz rechtschaffenen Eindruck macht, betheuert in starken Ausdrücken, sogar auf Ehre und Gewissen, eine junge Dame, die eine berühmte Schönheit ist, nie zuvor in seinem Leben gesehen zu haben, die Schönheit bestätigt das, und dabei hat besagter Mensch von besagter Schönheit eine sprechend ähnliche Büste in seinem Gasthofzimmer aufgestellt, woselbst sie ein glaubwürdiger Augenzeuge erblickt hat!“

Es blieb ein Weilchen still in dem aus etwa sieben bis acht Herren bestehenden Kreise, alle hatten die Köpfe vorgeneigt, als lauschten sie noch, ein paar starrten tiefsinnig in ihr Glas, wie wenn sie von dort her die Lösung dieser merkwürdigen Begebenheit erwarteten, einer schüttelte ungläubig den Kopf – auf einmal sprachen sie alle durcheinander.

„Das kingt doch wie’n Märchen!“ – „Ja, ich bitte Sie, wo soll er denn das Ding her haben?“ – „Er bildhauert am Ende meuchlings selber.“ – „Der Kerl verdient auch, ausgehauen zu werden, was kann der von diesem Besitzthum für ’nen perfiden Gebrauch machen!“ – „Der glaubwürdige Augenzeuge wird sich geirrt haben!“ – „Unsinn! Das ist gänzlich ausgeschlossen! ’s giebt keine zwei Stella Brühls!“ – „Ob die schöne Stella das weiß?“ – „Eigentlich müßte sie’s erfahren, sie oder der Herr Papa, die Geschichte kann unangenehme Folgen haben!“ – „Erlauben Sie mal, so eine Büste –“

Hilt schnitt mit der Hand, wie wenn sie ein Messer wäre, mehrmals durch die Luft, um sich Ruhe zu verschaffen. Anfangs erfolglos. Jeder wollte seine Meinung abgeben, die weinerhitzten Gemüther waren in Aufruhr. Nur Kuno von Tillenbach, der bloß halb begriffen hatte, um was es sich handelte, starrte aus seinen wässerigen Augen von einem der Redenden zum andern, bis ihm sein Nebenmann derb aufs Knie schlug, daß er entsetzt zusammenfuhr: „Kuno,“ (sie nannten ihn alle bei seinem Taufnamen, auch die, welche ihn nur wenig kannten) „so sagen Sie doch auch ein Wort! So’n Kapitalmensch wie Sie muß doch eine schwerwiegende Meinung besitzen!“

Kuno grinste verlegen, die andern lachten, gingen aber sogleich wieder auf den Vorfall über: „Erfahren muß sie es!“ – „Nein, das hat keinen Sinn!“ – „Jawohl!“ – „Wer wird hingehen und es der Familie erzählen? Etwa Sie, Barckwitz?“ – „So laßt doch Hilt reden!“

„Ja, ich hätte noch einiges zu sagen!“ Der kleine Maler hob seine schrille Stimme im Eifer mehr und mehr. „Die Glaubwürdigkeit des Augenzeugen also unterliegt keinem Zweifel. Das betreffende Subjekt hat Augen wie ein Falke und hat mit eben diesen Augen die schöne Stella hundertmal gesehen. Verwechslung unmöglich! Leskow hat recht: es giebt keine zweite Stella Brühl! Ob sie es erfahren muß oder nicht, das kann man später entscheiden, zuerst handelt sich’s, meine ich, darum, Andree zur Verantwortung zu ziehen, und wer soll nun das übernehmen?“

„Immer wer fragt!“ gab Barckwitz kaltblütig zur Antwort und zog sich eine Weinflasche heran, um die Etikette genau zu prüfen. „Sie haben ja die ganze Geschichte eingerührt, Hilt, Sie kennen den glaubwürdigen Zeugen, also müssen Sie auch den Missethäter greifen!“

Hilt sah etwas verdutzt und unbehaglich aus.

„Das kann ich nicht!“ entgegnete er rasch. „Andree ist ja mein Freund!“

Dieses verspätete und jedenfalls unerwartete Bekenntniß rief allgemeine Heiterkeit hervor. Leskow klopfte Hilt auf die Schulter mit den Worten: „Bravo, Sie gefallen mir! Das nenne ich nobel!“ und die übrigen Herren äußerten sich ähnlich. Die Entscheidung sollte aber nicht von ihnen ausgehen.

Niemand von der kleinen stürmisch rathschlagenden Gesellschaft hatte darauf acht gegeben, daß ein schlanker feingebauter Herr


Hunnen vor dem Feind. 0 Nach dem Gemälde von V. Checa.

[713] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt.


einen Augenblick im Rahmen der Thür gestanden und sich dann auf dem dicken Teppich unhörbar näher bewegt hatte. Ganz nahe, dicht bis hinter Hilt war er gekommen und stand nun hinter diesem, unbeweglich wie eine Statue, und hörte zu. Der junge Ritter Kuno war der einzige, der ihn nach einer Weile bemerkte, allein wie sollte seine schüchterne Stimme in dem Tumult durchdringen, und an wen hätte er sich wenden sollen, da alles durcheinandersprach, lachte, stritt und eiferte?

Als Hilt sich zu seiner „Freundschaft“ mit Andree bekannte, ging ein verächtliches Lächeln über das schmale hübsche Gesicht des stummen Zuhörers, und als wieder eine einzelne Stimme laut wurde und fragte: „Ja, wer könnte eine so heikle Aufgabe übernehmen?“ da ertönte plötzlich hinter dem Sprecher die Antwort: „Hätten die Herren vielleicht die Güte, dieselbe mir zu überlassen?“

Alle Köpfe fuhren erstaunt herum, Hilt schnellte von seinem Stuhl empor und stotterte betroffen: „Durchlaucht – haben gehört?“

„Ich konnte nicht umhin, dies Zimmer gehört doch zu den Gesellschaftsräumen, und ich wünschte, mich ein wenig zurückzuziehen, da ich es satt hatte, dem Tanz zuzusehen. So mußte ich alles mit anhören und ich blieb stehen, da mich der Gegenstand interessierte und da er zudem in einer Gesellschaft von“ – sein Auge überflog die kleine Versammlung – „von acht Köpfen verhandelt wurde, von denen ich jetzt der neunte bin. Sollte jemand der Herren nicht wissen, wer ich bin: Prinz Riantzew!“

Er machte eine kurze, aber nicht unhöfliche Verbeugung und wartete, ob ihm jemand etwas entgegnen würde.

Die Herren waren vorläuflg noch zu überrascht, um das zu thun. Hilt, der Aristokratenhasser und Volksfreund, stand immer noch vor seinem verlassenen Sitz in einer Haltung, die man nicht anders als respektvoll nennen konnte, eine Thatsache, die er späterhin stets rundweg leugnete. Wenn auch hier im Wein die Wahrheit steckte, dann war Hilt ein verkappter Fürstendiener ersten Ranges!

„Ich bin noch fremd im Hause,“ nahm der Prinz von neuem das Wort, als er sah, daß niemand ihm antwortete, „und einige der Herren stehen, ich bezweifle es nicht, der Familie Brühl bei weitem näher als ich. Wenn ich dennoch in dieser Angelegenheit die erste Rolle übernehmen möchte, so würde ich mich auf den Umstand zu berufen haben, daß ich als Offizier und Edelmann schon zahlreiche Ehrenhändel der allerverschiedensten Art ausgefochten habe, daß ich daher in derartigen Angelegenheiten eine nicht zu unterschätzende Uebung besitze. Auch sonst … ich hätte noch einen weiteren Grund, den in Rede stehenden Herrn zu interpellieren, doch wünsche ich diesen Grund als einen von durchaus privater Natur zu verschweigen. Außer Herrn – Herrn – Verzeihung! – der Name ist mir entfallen –“

„Hilt!“ schob der Maler mit einer unterthänigen Verbeugung ein.

„Ich danke! Also außer Herrn Hilt, der ja selbst jedes persönliche Eingreifen in die betreffende Angelegenheit abgelehnt hat, ist wohl unter den anwesenden Herren niemand da, der sich des fraglichen Gegenstandes annehmen möchte?“

Nein, es war wirklich niemand da! Einer sah den andern an, aber der andere sah weg oder that so, als ginge ihn der Blick nichts an. Keiner von ihnen kannte den Maler Andree anders als von Ansehen, und im übrigen hatten sie alle nicht Lust, um nichts und wieder nichts mit ihm anzubinden, zumal ihnen der „glaubwürdige Zeuge”, den Hilt erwähnt hatte, ganz fremd war.

Der junge Barckwitz ermannte sich endlich und theilte im Namen der übrigen Herren, die durch undeutliches aber beifälliges Gemurmel ihre Zustimmung gaben, dem Prinzen mit, daß niemand aus der kleinen Versammlung etwas dagegen zu sagen habe, wenn Seine Durchlaucht den Maler Andree darüber zur Rede stelle, wie er wohl dazu komme, die Büste der schönen Stella Brühl mit sich herumzuführen und dabei auf seine Ehre und sein Gewissen zu behaupten, er habe das junge Mädchen nie zuvor in seinem Leben kennengelernt.

Darauf dankte der Prinz der kleinen Versammlung im allgemeinen und dem jungen Herrn Barckwitz im besondern mit einigen höflichen, [714] freilich etwas ironisch gefärbten Worten für die ehrenvolle Erlaubniß, die man ihm ertheilt habe, und bat sich Herrn Maler Hilt als Begleitung aus, um die Angelegenheit sofort ins Reine zu bringen.

Herrn Maler Hilt war nicht ganz behaglich zu Muthe. Die Nebel des Weines waren plötzlich von ihm gewichen, er fühlte sich ernüchtert, und es freute ihn gar nicht, von dem Prinzen als unerläßliche Begleitung herangezogen zu werden. Er wünschte jetzt, er hätte lieber geschwiegen, und verwünschte den Kitzel, der ihn zum Schwatzen angetrieben hatte. Er vergegenwärtigte sich Andrees ruhiges ernsthaftes Gesicht, und es wurde ihm schwül zu Sinn. Aber nun half es ihm nichts, daß er sich im stillen ein nichtsnutziges Plappermaul nannte, er mußte essen, was er sich eingerührt hatte, und dem Prinzen folgen, der mit elastischem Gang, sich leicht in den Hüften wiegend, ihm voranschritt und jetzt, da sie mitten durch die Gesellschaft hindurch mußten, sich mit einer sehr hochmüthigen Kopfwendung nach ihm umsah, etwa wie wenn ein Fürst sich überzeugen will, ob sein Bedienter auch hinter ihm ist, da er den Menschen doch nun ’mal braucht. Es trug auch nichts zur Erheiterung des kleinen Malers bei, daß Leskow, Barckwitz und noch ein paar andere Zeugen des Vorfalls so von ungefähr mit ihnen gingen, aus erbärmlicher Neugier natürlich, um zu erfahren, wie denn eigentlich diese komische Geschichte ausgehen werde.

Andree hatte eine Weile dem Tanz zugesehen, aber es war ihm nicht wohl dabei gewesen. Jenes seltsame, unerklärliche und doch ganz unabweisbare Gefühl, das ihn schon an der Tafel überfallen hatte, packte ihn jetzt von neuem mit doppelter Gewalt, das Gefühl nämlich, als gehöre diese schöne Stella Brühl, die da vor seinen Augen aus einem Arm in den andern überging und sich von hundert verliebten und bewundernden Blicken anschmachten ließ, ihm und nur ihm allein, als habe er ein ganz bestimmtes Anrecht auf sie, vermöge seiner Kunst, der sie das herrlichste Motiv geliehen, das jemals seiner Phantasie entsprungen war; es war ihm, als müsse er den ganzen überlästigen Schwarm von ihr wegscheuchen, um sich allein seines kostbaren Besitzes zu freuen. Und weil er das nicht konnte, sondern verdammt war, unthätig zuzuschauen, wie Scharen von profan gesinnten Leuten sein Ideal umgaben, um auf ihre Art Kultus mit ihm zu treiben, darum machte ihm das farbenreiche Bild, das da vor ihm war, keine Freude, und er stand mit finstern Augen auf der Seite und war verstimmt. So fand ihn Herr Grimm, der inzwischen von einigen andern Herren in Anspruch genommen worden war, und weil ihm Andree gefiel, gesellte er sich zu ihm und verwickelte ihn in ein Gespräch über moderne Malerei und über das, was die römischen Künstler in der letzten Zeit darin geleistet hatten.

Andree, der fand, daß er viel klüger daran thue, mit dem liebenswürdigen Manne zu plaudern, als seinem machtlosen Aerger nachzuhängen, wandte seine verlangenden Augen von der tanzenden Gestalt im blau schimmernden Kleide ab, sah Herrn Grimm an und erzählte ihm vom römischen Künstlerleben.

So kam es, daß Prinz Riantzew, als er mit seinem kleinen Gefolge bei Andree anlangte, die beiden Herren im eifrigsten Gespräch fand. In der Meinung, der Prinz wolle an ihm vorbeigehen, trat der Maler höflich zur Seite, allein die Durchlaucht machte plötzlich kehrt, drehte sich scharf auf den Hacken herum und sagte in nachlässigem Ton: „Herr Andree, wenn ich nicht irre?“

Der Angeredete gab durch eine leichte Verbeugung zu erkennen, daß der Prinz sich in der That nicht irre.

„Würden Sie mir eine kurze Unterredung unter sechs Augen gestatten?“ fuhr Riantzew fort. „Herr Hilt muß schon dabei sein, ich bedarf seiner.“

Andree blickte erstaunt auf, antwortete aber ruhig: „Ich stehe zur Verfügung. Sie verzeihen, Herr Grimm!“

Er schüttelte diesem die Hand und wandte sich wieder zu dem Prinzen. „Wohin wünschen Sie, mein Prinz?“

„O,“ sagte dieser in derselben lässigen Weise, „Sie sind mit den Räumen des Hauses entschieden besser vertraut als ich!“

„Bedaure, nicht dienen zu können. Ich bin heute zum ersten Mal hier.“

Ein malitiöses Lächeln erschien auf dem Gesicht des Prinzen und blieb darauf haften. Ihm war Andree gleich vom ersten Augenblick zuwider gewesen, solch große ruhige Menschen, die so sicher auftreten, konnte er nicht leiden; nun freute er sich sehr, daß sich ihm Gelegenheit bot, diesem bürgerlichen Herrn die Ruhe und Sicherheit zu verleiden.

„In der That! Zum ersten Mal hier?“ wiederholte er spöttisch. „Nun denn, lassen wir den Zufall walten! Irgendwo wird sich ja in diesen vielen Räumen ein stiller Winkel finden lassen, dort zum Beispiel, wie?“

Er trat in ein kleines, durch einen Thürvorhang von den übrigen Gemächern nur halb geschiedenes Seitenkabinett, das bloß diesen einzigen Ausgang zeigte und mit zierlichen Sesseln und Polstern aus pfaublauem und tiefgoldigem Plüsch kokett ausgestattet war.

Andree, dem der Ton des Prinzen nicht gefiel und der vorläufig für die ganze Sache keine Auslegung fand, folgte dem Voranschreitenden und stand stumm, in abwartender Haltung, da.

„Ich bin zufällig heute abend in die Lage gekommen, zu vernehmen,“ begann der Prinz, die Hand leicht auf ein kleines Tischchen stützend, in hochfahrendem Ton, „daß Sie, mein Herr Andree, aufs entschiedenste geäußert haben, wie soeben auch mir gegenüber, Sie hätten jetzt zum ersten Mal in Ihrem Leben das Haus des Herrn Senator Brühl betreten und seine Tochter, Fräulein Stella Brühl, früher nie gesehen. Sie wollen angeblich direkt aus Rom kommen.“

Der Prinz ärgerte sich innerlich über zweierlei. Erstlich, daß er nicht ganz und gar „von oben herab“ sprechen konnte, wie er es gern gethan hätte – aber Andree war beträchtlich größer als er selbst, sodaß im Gegentheil er, Prinz Riantzew, zu seinem Gegner emporschauen mußte, was ihm ganz widersinnig erschien, … zweitens, daß dieser bürgerliche Maler gar keine Unruhe oder Besorgniß blicken ließ, sondern so gleichmüthig vor ihm stand, in so korrekter Haltung, daß der Prinz wider Willen denken mußte: „Da steckt Rasse darin! Seine Mutter muß eine Adlige gewesen sein!“ Hierin irrte er sich freilich, denn Waldemars Mutter war die Tochter eines Tapetenhändlers aus Frankfurt am Main und aus reinstem Bürgergeschlecht, allein seine Wahrnehmungen sonst trafen doch zu und waren geeignet, die Stimmung des jungen Kavaliers etwas zu trüben.

„Das sind unanfechtbare Thatsachen,“ entgegnete Andree, unwillkürlich in denselben hochfahrenden Ton verfallend, „und ich bin jederzeit bereit, sie zu vertreten, auch Ihnen gegenüber, obgleich ich Ihnen das Recht zu dieser Interpellation bestreiten muß. Ich komme nicht ‚angeblich‘ aus Rom, sondern ich habe mich dort und sonst in Italien mehr als vier Jahre ohne Unterbrechung aufgehalten. Ich habe die Stadt Hamburg vor nunmehr zwölf Tagen, dieses Haus, in dem wir uns befinden, am vergangenen Mittwoch, behufs eines Besuchs, zum ersten Mal in meinem Leben betreten. Den Insassen dieses Hauses, Herrn Senator Brühl, seiner Frau Gemahlin und seinem ältesten Fräulein Tochter, bin ich am heutigen Abend zum ersten Male persönlich begegnet, da sie bei meinem Besuche nicht anwesend waren, – daß ich die Herrschaften einmal flüchtig auf der Straße gesehen habe, kann man, wie mir gewiß jedermann zugeben wird, doch keine persönliche Begegnung nennen!“

„Keinesfalls!“ Der Prinz lächelte. „Man hat sie Ihnen auf der Straße gezeigt, nicht wahr? Oder waren Sie allein?“

Waldemar überkam ein gewisses Unbehagen, dennoch antwortete er ohne zu zögern:

„Ich war allein, und man hat sie mir nicht gezeigt!“

„Sie gestatten mir dann wohl, zu fragen,“ sagte der Prinz ganz sanft, denn nun kam er seinem Ziel immer näher, „wie es Ihnen möglich war, die betreffenden Persönlichkeiten zu erkennen, da Sie ihnen noch nie zuvor begegnet waren?“

„Ich hatte ein –“ Andree zauderte etwas – „ein Bildniß von Fräulein Stella Brühl gesehen, und ich habe einen geübten Blick und ein treues Gedächtniß!“

„Natürlich – ohne Zweifel! Beides gehört ja zu einem namhaften Künstler!“ Der Aristokrat verneigte sich höflich. „Und vollends zu einem so vielseitig begabten,“ fuhr er fort, „denn außer Ihrer Malkunst pflegen Sie ja auch mit Erfolg die Bildhauerei.“

„Ich?“ fragte Andree erstaunt. „Sie thun mir zuviel Ehre an, mein Prinz! Ich habe nie in meinem Leben einen Meißel oder ein Zahneisen in der Hand gehabt!“

„Sie sind mit solchen Versicherungen überaus freigebig, Herr Andree, dies ‚nie in meinem Leben‘ spielt bei Ihnen eine große Rolle. Wenn man Ihnen das glauben soll –“

„Ganz entschieden soll man mir das glauben!“ Des Malers hohe Gestalt schien noch höher zu wachsen. „Es giebt ja wohl noch einige Mittel, vermöge deren man andere, seien sie, wer sie immer seien, zwingend überzeugen kann, daran zu glauben!“

[715] „Wenn man Ihnen das glauben soll,“ wiederholte der Prinz, den dies „wer sie immer seien“ stark entrüstete, „dann muß man sich fragen, wie es zugeht, daß Sie, der Sie kein Bildhauer sind und weder Meißel noch Zahneisen jemals angerührt haben, die Marmorbüste einer jungen Dame mit sich führen und in Ihrem Gasthofzimmer aufstellen – einer jungen Dame, welche die halbe Bevölkerung dieser Stadt als eine berühmte Schönheit kennt, die Sie aber behaupten, nie zuvor in Ihrem Leben gesehen und erst am heutigen Abend persönlich kennengelernt zu haben!“

Andree drehte sich rasch herum und maß mit einem sprechenden Blick „Freund“ Hilt, der sich so klein wie irgend möglich machte und ein an der Wand hängendes, trefflich gemaltes Fruchtstück mit einer Hingebung studierte, als wäre er noch der ehemalige eifrige Spezialist für Stillleben. Deutlich genug stand in dem Blick zu lesen: „Ich habe Dich immer für ein ziemlich erbärmliches Subjekt gehalten, und das bestätigt sich jetzt glänzend!“ Hilt mochte etwas Aehnliches herausfinden, denn er warf den Kopf zurück und sagte mit herausfordernder Stimme:

„Nun? was siehst Du mich denn so an? Ist es etwa nicht wahr? Kannst Du die Thatsache leugnen, daß Du von dem schönsten Mädchen in ganz Hamburg eine Marmorbüste im Besitz hast und mit Dir führst?“

„Nein,“ erwiderte Andree ruhig, „ich leugne es nicht – und da jedenfalls Du mich denunziert hast –“

„Denunziert?“ fiel der kleine Maler heftig ein. „Das ist ein Wort –“

„Such’ Dir ein besseres, wenn Dir’s nicht gefällt, ich finde kein anderes und will auch kein anderes finden. Da es nun einmal geschehen ist, voraussichtlich noch dazu in einem größeren Kreise,“ – der Prinz nickte bestätigend – „so bin ich allerdings Rechenschaft über die Art und Weise schuldig, auf welche ich in den Besitz dieses Kunstwerks gekommen bin. Nicht aber Dir oder denjenigen, die Deine Erzählung mit anhörten, auch Ihnen nicht, Prinz Riantzew, gebührt diese Rechenschaft, sondern nur der Einen, die zu meinem tiefsten Bedauern in diese Angelegenheit ohne jede Schuld ihrerseits verflochten ist und von etwaigen unangenehmen und peinlichen Folgen derselben betroffen werden kann. Ich hätte ihr und nur ihr den Zusammenhang der Dinge ohnehin berichtet, nur jetzt noch nicht, und ich beklage es bitter, daß es nunmehr sofort sein muß. Wie die Sachen liegen, wird sie auch Andern einen Einblick in Verhältnisse gestatten müssen, die ihr alleiniges Eigenthum bleiben sollten. Wenn Sie, mein Prinz, wie ich nicht zweifle, gekommen waren, um von mir eine Aufklärung der Thatsachen zu verlangen, die Sie naturgemäß nicht aneinanderzureihen vermochten, und wenn Sie an diese Ihre Forderung eine andere zu knüpfen gewillt waren, so antworte ich Ihnen hierauf: ich bin zu beidem bereit, nachdem ich eine private Unterredung mit Fräulein Stella Brühl, die allem übrigen vorangehen muß, beendet haben werde. Sobald die junge Dame bis morgen abend, sagen wir um acht Uhr, Ihnen keinerlei Nachricht zukommen läßt, stehe ich zu Ihrer und zu jedes einzelnen Verfügung, der mich über die betreffende Angelegenheit zu befragen wünscht. Ich hoffe bestimmt, morgen zwischen drei und fünf Uhr ein ungestörtes Gespräch mit der jungen Dame erreichen zu können – im übrigen bin ich im Hotel ‚Hamburger Hof‘ zu finden!“

Damit wiederholte Andree seine stattliche Verbeugung vor dem Prinzen und zögerte noch ein paar Sekunden, wie wenn er dem andern Zeit geben wolle, noch etwas zu sagen.

Zu seinem großen Aerger fand aber der Prinz dies „etwas“ nicht. Was hätte es auch sein sollen? Der Maler hatte die geheimnißvolle Geschichte klargelegt, so gut es eben anging – das heißt, er hatte die Entscheidung in erster Linie in die Hand der kompromittierten jungen Dame gelegt, und dagegen war vorläufig nichts einzuwenden. Sodann hatte er sich bereit erklärt, jedem gegenüber mit seiner eigenen Persönlichkeit einzutreten, und dies war wiederum eine ganz korrekte Handlungsweise. Der Prinz erwiderte daher nur in etwas steifem Ton: „Schön! Es sei so, wie Sie sagen!“ und trat zurück, innerlich mehr denn je erstaunt über die vornehme Haltung dieses Mannes. Der Prinz bedachte nicht, daß ein sicheres Insichberuhen und eine vollkommene Unbefangenheit, zwei hervorstechende Eigenschaften Andrees, jeden Menschen zu einem Aristokraten des Geistes stempeln und ihn von eigenen Gnaden souverän sein lassen.

Der Künstler wandte sich dann zu Hilt und sagte gelassen: „Du hast Dich mir gegenüber sehr unkollegialisch und taktlos benommen, als Du hinter meinem Rücken Fremden eine Mittheilung machtest, die vollste Diskretion, zum mindesten eine vorhergehende Erörterung unter uns beiden erforderte. Ich habe Dich einen Denunzianten genannt, und ich kann den Ausdruck nicht zurücknehmen, ja ich muß ihn noch verschärfen, wenn Du mich nicht angesichts Seiner Durchlaucht und der übrigen Herren, die Zeugen Deiner Auseinandersetzungen gewesen sind, um Entschuldigung bitten willst!“

Hilt versuchte der Sache einen jovialen Anstrich zu geben, indem er Andree gemüthlich auf den Arm kopfte – die Schulter war ihm zu hoch! – und über das ganze Gesicht lachte. Im Gegensatz zu vielen andern Menschen stand ihm das Lachen sehr schlecht, es kam nichts von wirklichem Humor dabei zum Vorschein. Alle Züge seines Gesichts zerrten sich auseinander wie Kautschuk, tausend Fältchen traten hervor, und um den Mund bildete sich ein häßliches Grinsen.

„Aber ums Himmelswillen, alter Sohn, mach’ doch keine Geschichten! Aus mir sprachen die famosen Weine des Herrn Senators, drum ist mir die Zunge ein bißchen weggelaufen! Hand her – und alles wieder ins Reine bringen! Bei unserer alten, guten Freundschaft …“

„Ich wüßte nichts von ihr!“ unterbrach ihn Andree trocken. „Ich habe weder früher in München noch hier in Hamburg jemals danach gestrebt, und auf meiner Forderung muß ich bestehen!“

„Du bist ungemüthlich! Wo in aller Welt soll ich denn jetzt die betreffenden Herren zusammenbringen? Ich wette, sie haben sich in alle acht oder zehn Räume verstreut –“

„Und ich wette, sie sind in einem einzigen Raume hier in unserer unmittelbaren Nähe zusammengeblieben, um zu sehen, wie die Sache ausläuft!“ entgegnete Waldemar kaltblütig. „Hole sie nur her, wir warten! Seine Durchlaucht ist gewiß so gütig, mir noch eine Minute zu schenken!“

Aus Hilts Antlitz war jede Spur eines Lächelns geschwunden, als er sich mit zusammengezogenen Brauen, hinter denen seine bösen kleinen Augen beinahe verschwanden, nach seinen Zuhörern von vorhin umsah. Lange zu suchen brauchte er übrigens nicht, Andree hatte recht gehabt: sie standen im Nebenzimmer, zu einer anscheinend zufälligen und zwanglosen Gruppe vereinigt, aber offenbar auf der Lauer, um rechtzeitig den Erfolg des kleinen Dramas zu erfahren. Sehr bereitwillig folgten sie alle Hilts Aufforderung, ihn in das kleine Seitenkabinett zu begleiten, und beim Eintreten stieß Barckwitz, der unter den letzten war, den jungen Leskow mit dem Ellbogen an und raunte ihm zu. „Du, dieser Andree sieht nicht nach Spaß aus – paß’ auf, Hilt muß zu Kreuz kriechen, geschieht dem feigen Schandmaul schon recht!“

„Die Herren wollen verzeihen, daß ich Ihre Anwesenheit hier für einen Augenblick beanspruche!“ sagte Andree in verbindlichem Ton. „Herr Hilt hat Ihnen eine Erklärung abzugeben!“

Der kleine Maler sah, nach Leskows späterem Vergleich, wie ein Affe aus, der unversehens in eine Citrone gebissen hat – dazu trat er von einem Fuß auf den andern.

„Hm! Es ist – hm! – eine fatale, peinliche Geschichte – hm! – meines Erachtens brauchte man nicht dies Aufheben davon zu machen – indessen – der Geist des Weines – ein unbedachtes Wort – Herr Andree wünscht, daß ich dieses unbedachte Wort zurücknehme – daß ich um Entschuldigung bitte, eine Angelegenheit, die man – hm! – hätte zarter anfassen müssen, zur allgemeinen Kenntniß gebracht zu haben – und so bitte ich denn, angesichts des kleinen Kreises, der meine Erzählung mit angehört hat, Herrn Andree hiermit um – hm! – Entschuldigung!“

Die Herren hörten diese Rede, im Halbkreise um den Sprecher aufgestellt, in feierlichem Schweigen an und neigten dann ihre Häupter zum Zeichen des Einverständnisses. Kuno Ritter von Tillenbach war ganz überwältigt von der Erhabenheit dieses Vorgangs, er fühlte den dunklen Drang, irgend etwas zu thun, und stürzte plötzlich auf Hilt los, um dessen Hand in offenbarer Bewegung zu drücken und zu schütteln, was einen so unwiderstehlich komischen Eindruck machte, daß Barckwitz sich vor unterdrücktem Lachen schüttelte und auch um Andrees Lippen unter dem starken Schnurrbart ein verrätherisches Zucken sichtbar wurde.

Er dankte den Herren mit ein paar freundlichen Worten und begab sich zurück in den anstoßenden Saal, wo man ihn gleich darauf seine Unterhaltung mit Herrn Grimm so ruhig wieder aufnehmen sah, als sei inzwischen nicht das mindeste vorgefallen.

(Fortsetzung folgt.)
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Das Ende der Jungfrau von Orleans.

Von Dr. J. Wychgram.

Schiller hat von der Freiheit des tragischen Dichters gegenüber geschichtlichen Stoffen nirgends ausgiebigeren Gebrauch gemacht als in seiner „Jungfrau von Orleans“. Er hatte anfänglich die Absicht, die Heldin in seiner Dichtung sterben zu lassen, wie sie in der Geschichte gestorben ist: auf dem Scheiterhaufen. Naheliegende Erwägungen haben ihn davon abgebracht.

Ist das geschichtliche Ende der Jeanne d’Arc im dichterischen Sinne nicht tragisch zu nennen, so ist es darum für den gewöhnlichen Begriff nicht weniger traurig und ergreifend. Als ein Opfer heimtückischer Grausamkeit geht das kaum zur Jungfrau herangereifte Mädchen in den Tod, auf dem dunklen Hintergrunde der Bosheit und Selbstsucht eine von Unschuld und Hingebung hell umstrahlte Gestalt.

Sie ist die einzige geschichtliche Persönlichkeit, in deren Verehrung alle heutigen Franzosen vom Klerikalen bis zum äußersten Radikalen völlig einmüthig sind, und gerade seit dem Jahre 1870 bringt man der Jungfrau einen wahren Kultus entgegen: in zahlreichen Städten erheben sich ihr neue Denkmäler, ja man hat allen Ernstes und unter vielem Beifall den Vorschlag gemacht, ihren Geburtstag zu einer Art von Nationalfest zu gestalten, das besonders in den Schulen durch ernste Feierlichkeiten begangen werden müsse. Und in der That verdient die Jungfrau von Orleans das dankbare Gedächtniß ihres Volkes. Sie war es, die in frommer Begeisterung ihre Heimath Domremy verließ, um in dem unglücklichen Kampf ihres Vaterlandes gegen die vom französischen Norden aus siegreich vordringenden Engländer eine plötzliche Wendung herbeizuführen und der sinkenden Macht ihres Königs, des unfähigen und schwachen Karl VII., die rettende Stütze zu werden. Ihr gelang es, dem entmuthigten Heere der Franzosen den Glauben an ihre göttliche Sendung, von dem sie selbst entflammt war, und damit neuen Muth einzuflößen; Orleans, das den Engländern allein noch den Zugang zum Land südlich der Loire verwehrte, wurde 1429 durch ihr Eingreifen von der feindlichen Belagerung befreit; ein neuer Sieg, den sie erfocht, setzte sie in den Stand, Karl VII. im Juli desselben Jahres zur Krönung nach Reims zu führen. Allein nicht daß sie Orleans entsetzt und die Krönung des Königs ermöglicht hat, begründet bei den heutigen Franzosen in erster Linie jenes Gefühl der Ehrfurcht, sondern daß sie von der Hand der Fremden unter grausamen Formen getötet wurde und bis zum letzten Augenblicke die Liebe zu ihrem Vaterlande im Herzen und auf den Lippen gehabt hat. Und die letzten Schicksale Johannas sind auch das Merkwürdigste ihres außerordentlichen Lebensganges.

Die Jungfrau von Orleans.
Nach der Statue von E. Frémiet

Im Mai 1430 wurde die Jungfrau bei einem Ausfall aus der königstreuen Stadt Compiègne von den mit England verbündeten Burgundern gefangen; Herzog Philipp von Burgund ließ sie in ein festes Schloß setzen. Vergeblich strebte das unglückliche Mädchen danach, sich zu befreien, einmal sogar durch Herabspringen von einem sechzig Fuß hohen Thurm; auch dieser kühne Versuch mißglückte: man fand sie bewußtlos, doch ohne ernstere Verletzung, und brachte sie in den Kerker zurück. Aus Philipps Händen ging sie in die der Engländer über. Wäre es nach dem ungestümen Wunsche der niederen englischen Offiziere und Mannschaften gegangen, so würde man sie sofort als „Empörerin“ hingerichtet haben. Das wollte jedoch die englische Regierung nicht. Zuvor sollten die englischen Niederlagen als ein Zauberwerk des Teufels erscheinen und das ganze Auftreten der Jungfrau – zugleich damit die Sache des französischen Königs – als eine gottlose Unternehmung gebrandmarkt werden.

Im Januar 1431 befahl König Heinrich von England, die Johanna, „genannt Jungfrau“, vor einem geistlichen Gericht auf ihre Rechtgläubigkeit zu prüfen, war aber schlau genug, hinzuzufügen, falls in Glaubenssachen ihre Unschuld erwiesen würde, so solle sie dem weltlichen Gericht zur Aburtheilung wegen Empörung zurückgegeben werden. In Rouen, im alten Schlosse der normännischen Herzoge, trat dieses Gericht zusammen; ein französischer Geistlicher Namens Cauchon, ein eigennütziger, gewissenloser Mensch, der sich den Engländern verkauft hatte, führte den Vorsitz, an seiner Seite der stellvertretende Großinquisitor von Frankreich, Lemaître. Die übrigen Mitglieder waren Leute von anerkannter Willfährigkeit und Charakterlosigkeit, denen allen an der Gunst der Engländer und an ihrem eigenen Vortheil tausendmal mehr lag als an der Gerechtigkeit.

Die Jungfrau befand sich in peinlicher Haft in einem dunklen Zimmer des Schloßthurms. Nahe dem Bette stand ein starker Holzblock von sechs Fuß Höhe, der mit mehreren dicken Eisenringen versehen war, Johanna trug Tag und Nacht Fesseln an den Beinen, die bei Nacht durch Ketten an dem Holzblock befestigt wurden. Fünf englische Wächter bewachten sie beständig, drei in ihrem Zimmer, zwei außerhalb desselben. Das Gefängniß war weltlicher Art; Johanna hat während des Prozesses fortwährend ein geistliches – nach dem Gebrauch der Zeit milderes – Gefängniß verlangt, auf das sie als vor ein kirchliches Gericht gestellt Anspruch hatte. Man hat ihre Forderung nicht erfüllt; sie wurde ganz abgeschlossen gehalten, nur Cauchon hatte Zutritt, wann er wollte.

Die Anklage erstreckte sich auf verschiedene Punkte. Einmal machte man ihr ein Verbrechen daraus, daß sie Männerkleider getragen habe; auch im Gefängniß hatte sie dieselben nicht ablegen wollen, da ihre Heiligen ihr befohlen hätten, sie solange zu tragen, bis sie Frankreich von den Engländern befreit habe. Sodann aber lag den Richtern daran, ein Geständniß von ihr zu erlangen, daß sie mit Geistern Umgang gepflogen und sich dadurch der Ketzerei schuldig gemacht habe. Ebenso sollte die Ketzerei durch eigentlich dogmatische Fragen erwiesen werden.

Wie verhielt sich nun Johanna während des Prozesses und der Verhöre?

Es würde zu weit führen, den ganzen Verlauf der Verhandlungen zu schildern, wie er uns aus den unversehrt erhaltenen Akten entgegentritt. Beim Lesen dieser Akten wird man wie von einem Trauerspiel ergriffen. Die Jungfrau, abgehärmt und durch die herbe Haft und die beständige Erregung in ihrer Gesundheit erschüttert, erscheint gefaßt, mit einer fast überirdischen Hoheit vor den Richtern. Ihr Ton verräth mitunter, daß sie gegen diese von England gedungenen Landsleute tiefe Verachtung empfindet. Ihre Aussagen sind kurz, bestimmt, klar; sie hat die volle Gewalt über sich selbst; man erstaunt, was für Antworten dieses einfache neunzehnjährige Bauernkind, das weder lesen noch schreiben konnte, auf die schlau gestellten Fragen der in allen Spitzfindigkeiten geübten Theologen und Juristen gab.

Man legte ihr unter anderem die Frage vor, ob sie glaube, ihres ewigen Seelenheils sicher, also in der Gnade Gottes zu sein. Wenn sie dies bejahte, so war sie ohne weiteres der Ketzerei überwiesen, denn die Kirche verdammte diese Anschauung, durch welche die kirchliche Sicherung des Heils in den Gnadenmitteln bedroht erschien. Johanna erwiderte: „Wenn ich nicht in der Gnade bin, so bitte ich Gott, mich darein zu versetzen; wenn ich darin bin, mich darin zu erhalten; denn ich wollte lieber sterben, als nicht in der Gnade Gottes sein.“

[717]

Der Silhouettenschneider.
Nach einer Zeichnung von W. Zehme.


Als man sie über die Erscheinungen ausforschte, die sie gehabt haben solle, gab sie ohne Zaudern an, wer ihr erschienen sei, wann sie diese Gesichte gehabt und was sie dabei gehört habe. Wenn man die ganz bestimmten und rührend einfachen Bekenntnisse Johannas liest, so schwinden alle Zweifel an ihrer Wahrhaftigkeit; es muß unbedingt zugegeben werden, daß Johanna selbst fest überzeugt war, den Erzengel Michael, die heilige Katharina etc. geschaut zu haben. Ihre Visionen waren Wahngebilde ihrer eigenen Phantasie, aber ohne daß sie es wußte. Für sie hatten sie Wirklichkeit und bestimmten durchaus ihre Handlungen. In ihren Antworten auf die Fragen der Richter macht sie Unterschiede in Bezug auf das, was die Heiligen zu ihr gesprochen haben: manches verweigert sie zu bekennen. Als z. B. der Richter von ihr wissen will, durch welche geheimen Zeichen sie den König von Frankreich dazu gebracht habe, ihr zu vertrauen, versagt sie jede Auskunft. Die Richter dringen in sie, sie bleibt bei der Weigerung. Da läßt man die Folterknechte kommen und ihr die Schrecken der einzelnen Folterwerkzeuge erklären, wie das bei Beginn der „peinlichen Frage“ zu geschehen pflegte. Sie entgegnet: „Wenn der Schmerz mir falsche Zeugnisse abpreßt, so werde ich sagen, daß ich nur durch Gewalt gesprochen habe.“

Man wendete aber die Folter nicht an.

Das Verfahren bei dem Prozeß selbst stand mit allen Begriffen von Recht und Ehre im Widerspruch. Die meisten der Richter waren so rohe und im Eigennutz verkommene Gesellen, daß das Auftreten Johannas, ihr würdiger Anstand, ihr stolzes Unschuldsgefühl gar keinen Eindruck auf sie machte. Nur vereinzelt fand sie Sympathien. Ein Mönch Isambard, der ebenfalls dem Gerichte angehörte, war von ihrem Heldenmuth so ergriffen, daß er während der Verhandlungen versuchte, ihr durch Zeichen und Mienen Warnungen und Rathschläge zu geben. Ja, er ging so weit, sie auffordern zu lassen, daß sie sich an das Konzil zu Basel um Untersuchung ihrer Sache wende. Dafür erklärte dem braven Mann ein Graf Warwick: „Wenn Du Hund nicht aufhörst, dem Weibe Rathschläge zu ertheilen, so lasse ich Dich in die Seine werfen.“ Ein englischer Adliger, der den Sitzungen beiwohnte, wurde von der Erscheinung und dem Stolze der Jungfrau zu dem Ausruf hingerissen: „Fürwahr, wie schade, daß sie keine Engländerin ist!“

Die Form der Verhandlungen war unerhört; man ließ Johanna nicht einmal die nöthige Zeit zur Ueberlegung der Antworten und bedrängte sie dergestalt mit Fragen, daß sie einmal ausrief: „Aber so sprecht doch wenigstens einer nach dem andern!“ Auch die Protokolle sind nicht genau und gewissenhaft geführt. Cauchon hat öfters nachträgliche Aenderungen oder doch Streichungen vorgenommen.

Endlich waren die langen und zahlreichen Verhöre beendet. Gegen das Ende derselben war Johanna, körperlich und geistig furchtbar angegriffen, in eine schwere Krankheit verfallen. Einige Tage schien es, als ob sie erliegen sollte; allein ihre kräftige Natur und die sorgsame Pflege der Engländer, die ihren Zweck noch nicht erreicht hatten, erhielten sie am Leben, und sie genas.

Nach der Gepflogenheit in derartigen Prozessen mußten die Akten, bevor das Urtheil gefällt wurde, an einflußreiche und gelehrte Körperschaften eingesandt und deren Gutachten abgewartet werden. Im vorliegenden Fall sollte unter anderem das Domkapitel von Rouen und die Pariser Universität angegangen werden. Statt nun aber die vollständigen Akten abzuschicken, fertigte Cauchon einen Auszug an, in welchem alles, was zu Johannas Rechtfertigung dienen konnte, böswillig weggelassen, ein Theil ihrer Aussagen entstellt und namentlich mit unheimlicher Kunst den an und für sich wahren Thatsachen eine Beleuchtung und Verknüpfung gegeben war, die den Leser unwillkürlich gegen das Mädchen einnehmen mußte.

[718] Alle Gutachten fielen daher, wie vorauszusehen, ungünstig aus, zumal dasjenige der Pariser Universität. Es hieß darin, daß jene Erscheinungen, und Offenbarungen entweder Lügen seien oder Werke des Teufels; Johanna habe Gott und die Heiligen gelästert, sei abgefallen von dem alleinseligmachenden Glauben, habe sich mit bösen Geistern eingelassen, habe zum Götzendienste verführt und zum Blutvergießen aufgefordert. Wenn sie sich weigere, ihren Irrwahn zu widerrufen und sich dem Urtheil der Kirche zu unterwerfen, so sei sie durch die weltliche Gerechtigkeit dem Flammentod zu überliefern.

Das war es, was Cauchon haben wollte. Die Jungfrau sollte die Wahrheit ihrer Erscheinungen und Offenbarungen abschwören. Damit fiel im französischen Volke die Anhänglichkeit an den König Karl, die englische Gewalt stand glänzend gerechtfertigt da und gewann neuen Boden.

Cauchon hat zunächst versucht, die Jungfrau durch Ueberredung zur Abschwörung ihrer Angaben zu bringen. Das gelang ihm nicht. Sie blieb standhaft dabei, daß die Erscheinungen ihr von Gott gesandt worden seien. Bei einem zweiten Versuche ließ er ihr die Folter ankündigen, sie blieb unerschüttert. Er legte ihr seine Aufforderung zum drittenmal in Anwesenheit einer großen Zahl Geistlicher im Saale des herzoglichen Schlosses vor, und als sie sich wieder weigerte, drohte er ihr mit dem Scheiterhaufen. „Und wenn ich mitten im Feuer stünde,“ antwortete sie, „so wollte ich nicht von der Wahrheit meiner Sendung lassen.“

Cauchon griff nun zu dem letzten bereitgehaltenen Mittel. Für den 24. Mai wurde Johanna zu dem öffentlichen Schlußverfahren auf den Kirchhof St. Ouen geladen. Zwei weithin sichtbare Gerüste erhoben sich dort, das eine für Cauchon und die Richter, das andere für Johanna und ihren aufgezwungenen Beirath, einen Geistlichen Namens Loyseleur, der schon während des Prozesses einmal die Niederträchtigkeit gehabt hatte, sich unter der Maske eines Landsmannes in das Vertrauen der Gefangenen eindrängen zu wollen. Er hatte ihr im Auftrage des Gerichtes versprochen, wenn sie abschwöre, solle sie in kirchliche milde Haft kommen und, woran ihr unendlich viel lag, hinfort nicht mehr von Männern, sondern von Frauen bewacht werden.

Als die Jungfrau, mit ihrem Kriegerrock angethan, in einem vierspännigen Wagen auf dem Schauplatze angelangt war, bestieg sie alsbald das Gerüst. Dann erhob sich der Doktor der Theologie Erard, ein großes Kirchenlicht und berühmt als Redner. Er wollte die Jungfrau zum Widerruf bereden. Als er in seiner Predigt darauf zu sprechen kam, wie sehr doch König Karl und ganz Frankreich dadurch erniedrigt seien, daß sie sich von diesem Blendwerk der Hölle hätten bethören lassen, da brach Johanna in flammendem Zorn heraus: „Bei meiner Treu’, Herr, ich erlaube mir mit aller Ehrfurcht Euch zu sagen und auf Gefahr meines Lebens zu beschwören, daß er der edelste Christ ist unter allen Christen. Sprecht nicht von dem Könige, sondern sprecht von mir!“ Als Erard geendet hatte, erwiderte sie mit bestimmten Worten: „Was meine Unterwerfung unter die Kirche angeht, so möge man alle meine Thaten, die ich vollbracht, und meine Reden nach Rom an den heiligen Vater, den Papst, schicken. Auf ihn und auf Gott zuerst berufe ich mich. Meine Thaten und Worte,“ fügte sie hinzu, „lege ich keinem Menschen zur Last, weder meinem König, noch einem andern; ist ein Fehl daran, so fällt er auf mich und auf niemand sonst!“ Ein nervöses Zittern ging dabei über ihren abgehärmten und von all der Körper- und Seelenqual hinfälligen Leib.

Nun schritt Cauchon zum Aeußersten. Er entfaltete das Verdammungsurtheil und begann, es mit lauter Stimme vorzulesen. Zwischen den einzelnen Sätzen und an bedeutenden Stellen hielt er inne, um ihr Zeit zum Bedenken zu lassen. In diesen Pausen redeten Loyseleur und die anderen auf sie ein: „Johanna, ergieb Dich, rette Dich vor den Flammen!“ Als Cauchon an die Stelle kam: „Ketzerin und Ausgeschlossene von der Kirche,“ schrie Johanna, die Hände zum Himmel erhebend: „Heiliger Erzengel Michael, rathe mir, was ich thun soll!“ Aber kein Erzengel erschien. Sie sah, wie die rothgekleideten Henkersknechte auf angeschirrtem Wagen mit Stricken und Feuerbränden bereit standen, sie zum Scheiterhaufen zu führen. Da, in diesem Augenblicke des heftigsten Seelenkampfes, brach ihre Kraft zusammen, und mit wirren Blicken rief sie aus: „Ich will thun, was Ihr wollt.“ Lächelnd, als ob sie im Geiste nicht gegenwärtig wäre, hörte sie die ihr vorgelesene Abschwörungsformel an und setzte das Zeichen des Kreuzes darunter. Cauchon war auf diesen Verlauf der Dinge vorbereitet. Er zog das Endurtheil hervor und las es mit vernehmlicher Stimme. Es enthielt Gnade, insofern es vom Feuertode befreite. „Aber,“ so ging es weiter, „weil Du gegen Gott und die heilige Kirche freventlich gesündigt hast, so verurtheilen wir Dich schließlich, um eine heilsame Buße durchzumachen, zu immerwährendem Gefängniß beim Brote der Schmerzen und dem Wasser der Trübsal, auf daß Du da Deine Sünden beweinest und in Zukunft nicht wieder in dieselben verfallest. Vorbehältlich unserer Gnade und Milde.“

Ein Sturm der Entrüstung erhob sich in der Menge der umstehenden Engländer, der Entrüstung, daß Cauchon sie nicht dem Feuertode preisgegeben hatte. Die Leute ahnten nicht, daß er zunächst die Jungfrau ja nur ihres Nimbus vor der Welt berauben, sie zur Abtrünnigen stempeln wollte. Was kümmerte es ihn, nachdem er diesen Zweck erreicht hatte, daß die englischen Soldaten murrten, ja mit Steinen nach ihm warfen. Der schlaue Priester wußte ganz genau, daß er sich so am meisten Anspruch auf den Dank der englischen Regierung verdiente. Dem Grafen Warwick aber erwiderte er auf seine Vorstellungen: „Seid unbesorgt, wir werden sie schon wieder kriegen!“

Als die widerwärtige und empörende Scene vorüber war, trat Loyseleur auf Johanna zu und wünschte ihr Glück: „Johanna, Ihr habt einen guten Tag gehabt und Eure Seele gerettet!“ „Nun denn,“ entgegnete sie, „Ihr Leute der Kirche, so führet mich in Eure Gefängnisse, damit ich nicht ferner in den Händen der Engländer sei.“ Sie beanspruchte damit nur die Einlösung des ihr gegebenen Versprechens; und an dem Wechsel des Gefängnisses lag ihr am meisten, denn sie hatte unter den Rohheiten der englischen Wächter entsetzlich gelitten. Cauchon jedoch, von neuem wortbrüchig, befahl den Dienern: „Führt sie aufs Schloß, woher sie gckommen!“

Man brachte sie in das frühere Gefängniß zurück, und die Behandlung, früher noch etwas gemäßigt durch den Wunsch, Johanna vorläufig noch am Leben zu erhalten, wurde unmenschlich. Sie legte gutwillig, wie sie in der Abschwörung versprochen hatte, ihr männliches Kriegsgewand ab und zog Frauenkleider an. Allein man begnügte sich nicht damit; es wurden ihr die langen Haare abgeschnitten, bei Nacht fesselte man sie dergestalt mit Ketten, daß sie sich nicht rühren konnte. Das alles und so vieles andere geschah nur, um ihr den Tod wünschenswerther zu machen als solch ein Leben, um sie zum Rückfalle zu treiben.

In der Seele Johannas hat es in diesen Tagen nicht weniger finster ausgesehen wie in ihrem dunklen Gefängniß. Sie machte sich die bittersten Vorwürfe über ihre Abschwörung; ihre Heiligen erschienen ihr und machten ihr den Widerruf zur Pflicht.

Es ist sehr wahrscheinlich, daß die rohen Wächter im Einverständniß mit Cauchon die Jungfrau gezwungen haben, eine ritterliche Männerkleidung, die man absichtlich in ihrem Zimmer liegen ließ, anzuziehen. Und als das geschehen war, wurde alsbald Cauchon die Nachricht gebracht. Was er gewollt, war erreicht; sie war eine Rückfällige geworden, keine weltliche oder geistliche Macht konnte sie jetzt noch retten. Sie wurde im Kerker befragt, und als sie nun ihre Abschwörung, weil von der Furcht vor dem Feuer erpreßt, ausdrücklich zurücknahm, da wurde sie nach kurzer Erledigung der Förmlichkeiten als rückfällige Ketzerin dem Arme der weltlichen Gerechtigkeit übergeben, mit der herkömmlichen Bitte, milde zu verfahren. Das war nur eine gewöhnliche Form der Heuchelei; nach der mittelalterlichen Anschauung mußte jede weltliche Macht den rückfälligen Ketzer unweigerlich verbrennen, wenn sie nicht selbst in den Verdacht der Ketzerei kommen wollte.

Am 30. Mai 1431 sollte die Hinrichtung Johannas vor sich gehen. Ein guter, ihr aufrichtig ergebener Geistlicher, Ladvenu, reichte ihr das Abendmahl; er erzählte selbst: „Sie nahm es unter einem Strom von Thränen mit einer Demuth und Andacht, die ich nicht zu schildern vermag.“ Als er ihr angekündigt hatte, daß und wie sie sterben solle, hatte sie laut aufgeschrieen und gejammert, daß ihr junges Leben nun so vernichtet werden sollte. Dann aber hatte sie sich rasch gefaßt.

Gegen neun Uhr morgens legte sie ihr Kriegsgewand ab und ein Frauenkleid an. Auf das Haupt setzte man ihr eine [719] Mütze, auf der zu lesen war: „Ketzerin, Rückfällige, Abtrünnige, Götzendienerin“. Dann ging sie hinaus auf den Schloßhof, wo das Sterbegeleit ihrer wartete. Hier bestieg sie einen Wagen, rechts und links neben ihr nahmen der Gerichtsbote und der Beichtvater Massieu Platz. Achthundert Krieger mit Aexten, Schwertern und Lanzen geleiteten den Zug. Als der Wagen sich in Bewegung setzte, sprang plötzlich durch die Volksmenge hindurch ein Mönch an den Wagen heran und sank händeringend vor Johanna nieder. Es war jener Loyseleur, der von ihren Bedrängern der arglistigste gewesen war. Die Reue ließ ihm keine Ruhe, er war gekommen, die Jungfrau um Verzeihung zu bitten. Ob sie ihm geworden ist, wissen wir nicht; denn er wurde von den wüthenden Engländern vom Wagen weggerissen und der Graf Warwick erklärte ihm, wenn ihm sein Leben lieb sei, solle er die Stadt schleunigst verlassen. Loyseleur hat die Ruhe seiner Seele nicht wieder erlangt; er ist von Gewissensbissen in der Welt umhergejagt worden und nicht lange nachher in Basel gestorben.

Bald nach neun Uhr kam der Wagen auf dem „Alten Markt“ bei der Erlöserkirche an. Drei Gerüste erhoben sich dort, eins für die geistlichen, eins für die weltlichen Richter und endlich eins für die Prälaten, an deren Spitze der Kardinal von England stand. Auf das Gerüst der geistlichen Richter wurde Johanna geführt. Eine unübersehbare Zuschauermenge hatte sich angesammelt. Tiefes Schweigen herrschte im Volke. Da begann Nicole Midi, ein Mönch, die Totenpredigt über die Stelle: „Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit.“ Er endete mit den Worten: „Johanna, gehe in Frieden, die Kirche kann Dich nicht ferner schirmen, sie übergiebt Dich dem weltlichen Arm!“ Bischof Cauchon las alsdann das geistliche Urtheil vor, dessen Schluß lautete: „Wir schneiden Dich von dem Leibe der Kirche ab und übergeben Dich der weltlichen Gewalt mit dem Ersuchen, ein mildes Urtheil über Dich zu sprechen und Dich mit Tod oder Verstümmelung der Glieder zu verschonen.“

Johanna sank auf die Kniee und betete. Im Gebet rief sie aus: „O Rouen, o Rouen, werde ich hier sterben, wirst du mein letztes Haus sein? O Rouen, ich fürchte, du wirst für meinen Tod zu leiden haben!“

Von der Kirche verstoßen, bat sie ihre Begleiter um ein Kruzifix. Schnell machte ein mitleidiger Engländer aus zwei Holzstäbchen ein Kreuz und gab es ihr; sie küßte es und steckte es an ihre Brust. Als dann der getreue Mönch Isambard, selbst bitterlich weinend, mit einem Kruzifix aus der nahen Erlöserkirche kam, umschlang sie es lange und bedeckte es mit Küssen und Thränen.

Einzelne von den Beisitzern erhoben sich und schlichen sich still weg von der Richtstätte, um sich den entsetzlichen Anblick zu ersparen. Die meisten weinten, selbst Soldaten und Offiziere blieben nicht ohne Rührung. Endlich erhielten die Schergen Befehl, vorzugehen. Als Johanna ihrer ansichtig wurde, umfaßte sie noch einmal das Kreuz, grüßte die auf dem Gerüst Stehenden und schritt, begleitet von Ladvenu und Isambard, vom Gerüst herab. Unten nahmen sie die Gerichtsdiener in Empfang und führten sie auf den Scheiterhaufen. An demselben hing eine Tafel mit den Worten: „Johanna, welche sich hat die Jungfrau nennen lassen, Lügnerin, Verderberin, Verführerin des Volkes, Wahrsagerin, abergläubisch, Gotteslästerin, hoffärtig, irrgläubig im Christenglauben, Prahlerin, Götzendienerin, grausam, liederlich, Anruferin von Teufeln, abtrünnig, ketzerisch!“

Sie ließ sich geduldig an den Pfahl binden. Dann zündete der Henker den Holzstoß an. Langsam züngelte die Flamme empor. Bis dahin hatten Ladvenu und Isambard bei ihr ausgehalten, jetzt bat sie dieselben, hinabzugehen und das Kreuz recht hoch zu halten, damit sie es sehen könne. Als schon der Rauch an ihr emporquoll, schrie sie laut auf: „Ich bin keine Ketzerin, bin keine Abtrünnige! Meine Stimmen sind von Gott! Auf Gottes Befehl habe ich gethan, was ich gethan habe.“ Dann rief sie wiederholt den Namen Jesus, bis ihre Stimme schwächer wurde und endlich ihr Haupt auf die Brust sank.

Schweigend zerstreute sich die Menge. Alle hatten den Eindruck, daß hier aus politischen Rücksichten ein Justizmord begangen worden war. Als der Geheimschreiber des Königs von England von dem Richtplatze heimkehrte, rief er aus: „Wir alle sind verloren, denn wir haben eine Heilige verbrannt, deren Seele bei Gott ist.“ Im Landvolke der Normandie begann man zu murren gegen die Mörder. In den Straßen von Rouen wurde auf Cauchon und seine Beisitzer mit Fingern gezeigt. Alle Gewalthandlungen der Engländer waren nicht imstande, den Unwillen niederzudrücken. Eine weiße Taube, das Abbild der Unschuld, so erzählte man sich im Volke, sei aus den Flammen des Scheiterhaufens zum Himmel emporgeflogen.

Die alte Mutter und die Brüder des unglücklichen Mädchens wendeten sich in der Folge an den Papst mit der Bitte, die Wiederaufnahme des Prozesses zu befehlen und die Familie von dem Makel der Ketzerei zu befreien. Im Jahre 1455 wurde endlich, nachdem man sich in Rom aus Rücksicht auf England lange gesträubt hatte, dem Wunsche entsprochen, und im folgenden Jahre waren Cauchons Intriguen entlarvt; wiederum im großen Saale des Schlosses zu Rouen wurde der erste Prozeß im Namen der Kirche als eine Ruchlosigkeit bezeichnet und jeder Makel von Johannas Andenken getilgt.

Auch ohne dieses päpstliche Dekret, das die Jungfrau schließlich doch nur von dem nebensächlichen Vorwurf der Ketzerei lossprach, würde die Nachwelt bald die Größe dieser wunderbaren Gestalt erkannt haben: die Wahrheit der begeisterten That bleibt nicht lange verborgen. Schlimmere Angriffe als die des englischen Hasses hat die Jungfrau siegreich bestanden: der Spott Voltaires ist an ihr zerschellt. Dem deutschen großen Dichter aber war es vorbehalten, dem Mädchen von Domremy poetisch gerecht zu werden. So viel er auch von den Thatsachen der Geschichte abgewichen ist, den Geist der geschichtlichen Erscheinung hat er doch wie kein anderer wiedergegeben in seinem ergreifenden Werke von der „reinen Jungfrau, die jedwedes Herrliche auf Erden vollbringt“.




Hebung gesunkener Schiffe.

In der Tagespresse wird eine neue Erfindung beschrieben, welche „zur Hebung gesunkener Schiffe oder Wracks“ dienen soll. Der Erfinder ist ein Amerikaner, und nach den vorliegenden Angaben besteht der Apparat aus eisernen Hohlkugeln von 20 Fuß Durchmesser, die vollständig luftdicht hergestellt sind. An der einen Seite jeder Kugel sitzt das Eintrittsventil, an der entgegengesetzten ein Ausströmungsventil. Bei Anwendung der Vorrichtung sollen die Kugeln, mit Wasser gefüllt, versenkt und durch Taucher am Wrack befestigt werden. Ist das geschehen, so wird zunächst aus den am Stern und Bug des Schiffes angebrachten Kugeln vermittels einer Luftpumpe das Wasser durch Luft verdrängt. Dadurch soll das Wrack aufgerichtet werden, denn die mit Luft gefüllten Kugeln sollen je 500 bis 700 Tonnen Auftriebskraft besitzen. Dann wird in die einzelnen an den Längsseiten befestigten Hohlkugeln zu gleicher Zeit Luft eingepumpt, und das Schiff steigt sammt den ihre Tragkraft entfaltenden Kugeln an die Oberfläche.

Bei dieser Gelegenheit bestätigt sich wieder die Erfahrung, daß nicht jede „neue“ Erfindung, die uns von jenseit des Oceans gemeldet wird, wirklich neu ist. Das Prinzip, vom Meeresgrund Lasten durch den Auftrieb von Behältern zu heben, die mit Luft gefüllt sind, ist schon lange bekannt und vor etwa 30 Jahren thatsächlich in Deutschland erprobt worden. Der Mann, welcher es zuerst in Anwendung brachte, ist ein Deutscher Namens Wilhelm Bauer. Er war kein studierter Ingenieur, sondern ein Erfinder von Gottes Gnaden, eines jener urwüchsigen Talente, die auch ohne besondere höhere Schulbildung im Leben Großes zu leisten vermögen. Er wurde am 23. Dezember 1822 zu Dillingen in Bayern geboren, erlernte das Drechslerhandwerk und trat später in den Militärdienst seines Heimathlandes. Da man hier seine technische Begabung erkannte, so versetzte man ihn als Unteroffizier zur Artillerie. Im Jahre 1848 marschierte er mit dem bayerischen Armeecorps nach Schleswig-Holstein, und als er hier die Schutzlosigkeit der deutschen Küste sah, verfiel er auf den Plan einer unterseeischen Schiffahrt und ersann seinen „Brandtaucher“, zu dem ihm der Seehund als Modell gedient haben soll. Mit geringfügigen Mitteln, die ihm aus öffentlichen Sammlungen zuflossen, baute er das erste unterseeische Fahrzeug, das aber leider bei einem Versuch am 1. Februar 1851 auf den Grund des Kieler Hafens versank und erst am 5. Juli 1887 wieder gehoben wurde.

Später baute Bauer in Rußland unter dem Schutze des Admirals Großfürsten Konstantin einen neuen Brandtaucher, mit dem er eine große Anzahl gelungener Fahrten ausführte. 1858 kehrte er nach München zurück und beschäftigte sich hier mit der Ausführung einer anderen Erfindung, welche unter dem Namen der „unterseeischen Kamele“" bekannt wurde.

In meiner jüngst erschienenen Schrift „In Meerestiefen“ habe ich diese Erfindung kurz in folgender Weise beschrieben:

„Unter dem sonderbaren Namen sind einfach Luftballons zu verstehen, die einen auf dem Meeresgrund liegenden Gegenstand, z. B. ein gesunkenes [720] Schiff, heben sollen. Zu diesem Zwecke werden sie leer auf den Grund gebracht, dann am Schiffe befestigt und durch eine Luftpumpe mit Luft gefüllt, bis sie durch ihren Auftrieb das Schiff heben. Ein Ballon von 700 Kubikfuß Inhalt sollte nach Bauers Berechnungen eine Tragfähigkeit von etwa 200 Zentnern haben, sodaß 40 Stück eine Last von 8000 Zentnern heben würden.“

Bauer war in der Lage, die Richtigkeit seiner Behauptung zu beweisen und durch seine Kamele wirklich ein Schiff zu heben.

Am 1. März 1861 war auf dem Bodensee, an der Schweizer Seite, der bayerische Postdampfer „Ludwig“ durch den Dampfer „Zürich“ in der Dunkelheit und bei starkem Nebel in den Grund gebohrt worden. Bauer übernahm zwei Jahre später unter sehr ungünstigen Bedingungen den Auftrag, das 120 Fuß lange Fahrzeug binnen einiger Monate aus einer Tiefe von 65 Fuß zu heben; seine Mittel reichten nicht einmal zur Herstellung der Hebekamele, sodaß er an deren Stelle große Fässer setzen mußte. Diese wurden mit Wasser gefüllt, in die Tiefe gezogen und um das Schiff her befestigt. Um 2500 Zentner Tragkraft zu gewinnen, bedurfte er natürlich vieler Fässer, und von den herbeigeschafften zeigten sich nur wenige stark genug für seinen Zweck. Endlich stand ihm nicht einmal eine Luftpumpe zu Gebote, mit gewöhnlichen Feuerlöschspritzen mußte er das Wasser in der Tiefe aus den Fässern heraustreiben. So war es mit großer Mühe und noch größerem Zeitverlust für ihn verknüpft, nur die einfache Hebekraft zu gewinnen.

Trotz all der kläglichen Aushilfsmittel ging Bauer doch mit seinen Tauchern rüstig an die Arbeit, und bald gelang es ihm, mit 27 Fässern das Schiff aus dem Lehmgrund, in den es tief eingesunken war, herauszubefördern, die „Adhäsion“ vollständig zu brechen. Mit weiteren 10 Fässern hob er das Hintertheil 5 Fuß vom Grunde empor, und am 29. Mai stand das Schiff schon so hoch, daß 5 große Tragfässer auf der Oberfläche schwammen und der Dampfer in allen Theilen sichtbar war. Da kam, statt des erwarteten und verheißenen Schleppdampfers, der den „Ludwig“ in einen sicheren Hafen führen sollte, ein furchtbares Gewitter mit hochbewegter See, die Wellen schlugen die tragenden Fässer aneinander, zertrümmerten sie und der „Ludwig“ sank nach denselben Gesetzen, mit deren Hilfe man ihn heraufgebracht hatte, wieder in die alte Tiefe hinab. Noch zweimal, am 7. und am 23. Juni, erfolgte die Hebung, allein auch diese beiden Male mißglückte die Bergung, da die Schleppfahrzeuge nicht zur rechten Zeit an Ort und Stelle waren.

Bauer arbeitete indessen unverdrossen an dem übernommenen Werke fort, bis ihm dessen Ausführung mit seinen Hebekamelen wirklich gelang und der „Ludwig“ am 21. Juli 1863 nach Rorschach gebracht wurde. Als man sich dem Ufer näherte, ließ einer der Taucher die Schiffsglocke des wiedererstandenen Schiffes ertönen, wobei, wie ein Augenzeuge berichtet, viele die Thränen nicht zurückhalten konnten.

Vor dreißig Jahren beschäftigten die unterseeischen Kamele lebhaft die öffentliche Meinung, auch die „Gartenlaube“ ist von Anfang an in einer Reihe von Artikeln aus der Feder von Dr. Friedrich Hofmann aufs wärmste für Bauers Erfindungen eingetreten und hat bei dieser Gelegenheit eine Abbildung des Hebeapparates gebracht (Jahrg. 1862, S. 60 und 61). Eine verkleinerte Wiedergabe dieses lehrreichen Bildes findet sich auch in dem oben erwähnten Buche „In Meerestiefen.“

Bauers Erfindungen wurden in unserer raschlebenden Zeit früher vergessen, als sie verdienten. So wurde z. B. noch vor zwei Jahren an dem französischen Unterseebot von Goubet besonders die Sicherheit und Verläßlichkeit hervorgehoben, mit welcher das Fahrzeug unter Wasser auf und absteigen kann, und als ein großer Fortschritt gelobt. Dieser Vorzug wird aber durch Einlassen des Wassers in den Schiffsraum und wieder durch Auspumpen erzielt – und dasselbe „neue“ Prinzip war schon bei dem ersten Brandtaucher Bauers in Anwendung gebracht, wie an dem gehobenen Wrack im Kieler Hafen genau festgestellt werden konnte. Wahren wir also dem ursprünglichen Erfinder, dessen Los wie das so vieler seiner Geistes- und Leidensgenossen kein leichtes gewesen ist, den wohlverdienten Ruhm! C. Falkenhorst.     




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Eine Fahrt um die Braut.

Erzählung aus Helgolands Vergangenheit von Helene Pichler.

Ein dunkler stürmischer Herbstabend lag über Helgoland. Der brausende Nordwest scheuchte alles Lebende in die Hütten und Häuser und zwang die Bewohner der Insel, ihre Thüren „dicht“ zu halten. Drinnen in den Stuben brannten die Zinnlampen trübe, und alt und jung hockte zusammen an den warmen Oefen. Die Stimmung war durchaus keine fröhliche, denn man schrieb das Jahr 1808, die europäischen Völker wurden durch die Kriegsfurie fort und fort gegen einander gehetzt, und obgleich sich die Helgoländer wenig um Politik kümmerten, so lange sie auf ihrem meerumbrandeten, Felseiland in Ruhe gelassen wurden, so war doch der jetzige Zustand ein höchst unbequemer, mit dem sich die friesischen Hartköpfe nicht abzufinden wußten. Vor einem Jahre nämlich war ihre Insel von den Englandern besetzt worden, die sich freilich durch ein gewisses Verständniß für die Sonderart des kleinen friesischen Inselvolkes beliebt zu machen verstanden; aber man wußte doch nicht recht auf Helgoland: war man noch dänisch, oder schon englisch. Jedenfalls benahmen sich die Engländer bereits als Herren der Insel; sie benutzten dieselbe als Stapelplatz für die Kolonialwaren, die infolge der von Napoleon I. verhängten Kontinentalsperre nur auf Schleich- und Schmuggelwegen in die englsch-hannoverschen Provinzen und weiter hinein ins deutsche Reich geschafft werden konnten, um dort der Noth und Theuerung etwas zu wehren. Die Helgoländer Fischer gaben zu diesem Schmuggelverkehr sehr gern ihre Fahrzeuge wie die nöthigen Mannschaften her, denn sie selber waren an Nahrung und Erwerb durch die Kontinentalsperre aufs schwerste getroffen; war diese doch schuld, daß die Fischer mit ihrer silberschuppigen Ware die Fischmärkte von Bremen und Hamburg nicht mehr besuchen konnten, und sie hätten mit Weib und Kind hungern müssen, wenn nicht die Engländer Nahrungsmittel auf die Insel geschafft hätten.

So machte es sich denn ganz von selbst, daß die Helgoländer neben den Schmuggelfahrten auch die weit gefährlicheren heimlichen Postfahrten nach dem Festland übernahmen; gefährlicher deshalb, weil die Franzosen mit aller Macht darauf ausgingen, jeden brieflichen Verkehr der deutschen Staaten mit dem Auslande und besonders jede derartige Verbindung Englands mit seinen deutschen Provinzen zu verhindern. Es war bereits zweimal vorgekommen, daß man junge Männer mit Briefschaften aufgegriffen und ohne weiteres „standrechtlich“ erschossen hatte.

Gegen solche Willkür und Tyrannei lehnten sich die Gemüther der friesischen Fischer ebensosehr auf wie die der berechnenden Engländer. Der Franzos war der gemeinsame Feind, gegen den sie beide sich wehrten.

An jenem stürmischen Herbstabend stieg eine weibliche Gestalt langsam und sorglich sich umschauend im Dunkeln die große Treppe hinab, die von dem hohen Felsplateau zu dem sandigen Vorlande, dem Unterland, hinabführt. Sie hatte den unteren Saum ihres Kleides hoch genommen und über den Kopf gezogen; vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den andern, um nicht bei einem Fehltritt durch den heulenden Sturm in die Tiefe geschleudert zu werden.

Auf dem zweiten Absatz der „Börrig“, wie der Helgoländer die große Treppe nennt, hielt sie ein wenig inne und lehnte sich tiefathmend gegen die Felswand; gar zu wild stöhnte und kreischte es in den Lüften, und die dunkle See rauschte dazu und leckte mit weißen Zungen hoch empor an dem Eiland. Es war eine schöne kräftig gebaute Mädchengestalt, die weiterschreitend jetzt mit dem Fuß nach der nächsten Stufe tastete. Da tauchte in dem Nachtdunkel unter ihr ein Kopf auf, der sich rasch höher und höher schob: vom Unterlande kam ein Mensch herauf. Das Mädchen zog rasch ihr Kleid dicht übers Gesicht zusammen, um nicht erkannt zu werden, aber im selben Augenblick tönte es schon: „Gesche!“ „Lars!“

Die beiden hatten sich trotz Sturm und Finsterniß erkannt, und hastig flog nun Rede und Gegenrede hin und her, während sie sich unter Windesheulen und Regengüssen auf dem Felsvorsprung zu halten suchten.

„Wohin zur Stunde und bei dem Wetter?“ fragte Lars mit merklichem Unmuth in der Stimme.

„Wohin sonst als zu Dir?“ erwiderte das Mädchen mit fliegendem Athem, „Vadder is ganz kaput, von wegen der Wunde am Knie, die wieder aufgebrochen ist. Nun liegt er elendig da und brummt und knurrt, weil er keinen Ersatzmann für die Postfahrt morgen hat, und da dachte ich –“

Gesche stockte und Lars wiederholte fragend. „Da dachtest Du …?“

„Natürlich! da dachte ich – wenn Lars Ersatzmann sein wollte, und es ginge alles gut, dann –“

Der junge Fischer ließ die Geliebte nicht ausreden. „Dann würde es vielleicht doch ’was werden können mit der Gesche und dem Lars? He, das meinst Du doch?“ Er stieß ein kurzes gedämpftes Lachen aus, sodaß Gesche ganz erschrocken ihre arbeitsrauhe Hand auf seinen Mund legte. Herrgott, wenn jemand das Lachen gehört hätte! Gesche zitterte bei dem Gedanken an eine Entdeckung dieser nächtlichen Zwiesprache; mit ihrem guten Ruf wär’ es für immer aus und vorbei, und die

[721]

Belauschte Werbung.
Nach einem Gemälde von C. Puyol.

[722] Sonntagskleider könnten im Spind verstocken, denn Gesche hätte sich mit ihnen nie wieder beim Tanze im „Rothen Wasser“ zeigen dürfen, weil sie doch keinen Tänzer gefunden hätte. Die Sittsamkeit der helgoländer Frauen und Mädchen unterlag in dieser Zeit noch einer höchst strengen Volksgerichtsbarkeit.

Lars’ Lachen war jedoch zu keines Unberufenen Ohr gedrungen. Er sagte jetzt tiefernst, mit einem Anflug von Bitterkeit: „Ja ja, das könnt’ wohl sein; wenn nur die Gesche keine Helgoländerin und ich nicht vom dänischen Jütland gebürtig wäre! Einen Dänen darfst Du ja doch nie freien. Ihr seid hart wie der rothe Felsen und guckt herab auf alles, was nicht auf Eurem Felsen geboren ist.“

Der junge Däne hatte die Worte grimmig vor sich hin gemurmelt, es klang wie das dumpfe Murren der See. Einige Augenblicke blieb es still zwischen den Liebesleuten, dann stieß Gesche hervor:

„Wahr ist’s, so sind wir. Aber wir wissen auch, daß Kraft und Dichtwesen[1] bei jedem Mann das Beste ist. Probier’s und Du sollst sehen, es glückt!“

„An Tollheit[2] soll’s von meinetwegen nicht fehlen,“ sagte Lars, „aber Knud Froden bleibt ja doch ein Starrkopf“

„Wird sich finden!“ erwiderte Gesche, „tritt Du nur für ihn ein bei der Postfahrt. Er meinte freilich von Dage[3], dazu hätte der jütische Torfkopp keine Kurasche —“

„Was? Jütischer Torfkopp?“ schrie Lars, „nu thu ich mit, Gesche, und wenn die Franzosen mich sammt dem ledernen Postsack im Watt ersticken sollten.“

Das Mädchen seufzte tief auf. „So stell’ Dich zeitig bei Vadder ein; mit Tagwerden soll die Schaluppe nach dem Werk [4] abgehen. Es sollen diesmal wichtige Depeschen im Sack sein, sagt der Kommandant von der englischen Brigg, die Euch begleiten will.“

*               *
*

Kaum kroch der erste dämmernde Tagesschimmer über das grollende Meer herauf, da wurde schon an der Hausthür des alten gebrestigen Knud Froden der Riegel gehoben, und Lars der Däne trat über die Schwelle. Der alte Lotse saß bereits in seiner Koje aufrecht und schalt in den grauenden Tag hinein, daß die Welt immer schlechter werde, daß das junge Mannsvolk keinen Muth mehr habe und in diesen schlimmen Zeiten immer mehr Wind unter die Füße kriege, und daß die Mädchen auch zu nichts mehr werth seien als im „Rothen Wasser“ die Röcke zu schwenken.

Gesche hantierte unterdeß am Herd, schürte das Torffeuer, daß die Funken sprühten, und bereitete den Morgenkaffee, ohne auf des Alten grimmige Auslassungen ein Wort zu erwiderten.

Da knarrte der Riegel. Das Mädchen fuhr zusammen, und ohne sich nach dem Kommenden umzusehen, bückte sie sich rasch, um frischen Torf an das Feuer zu legen.

Lars stampfte erst ein wenig die Füße ab, schleuderte den nassen Südwester aus und ging dann durch die halbdunkle niedrige Stube bis an das Lager des Alten; hier blieb er stehen und sagte nach kurzem Morgengruße: „Ik heff hürt, dat de Bestmann von de Kumpanei brestig is.“

„Schall wol wesen; un watt sunsten noch?“ erwiderte ihm der Alte.

„Ik meen, dat ’r wohl Platz för ’ne stramme Fust bi wör,“ erwiderte Lars ruhig.

Der alte Friese richtete sich plötzlich in seinen schweren Kissen noch höher auf, blickte mit seinen scharfen durchdringenden Augen den jungen Dänen an und sagte langsam und mit schneidender Stimme:

„Dat gilt ’ne Postfahrt nah ’n Werk, mang de Franzosen dör! Dat geit üm ’t Leven! He?“

„Weit ik, Kund Froden. ’t geiht för Recht un Pflicht; eben dorum!“

Der alte Lotse lachte kurz auf und streichelte seinen grauen Stoppelbart; Lars wartete unterdeß geduldig, bis es dem Alten gefiel, eine Antwort zu geben.

„Gesche, bring’ Kaffee!“ kommandierte Knud Froden seiner Tochter zu, die eben den Kaffeekessel vom Feuer hob, wobei der Widerschein der rothen Gluth ihr Gesicht überstrahlte. Gesche goß ein, und während die Männer den heißen Morgentrunk zu sich nahmen, gab Knud Froden mit kurzen Worten die nöthige Weisung über den Punkt auf der Insel Neuwerk, wo das englische Postfelleisen abgeliefert und dafür das von dem deutschen Festlande heimlich nach der Elbinsel geschaffte in Empfang genommen werden müsse. Lars nickte verständnißvoll und meinte: „Is all god.“ Er hatte schon die Thür in der Hand, als ihn der alte Lotse noch einmal scharf anrief.

„De englischen Depeschen möten dör de Franzosen an de Dütschen ’brocht wären, wird dat de Däne gau richtig maken?“

„Hei wird, Knud Froden, hei wird! ’t geiht for Recht un Plicht!“ erwiderte Lars.

*               *
*

Auf dem Unterlande herrschte schon reges Leben um diese Stunde. Einheimische Fischer und englische Matrosen standen in Gruppen bei einander, erstere „stumm und stur[5]“, letztere lebhaft sprechend; seitwärts neben dem großen hölzernen Warenschuppen, den die Engländer erbaut hatten, saßen einige fröstelnde Weiber und warteten mit Henkelkörben und Demijohns[6], daß ihre Väter und Männer das Rauhfutter[7] für die Reise begehrten.

Es handelte sich darum, ob die Postfahrt nach Neuwerk angetreten werden müsse oder nicht. Die Helgoländer hielten sich nämlich keineswegs dazu für verpflichtet, obwohl sie diesen Dienst seit der englischen Besitzergreifung freiwillig versehen hatten. Heute fehlte aber der, welcher bislang nicht nur sein einmastiges Fahrzeug, seine Schnigge, zu den gefährlichen Fahrten hergegeben, sondern auch mit seiner Person die Verantwortung allein getragen hatte, der alte Knud Froden. Die Schnigge schaukelte freilich ein Dutzend Ellen weit vom Strande auf den letzten Ausläufern der Brandungswellen, aber ihr Führer lag, von seinem alten Gebresten heimgesucht, daheim in der Koje, und die zu der Schnigge gehörige Fischerkompagnie wollte keinesfalls das Wagstück ohne einen verantwortlichen Führer unternehmen. Mochten doch die Engländer über die friesischen Dickköpfe schelten und auf die Wichtigkeit der Briefe und Depeschen hinweisen, die nach Neuwerk und von da durch andere Freunde der Engländer nach Cuxhaven und weiter nach Stade und Hannover geschafft werden mußten! Das Schelten wirkte bei den Helgoländer Fischersleuten ebensowenig wie der Hinweis auf die nordwärts von der Insel ankernde Brigg, das englische Kriegsschiff, welches gestern die Post gebracht hatte und heute die Fischerschaluppe schützend begleiten sollte. Die Helgoländer verzogen bei all dem Schimpfen und Wettern keine Miene. Ihr Starrsinn brachte die Engländer in Aufregung und endlich der Wuth nahe. Schon fielen Worte von Zwang und Gewalt seitens der Briten, die Friesen erwiderten die Drohungen, indem sie die Aermel ihrer Schifferjacken hochkrämpten und ihre nervigen Fäuste zeigten; ein Augenblick noch, und es wäre zu Handgreiflichkeiten gekommen, die wahrscheinlich den Grund zu einer keineswegs rosigen Zukunft der Inselbewohner gegeben hätten. In dieser entscheidenden Minute jedoch kam ein Mann in hohen Seestiefeln, die gelbe Oeljacke über den Schultern und den Südwester auf dem kurzgeschnittenen Haar, „de Börrig“ herabgesprungen. Es war Lars. Unten angekommen, sprang er mit fröhlichem Gesicht unter die sich bedrohenden Parteien und rief: „Alltids Manneshand baven![8] Knud Froden schickt mi! Is all’s klar?“

Nach zehn Minuten war denn auch alles klar, d h. zur Abfahrt bereit. Die Engländer sprangen eilig in ihr Boot und ruderten nach der Brigg, um dort die gute Nachricht zu überbringen, daß die „blonden Holzköpfe“ die Helgoländer, endlich ein Einsehen in ihre Pflicht bekommen hätten, und die Kameraden von Knud Frodens Kompagnie tappten durch das niedrige Wasser bis zu der segelfertigen Schaluppe. Allen voran hantierte Lars, der seinen Südwester im Uebermuth grüßend den am Strande zurückbleibenden Weibern und Mädchen entgegenschwenkte und gleich darnach selber half, das Fahrzeug durch Einstemmen [723] einer langen Stange aus dem seichten Meeresgrund in tieferes Wasser zu bringen.

Em freundlicher Tag würde es wohl nicht werden, das sah man, aber der nächtliche Sturm hatte sich doch zur kräftigen Brise gemildert, und die auf der Insel Zurückbleibenden schauten darum ohne sonderliche Besorgnisse der absegelnden Schaluppe nach. Oben auf dem Falm[9] lehnte einsam eine verhüllte Mädchengestalt, die dem im Morgennebel verschwindenden Fischerboot nachschaute und lautlos, aber aus tiefster Seele betete: „Min leiv Herrgott, lat dat gelingen!“

Unter Lars’ Führung hatte die Schaluppe unterdeß freies Wasser gewonnen und war dem englischen Kriegsschiff soweit nahegekommen. daß von diesem ein in getheertes wasserdichtes Segeltuch gehülltes und an einer starken Leine befestigtes Packet von ansehnlicher Größe, durch einen nervigen Arm geschleudert, auf das Fischerboot gelangen konnte. Es war das wichtige Postfelleisen, welches die Helgoländer auffingen, von der Leine lösten und in dem offenen Fahrzeuge unter einer Bank verbargen. Lustig ging’s dann mit dem schwellenden Winde gen Südosten, der Elbmündung zu. Während die Schaluppe durch die schäumenden grauen Wogen rauschte, lichtete auch die englische Brigg ihre Anker, entfaltete ihr Tuch und segelte in gemessenem Abstand hinterdrein. Ja, in sehr gemessenem Abstand, denn schon nach einer Stunde kräftiger Fahrt minderte das englische Schiff sein Tuch und blieb mehr und mehr zurück. Lars sah die Masten seines Begleiters langsam schwinden, und als die mitten im tosenden Meer stehende hohe Baake von Scharhörn vornaus auftauchte, sanken gerade achterwärts die Toppen der englischen Brigg unter den Horizont.

„Is’n fein’ Schutz, de Engländer,“ sagte Frank Kunert, einer der beiden Gefährten von Lars.

„Lat ehm! Hei kennt ’t Water nich,“ antwortete Lars, indem er dem Segel noch etwas mehr Luft gab, sodaß sich die Schaluppe unter dem starken Winddruck fast auf die Seite legte und in dieser Lage so schnell durch die Wellen raste, daß der Gischt am Bug hoch aufsprühte und die nicht rasch genug sich theilenden Wellenköpfe ins Boot stürzten.

Die Engländer kannten in der That das Fahrwasser nicht genau genug, um sich mit ihrer Brigg, die doch 13 Fuß Tiefgang hatte, ohne Lotsenhilfe der gefährlichen, wegen ihrer Sandbänke höchst berüchtigten deutschen Küste weiter zu nähern. Kaum hatte die Brigg das Helgoländer Boot außer Sicht, als sie, noch weit außer dem Bereich der eigentlichen Untiefen, Anker auswarf und das Postboot seinem Schicksal überließ in der Voraussetzung, daß es schon glücklich durchschlüpfen und mit dem kostbaren Postsack die Insel Neuwerk erreichen werde.

Lars und seine Kameraden fühlten indeß bei dem Zurückbleiben des bewaffneten Beschützers erst recht das Verlangen, die gefährliche Fahrt auch ohne den Schutz der englischen Kanonen gut zu Ende zu bringen. Die Schaluppe sauste durch die Wogen, die Baake von Scharhörn blieb leewärts und schon tauchte südöstlich ein heller Streif auf, die ersehnte Insel, sodaß die drei im engen Fischerboot glaubten, alles werde wider Erwarten glatt von statten gehen. Da zeigten sich aber die Spitzen eines großen, nördlich von Neuwerk vor Anker liegenden Schiffes.

„De Franzos?“ fragte Frank Kunert.

„Wat sunsten!“ erwiderte Lars kurz, indem er scharf nach dem feindlichen Schiffe hinüberschaute, weil er erwartete, dieses werde seine Anker aufnehmen und eine Verfolgung beginnen. Aber der Franzose hielt wohl das kleine Segelboot für zu unbedeutend, als daß sich eine Jagd nach ihm lohnen würde; er begnügte sich daher, der Schaluppe eine Kanonenkugel in die Rippen zu jagen – oder vielmehr jagen zu wollen, denn die Kugel schlug mit dumpfem Zischen eine halbe Kabellänge[10] vom Ziel entfernt ins Wasser. Lars schüttelte die herübersprühenden Tropfen von seiner Schifferjacke und sagte gelassen: „He is bannig quad[11], de Franzos.“

Weiter und weiter rauschte die Schaluppe, der französische Kaper kam außer Sicht, nach Lars’ Berechnung mußte nun auf dem östlichen Ausläufer von Neuwerk das Zeichen erscheinen, das nach Knud Frodens Angabe zur Landung an der Ostseite der Insel aufforderte: eine hohe Stange mit einem dunklen Ball an der Spitze. Aber so sehr auch die drei Männer im Boot Ausguck hielten, keine Stange und kein Ball wurden an dem öden Inselstrande sichtbar, dagegen thürmten sich die Wolken im Nordwesten drohend aufeinander, der Wind nahm zu und die See fing an, hohl durcheinander zu laufen. Die Lage der Schaluppe begann ungemüthlich zu werden. Bleik Nummen, der dritte von der Besatzung, schlug vor, man solle Neuwerk liegen lassen und die Elbe hinauf bis jenseit Cuxhaven segeln, wo man in Ruhe besseres Wetter und günstige Gelegenheit zur Landung auf Neuwerk abwarten könne. Aber davon wollte Lars nichts wissen, er bestand vielmehr darauf, trotz des schlechten Wetters die Insel Neuwerk zu umsegeln, so daß die Südseite erreicht wurde, wo die heimliche Ablieferung der Post heute noch geschehen mußte.

Es war inzwischen Mittag geworden. Die Männer spürten es jetzt, daß sie sieben Stunden in Wind und Wasser gearbeitet hatten, ohne den Kräfteverlust zu ersetzen. Aber das Wetter, welches von Westen heranbrauste, ließ ihnen keine Muße, eine Stärkung zu sich zu nehmen. Schwere Regenböen stürzten hernieder, die See heulte, und grau in grau hingen Wolken und Meer ineinander. Die Wogen schlugen in die offene Schaluppe, und die drei Männer waren bald bis auf den letzten Faden durchnäßt. Lars rief dem Steuermann zu: „Wi mötten süd gahn!"

Unter vereinter Anstrengung ward es erreicht, daß die von dem wüthenden Westwind und der andrängenden Fluth nach Norden gezwängte Schaluppe endlich ihren Kopf südwärts wandte, dem Festlande entgegenhielt und nun endlich mit dem sinkenden Tageslichte in das seichte Watt steuerte, welches zur tiefsten Ebbe einen fast trockenen Weg von Neuwerk nach dem Festlande gestattet, zur Fluthzeit aber vom brausenden Meere bedeckt ist.

Gar bald gewahrten die Postfahrer, daß auch vor der Spitze von Cuxhaven ein französischer Kaper lag, und um von diesem nicht gesehen zu werden, hatten sie den Mast ihrer Schaluppe ausgehoben und niedergelegt und arbeiteten sich so ohne jedes Segel, nur auf ihre Kraft und die Steuerfähigkeit der Schaluppe vertrauend, durch das Wogengedränge bis an die Südseite der Insel Neuwerk. Hatte ihnen aber zuerst die steigende Fluth geholfen, so wurde jetzt das zu Beginn der Nacht wieder zurückströmende Wasser ihr Feind. Was kümmerten sie sich um den von Cuxhaven herüberschallenden Kanonendonner, welchen der dort postierte Franzos als Zeichen seiner Wachsamkeit hören ließ; die Aufmerksamkeit und Besonnenheit der drei Männer im offenen Boot waren allein auf das gefährliche Fahrwasser gerichtet, das ihnen durch zahlreiche Sandbänke und Untiefen Verderben drohte. Noch ein Ruck und die Schaluppe saß wirklich fest. Sofort schlugen die rückwärtsströmenden Wellen so heftig über Bord, daß alle drei zu Boden geschleudert wurden und sich das kleine Fahrzeug rasch auf die Seite legte. Lars’ erster Gedanke galt der Post. Die durfte nicht verloren gehen, mochten Schiff und Besatzung auch dran glauben müssen. So hatte Lars denn beim Niederstürzen unwillkürlich das aus seinem Versteck hervorkollernde Packet erfaßt; und da jetzt alle Kräfte angespannt werden mußten, um der völligen Strandung und dem Untergang zu entrinnen, befestigte er es auf seinem Rücken.

Die drei Fischer arbeiteten wacker und kämpften mit höchstem Todesmuth gegen das drohende Verhängniß. Eine Viertelstunde lang sprachen sie kein Wort, sie arbeiteten von einem Geiste beseelt wie ein Mann an der Wiederaufrichtung ihres Fahrzeugs. Jeder von ihnen hörte durch Wind- und Wellenbrausen die heftigen Athemzüge der andern. Endlich, endlich – die schwarzen Fittiche der Nacht hatten sich derweil völlig über das tobende Meer und die stille Sandinsel gebreitet – saß die Schaluppe wieder leidlich aufrecht im Schlick fest. Heftig keuchend und am ganzen Leibe dampfend, warf Lars seine nassen Oberkleider ab, zog die schweren Stiefel von den Füßen, nahm das Felleisen auf die Schulter und sprang über Bord mit dem festen Entschluß, die Post in ihre richtigen Hände zu befördern, oder nicht mehr zurückzukehren.

(Schluß folgt.)



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Blätter und Blüthen.

Hunnen vor dem Feind. (Zu dem Bilde S. 712 u. 713.) Es waren blutige Zeiten, jene Zeiten der Völkerwanderung vom vierten bis sechsten Jahrhundert n. Chr., wo unter dem Ansturm der hunnischen Horden von Osten her die germanischen Stämme gezwungen wurden. die alten Wohnsitze zu verlassen und nach Süden und Südwesten gegen die römischen Grenzen vorzurücken. Als ob eine übermächtige Gewalt die Nationen wie Spreu durcheinanderschüttelte, so stoben damals in buntem Gemisch die Völkerschaften durcheinander. Die Hand aller stand gegen alle, am gewaltigsten aber lastete der Arm der Hunnen auf der europäischen Völkerwelt, ihr König Attila führte die Geißel, vor der vom äußersten Osten bis zum italienischen Süden hinab die Reiche bangten, bis die vereinigten Römer und Westgoten durch die Schlacht auf den katalaunischen Feldern im Jahr 451 seinen Heeresmassen Halt geboten und ihn zum Rückzug zwangen. Eine bewegte Scene aus jenen Raubzügen der Hunnen hat der Maler unseres Bildes dargestellt. Eine Horde der wilden Sendlinge Asiens hat plündernd fremde Ansiedlungen überfallen, auf schnellen Rossen suchen sie die Beute zu entführen; sogar ein Mädchen, das nicht rechtzeitig mehr in die Wälder zu fliehen vermochte, wurde rasch aufs Pferd gebunden und muß nun als willkommene Beute den rasenden Schlachtritt mitmachen. Denn mitten in ihrer Plünderung sind die Hunnen ihrerseits von ihren rachedürstenden Gegnern überrascht worden und in rascher Wendung stürmen sie nun zum Angriff gegen den Feind.

König Alfons XIII. von Spanien.

Europas jüngster Herrscher. Alfons XIII. von Spanien, der am 17. Mai dieses Jahres seinen 6. Geburtstag und zugleich die fünfjährige Dauer seiner Königsherrschaft feiern konnte, mußte am 17. Juli einen großen Schmerz erleben; nicht der hohen Politik des Staates galt er indessen, sondern einer Entsagung, die man ihm aus erzieherischen Gründen auferlegte. An diesem Tage erfolgte nämlich seine Abreise von Madrid nach San Sebastian und zugleich seine Trennung von einem heißgeliebten Wesen, von seiner Amme, welcher man die Wartung des jungen Herrschers ganz gegen die Gewohnheit fünf volle Jahre überlassen hatte, welche aber zugleich ihren Pflegebefohlenen durch allzugroße Nachgiebigkeit zu verhätscheln drohte. Der Knabe war untröstlich, als er ohne seine ama abfahren mußte, allein am neuen Aufenthaltsort vergaß er bald seinen Kummer über der Lust, mit seinen Schwestern im Sande des Strandes Burgen und Häfen aufzubauen. – Es ist eine „leichte“ Königsfamilie, die sich dort in San Sebastian aufhielt, die Mutter wiegt zusammen mit ihrem Sohne und ihren beiden Töchtern nur 117 Kilogramm, wovon auf den kleinen König bloß 15 entfallen, während seine Großmutter, die ehemalige Königin Isabella, für sich allein 117. Kilogramm in Anspruch nimmt. Möge Alfons XIII. in die Wage der Geschichte schwerer fallen als in die von San Sebastian! R. S.     

Der Silhouettenschneider. (Zu dem Bilde S. 717) Vor zwanzig Jahren gab es in Berlin einen wahrhaft genialen Silhouettenschneider. Es war ein kleiner Mann mit einem fragenden, gleich die Personen auf ihre besondere Eigenartigkeit im Gesichtsausdruck prüfenden Blick, und man traf ihn überall, wo das Publikum sich zusammenfand, um des Tages Last und Mühe abzuschütteln. Oft fragte er, mit der Schere in der Hand, ob er ein Porträt anfertigen dürfe, vielfach setzte er sich ohne Auftrag von seinem „Opfer“ an einen nicht zu weit entfernten Tisch, fertigte mit wahrer Virtuosität ein Profilbild an und bot dann sein Kunstwerk gegen beliebige Bezahlung zum Kaufe an. Und der Berliner ist daheim viel zu kameradschaftlich und zu gutmüthig, um in solchem Fall nicht in die Tasche zu greifen. Er giebt, was seinen Verhältnissen entspricht, und der kleine Mann stellte – ich habe ihn häufig beobachtet – auch niemals höhere Forderungen. Ich besitze noch ein aus jener Zeit herrührendes, überraschend ähnliches Bildchen, aus schwarzem Papier geschnitten, und es weckt die Erinnerung an die in belebten Berliner Vororten oder in Konzertsälen, Bierschenken, kleinen Theatern und Belustigungslokalen verlebten frohen Stunden.

Unser Zeichner giebt eine treffliche Skizze von einem „Bildschneider“ aus neuester Zeit. In einer Wirthschaft sitzt eine Familie um den Tisch und läßt eines ihrer Mitglieder, das lächelnd gradausschauende, die Hände auf die Stuhllehne stützende achtzehnjährige „Mariechen“, zunächst abkonterfeien. Sehr lebensvoll, der Wirklichkeit trefflich abgelauscht ist namentlich der Künstler selbst und die mittlere Gruppe der Alten. Aber auch auf den Gesichtern der übrigen ist der Ausdruck des gespannten Interesses an dem Vorgang überzeugend wiedergegeben. g     

Belauschte Werbung. (Zu dem Bilde S. 721.) Ein verschwiegenes Plätzchen, fern vom Landhaus, am äußersten Parkende, wo aus der Marmornische unter grünen Ranken hervor die kleine Fontäne in das bemooste Becken tröpfelt – und doch nicht weit genug entfernt für zwei Paar muthwilliger Lauscherohren, die hier voll Entzücken das Gelingen ihres sauberen Anschlags genießen. Die losen Spaßvögel haben ihn herbeigelockt, den guten Doktor, durch die geheimnißvolle Mittheilung, daß hier Donna Erminia, die allerliebste junge Witwe und Besitzerin dieses begehrenswerthen Landgutes, um die Vesperzeit gern ein Stündchen zubringe, vielleicht in stillen Gedanken an ihren Seligen, vielleicht an sonst wen … wer könne es wissen?!

Und das Mittel wirkte bei Doktor Gasparo stärker als je eines der seinigen bei seinen Patienten. Keinen halben Tag brauchte er bis zur Ueberzeugung, daß nur er der glückliche Erwählte sein könne. Sah sie nicht ihn bei der allabendlichen Spielpartie immer besonders freundlich an? Und mißbilligte sie es nicht regelmäßig, wenn der verwünschte Spaßmacher von Onkel und die muthwillige Freundin sich die Langeweile dieser Spielabende durch Aufziehen des Doktors zu versüßen suchten? O, es war klar wie der Tag, sie hatte sein treues Herz erkannt und suchte ihm Gelegenheit zur Aussprache zu bieten, wollte allein mit ihm sein ohne die beiden lästigen Aufpasser!

Und so kommt er denn richtig am ersten Abend schon zur Fontäne, als ahnungsloser „vierter Mann“ der Partie, im schönsten Staatsgewand. Seine Rechte hält einen Blumenstrauß, die Linke drückt er aufs Herz und beginnt eine zärtliche Ansprache, vorerst in die großen Hutfedern hinein, die ihm das Gesichtchen der Holden verdecken. Und das ist gut für seine Fassung, denn es zuckt verrätherisch um ihre Mundwinkel: als Bräutigam wird der brave Sor Gasparo diesen idyllischen Winkel schwerlich verlassen.

Der schlimme Oheim hält sich die Seiten vor Ergötzen über den Kapitalspaß, die Freundin schielt auch vergnügt von ihrem Lauerposten herab und denkt höchstens, wenn sie einen kleinen Gewissensstich fühlt: „Pah! er wird sich trösten.“

Und das ist richtig, trösten wird er sich. Auch die hübsche Donna Erminia sieht gerade so aus, als ob sie ihren Tröster allbereits im Sinn und nahe genug bei der Hand habe. Ein Jahr später aber, wie wird es dann hier aussehen? Erminia wird ihren Tröster geheirathet haben, Oheim und Freundin, die überflüssig gewordenen Anstandswächter, werden längst verduftet sein, allein nach wie vor kommt abends der längst mit dem Stand der Dinge versöhnte Freund Gasparo zur Spielpartie auf die Villa, und jetzt macht er sie mit dem Ehepaar in vergnügtem Behagen zu dritt – mit dem Strohmann! … Ja, ja, wer zuletzt lacht, lacht immer am besten. Bn.     




manicula 0 Hierzu Kunstbeilage XII. „Waldidyll“ von Gustav Courbet.




Inhalt: [Anm. WS: Inhaltsverzeichnis des vorstehenden Heftes, nicht transkribiert]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Dichtwesen = Dichtsein, Zusammenhalten der Geisteskräfte, Besonnenheit.
  2. Tollheit = Kühnheit, Muth.
  3. von Dage = heute.
  4. Insel Neuwerk.
  5. Stur = unregsam, schwerfällig.
  6. Umsponnene Glasflaschen mit Branntwein.
  7. Die nöthigsten Lebensmittel.
  8. Allzeit Männerhand oben, d. h. jederzeit braucht eure Kräfte.
  9. „Falm“ heißt die Straße am östlichen Rande des Oberlandes, von wo man einen Ueberblick über das Unterland und die im Hafen liegenden Schiffe hat.
  10. Eine englische Kabellänge = 231 Meter.
  11. außerordentlich bös.