Die Gartenlaube (1891)/Heft 43

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1891
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[725]

Nr. 43.   1891.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf.   In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf.   In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Ein Götzenbild.

Roman von Marie Bernhard.

(7. Fortsetzung.)

11.

Noch war der April Herr im Lande, wenn auch ein kaum geduldeter. Der Mai stand vor der Thür und hielt Blüthenschnee und Blättergrün und zahllose Blumen bereit – heute aber spielte sein Vorgänger im Reich noch zuguterletzt den Hamburgern einen kuriosen Tanz auf.

Oder war’s nicht kurios, wenn am Himmel schweres schwarzgraues Gewölk stand, so dicht und dunkel, daß man denken mußte, es könne gar nicht mehr Tag werden und man müsse am Ende jetzt, um die dritte Nachmittagsstunde, die Lampen anzünden? Und wenn dann Regenschauer niederprasselten, wuchtig und stark,

Der Plansee.
Nach einer Zeichnung von H. Nisle.

[726] daß die Gossen übertraten und die Dachrinnen gar nicht fertig werden konnten, die dicken, trüben Wasserstrahlen gurgelnd und schäumend herauszusprudeln? War’s nicht kurios, wie es dann zwischen den griesgrämlichen Wolken hervordämmerte als mattes gelbliches Licht und heller wurde und zu leuchten anhob gleich blassem Gold, und wie mit einem Male die Sonne durchbrach und Himmelsblau mitbrachte, gesättigtes dunkles Himmelsblau, das sich im nassen Pflaster wiederspiegelte und im Verein mit der Sonne die Menschen zu fragen schien: „Aber was habt Ihr denn alle? Fort mit euren feuchten Schirmen und Regenröcken und ärgerlichen Gesichtern! So lacht doch und freut euch – ich thu’s ja auch! Frühling ist es, warmer, gesegneter Frühling!“ –

Sie konnte in der ganzen alten Hansestadt kein schöneres Menschenkind überstrahlen, die Lenzsonne, als Stella Brühl, die leichtfüßig die Treppe vom oberen Stockwerke heruntergelaufen kam, um sich in Papas Empfangszimmer zu verfügen. Ihr eigenes Empfangszimmer gefiel ihr plötzlich nicht mehr, sie hatte da von etwas ganz besonderem gehört und gelesen, was ihr besser zusagte und ihr die bisherige luxuriöse Einrichtung nichtssagend und gewöhnlich erscheinen ließ – und etwas ganz besonderes mußte sie, die doch selbst außergewöhnlich war, allemal zuerst haben. Wo das Geld zu diesen prachtvollen Seltsamkeiten herkam, darüber machte sie sich keine Gedanken; aber daraus konnte ihr auch niemand einen Vorwurf machen. Hätte sie ihr junges, glänzendes Dasein noch so scharf und prüfend überdacht, sie hätte sich keines einzigen Anlasses entsinnen können, bei welchem ihr gesagt worden wäre: „Das kannst Du nicht haben, das ist zu theuer!“

Auf den untersten Stufen der langen Treppe stieß die junge Dame auf ihre Schwester Gerda, die mit ihren Schulheften unter dem Arme gerade im Begriffe war, aufwärts zu steigen. Das Backfischchen sah sehr mißvergnügt aus, und sein Gesichtsausdruck erheiterte sich beim Anblick der schönen Schwester keineswegs. Gerda hatte die Nacht sehr schlecht geschlafen, sie hatte immerfort geglaubt, die Tanzmusik zu hören – was in ihrem Zimmer schlechterdings unmöglich war – und sich allerlei Scenen ausgemalt, die sich im Ballsaal zutragen konnten. Früh morgens hatte sie dann nüchtern eine Menge halbzerflossenes Eis und Konfitüren genossen, was ihr natürlich schlecht bekommen war. Sie war auf allerlei Umwegen mit Wolfgang durch das Fenster der Vorrathsstube geklettert und hatte sich dort gütlich gethan, ehe Frau Willmers, die gestrenge, von ihrem „Dienst“ bei der Prinzessin frei war. Gerda wußte, daß man ihr gutwillig nichts von all den übrig gebliebenen Herrlichkeiten geben würde, da sie sich gestern geweigert hatte, den Eltern und Stella gute Nacht zu sagen. Der „weibliche Minister des Innern“, Frau Willmers, hatte den Raub später entdeckt und die Missethäterin heftig ausgescholten, aber an Tadel war Gerda ja gewöhnt – hatte sie doch ihren Zweck erreicht. Nur hatte sich jetzt als Folge der Genüsse in der Frühe ein böses Magendrücken eingestellt, und außerdem war sie schlecht zur Geschichtsstunde vorbereitet, der österreichisch-spanische Erbfolgekrieg lag ihr ebenso schwer im Magen wie das Ananaseis und die Fruchtpasten.

Sie trug ein graues Wollkleid, aus dem sie herausgewachsen war – Stella in ihrem tiefrothen Sammetkostüm, das einen Theil des wundervollen Halses und der weißen Arme frei ließ, sah wirklich wie eine Prinzessin neben ihr aus.

„Fleißig lernen, Gerda?“ fragte sie, indem sie stehen blieb und die jüngere Schwester freundlich anblickte. Sie war immer sehr freundlich gegen ihre Geschwister, und wer Zeuge davon war, fand es unausstehlich von diesen, daß sie das bezaubernde Geschöpf nicht liebhatten. Neid ohne Zweifel!

„Ja!“ entgegnete der Backfisch kurz und sah auf seine mageren Hände herab, welche die Bücher umschlossen hielten.

„Du hast Dich ja gestern im Wintergarten so lange mit Herrn Andree unterhalten,“ fuhr Stella lächelnd fort, „hat er Dir gut gefallen?“

Gerda hätte ihre Schwester fragen können, woher sie dies wisse, unterließ es aber. Sie hatte es schon zu oft erlebt – die Prinzessin hörte von allem, was im Hause vorging, ihr blieb nicht das Geringste verborgen, und die jüngeren Geschwister waren untereinander einig, daß Frau Willmers bezahlte Spione in ihrem Sold habe, die ihr jede Kleinigkeit hinterbrächten.

„Ach – nein – warum soll er mir denn gefallen?“ erwiderte Gerda mürrisch, sie wußte schon, daß die schöne Schwester ihr unerbittlich alles verleidete, was ihr wohlgefiel. Zum Unglück konnte sie es aber nicht hindern, daß sie erröthete, als Andrees Name so plötzlich genannt wurde, denn der Maler hatte auf Gemüth und Phantasie dieses vernachlässigten Kindes in der That einen starken Eindruck gemacht.

Stella bemerke das Erröthen recht wohl und schaute noch freundlicher drein.

„Nun, wir haben doch Augen im Kopf, und Herr Andree sieht ja gut aus! Er wird mich malen, und jetzt hat er mich um eine private Unterredung bitten lassen – in einer kleinen halben Stunde wird er hier sein. Das sieht alles ein wenig verfänglich und bedenklich aus. Was kann es wohl zu bedeuten haben, Gerda – wie?“

Gerda bewegte sich unbeholfen hin und her.

„Daß er sich in Dich verliebt hat, wie’s allen geht!“ gab sie in schroffem Tone zur Antwort.

„O – Du meinst? Verliebt! Was sich solch ein Kindskopf alles denkt! Verliebt! Es wird wohl so sein, wie Deine junge Weisheit annimmt. Und – ob ich mich nun wieder in ihn verlieben soll?“

Sie lachte, daß alle ihre Perlzähnchen sichtbar wurden, lachte silberhell und reizend. Gerda war dunkelroth geworden und hatte all ihre Hefte und Bücher auf die Treppenstufen fallen lassen. Sie bückte sich tief und sammelte die „übersichtlichen Tabellen“ und den „Leitfaden für mittlere und neuere Geschichte“ zornig vom Boden auf.

„Nun, sei nur hübsch artig und lerne gut, mein Kindchen!“ schloß Stella und klopfte dem jungen Fräulein liebkosend die Wange.

So rasch wie Wolfgang am Abend zuvor zuckte Gerda zurück und lief im Sturmschritt die Treppe empor. Unterwegs riß sie ihr Taschentuch heraus und rieb sich derb die eben gestreichelte Wange. Dem ihrer harrenden Lehrer, einem tüchtigen älteren Philologen, zeigte sie ein sehr ungnädiges Gesicht und nicht das mindeste Interesse für den österreichisch-spanischen Erbfolgekrieg.

Leise vor sich hinsummend, schritt unterdessen Stella die letzten Stufen hinab und begab sich in ihres Vaters Empfangszimmer, das der Dekorateur so gediegen mit Büsten, Bildern und Bücherborden angefüllt hatte, als wurzelten die Neigungen des Herrn Senator Brühl allesammt in klassischem Boden.

Die schöne Stella setzte sich in einen Sessel von gepreßtem Leder, dessen hohe Lehne ihr Köpfchen sehr weit überragte, und dachte nach. Was konnte Andree von ihr wollen? Daß er in sie verliebt war, glaubte sie schon, sie hatte es der „Kleinen“ gegenüber noch nachdrücklicher betont, weil sie zu ihrem großen innerlichen Ergötzen wahrgenommen hatte, daß diese sich darüber ärgerte – aber der Zweck dieser heutigen Unterredung mußte ein anderer sein! Der Maler hatte sie zuweilen so seltsam ernst angesehen, und als er sie um die Zusammenkunft bat, in Gegenwart ihrer Mutter freilich, aber mit dem Zusatz, er müsse um die besondere Gunst bitten, Fräulein Brühl allein zu sprechen, da er im Auftrag anderer die äußerste Diskretion zu beobachten habe – da hatten seine tiefliegenden blauen Augen einen eigenthümlichen Schimmer gezeigt – war es eine Thräne gewesen? Stella wußte es nicht recht zu sagen, aber daß seine Mittheilung keine erfreuliche sein würde, das wußte sie! – Wenn doch dies alles nur nicht irgendwie mit Werner Troost zusammenhängen würde! Stella hatte allen Grund, mit dem gestrigen Abend und mit ihren Aussichten für die Zukunft zufrieden zu sein! Der Prinz war im Verlauf der Stunden wirklich immer „kleiner“ geworden, jemehr sie ihn ganz höflich und obenhin, wie jeden beliebigen andern Courmacher, behandelte. Sein großherrliches Gehaben hatte bedeutend nachgelassen, ihre Behandlung war die richtige gewesen, und aus dem herablassenden Bewunderer würde ein feuriger Bewerber werden, das stand so ziemlich fest. Sie wollte ihn gehörig hinhalten und schmachten lassen, denn einmal war dieses Spiel überaus unterhaltend, und dann gefiel ihr auch Andree gut – diese Art männlicher Geschlossenheit war ihr so ziemlich neu – ein bedeutender Künstler sollte er ja auch sein … Die schöne Stella wäre ungemein guter Laune gewesen, wenn ihr nicht immer wieder der Gedanke an Werner Troost all diese erfreulichen Zukunftsbilder gestört hätte.

Was war ihr nur damals gewesen, als sie sich mit diesem unbekannten jungen Menschen heimlich verlobte? Freilich stand [727] sie noch nicht auf ihrer jetzigen Höhe, sie war eben erst aus dem Pensionskleidchen geschlüpft und galt noch nicht für die erste Schönheit von ganz Hamburg. Was für Triumphe hatte sie inzwischen gefeiert, in welcher Fluth von Huldigungen und anbetenden Lobpreisungen hatte sie sich berauschen können! Und richtig – er war ein schöner Jüngling gewesen, und in seinem glühenden Vergöttern und Werben, in dem schwärmerischen Kultus, den er mit ihrer Schönheit trieb, hatte ein fortreißender Zug gelegen, dem schwer zu widerstehen war. Ja, sie mußte sich’s klar machen: auf ihre Art war sie damals auch in Werner Troost verliebt, und weil sie dies war und ein blutjunges unerfahrenes Kind dazu, so hatte sie sich in der That eingebildet, er könne nach Rom gehen und dort im Handumdrehen berühmt und reich werden und mit großen Schätzen, den unsterblichen Lorbeer um die schöne Stirn, alsbald vor ihren Vater hintreten, sich sein Kleinod im Sturm erobern und es in ein glänzendes Künstlerheim mit einem Atelier à la Makart einführen, wo die gesammte große Welt verkehrte.

Aber dann, als die Sache so lange, so endlos lange zu dauern versprach und seine Aktenstücke von Briefen fast nur Liebesbetheuerungen und hier und da prächtige Schilderungen von Rom und seinem dortigen Leben enthielten – dann, als der Ruhm und der Reichthum nicht wie ein Lorbeer- und Goldregen auf ihn herabstürzte, sondern Schritt für Schritt mit Mühe und Arbeit errungen werden wollte – dann war in der langen Trennung das rasche Feuer erkaltet, und da besann sie sich denn nicht lange mehr und schrieb ihm das alles. Er solle ihr nicht zürnen, aber sie habe sich selbst und ihr eigenes Herz nicht gekannt, und auch für ihn, den jungen aufstrebenden Künstler, sei es viel besser, wenn ihn nicht die Bande eines heimlichen Verlöbnisses fesselten, der Genius müsse sich frei emporschwingen können … und was der schönen Phrasen mehr waren, mit denen sie sich über ihr erkaltetes Gefühl hinwegzulügen suchte. Sie betonte ausdrücklich immer aufs neue, daß sie keinen andern liebe, daß aber Papa ganz besondere Pläne mit ihr verfolge und daß es für sie immer schwerer werde, dieselben zu durchkreuzen; vollends unmöglich sei es ihr, diese Pläne durch ein offenes Eingeständniß ihres geheimen Liebesbundes zu vernichten – das wäre ein Todesstoß für Papa und Mama, und diese gütigen Eltern, von denen sie täglich und stündlich mit Liebesbeweisen überschüttet werde, hätten es wahrlich nicht um sie verdient, daß sie ihnen einen so herzbrechenden Kummer bereite. Er, Werner Troost, solle gut, solle groß sein und sie nicht weiter bestürmen und anflehen, sie sei ja nur ein schwaches Mädchen, er aber ein Mann voll Energie und Willenskraft, der ihr tragen helfen müsse, was gekommen sei!

Diesen Brief, der in seiner Art ein kleines Kunstwerk war, hatte Stella Brühl vor ein paar Wochen an Werner Troosts römische Adresse gesandt, aber zu ihrer großen Verwunderung bis heute keine Zeile Antwort erhalten. War er verreist – war der Brief verloren gegangen – oder kam Werner gar in seinem leidenschaftlichen Zorn und Schmerz in Person hierher nach Hamburg, um ihr zu sagen, daß er sie nie und nimmer aufgeben könne?

Sie hatte den letzteren Gedanken schon mehrmals gehabt und stets mit demselben Erschrecken, sie hatte ihn auch jetzt wieder und fragte sich ziemlich rathlos, was sie dann wohl thun würde. Abbrechen – das jedenfalls, daran war kein Zweifel; das Gleiche mündlich wiederholen, was in ihrem Brief gestanden hatte … nur daß es bei dem jäh auflodernden Temperament des jungen Mannes fast unmöglich sein würde, eine Aussprache zustande zu bringen. Es mußte eine fürchterliche Scene abgeben, ach, und die schöne lächelnde Stella Brühl konnte solche Scenen nicht leiden!

Vielleicht hatte er sich gar ein Leid angethan, und sein Freund kam, es ihr zu sagen – es stieg ihr heiß in die Wangen und ihr Herzschlag ging rascher. Sah sie erregt aus? Sie stand auf und blickte in den Spiegel, aber über ihrem blüthenfrischen Gesicht lag nur ein leiser rosiger Hauch, und ihre herrlichen Augen erstrahlten in dunkelster Bläue. Ein liebliches Lächeln ging über ihre Züge, als sie, langsam und tief athmend, zu ihrem Sessel zurückschritt.

Es klopfte an die Thür, und Pierre meldete Herrn Andree.

Das ernste, mit dunkeln Eichenvertäfelungen ausgestattete Gemach schwamm in satten goldenen Farbentönen, welche die Sonne, die jetzt siegreich durchgebrochen war, verschwenderisch darüber ausgoß. In diesem wunderbaren Licht stand auch die Gestalt im rothen Sammetkleide mit dem Tizianhaar, und bei einer leichten Bewegung ihres Köpfchens flimmerte es um dies Haar wie eine röthliche von springenden Goldfünkchen durchsetzte Wolke.

In Andree schlug es wie eine Flamme empor. Seine ganze Schönheitsbegeisterung wachte in ihm auf, bannte ihm den Blick – er preßte die Hände fest zusammen, er hätte den Pinsel ergreifen mögen und sie malen, hätte immer wieder dies Wunder auf die Leinwand stellen mögen, um sie so hoch zu heben, wie es ihr zukam, und seiner eigenen Kunst die höchste Aufgabe zu stellen, die das Leben ihm bisher geboten. Er hatte mit wachen Augen geträumt von diesem Gesicht, aber er hatte die strahlende Königin eines Ballsaales vor sich gesehen, und jetzt stand ein befangenes Mädchen mit fragendem Blick, mit süßem Lächeln vor ihm, und er sollte ihr ein Herzeleid anthun! Dieser Gedanke verschlang zunächst alles andere! Er hatte sich unterwegs eine Einleitung zu dem Gespräch ausgedacht, jetzt wußte er kein einziges Wort mehr davon – sie war da, und er sollte ihr weh thun!

„Versprechen Sie mir,“ begann er bewegt und faßte ihre Hand und küßte sie, „versprechen Sie mir, es nicht mich entgelten zu lassen, wenn ich Ihnen einen Schmerz bereiten muß. Gott weiß es – ich leide selbst dabei, ich leide mehr, als Sie ahnen!“

Er war wie ausgetauscht; er, der sonst bedächtig, fast pedantisch seine Rede erwog, sich sorgsam prüfte und eher ein Wort zu wenig als eines zu viel gab, er ließ sich jetzt durch sein Empfinden gänzlich aus der Bahn reißen, ließ Form und Etikette außer acht; er ging gerade auf sein Ziel los und stellte doch sich selbst und sein persönliches Gefühl in den Vordergrund. Er ließ die willenlose weiche Kinderhand, die er gefaßt hatte, nicht los – er hielt sie fest in seinen beiden Händen, und seine Augen sahen mit flehendem Bitten nieder auf das junge Geschöpf, das vor ihm stand. Stella ihrerseits fand, er mache sich sehr vortheilhaft in diesem Augenblick, und das wußte sie nun gewiß: welche Nachricht immer ihr dieser Mann überbringen würde – ihn, den Boten, hatte sie in ihrer Gewalt! Sie senkte ihre langen Wimpern und sagte:

„Ich will es versuchen, die Person von der Sache zu trennen. Sie sind mir fremd –“

„O, daß ich es bin!“ fiel er in erregtem Ton ein. „Daß ich Sie nicht kenne – lange schon – nicht Ihr Vertrauen, Ihre Freundschaft erwerben konnte, Sie nicht als mein –“

Er verstummte plötzlich. Sein Eigenthum, sein Ideal hatte er sie nennen wollen … aber die rasche Aufwallung war vorüber; er sah wieder, wo er war, besann sich, daß es sich zunächst nicht um ihn selbst handeln durfte, und wurde wieder der ruhige formgewandte Mann, den der begeisterte Künstler soeben aus dem Geleise geworfen hatte.

„Ich fürchte, ich muß Ihnen seltsam erscheinen, bitte, verzeihen Sie es mir!“ Damit führte er Stella zu ihrem Sessel zurück. Sie ließ sich langsam auf ihren Sitz niedergleiten.

„Sie wissen vielleicht schon, meine Gnädigste, daß ich in vergangener Nacht auf Ihrem Fest ein kleines Rencontre mit einem Ihrer Gäste, dem Prinzen Riantzew, hatte?“

„Man hat mir davon gesagt!“

„Ist Ihnen auch die Ursache dieses – dieses Meinungsaustausches bekannt?“

„Das nicht. Man hat mir nur berichtet, Riantzew sei durch Zufall zu einer Gruppe von Herren getreten, die auf eine ihm mißfällige Art über einen Gegenstand gesprochen hätten, welcher dem Prinzen eine andere Auffassung zu beanspruchen schien, weshalb er die Herren oder einen derselben zur Rechenschaft zog. Welch ein Gegenstand es war, weiß ich nicht!“

„Die Sache verhält sich ein wenig anders, gnädiges Fräulein! Der Prinz zog keinen von den versammelten Herren zur Rechenschaft, sondern mich, der ich mich nicht unter ihnen befand. Und zwar that er dies auf eine indiskrete Bemerkung hin, die einer jener Herren zum besten gab. Man behauptete nämlich, ich hätte eine Unwahrheit ausgesprochen, als ich versicherte, zum ersten Mal in Hamburg zu sein und in diesem Hause zu verkehren.“

Ihre Augen fixierten ihn aufmerksam. „Und warum sollte das eine Unwahrheit gewesen sein?“

„Weil“ – er zauderte einen Augenblick – „weil man zufällig, gegen meinen Willen, davon Kenntniß bekommen hatte, daß ich mich im Besitz eines Kunstwerkes befinde, das jene Behauptung von mir allerdings sehr – fragwürdig erscheinen läßt. Dies [728] Kunstwerk, das ich hierher nach Hamburg mitgebracht habe und das ein unberufener Zeuge in meinem Zimmer entdeckt haben muß, ist eine Porträtbüste in Marmor, eine sprechend ähnliche Porträtbüste von Ihnen, mein gnädiges Fräulein!“

Stella stützte sich mit beiden Händen auf die Seitenlehnen ihres Sessels, und so hob sie sich, wie mit einer Kraftanstrengung, langsam empor. Auch Andree war aufgestanden – die nächsten Fragen mußten die Entscheidung bringen. Er sah, er wußte, was sie ihn zunachst fragen wollte, und er kam ihr zuvor.

„Nicht ich bin es gewesen, der diese Büste angefertigt hat. Ich habe gestern den Herren gesagt, daß ich nie in meinem Leben einen Meißel angerührt habe, und ich bin bereit, das mit einem Eid zu bekräftigen!“

Sie machte eine leicht abwehrende Bewegung.

„Also?“

„Also war es selbstverständlich ein anderer, der dieses Kunstwerk hergestellt hat, jemand, der jeden Zug Ihres Antlitzes genau kannte – jemand, der Ihnen sehr nahe gestanden hat.“

Sie sahen einander in die Augen und sie wußten, daß sie sich verstanden. Andree erschrak, als er den letzten Satz ausgesprochen hatte, über sein Wort, „jemand, der Ihnen nahe gestanden hat“. Konnte sie begriffen haben, warum er die Vergangenheit betonte?

Sie senkte ihr Köpfchen wie eine Blume, über die ein kalter Wind hinfährt – eine Bewegung, die ihn tief rührte. Er konnte freilich nicht wissen, daß es Schuldbewußtsein war, was dies schöne Haupt beugte, denn Stella, die seine Betonung der vergangenen Zeit nur zu gut bemerkt hatte, konnte nicht anders denken, als Andree habe Kenntniß davon, daß sie ihr Verlöbniß mit Werner Troost gelöst habe.

Es blieb eine kleine Weile still in dem hohen sonnendurchflutheten Zimmer, man vernahm deutlich das Vorfahren eines Wagens auf der kiesbestreuten Auffahrt und hörte eine laute Stimme – die des Herrn Senators – dem Kutscher Weisungen ertheilen.

Endlich blickte sie wieder zu ihm auf, hilflose Verwirrung in den Zügen; dieser Ausdruck machte ihn sehr unsicher. War sie im klaren oder war sie noch ganz ahnungslos?

„Darf ich den Namen desjenigen aussprechen, der sein bestes Können, seine ganze Seele in dieses Werk gelegt hat?“ fragte Andree zuletzt, seine tiefe Stimme vorsichtig dämpfend.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß seinen Namen.“ Dann, mit einem tiefen Aufathmen: „Er ist Ihr Freund?“

„Mein bester Freund!“ Andree sprach tonlos, nein, sie ahnte noch nichts.

„Und er hat Ihnen diese Marmorbüste gegeben?“

„Ja!“

„Wann hat er das gethan?“

„Zu Ende März. Am fünfundzwanzigsten März!“

Ein leises Aufseufzen kam zitternd von ihren Lippen – am Anfang des April erst hatte sie jenen Brief geschrieben, Werner hatte also damals noch keine Ahnung von ihrer Umwandlung haben können. Wie aber war es zugegangen, daß er sich von seiner Schöpfung, die sein bestes Können darthat, in die er seine ganze Seele gelegt hatte – sie glaubte das aufs Wort! – freiwillig hatte trennen können? Wollte er sie ihr durch seinen Freund senden, um ihr zu beweisen, welche Stufe sein Schaffen schon erreicht habe? Vielleicht! Aber inzwischen – ihr Brief! Er mußte ja ihren Brief erhalten haben!

„Sie sind ganz rathlos … Sie können sich den Zusammenhang nicht erklären … ich sehe!“ Andree drückte sie sanft in den Sessel zurück, er selbst blieb stehen. Er suchte nach Worten, es fiel ihm dies und das ein, er verwarf es wieder. Welch eine Aufgabe! Es mußte keine Notiz von dem Unglücksfall in die deutschen Zeitungen gekommen sein, und wenn auch – Namen waren wohl nicht genannt, und sie hatte vielleicht nicht einmal den Namen des Palazzo gewußt, den er mit seinen Werken schmücken sollte. Und dann – dies junge verwöhnte Geschöpf nahm gewiß nie eine Zeitung in die Hand, es hatte anderes zu thun, als trockene Berichte zu lesen.

„Die Büste … wie mein Freund Werner Troost dazu kam, sie mir zu geben – nehmen Sie an, er sei heftig erkrankt, er habe gefürchtet, zu sterben, es sei – es sei – eine Art Vermächtniß gewesen –“ Andree hielt inne, weil ihm die Stimme versagte.

„Heftig erkrankt – und Sie hätten Ihren besten Freund verlassen?“ Sie sah ihn ungläubig an.

„Ich konnte ihm nicht helfen mit all meiner Freundschaft – er brauchte mich nicht mehr –“

Jetzt kam Verständniß in die schönen rathlosen Augen, aber sie füllten sich nicht mit Thränen, nur der Athem kam und ging beschleunigter.

„Tot?“ hauchte sie endlich leise, und Andree neigte stumm das Haupt; er wagte es nicht, sie anzusehen, er wagte nicht, zu sprechen.

Stella Brühl versuchte währenddessen, sich zu sammeln, aber es gelang ihr schwer; sie hatte nur eine Empfindung: „Das ist eine Lösung – Du hast Dir eine Lösung gewünscht: da hast Du sie! Du wolltest frei sein, und nun bist Du frei!“ Sie wollte sich bemühen, an etwas anderes zu denken, nach der Ursache seines Todes, nach der Dauer seiner Krankheit zu fragen, aber sie mußte wider ihren Willen auf die Stimme lauschen, die unaufhörlich in ihr sagte: „Du wolltest frei sein, und nun bist Du frei!“ Sie konnte sich das zahllose Male wiederholen, denn Andree blieb unbeweglich und sprach nicht. Endlich that er es doch.

„Bei dem Bau der Casa Bortenyi – Sie wissen ohne Zweifel, daß er die Skulpturen dort übernommen hatte“ – Stella entsann sich nicht, aber sie nickte mechanisch – „bei dem Bau der Casa Bortenyi also in der Via Sardegna geschah ein Unglück: man hatte den Palazzo zu rasch und leicht gebaut, die Grundmauern, zu flüchtig angelegt, konnten die gewaltigen Lasten, die man ihnen zu tragen gab, nicht aushalten, der Palazzo stürzte zusammen.“

Eine Pause; das schöne Menschenbild vor ihm hörte unbeweglich zu.

„Unter denen, die man aus den Trümmern hervorzog“, sprach der Maler mit mühsam errungener Fassung weiter, „war auch er, noch lebend, äußerlich fast unversehrt, aber mit schweren inneren Verletzungen. Ich bin zu ihm geeilt, als ich das erste Wort von seinem Unglück hörte, und ich bin bei ihm geblieben, bis er starb. Der Tod trat rasch ein. Er hat nicht viel gelitten. Ehe er die Besinnung verlor, hat er mich in sein Verhältniß zu Ihnen eingeweiht, – damals das erste Wort, so befreundet wir waren! – und hat mir die Büste übergeben, damit ich Sie Ihnen bringe. Außer mir ahnt kein Mensch etwas von Ihrem Verlöbniß, und ich weiß ein Geheimniß zu bewahren. Am fünfundzwanzigsten März ist er gestorben, und drei Tage später haben wir ihn auf dem Friedhof der Protestanten in Rom, am Fuß der Pyramide des Cestius, beerdigt. Ich bin dann nur noch wenige Tage in Rom geblieben und danach, mit einem kurzen Aufenthalt in einer und der andern deutschen Stadt, hierher gereist. – – Wollen Sie dem Prinzen Riantzew in wenigen Zeilen sagen, daß ich Ihnen die Marmorbüste, die man bei mir gesehen hat, im Auftrag eines inzwischen verstorbenen Freundes, eines sehr begabten Bildhauers, überbringen sollte, daß diese Büste noch heute in den Besitz der rechtmäßigen Eigenthümerin übergehen soll, daß ich Sie selbst aber zuvor sprechen und mir Ihr Einverständniß mit meinem Vorgehen sichern mußte. Wer mich fragt, soll von mir erfahren, daß diese Porträtbüste von Ihnen, mein Fräulein, selbst gewünscht, hier in Hamburg entworfen und später in Rom ausgeführt worden ist. Wollen Sie auch Ihre Eltern von dieser Auffassung verständigen?“

Andree versuchte, frei aufzuathmen, wie jemand, der eine schwere Aufgabe hinter sich hat, aber er konnte nur tief seufzen. Seine Hände bebten und es fror ihn innerlich, trotz des warmen Sonnenscheins. Er hatte mit eintöniger Stimme gesprochen, unverwandt auf einen Punkt neben dem Fenster starrend, als lese er von da die Erzählung herunter, er hatte die Thatsachen trocken aneinandergereiht, ohne auf Einzelheiten einzugehen, ohne ein einziges Mal sein persönliches Empfinden zu berühren. Ihm war, als spreche ein zweiter Mensch aus ihm heraus, der mit seinem eigentlichen Ich gar nichts zu schaffen habe, und immer wieder mußte er denken: „Wie muß es ihr ums Herz sein! Sie wird es Dich entgelten lassen, daß Du es gerade warst, der ihr diese Unglücksbotschaft bringen mußte! Sie wird Dich nicht mehr wiedersehen wollen – wiedersehen können!“ Und bei diesem Gedanken erfüllte ihn ein solcher Schmerz, daß es ihm vor den Augen dunkelte, daß es ihm war, als drohe ihm jemand die Sonne fortzunehmen. –

Er wartete darauf, daß sie endlich etwas sage, und wenn

[729]

Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.
Orientalisches Blumenmädchen.
Nach dem Gemälde von E. Eisman-Semenowsky.

[730] es nur ein paar Worte wären, aber sie saß regungslos und hörte auf die Stimme: „Du wolltest frei sein, und nun bist Du frei!“ Draußen hörte man die Treppe – das Zimmer lag daneben – unter einem langsamen gewichtigen Tritt knarren, denn man hatte die Teppiche nach dem gestrigen Fest fortgenommen; das war der Geschichtsprofessor, der oben ihren Geschwistern die Stunde gegeben hatte; gleich darauf stürmte es in flüchtigen Sätzen herunter, immer zwei, drei Stufen auf einmal nehmend, das waren Gerda und Wolfgang, die dem Schul- und Stundenzwang für heute glücklich entronnen waren. Dann wurde, nach einem heftigen Thürenzuschlagen, wieder alles still. –

Andree faßte sich endlich ein Herz und nahm Stellas Hand in die seine.

„Sie zürnen mir, ich habe Ihnen weh thun müssen,“ sagte er flehentlich, „Sie werden mich vermeiden fortan, aber – ich ertrage das nicht!“

„Nein!“ erwiderte sie leise. „Ich danke Ihnen!“

Er konnte es nur nach seiner Weise auffassen, ihren Gedankengang konnte er unmöglich errathen.

Die kleine Hand bebte ein wenig, als er seine Lippen immer wieder darauf drückte, aber sie machte keinen Versuch, freizukommen. Er sog das Bild, das seine ganze Künstlerphantasie auf einen Schlag gefesselt hatte, mit andächtigem Blick in seine Seele, während er seine Lippen in völligem Selbstvergessen auf dieser schönen Hand ruhen ließ, und dann sagte er leise, als sei dies ein großes Geheimniß zwischen ihm und ihr, um das kein anderer wissen dürfe:

„Ich darf Sie wiedersehen?“

Sie neigte ein wenig ihr Haupt und versuchte ein Lächeln, das matt und schattenhaft auf ihren Lippen erstarb – und Andree ging von ihr fort hinaus in den lichten Sonnenschein, und in seinem Herzen wogte es durcheinander von leidenschaftlichem Glück und leidenschaftlichem Schmerz, denn noch nie hatte er Werner Troost so heiß geliebt und so heiß betrauert wie heute! –




12.

Die Uebersiedlung der Familie Brühl nach ihrer Villa auf der Uhlenhorst war noch um einige Tage hinausgeschoben worden. Einmal zeigte sich das Wetter sehr unfreundlich: der „wunderschöne Monat Mai, da alle Knospen springen“, war nun freilich da, aber die Knospen sprangen darum doch noch nicht, sie wagten sich kaum hervor bei dem rauhen Nordwest, der vom offenen Meer her wehte. Außerdem wollte Stella Brühl ihren neuesten Plan mit dem Empfangszimmer verwirklicht sehen, und zu diesem Zweck fuhr sie sehr oft aus, Dudu, den Negerknaben, hinter sich, und prüfte und verwarf und bestellte … das Zimmer sollte für alle eine Ueberraschung werden, und sie wollte an die Einweihung desselben ein kleines Frühlingsfest in Uhlenhorst knüpfen, das war beschlossene Sache – im Beschließen und Ausführen solcher Dinge besaß die junge Dame eine ganz erstaunliche Begabung.

Inzwischen hatte sich die Angelegenheit mit dem Prinzen günstig gelöst. Abends um sieben Uhr, am Tage nach dem Brühlschen Fest, hielt der junge Kavalier ein zierliches Billet von Fräulein Stella Brühl in Händen, worin ihm diese mittheilte, Herr Andree habe sich über den Besitz der fraglichen Marmorbüste bei dem Original derselben vollkommen korrekt ausgewiesen, und soeben – um halb sieben Uhr abends – sei besagtes Kunstwerk in den Besitz der rechtmäßigen Eigentümerin übergegangen. Der Prinz möge, falls er sich für das corpus delicti noch interessiere, gelegentlich einmal herkommen, um es anzusehen, jedenfalls aber Herrn Andree von jedem Verdacht eines zweifelhaften Benehmens freisprechen. Dieser habe ihr selbst die Art, wie er zu der Büste gekommen sei, auseinandergesetzt, und sie sei dadurch vollauf zufriedengestellt, erkläre sich auch bereit, jedem, der eine Aufklärung über diese Angelegenheit wünsche, eine solche zu geben.

Selbstverständlich interessierte sich der Prinz für die Büste, und selbstverständlich wünschte er auch, die bewußte Aufklärung zu erhalten. So fand er sich denn schon am nächsten Tage um die Besuchszeit in dem Hause am Alsterdamm ein, und es kam zu einer höchst spannenden Scene, bei welcher ihm die schöne Stella in einem ganz neuen Licht erschien. Freilich war die Frau Senatorin während der ganzen Visite des Prinzen zugegen, allein die Dame störte weiter nicht, sie saß mit lässig halbgeschlossenen Augen am Fenster und ließ ihre Brillantringe funkeln und ihre Stella sprechen. Da erfuhr denn der Prinz eine geheimnißvolle und sehr rührende Geschichte von einem begabten jungen Bildhauer – der Name wurde ihm vorenthalten – der die entzückende Senatorstochter zum Sterben geliebt habe und eigentlich an dieser – natürlich unerwiderten – verzehrenden Leidenschaft hingesiecht sei. Vor seinem Tode aber habe er sein höchstes Können, seine volle Begeisterung, seine ganze Liebes- und Leidensgeschichte in ein Kunstwerk gelegt, das er sterbend seinem besten Freunde, dem Maler Andree, anvertraut habe, um es als letzten Gruß, als ewiges Andenken ihr, der sein ganzes Sein gehört hatte, zu senden.

Dies alles hatte der Prinz nur bruchstückweise, mit vielfachen Unterbrechungen, von der jungen Dame zu hören bekommen, es hatte vieler zarter Fragen, taktvoller Umschreibungen seinerseits bedurft, um endlich ein klares Bild der Sachlage zu gewinnen. Es entzückte ihn sehr, das herrliche junge Wesen so weich, so gefühlvoll, so erschüttert zu sehen. Die umflorte Stimme, die feucht verschleierten Augen, die rührend schüchterne Haltung, die Art, wie sie einzelne Thatsachen, die hervorzuheben ihre Bescheidenheit sich sträuben mochte, nur andeutete – dies alles ließ dem Fürsten die verwöhnte Ballkönigin so fremd und doch so hinreißend erscheinen, daß er mehr denn je bezaubert war. – Als solchergestalt die Stimmung genügend vorbereitet war, erschien der feierliche Augenblick, da Stella ein dunkles Tuch von der Marmorbüste wegzog, welche auf einem Ebenholzsockel in einer Ecke des Zimmers stand. Der fürstliche Besucher bewunderte das Kunstwerk weniger aus Sachkenntniß als aus persönlichem Enthusiasmus und brauchte eine sehr lange Zeit, um zwischen dem Original und dem Bildwerk Vergleiche anzustellen. Die mit ihren Brillantringen liebäugelnde Mama am Fenster konnte, wenn sie den Blick ein wenig hob, deutlich wahrnehmen, wie der Prinz ihre Tochter aus seinen schwermüthigen Augen immer unergründlicher anschaute und wie er heute den Fürsten, der sich zu einer Hamburger Bürgerstochter herabläßt, schon ganz vergaß und lediglich den Verliebten herausstellte, der alle Mühe aufwendet, um dem Gegenstande seiner Leidenschaft im besten Licht zu erscheinen.

Als Stella daher am Schluß des merkwürdig lang ausgedehnten Besuchs den Prinzen fragte, wie lange er noch in Hamburg zu bleiben gedenke, antwortete er ohne Besinnen: „Das hängt lediglich von Ihnen ab, meine Gnädigste!“ und küßte dabei die Hand der Dame mit so unzweideutigem Ausdruck und Feuer, daß es nur zu gerechtfertigt erschien, wenn diese fünf Minuten später, als der Gast gegangen war, ihrer Marmorbüste zunickte wie einer stummen Vertrauten und leise sagte: „So! Den hätten wir fest! Jetzt brauche ich nur zu wollen … aber ich will noch nicht!“ –

Andree hatte vom Prinzen Riantzew ein paar Zeilen erhalten, die des Schreibers Ueberzeugung von der völligen Grundlosigkeit des Vorwurfs von gestern darthaten. Das Billet war kurz und kühl, doch unanfechtbar in seiner höflichen Fassung. Andree las unschwer zwischen den steif aneinandergereihten Zeilen, daß es dem Prinzen höchst unangenehm war, einen Irrthum berichtigen zu müssen, und daß er herzlich gern dem Ueberbringer der Marmarbüste einen Denkzettel gegeben hätte; es sprach eine persönliche Antipathie aus dem Briefe, die der Maler durchaus erwiderte.

Ihm war unsagbar unruhig zu Sinn; rastlos trieb es ihn umher. Stundenlang konnte er am Ufer des Binnenhafens auf und ab wandern und das Treiben auf den Flußschiffen betrachten, die mit ihrer mannigfaltigen Ladung hier vor Anker lagen. Oder er ließ sich in einer Jolle hinausrudern in den freien Strom, wo die großen Auswandererschiffe und die zahlreichen fremden Dampfer verkehrten. Das Leben dort fesselte ihn immer aufs neue: weißgekeidete Hindus, dünnzopfige Chinesen, majestätische Araber, kaffeebraune Marokkaner, lärmende Italiener und behende Japaner verrichteten hier Matrosendienste oder stellten auch selbst die Passagiere vor – und diese Abwechselung in der Bauart der Schiffe, von dem dreimastigen Ostindienfahrer bis zum holländischen Kutter oder zum zierlichen englischen Steamer, dem Privateigenthum eines reichen Lords, auf welchem alles so neu und elegant aussieht, als wäre es eben aus der Watte gewickelt. Hier kreuzt ein Zollkutter vorüber, dort schießen die schmalen Jollen wie flinke Fischchen einher, [731] während die Segler gleich Schwänen mit weit ausgespannten Flügeln weiterziehen. Und die Auswandererschiffe! Wieviel Schicksalstragödien mögen sie mit sich an Bord führen, während sie stolz den stattlichen Strom hinunterfahren, auf dessen blanken Wellen sich die Abendröthe spiegelt! Die Menschen alle, die hinwegstreben von hier, wollen neues, anderes, wollen mehr vor allem als das, was ihnen das Vaterland bietet. Ob sie es finden werden? Und wenn sie es finden, ob es etwas Besseres ist? – Dahin ziehen sie, die mächtigen Schiffe, dem Lande der Verheißung entgegen. Leb’ wohl, du deutsche Erde!

Nur angesichts dieser Bilder, die tausend Gedanken in ihm anregten, vermochte Waldemar Andree der fiebernden Rastlosigkeit, die in ihm wühlte, einigermaßen zu entgehen. Oft riß er sein Skizzenbuch aus der Brusttasche und zeichnete mit fliegender Hast die packenden Eindrücke hinein, die sich ihm hier boten. Vielleicht würde er diese Skizzen in seinem späteren Leben einmal verwerthen … aber es mußte später, viel später sein! Fürs erste konnte er an nichts anderes denken als an sein nächstes Gemälde, das eine, von dem er bestimmt wußte, es werde sein bestes sein, es werde den Gipfelpunkt seines ganzen künstlerischen Schaffens bedeuten.

Er war bisher mit seinen Bildern meist unzufrieden gewesen, so sehr auch andere sie priesen. Aber selbst wenn ihm einmal eines genügte, hatte er doch oft kopfschüttelnd davor gestanden und zu sich selbst gesagt: ja, es ist eine ganz tüchtige Leistung, aber es ist nicht das Bild, welches ich meine – nicht das Bild, welches meine Vollkraft beweisen, mein ganzes Können nach jeder Richtung hin in Anspruch nehmen und mich selbst befriedigen, mich in meinen eigenen Augen zu dem Ruhm und der Größe emporheben soll, die andere mir längst zugestanden haben, die ich selbst aber bisher noch nicht in mir finden konnte. Jetzt aber, das fühlte Andree deutlich, würde das Bild werden können! Und während es ihm in den Händen zuckte und brannte, es zu malen, während er es Zug um Zug vor sich sah, war er zur Unthätigkeit verdammt, mußte er warten, bis man ihn rief, mußte er in Angst sein, ob sein Plan Beifall finden würde, denn er wollte und durfte die Züge eines solchen Modells nicht stehlen und als einen Raub auf die Leinwand bringen – er hatte ja Größeres vor als dieses Bild!

Um sich über die fast unerträgliche Zeit des Wartens hinwegzubringen, unternahm er seinen Umzug nach der Admiralitätsstraße. Hier hatte er seinen geliebten Binnenhafen ganz nahe, und abends ging er zuweilen zur alten Schifferherberge auf dem Kehrwieder-Quai und studierte dort die bunt zusammengewürfelte Seemannsbevölkerung, oder er sah den malerischen Fleet an der Nikolaikirche herab, einen stillen, schmalen, von hohen Gebäuden eingeengten Kanal, auf dessen dunklem Wasser der Mondstrahl zitterte, der sich an den steilen Wänden verstohlen hatte herabgleiten lassen, während er die alte Kirche mit einem fahlen Silberglanz umsponnen hielt.

Aber der Umzug war, dank der rührigen Thätigkeit der Frau Wiedekamp, seiner neuen Wirthin, überaus rasch vollzogen, und für Andree blieb, da er nichts anderes als „sein Bild“ malen wollte und konnte, weiter nichts übrig, als in Geduld abzuwarten, bis die Familie Brühl, die immer noch in Hamburg weilte, sich seiner erinnern, ihn zu einem Besuch ermuthigen und dabei den Plan mit dem Gemälde, welchen die Frau Senator an jenem Ballabend angeregt hatte, wieder aufnehmen würde.

Oder hatte die Dame diesen Gedanken, der ihr in den Sinn gekommen war, angesichts eines Künstlers, den man ihr als bedeutend gerühmt hatte, inzwischen aufgegeben? Hatte namentlich Stella, um die es sich dabei handelte, nichts dazu gethan, jenen Gedanken zu unterstützen?

Wie er jetzt die Marmorbüste vermißte! Er hatte sich mit ihr eingelebt, er pflegte mit ihr zu reden, sie war seine beste Gefährtin, sein täglicher Trost gewesen. Sie hatte ihm von Werner Troost erzählen können und von dem versteckten Winkel im Atelier in der Via del Babuino, wo der junge Bildhauer, dem die Liebe den Meißel geführt, sein einziges geniales Kunstwerk geschaffen hatte, von dem halbdunkeln Raum, in dem das „verschleierte Bild zu Sais“ vor aller Augen verborgen gestanden hatte, – und von dem sonnigen Märztage, da des sterbenden Mannes umflorter Blick darauf gefallen war. – Und nun hatte er seinen Auftrag ausgerichtet, die Trauerkunde überbracht, die Marmorbüste abgeliefert und stand am Wege und wartete, ob man ihn rief! „Mein Erbe!“ hatte Werner Troost gesagt, das waren seine letzten Worte gewesen! Würden sie jemals in Erfüllung gehen? –

Aber in das Haus am Alsterdamm konnte er doch! Hatte ihn Herr Bernhard Grimm nicht eingeladen, ihn zu besuchen? Und war seit dieser Einladung nicht jetzt mehr als eine Woche verstrichen, während welcher er vor Unruhe und Ungeduld nicht mehr wußte, was beginnen? – –

Herr Bernhard Grimm saß in seinem Wohnzimmer auf dem Sofa und rauchte eine Cigarette. Das Zimmer war mit schönen alten Möbeln von dunklem Holz angefüllt, Erbstücke, die der jetzige Besitzer von seinen Eltern her überkommen hatte und sehr werth hielt. Die hohen Stühle, die an den Wänden entlang laufenden Eichenpaneele, die reich mit Schnitzerei verzierten Schränke – alles sah gediegen und gut aus. Gut sah auch Herr Bernhard Grimm selbst aus in seinem „Haushabit“, einem dunkelbraunen losen Sammetrock, von welchem sich das weiße Haupthaar beinahe kokett abhob. Ein ferner Duft erfüllte das große Zimmer, der des besten türkischen Tabaks, vermischt mit dem Aroma sehr starken Kaffees. Die Tasse, aus der Herr Grimm trank, war eine Seltenheit, eine in blau, roth und gold eingelegte, ziemlich flache Schale, dünn wie ein Papierblättchen: ein befreundeter Schiffskapitän hatte sie Herrn Grimm einmal aus China mitgebracht, seither pflegte der Eigenthümer jeden Tag daraus zu trinken und die Tasse eigenhändig abzuwaschen, ungeachtet der anzüglichen Bemerkungen, welche die alte Müller, seine durch diesen Uebergriff gekränkte Haushälterin, zum Besten gab, und ungeachtet der Witze, die seine wenigen näheren Bekannten daran knüpften. „Es heißt ja immer, alte Junggesellen stecken über und über voll Schrullen,“ pflegte Herr Grimm zu antworten, „nun, dies ist eine von mir! Wenn jemand mir meine chinesische Tasse zerschlägt, will ich es jedenfalls selbst sein!“

Er nahm einen tüchtigen Schluck Kaffee und sah in die „Hamburger Nachrichten“ hinein, die neben ihm auf dem Tische lagen. In seiner Nähe schlug eine alte Uhr mit einem dünnen Silberstimmchen halb fünf.

„Aergerlich!“ sagte Herr Grimm halblaut und setzte die Obertasse vorsichtig auf die Schale, „daß man auch Leuten, die einen guten zuverlässigen Eindruck machen, nicht immer glauben kann! Dieser Mann sah mir ganz und gar nicht nach Redensarten aus, und doch hat er eine gemacht, als er mir versprach, mich sehr bald zu besuchen! Da dünkt man sich ein ganz feiner Menschenkenner zu sein – nichts da! Man lernt nie aus! Wie, Hafis?“

Hafis saß gravitätisch auf der hohen Sofalehne zur Seite seines Herrn, ein großer wunderschöner Kater, schneeweiß von den Ohren bis zur Spitze des stolzen buschigen Schweifes, echt persische Rasse, drei Jahre und vier Monate alt, gleichfalls ein Geschenk! Ein Schiffsreeder, mit dem Herr Grimm oft geschäftlich zu thun hatte, ließ das seltene Exemplar für ihn kommen und erntete großen Dank dafür. Grimm konnte sich ein Leben ohne Hafis gar nicht mehr denken: er unterhielt sich mit ihm, fragte ihn um seine Meinung, befolgte seine Rathschläge und freute sich, wenn Frau Müller und Gerda Brühl, die zwei einzigen weiblichen Wesen, die überhaupt seine Wohnung betraten, behaupteten, das Thier habe menschlichen Verstand, und es oft den „Zauberer“ nannten – die alte Frau in abergläubischem Schreck, das Kind in heller Freude am Wunderbaren.

Hafis saß jetzt aufrecht und würdevoll da, die großen grauen Katzenaugen schräg zusammengekniffen, und beantwortete seines Herrn Frage mit einem verächtlichen Kopfschütteln: Nein! Man lernt nie aus!

Draußen schellte es und die alte Müller, eine dürre Hopfenstange, mit einem Gesicht wie eine verschrumpfte Haselnuß, meldete Herrn Andree.

„Das ist doch –“, Herr Grimm erhob sich hastig und vergnügt und eilte dem Gast mit ausgestreckter Hand entgegen. Hafis stieg langsam von seinem hohen Sitz herunter und beschrieb als echter „Zauberer“ um den neu Eingetretenen einen magischen Kreis, den Kopf prüfend erhoben.

„Habe eben noch von Ihnen gesprochen, – wie hübsch, daß Sie endlich kommen! Müller, frischen Kaffee!“

„Es duftet köstlich hier,“ sagte Andree, „da kann man sich einen seltenen Genuß versprechen.“

[732] „Sollen Sie haben! Kommen Sie hierher zu mir – so! Ja, das ist echter Mokka, mein Lieber, so gut, wie ihn nicht ’mal alle fürstlichen Häupter trinken! Wir alten Hamburger Importeure müssen ja nun ’mal unsere Nase überall haben!“

Andree sah sich behaglich im Zimmer um, ihm gefiel es hier ausnehmend gut. „Famos!“ meinte er beifällig. „Uebrigens, wenn ich fragen darf, Herr Grimm. mit wem haben Sie denn über mich gesprochen? Ihre alte Haushälterin kam mir ja aus einer ganz anderen Richtung entgegen!“

„Die ist’s auch nicht gewesen! Mit der rede ich nur über Wirthschaftssachen und häusliche Dinge – die Ehre, über Sie zu sprechen, thu’ ich der alten Müller nicht an. Entsinnen Sie sich zufällig noch, daß Gerda neulich Hafis erwähnte?“

„Ach so! Ich begreife!“ lachte Andree. „Das ist ja wohl Hafis, dem ich vorgestellt werden sollte? Hat er verstanden, daß von ihm die Rede ist? Sehen Sie, er kommt zu uns! Ein schönes, seltenes Thier!“

Grimm wollte seinen Gast, der sich niederbeugte, warnen, denn Hafis nahm das Liebkosen fremder Hände oft sehr ungnädig auf, aber diesmal sollte es anders sein. Das seidenweiche Fell blieb unter der streichelnden Hand glatt, Hafis rieb sich wohlgefällig an dem Knie des Besuchers und ließ ein leises Schnurren vernehmen.

„Ein außerordentlich gutes Zeichen!“ sagte Herr Grimm vergnügt. „Sie gefallen ihm!“

„Freut mich!“ erwiderte Andree gemüthlich. „Ich mag sonst von Katzen nicht viel wissen, sie sind mir zu falsch. Hunde sind mir lieber. Aber Hafis hier scheint eine Ausnahme zu machen.“

„Er und falsch? Nicht die Spur! Die Treuherzigkeit in Person, nobel, großmüthig! Da nahm ich aus Mitleid eine Katze aus der Nachbarschaft, wo sie schlechte Tage hatte, hier auf, sie bekam Junge – wie sich Hafis da benommen hat – gastfrei, liebenswürdig, nicht zu beschreiben! Wenn ein Mann wie der Aesthetiker Vischer – Jammer, daß er tot ist! – in seinem Roman ‚Auch Einer‘ und in seinen ‚Lyrischen Gängen‘ die Katzen preist, Sie werden sich erinnern –“

„Des Romanes und der Gedichte wohl, nicht aber des Lobes auf die Katzen.“

„Das ist unrecht! Ich lese Ihnen das später ’mal vor! Nehmen Sie einstweilen eine Cigarette! Warum sind Sie denn nicht früher zu mir gekommen?“

„Weil –“ Andree setzte sorgsam die Cigarette in Brand und that ein paar kurze Züge, „weil - nun, ich zog um, ich hatte – bin viel in der Stadt herumgestreift, hab’ mir Ihr Hamburg von allen Seiten beschaut – ach was!“ Er warf das Streichholz fort und sah Herrn Grimm mit einem offenen, einnehmenden Lächeln ins Gesicht. „Mir fehlte die Stimmung! Nehmen Sie mir’s nicht übel, wenn ich einfach die Wahrheit sage!“

„Im Gegentheil! Die Wahrheit und ich sind ein paar gute alte Freunde! Ich habe manche schlimme Ungelegenheit erlebt, wenn ich meine Freundin zu Ehren bringen wollte, aber ich hab’ es doch nicht lassen können! Und wenn ich sie ’mal verleugnete oder beschönigen wollte, o, dann hat sie sich bös an mir gerächt! – Was meinen Sie: sehen wir uns einstweilen Ihren ‚Pescatore‘ an, bis Ihr Kaffee fertig ist?“

„Ich bin dabei!“

(Fortsetzung folgt.)




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Am Plansee.

Von Arthur Achleitner. 0Mit Zeichnungen von H. Nisle.

Der Plansee und die Stuibenfälle.

So reich das „heilige Land Tirol“ an überwältigenden Gebirgslandschaften ist, so spärlich hat Mutter Natur die Heimath Andreas Hofers mit Seen ausgestattet, mit Gewässern wenigstens, deren Größe die Bezeichnung „See“ verdient. Indessen gemäß dem Sprichwort „Wenig aber gut“ bieten die tirolischen Seen dem Auge eine Fülle von Schönheit, die bezaubernd wirkt. Die stahlblaue Fluth des Achensees, wer hat an ihren Ufern geweilt und den Abschied nicht schmerzlich empfunden?! Dann aber folgt im Range gleich der einsame Plansee, oder eigentlich die Planseen, denn man hat drei Seen zu unterscheiden, den kleinen und den großen Plansee und den Heiterwangsee. Der friedlich-düstere Charakter dieser Gewässer fesselte den unglücklichsten der Könige so sehr, daß er seine märchenhafte Burg Neuschwanstein in den Schoß der Berge bettete, welche die Wacht an der algäuisch-tirolischen Grenze halten. An dem See, der an Lieblichkeit mit dem Achensee wetteifert, gleichzeitig aber an die Schwermuth des Walchensees, dieses flüssige Gedicht melancholischer Einsamkeit, erinnert, weilte Ludwig II. mit besonderer Vorliebe, und seine Liebe zu diesem Fleckchen Wasser- und Gebirgslandschaft ist nur zu begreiflich. Mochten Primeln und Glockenblumen den holden Lenz einläuten oder das Donnern des sich dehnenden Eises den grimmen Winter verkünden, der königliche Schloßherr eilte herüber von seiner Burg und ging in Einsamkeit seinen phantastischen Idealen nach. Erst als der weltentlegene Bergsee diesen Freund für immer verloren, wurde der Plansee immer bekannter durch die Leute, welche des unglücklichen Monarchen Schlösser besuchten und auch dem dunkelgrünen Gewässer einen Blick gönnten. Und so kamen und kommen Tausende und Abertausende, und immer größer wird der Ruf und Ruhm des Plansees, immer belebter werden seine Ufer, welche das Denkmal des guten Königs Max für Ludwig den Bayern schmückt. Und wer von dem etwa 11/2 Stunden entfernten Reutte herauswandert, der erquickt sich gern an dem romantischen Reiz der malerischen Stuibenfälle.

Auf den Bergeshöhen wie drunten im grünen sonnenerfüllten Thalboden zieht Mythe und Sage ihre Fäden geisterhaft, und gar mancher graue Stein erinnert an die Vorzeit. In Breitenwang, dem stillen Dörflein nahe den Seen, steht das Haus, in welchem der Kaiser Lothar der Sachse, Graf von Supplinburg, auf der Heimkehr von seinem zweiten italienischen Zug am 4. Dezember 1137 sein Leben aushauchte. Eine Bronzetafel an der Kirche kündet dies den Nachgeborenen, Lothars sterbliche Ueberreste aber wurden in Königslutter beigesetzt. Im Kirchhof von Breitenwang wandelt in bösen Nächten eine weiße Frau die unbedachten [733] Wanderern ein Linnen oder gar ein Todtenhemd überwirft, das am Körper haftet und nicht wieder wegzubringen ist. Der Sage nach muß derjenige nach drei Tagen sterben, dem die weiße Frau das Linnen überwarf.

Reutte und Schloß Ehrenberg.

Manche Sage umrankt auch wie Epheu die etwa eine Stunde von Reutte entfernte, auf steilem Felsen thronende Burg Ehrenberg, eine Halbruine aus den Zeiten des Ostgothenkönigs Theodorich, in deren Thorbogen man rothen Salurner schenkt. Die stolzen Höhen des Algäus mit dem Säuling zeigen sich von dieser Stelle in voller Erhabenheit. Schloß Ehrenberg beherbergt in der Sage schwarze Jungfrauen, die nächtlicherweile von ihrer Höhle Seile spinnen zum Schloßthurm und ihre Wäsche daranhängen, eine Sage, die sich im Algäu oft vorfindet. Auch vom „Klaushund“ ist zu erzählen, der ein Menschenantlitz habe. In dem schwarzen Pudel wohne die Seele eines Verräthers, der zur Zeit des Schwedenkrieges den Engpaß, die „Ehrenberger Klause“, den Feinden verrathen und dadurch ein entsetzliches Blutbad veranlaßt habe. Zur Strafe sei der Vaterlandsverräther in den schwarzen Klaushund verwandelt worden, der in gewissen Nächten von der Klause bis nach Arlberg und zurück laufen müsse. Auffallenderweise trifft man in der Gegend von Reutte auch das Andenken an Julius Cäsar, der bei Füßen zu Pferd über den Lechschlund gesprengt sein soll, in Wahrheit aber nie in dieser Gegend gewesen sein kann. Ein Gedicht unbekannten Ursprungs erzählt, daß der Sprung über den Felsendurchbruch des Lech vom hl. Magnus vollführt worden und im Felsgrund sein Tritt zu sehen sei. Auf dem Säuling soll Julius Cäsar ein Wildbad besucht haben. So die Sage; in der Geschichte der mittelalterlichen Religionskriege aber hat die „Ehrenberger Klause“ mehr als einmal eine bedeutungsvolle Rolle gespielt.

Ein prächtiger Marktflecken in herrlicher Lage ist Reutte am Lech; im Norden ragt der Säuling empor, östlich der Zwiesel- und Tauernberg, südöstlich der Thaneller mit schneeerfüllten Wänden, südlich der Schloßkopf mit Ehrenberg, die Lechthaler Berge, die Gachsspitze und die Aschauer Alpe. Reutte führt drei Tannen in roth und weißem Felde im Wappen. Da, wo jetzt der schöne Markt liegt, von almenbesäeten Bergen umrahmt, da stand einst dichter Urwald, und darinnen lebten Heiden. Ein von Gott gesandter Mann bekehrte diese zum Christenthum und lehrte sie den Wald „auszureuten“, den Boden bebauen, Hütten errichten, und der Ort ward „Reutte“ genannt zur Erinnerung an die Ausreutung. Nur drei Tannen ließ man stehen als Denkmal des einstigen Urwalds und erneuerte sie immer wieder durch die Jahrhunderte. So deutet die Legende das Wappenbild.

Wer im Sommer in die Thalebene von Reutte kommt, wird entzückt dieses schöne Landschaftsbild preisen und nicht minder den Ort selbst, wo der Wanderer gut aufgehoben ist. Pflegte doch Kaiser Ferdinand von Oesterreich, zum steten Aerger seines Hofkochs, zu sagen: „Wenn ich was Gut’s essen will, muß ich halt nach Reutte.“




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Der Hausarzt.

Eine Plauderei von N. Guth.

Wenn ich vom Hausarzt ein wenig plaudern möchte, so denke ich dabei nicht an einen vornehmen Sanitäts- oder Medizinalrath, der, geschmückt mit Cylinder und Ordensband, in hocheleganter Kutsche bei einigen auserlesenen Patienten vorfährt und, eine Autorität in seinem Fache, fürstliche Honorare einstreicht – nein, ich denke dabei an den weniger anspruchsvollen Doktor der Medizin, der schlicht und einfach zu Fuß seine Krankenbesuche macht, dem man gar oft in seine Sache hineinredet, und dem man schließlich, wenn eben seine Mittel anfangen, ihre Wirkung zu zeigen, einen berühmten Kollegen zur Seite stellt, „weil es zu lange dauert“, weil man die langsam fortschreitende Besserung nicht gleich mit den Händen greifen konnte. Geht dann alles so gut, wie er erwartet hat, dann nimmt man ihm den Ruhm und die Ehre am Gelingen der Kur ohne jede Beileidsbezeigung einfach weg, um sie unter weithinschallenden Lobeserhebungen dem zuletzt zu Rathe Gezogenen zuzuschieben. Läuft das Ding dagegen trotz der „Autorität“ schief ab, so ist natürlich der Hausarzt schuld. Man bedauert, den Berühmten nicht früher gerufen zu haben, sondern erst, als es zu spät war. Der Hausarzt aber hat den „Karren verfahren“! Dies und das hätte er verhüten sollen – das und jenes voraussehen müssen! Er hätte früher erklären sollen, daß man noch einen andern holen möge. Vier Augen sehen doch bekanntlich mehr als zwei!

„Wir haben uns an den Professor X. gewandt, und da ist es auch gleich besser geworden! Es hat sofort angeschlagen!“ heißt es dann im ersteren Falle.

„Der Professor hat gesagt, das sei eben das Schlimme, daß man ihn immer erst rufe, wenn es zu spät sei. Er könne hier auch nichts anderes mehr thun als das Todesurtheil unterschreiben,“ so wird im ungünstigen Fall gesprochen.

Der Hausarzt zuckt die Achseln und schluckt seine Pille. Er vertheidigt sich schon lange nicht mehr. Wozu auch? Das würde ihm doch nichts nützen. Ist er alt, dann macht er ein resigniertes Gesicht, ist er jung, dann schaut er ingrimmig drein. Ist er alt, dann führt er vertrauten Freunden gegenüber das alte Wort vom Fechten gegen Windmühlen an, ist er jung, dann stellt er vielleicht dreimal die Behauptung auf: „Eben als meine Mittel anfingen zu wirken, haben sie den andern geholt. Der hat nun den Ruhm und ich das Nachsehen!“ Aber er thut das höchstens dreimal. Er begegnet doch nur einem ungläubigen Lächeln.

Mit anerkennenswerther Selbstverleugnung beginnt der Hausarzt wenige Wochen später eine Kur an einem anderen Gliede der Familie. Wird der Kranke gesund, ehe man sich bemüßigt fühlt, einen zweiten Arzt zu Rathe zu ziehen, dann fragt man: „Sie haben ja diesmal den Professor nicht kommen lassen?“ „Nein!“ ist die Antwort, „es war nichts! Nicht gefährlich!“ – –

Hat ein Schneider eine Hose zugeschnitten, so weiß er ganz genau, daß sie so oder so sitzen muß, wenn sie zusammengenäht [734] ist, auch falls er sie einem Gesellen anvertraut. Er braucht nicht zu befürchten, daß ein Hutmacher kommt und die Innennähte nach außen zusammenflickt. Wie aber ist’s beim Hausarzt? Wer zählt alle die, welche sich heimlich an seiner Arbeit betheiligen? Das eine Vorrecht hat er, zuerst gerufen zu werden. Sobald jedoch die Arznei, die er verschreibt, die gewünschte Wirkung am zweiten Tage noch nicht stark ins Auge fallen läßt, dann sagt man: „Es schlägt nicht an!“ Und nun kommen Vettern und Basen, und alte und junge Freunde erscheinen auf der Bildfläche.

„Na, Du –“. „Ja, weißt Du –“. „Hör’ einmal, das würde mir aber doch zu lange dauern!“ „Das sieht doch alle Welt, daß das weiter nichts ist als ein kleiner Erkältungsfall! Ich begreife nicht, daß der alte Müller nicht damit fertig wird! Da hat z. B. Gustchen von einem Mittel gehört, das würde ich doch einmal versuchen! Wenn’s nichts nützt, schadet es wenigstens nichts! Ich glaube, Kamillenthee und Citrone kommt dazu und gestoßener Kandis. Und Pimpernellenessenz soll auch sehr gut sein! Immer mit zwei Tropfen anfangen und mit einem Theelöffel voll aufhören! Sollte das aber alles nichts fruchten, dann hat Tante Alwine noch etwas: Tropfen! Die sind gut! Hilgers Wilhelm haben sie auch geholfen! Und was Scheibners Marien ihre Schwiegermutter ist, die hat die Tropfen bei ihrem Jüngsten angewendet, als ihn die Aerzte schon aufgegeben hatten. Und nun lebt er heute noch! Er steht in Dresden bei den Gardereitern! Du kannst Dich ja vorher erkundigen bei Scheibners, wenn Du ganz sicher gehen willst.“

Die empfohlenen Mittel werden natürlich angewendet. Erst das von Gustchen. Es hilft jedoch nichts. Die Tropfen von Tante Alwine werden in Aussicht genommen, auf die hat der Kranke seine ganze Hoffnung gesetzt, von wegen der Vorgeschichte, die sie haben: einer, den die Aerzte verloren geben, nimmt die Tropfen und wird wieder gesund, endet nicht im Grabe, sondern tritt in die Garde, kommt nicht ins Schattenreich, sondern zur schweren Kavallerie, wo sie bekanntlich keine Schwindsuchtskandidaten brauchen können – das ist doch keine Kleinigkeit! Vorher werden indessen noch einmal Erkundigungen eingezogen. … Ja, es ist so! Man hat das Mittel angewendet und es hat gewirkt; zudem ist es von einem Arzt verordnet, aber nicht von so einem neumodischen, sondern von einem bewährten, nun leider längst verstorbenen Praktikus; es feiert im nächsten Halbjahr das golbene Jubiläum. Schon der Großvater hat es in seiner Familie angewendet und immer mit Erfolg. Warum sollte es da Doktor Müllers Patient nicht auch nehmen? Es ist ihm zwar, als ob es seit einigen Tagen besser ginge, und Doktor Müller hat das auch gefunden, allein besser ist besser: die Tropfen werden verschluckt.

Als der Hausarzt nach einigen Tagen wiederkommt, bemerkt er zu seinem Befremden, daß sich der Zustand verschlimmert hat. Er kann das gar nicht begreifen! „Was haben Sie denn nur gemacht?“ fragt er kopfschüttelnd. Nach längerem Hin und Her kommt die Geschichte mit den Tropfen an den Tag. Zwei tiefe Falten graben sich in die Stirn des Doktors. „Daß doch die Leute das Quacksalbern nicht lassen können!“ fährt es ihm heraus.

„Aber es hat geholfen!“ wendet man ihm ein, und der Fall von Scheibners Schwiegermutter und ihrem Sohn, dem Kavalleristen, wird ausführlich berichtet. Doktor Müller macht ein Gesicht, als ob er Zahnweh hätte. „Das will ich gar nicht in Abrede stellen! Aber dann hat der Fall anders gelegen! Zwischen Magenkrankheit und Magenkrankheit ist ein Unterschied, und es können zwei Menschen lungenkrank sein und doch grundverschieden behandelt werden müssen. Ich hätte Ihnen die Tropfen auch verordnen können! Das, was Sie da mit so viel Vertrauen eingenommen haben, ist ein altes, längst bekanntes Mittel. Für Ihren Zustand jedoch ist es zu scharf.“

Die Tropfen werden infolgedessen bei Seite gesetzt, und die erste Medizin kommt wieder zu Ehren, die den Patienten schon einmal auf den Weg der Besserung gebracht hat. Aber es vergehen acht – es vergehen vierzehn Tage, und es will nicht besser werden. Da kommt ein Neffe aus der nahen Residenz zu Besuch. Er findet Tantchen recht verändert. Es wird ihm berichtet, daß Tantchen krank ist und welches Organ ihres etwas schwächlichen Körpers von der Krankheit ergriffen sei. „Hm,“ macht er bedenklich, „wer behandelt Dich denn?“

„Doktor Müller!“

„Ach Du lieber Gott!“ sagt der junge Mann lachend, „der alte Müller mit seinem Senfspiritus? Ist denn der immer noch nicht tot? Und zu dem habt Ihr immer noch Vertrauen? Der hat sich doch mit seiner Methode lange überlebt! Das ist auch noch so einer von der alten Schule! Der geht natürlich von seinen mächtigen Medizinflaschen nicht ab! ‚Alle Stunden einen Eßlöffel voll!‘ Nein, da giebt es gottlob jetzt ganz andere Heilverfahren! Thu’ mir den einzigen Gefallen, Tantchen, und laß das Ding nicht hängen! Fahre Du einmal mit mir nach der Residenz zum Doktor X.! Das ist ein junger Mann auf der Höhe der neuesten Wissenschaft, ein Mann der Zukunft und jetzt bei uns der beliebteste Arzt. Und Glück hat er mit seinen Kuren! Man kann kaum einen Platz bekommen in seinem Wartezimmer!“

Tantchen fährt mit nach der Residenz. Es ist etwas windig an dem Tage und ziemlich unfreundlich – naßkalt; Tantchen friert, besonders an den Füßen. Endlich ist man am Ziel und der Doktor X. ist zum Glück an dem Tage zu sprechen, man erobert auch einen der ersten Plätze im Wartezimmer, hat also Aussicht, vorgelassen zu werden. Und richtig – es gelingt! Tantchen berichtet von ihrem Leiden, und der Doktor X. untersucht infolgedessen das kranke Organ. Als das vorüber ist und die Patientin noch mehrere Einzelheiten liefern möchte, sieht der Vielbeschäftigte des öfteren nach der Uhr. Es warten eben noch einige Zwanzig draußen, die auch noch an die Reihe kommen sollen. Endlich geht Tantchen mit einem Rezept zu Pulvern und rosigen Hoffnungen ihrer Wege. Sie darf zwanzig Mark dafür bezahlen und erhält noch die Weisung, das nächste Mal nicht Montags zu kommen, da sei der Andrang zu stark. Tantchen hat allerdings den Eindruck, als ob der Herr recht zerstreut gewesen wäre, und als ob sich der alte Müller daheim für seine Mark, die er für jeden Besuch bekommt, eingehender mit ihrer Sache beschäftige, allein sie unterdrückt diesen Gedanken als sündhaft und schreitet weiter, dem Cafe zu, wo sie und der Neffe die Zeit bis zur Heimreise zu verbringen gedenken. Es ist dort zum Erdrücken voll und sehr heiß – aber es regnet jetzt, und man ist froh, unter Dach und Fach zu sein. Es zieht empfindlich an der Thür, wo man Platz nehmen muß, und Tantchen hat sich warm gelaufen …

Auf der Heimreise schon werden die verordneten Mittel eingenommen, und vor dem Schlafengehen wird noch ein Pulver eingerührt. Tantchen schläft ein, bald aber erwacht sie unter seltsamen Beängstigungen. Sie fühlt sich matt, es liegt ihr wie Blei in allen Gliedern, sie hat heftiges Herzkopfen und Athmungsbeschwerden. Sie richtet sich auf und wartet eine Weile – es wird schlimmer. Und jetzt stellt sich gar ein kalter Schweiß ein – großer Gott, wie wird ihr nur! So hat sich Tantchen immer einen Schlaganfall gedacht … Endlich greift sie nach der Klingel. – Dokor Müller wird aus dem Bett geholt; er kommt auch gleich, der gute alte Herr. „Um Gotteswillen, liebe Frau Schulze, was haben Sie denn gemacht?“ fragt er verdutzt, während er seinen Stock mit dem Elfenbeinknopf in eine Ecke lehnt.

„Nichts! Nichts!“ versichert sie. Aber endlich, durch seine Kreuz- und Querfragen in die Enge getrieben, kommt es sehr gegen ihren Willen an den Tag: ja, sie ist in der Residenz gewesen und hat sich dort wahrscheinlich erkältet.

„Das würde sich wohl kaum so schnell und auf diese Weise zeigen,“ widerspricht der alte Herr, während er ein Rezept schreibt. „Waren Sie etwa bei einem Arzte?“ setzt er sarkastisch hinzu.

„Du lieber Himmel!“ kreischt Tantchen laut auf, „es wird doch nicht von den Pulvern sein!“ und vor Todesangst zitternd, bekennt sie ihre Untreue.

„Wo haben Sie denn das Rezept?“ Er liest und lacht dann. „Ja – das hätte ich Ihnen auch verschreiben können. Es ist ein ganz vortreffliches Mittel, aber bei Ihnen wagte ich nicht es anzuwenden. Es regt die Herzthätigkeit zu sehr an, und Sie haben einen kleinen Herzfehler, den man berücksichtigen muß. Sie haben mit dem Kollegen natürlich nur von Ihrem gegenwärtigen Leiden gesprochen, und da hat er selbstverständlich nur das von der Krankheit ergriffene Organ untersucht. Er hatte es wohl sehr eilig?“

„Allerdings!“

„Sehen Sie, hätten Sie mir etwas von Ihrer Absicht gesagt, so hätte ich Ihnen ein Briefchen mitgegeben, um den Kollegen auf mancherlei aufmerksam zu machen, was der Hausarzt durch jahrelange Behandlung eines Patienten bemerkt, was man berücksichtigen muß und nicht auf den ersten Blick sieht. Aber da muß es immer hinter dem Rücken des Arztes gehen! Ich habe ja nichts dagegen, wenn ein zweiter Arzt zu Rathe gezogen wird, dann hat [735] man die Verantwortung nicht allein! Na, nehmen Sie jetzt, was ich Ihnen hier aufgeschrieben habe, und das Ding wird sich wohl geben!“

Frau Schulze gehorcht und ihr Zustand macht sich wieder. Sie lobt seitdem den alten Müller und schwört sogar auf seinen Senfspiritus. Allein der alte Müller stirbt und ein junger Arzt, der von Frau Doktor Müller sehr warm empfohlen wird, übernimmt die Praxis. Er macht seine Aufwartung, und es geht nicht wohl anders, man muß ihn als Hausarzt nehmen.

Tantchen bekommt einen recht häßlichen Katarrh. Der junge Doktor Meyer hat sie, seit er da ist, schon öfter behandelt und immer mit Erfolg. Dieser Katarrh jedoch will seinen Mitteln nicht weichen. Anfangs trank sie Selterswasser mit Milch, dann machte sie nasse Umschläge, dann aber – lieber Gott, der Mensch hat doch eigentlich so gut wie gar nichts verordnet! Viel Milch soll sie trinken und viel Butter essen – das ist doch keine Medizin! In dem größten Raume, der ihr zur Verfügung steht, soll sie schlafen – sie kann doch das Nest nicht im Salon aufbauen! Die Arme über einem Stock im Rücken, soll sie bei offenem Fenster täglich viermal eine Viertelstunde tief Athem holen – das wird viel nützen! Zwei Stunden täglich soll sie spazieren gehen – dazu hat sie gleich Zeit! Mit kaltem Wasser soll sie sich allabendlich vor dem Schlafengehen abreiben – daß sie ein Narr wäre und sich noch mehr erkältete! Pillen hat er dann noch verordnet – nun, die nimmt sie. Das ist doch wenigstens eine ordentliche Medizin, die man in der Apotheke holt. Milch kann sie nicht trinken, die erregt ihr Ekel, und Butter will sie auch nicht essen. So lange sie sich denken kann, hat sie bloßes Fett aufs Brot grstrichen und sich immer wohl dabei befunden. Der Katarrh wird zu Anfang des Herbstes schlimmer. „Führen Sie denn aber auch alles gewissenhaft aus, was ich Ihnen gerathen habe, Frau Schulze? Ich traue Ihnen nicht recht!“ fragt Dokor Meyer.

„Na, ich werde doch! Ich verschlucke ja schon das zweite Hundert Pillen!“

Der Neffe, welcher Tantchen damals überredet hat, mit nach der Residenz zu fahren, kommt wieder zu Besuch. „Wie lange hast Du denn das Gekrächze schon, Tantchen?“ erkundigt er sich theilnehmend, und man giebt ihm Auskunft. „Hm“ – macht er wie damals, „wer behandelt Dich denn?“

„Doktor Meyer.“

„Doch nicht der junge Mensch, mit dem wir gestern abend Billard gespielt haben?“ wendet sich der Residenzler an den Sohn des Hauses.

„Derselbe!“

„Aber Tantchen, nimm mir’s nicht übel, das ist riesiger Leichtsinn! Der Mensch hat ja noch keine Erfahrung, er macht seine Experimente mit Dir! Nein, ich bitte Dich, mit einem solchen Katarrh ist nicht zu spaßen! Thu’ mir den einzigen Gefallen und laß das Ding nicht hängen! Fahre Du einmal mit mir nach X. zum Professor Y. Das ist ein alter erfahrener Herr und Spezialist in der Sache! Fiele mir ein, mich hier zum Versuchsobjekt herzugeben!“

„Du weißt immer etwas!“ sagt Tantchen ärgerlich. „Doktor Müller war damals zu alt, und der neue ist nun wieder zu jung! Wie muß denn der beschaffen sein, den Du gelten läßt?“

Doch das Ding geht ihr im Kopfe herum. Damals mit dem alten Müller hat der Neffe Unrecht gehabt, allein jetzt … Doktor Meyer ist wirklich noch recht jung. Tantchen läßt sich überreden und fährt zu Professor Y., aber sie sagt es vorher dem Doktor Meyer, dem Arzt ohne Erfahrung. „Thun Sie das nur, Frau Schulze,“ sagt er. „Der Professor ist ein sehr tüchtiger Mann. Aber befolgen Sie dann auch, was er verordnet! Sagen Sie ihm, daß Sie einen Herzfehler haben und viel an Rheumatismus leiden – und nehmen Sie ihm nichts übel!“ Er drückt die Augen ein wenig zusammen und sieht sie verschmitzt an. Tantchen reist also und erwischt glücklich den Spezialisten, und da er nicht nur wegen seinen Kuren, sondern ebenso wegen seiner Grobheit berühmt ist, so sagt er ihr erst einige Liebenswürdigkeiten, die daheim den Doktor Meyer ein für allemal aus dem Hause verbannen würden, und als sie klagt, daß es sich gar nicht bessern wolle, erklärt er ihr rund heraus, sie solle nicht zuviel verlangen, der Arzt sei kein Wunderthäter, und wenn alle Patienten wieder genesen wollten, würde kein Mensch mehr auf Erden sterben. Bei ihr stehe viel auf dem Spiel, sie sei lungenkrank und möge ja gewissenhaft ausführen, was man ihr anrathe. „Trinken Sie viel Milch und essen Sie viel Butter! Schlafen Sie in dem größten Raume, den Ihre Häuslichkeit bietet!“ u. s. w. Es folgt Stück für Stück Doktor Meyers Verordnung. Dann verschreibt der Herr noch etwas. „Noch möchte ich Ihnen rathen, bei offenen Fenstern zu schlafen!“

Tantchen läßt das Rezept sofort machen. Du liebe Zeit, das Medikament ist ihr schon vorgestellt: es sind Doktor Meyers Pillen.

Zu Hause berichtet sie dem Doktor Meyer: „Der Professor hat ganz dasselbe verordnet wie Sie!“

„So – so! Na, jetzt thun Sie’s natürlich?“ meint lachend der junge Arzt. „Ja, die Aerzte sind schreckliche Menschen, Frau Schulze, vor gar nichts haben sie Respekt, nicht einmal vor dem Salon!“ Mit einem belustigten Gesicht empfiehlt er sich.

Tantchen befolgt jetzt gewissenhaft, was der Professor gerathen hat, und später ebenso gewissenhaft, was Dokor Meyer räth. „Ich lobe mir meinen Hausarzt, der meine Natur kennt!“ Tantchen ist kuriert. –

Als Tantchen nach Jahren stirbt, kommt mit der übrigen Verwandtschaft auch der Neffe zum Begräbniß, der es immer so gut mit ihr gemeint hat. Er grüßt den Doktor Meyer ziemlich steif. „Tantchen könnte heute noch leben!“ versichert er nach dem Begräbniß den gläubig aufhorchenden Verwandten, „aber ihr war nicht zu helfen! Sie hatte ja nie einen ordentlichen Arzt. Erst den alten Müller mit seinem Senfspiritus – dessen Mittel hätte bei uns kein Kind mehr eingenommen – und dann gar diesen jungen Menschen! Der hat doch nur seine Experimente mit ihr gemacht!“ – –

Armer Hausarzt!




0Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Eine Fahrt um die Braut.

Erzählung aus Helgolands Vergangenheit von Helene Pichler.

     (Schluß.)

Tiefe Nacht umgab den jungen Fischer, der, nur mit dem groben Schifferhemd und der nassen Leinenhose bekleidet, den schweren Postsack auf dem Rücken tragend, über die furchtbare Oede des Watts wanderte. Er fühlte nicht, wie scharfe Muscheln seine nackten Füße blutig schnitten; er merkte es kaum, wenn er an einer weichen Stelle fast bis zu den Knieen einsank. Das Gefühl schien geschwunden, dagegen waren Gehör und Gesicht an Schärfe verdoppelt. Deutlich unterschied sein Auge die Grenzlinie des von schwarzen jagenden Wolken umsäumten Horizontes und des schäumenden Meeres, sowie die gleich einem flachen Postament im wogenden Element sich hinstreckende Sandinsel. Vor allem aber erkannte er das wie ein gähnendes Grab sich dunkel ausdehnende Watt. So lange Lars den weichen muddigen Grund unter sich hatte, strebte er mit hastender Eile weiter. Nur nicht versinken, nicht ersticken in trügerischem Meeresboden! Gesches helles Gesicht erschien vor seinem geistigen Auge, winkte ihm und lächelte mit ernstem Munde: Vorwärts! Vorwärts!

Das Werk mußte ja gethan sein, ehe die Fluth zurückkehrte; darum durfte Lars seine Schnelligkeit auch kaum mindern, als er den sandigen Inselstrand erreicht hatte. Nur einen Augenblick stand er athemschöpfend stille, um sich über die einzuschlagende Richtung zu vergewissern. Dann schritt er weiter, sich stets an den feuchten Saum der Insel haltend, um nöthigenfalls bei einer Verfolgung gleich wieder in das Watt zurückkehren zu können.

Zehn Minuten glaubte Lars gewandert zu sein, als vor ihm ein Lichtfünkchen aufleuchtete und gleich danach die dunklen Umrisse einer Hütte erkennbar wurden. Nun fühlte er sich sicher, mußte das doch jedenfalls die Wohnung des braven Neuwerker Fischers sein, der sich in grimmigem Trotz gegen das aufgezwungene französische Joch hatte bereit finden lassen, den heimlichen Austausch der englischen Post zu besorgen. Kein anderer Platz auf ganz Neuwerk hätte sich auch besser dazu eignen können, denn die Hütte lag außerhalb des Deiches dicht am Watt, völlig einsam auf dem weiten öden Strande.

[736]

Der Geburtstag des Gutsherrn.
Nach einer Zeichnung von L. Blume-Siebert.

[737] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [738] Bevor Lars an das helle Fensterchen des wackeren Gesinnungsgenossen anklopfte, stand er einen Augenblick stille, um zu verschnaufen und einen vorsichtigen Blick in das Stübchen zu thun. Drinnen saß eine alte Frau an dem braungebeizten Tische, vor sich die offene Bibel, deren Zeilen sie mit dem Finger nachfuhr. Eine niedrige zinnerne Thranlampe erhellte das einfache friedliche Zimmer. Schon hob Lars die Hand, um nach Knud Frodens Weisung drei leise Schläge gegen das Fenster zu thun, da hörte er hinter sich ein rasch näher kommendes Geräusch. Ihm, dem beherzten Manne, stockte auf Augenblicke der Athem: keuchend, fauchend, lechzend kam ein Etwas durch die finstere Nacht dahergerast. Ehe Lars nur einen Gedanken zu fassen vermochte, sah er zwei wilde glühende Augen durch die Dunkelheit leuchten, hörte das heisere Fauchen eines großen Thieres und – fühlte zwei mächtige Pranken in seine Schultern geschlagen, während sein Hemd von einem scharfen Gebiß zerrissen wurde.

Von grenzenlosem Ingrimm erfaßt, hatte Lars im Nu sein Postfelleisen zu Boden geworfen, mit beiden Händen den zottigen Hals des Unthiers gepackt und schüttelte dieses nun von sich ab, indem er fester und fester die Kehle zusammen- und von sich abdrückte. Hatte der riesige Wolfshund zuerst sich mit wüthender Anstrengung zu befreien gesucht und dabei mit seinen Pranken Brust und Schultern des jungen Mannes blutig gerissen, so wurde sein Widerstand bald durch die seine Kehle umspannende eiserne Klammer gebrochen. Lars ließ nicht eher los, bis das mächtige Thier in den letzten Zügen röchelnd am Boden lag; dann gab er ihm noch einen Fußtritt und knirschte, nach Luft ringend: „Beest do, ik will di de Kneep[1] uitdrieven!“

„Herr do leive Gott, watt is’r denn all wedder los?“ rief eine angstvolle Frauenstimme. Durch das unheimliche Geräusch des Kampfes von ihrer Bibel aufgeschreckt, hatte die alte Fischerin das Schiebefensterchen geöffnet und beleuchtete mir ihrem Thranlämpchen die grausige Scene.

„De Pust is ehm utgahn!“ sagte Lars gelassen, indem er sich wieder nach seinem kostbaren Briefpacken bückte. Während er aber der Alten Vorwürfe über das freie Umherlaufen eines so bösen Unholds machte, versicherte diese, an allen Gliedern zitternd, der Hund gehöre nicht ins Haus, sondern sei Eigenthum der Franzosen, die ihn bei ihren Patrouilleritten zur Nachtzeit benutzten und wahrscheinlich in kurzer Zeit sich einstellen würden, um Nachsuche in der Hütte zu halten.

Da galt’s also schnell fertig zu werden. Die nöthige Verständigung mit der alten Frau war rasch erzielt. Sie war von allem unterrichtet und erklärte, in zehn Minuten könne das Werk gethan sein, er möge nur einen Augenblick draußen warten.

Gleich danach trat die alte Insulanerin mit Hacke und Schaufel in der Hand zu Lars ins Freie. Auf seine verwunderte Frage, warum ihr Mann nicht mitgehe, lachte sie dumpf nur sich hin und erwiderte: „Sei hebbn en mi inspunn! Hei sitt in die Blüse[2].“

Von der Giebelecke des Häuschens ab schritt die alte Frau dem lang und dunkel sich ausstreckenden Deiche zu. Sie zählte ihre Schritte, bei achtundvierzig hielt sie inne und flüsterte: „Hier!“

Schnell wurde die Hacke in den Grund geschlagen; nur wenige Schaufeln voll Erde brauchten beseitigt zu werden, und Lars entnahm dem Loche ein ebensolches in Leder und Oeltuch geschnürtes Packet, wie das war, welches er mitgebracht hatte und das er nun in das verschwiegene Erdreich einbettete. Hastig wurde das Loch zugeschaufelt, der Sand darübergescharrt. Der aufs neue vom Himmel strömende Regen verwischte vollends jede Spur.

Schon glaubte Lars, das Spiel völlig gewonnen zu haben, der Name der Geliebten wollte sich in triuphierendem Glücksgefühl auf seine Lippen drängen, als seine alte tapfere Begleiterin den Kopf hochwarf und lauschte. Wahrlich, durch den rauschenden Regen und das einförmige Brausen von Wind und Meer ließ sich deutlich Pferdegetrappel vernehmen.

Lars biß die Zähne zusammen, um einen Fluch zu unterdücken, und schickte seine mutige Helfershelferin mit der Bitte zurück, sie möge den erwürgten Hund aus dem Wege und dicht an die Hauswand schieben, damit die Pferde der nächtlichen Verfolger nicht über den Leichnam stolperten, sich dann aber wieder rasch an ihre Bibel setzen. Die alte Fischerin verschwand mit Hacke und Schaufel und Lars warf sich, dicht an den Deich gedrückt lang zu Boden. Nur eine Minute später brausten drei Reiter so nahe an ihm vorüber, daß der von den Hufen aufgeschleuderte Sand ihm um die Ohren flog.

Schon wollte Lars vorsichtig sein Haupt erheben, da hielt einer von den dreien sein Pferd an und kam zurück. Dem Liegenden stand das Herz in der Brust still; er sah sich bereits in schmählicher Gefangenschaft, mit Ketten belastet, in der Blüse sitzen, er hörte Knut Froden höhnisch sagen: „So wiet is de jütische Torfkopp mit sien Kurasche kamen!“ Nein, nein, das durfte auf keinen Fall geschehen, lieber wollte Lars um Leben und Tod das Aeußerste wagen: den gefährlichen Lauf über das wie ein schlammiges Grab in tiefster Finsterniß daliegende Watt. Mochte er versinken, ertrinken, umkommen in Nacht und Graus; besser das, als in die Hände des Feindes gerathen.

Lars sprang auf, warf seinen Pack über die Schulter und lief nun am Fuße des Deiches entlang. Erst in diesem Augenblicke wurde die dunkle fliehende Gestalt von dem Reiter, der nur einen nachträglichen Blick durch das Fensterchen der Hütte hatte thun wollen, entdeckt, und Lars erkannte, daß er mit seiner voreiligen Flucht eine große Dummheit begangen habe. Zur Reue war’s aber jetzt zu spät: vorwärts, vorwärts mußte er ohne Besinnen. In der wahnwitzigen Erregung blieb ihm nur ein klarer Gedanke: er mußte so weit den festen Strand zu seiner Flucht behalten, bis er seine Schaluppe „dwars“ hatte, so daß er, sich rechts wendend, in gerader Richtung durchs Watt das Schiff treffen konnte.

Mit Hussah und Halloh ging nun die fürchterliche Menschenjagd los. Wie ein gehetztes Wild, keuchend, zitternd am ganzen Leibe, doch das errungene Gut krampfhaft festhaltend, flog der junge Fischer in wildester Eile vor seinen Verfolgern her. Hinter ihm drein stürmten die französischen Schergen, die ihre Pferde zu immer rasenderem Laufe anspornten und das Feuer ihrer Gewehre auf den Flüchtling richteten, so oft ein die Nacht durchbrechender Blitz die fliehende Gestalt für einen Augenblick deutlicher erkennen ließ. Lars’ Kräfte, die ohnedies durch den Blutverlust aus einer Schulterwunde gesunken waren, ließen plötzlich nach, er strauchelte, fiel, raffte sich wieder auf, in wenigen Sekunden konnte er von seinen Verfolgern erreicht sein, die ihm ein von Wuth zitterndes Halt zuschrieen, und da – da wagte Lars mit der letzten Kraft der todesmuthigen Verzweiflung einen gewaltigen Sprung ins Watt.

Mit solcher Heftigkeit schlug sein Körper in den nachgiebigen Boden ein, daß er sofort bis an die Kniee versank. Und während er langsam, sehr langsam, Zoll um Zoll, Linie um Linie tiefer in das weiche Erdreich rutschte, überkam ihn das Gefühl vollständiger Rettung, seelischer Ruhe. Er war dem Feinde entkommen, er hörte, nur durch wenige Fuß breit Erde von ihnen getrennt, wie sie unter gotteslästerlichen Flüchen nach ihm suchten, ohne ihn finden zu können, wie sie endlich mit wildem Schwadronieren sich zankten, weil jeder eine andere Meinung über den Verbleib des Flüchtlings hatte, und wie sie endlich sich trennten, um einzeln den Strand und Deich abzusuchen. Lars gab sich dem süßesten Ermatten hin, das seine abgehetzten Glieder gefangen hielt. Er ließ den Kopf auf die Brust sinken, und mehr und mehr zog ihn die Erde oder vielmehr das Meer in sich hinein, ohne daß er in der Erschöpfung den geringsten Widerstand zu leisten vermochte. „Wenn nun meine Gesche mit mir wäre, dann wäre das hier Seligkeit,“ war der letzte Gedanke des Sinkenden, und dann folgte eine Pause völliger Lichtlosigkeit, tiefsten Schweigens.

Aus seiner Betäubung wurde Lars durch einen verspäteten grellen Blitz, der von krachendem Donner begleitet war, geweckt. Er öffnete eine Sekunde lang die schweren Augenlider und sah in dem bläulichen Schein des Himmelsstrahls in nicht zu großer Entfernung auf dem schwarzen Wattboden eine riesige Gestalt kauern, eine Gestalt, die er nicht mehr in ihren Formen zu deuten wußte: breit, lang, mit einem Baum in der Mitte. „Der muß auch sinken!“ dachte er, indem er müde lächelte. In diesem Augenblicke flammte an der Spitze des vermeintlichen Baumes ein helles Licht auf, das seinen Schein rings auf die schlammige Wüste warf und in Lars’ zum Tode verzweifelter Seele den letzten Funken von Thatkraft weckte. Das war ja sein Schiff, und das Licht [739] mußte eine Terpentinflamme sein, welche die braven Kameraden angezündet hatten, um ihm den Weg zum Schiffe zu erleichtern.

Mit dieser Erkenntniß kam Lars auch zum vollen Bewußtsein seiner entsetzlichen Lage. Bis über die Hüften steckte er bereits in dem schlammigen Grabe, nur eine Viertelstunde brauchte noch zu vergehen, und er war vollends versunken, verschwunden von der Erde. So nahe am Ziel hatte er sich von den Armen des Todes umstricken lassen, ohne sich dagegen zu wehren!

Seine stumpfe Ergebung wich im Nu der neu erwachten Lebenskraft. Zunächst stieß er einen gellenden, weithin dringenden Ruf aus, der die Kameraden aufmerksam machen mußte, daß er ihr flammendes Zeichen gesehen habe. Der Ruf wurde vom Schiffe aus erwidert, und nun setzte der Versunkene alles dran, um sich aus der todbringenden Umarmung des Schlammes zu befreien. Mit den Zähnen das Postbündel haltend, arbeitete er mit Macht, bis ihn schier wieder die Besinnung zu verlassen drohte. Aber das flammende Licht da vor ihm auf der Mastspitze, das in regelmäßigen Pausen sich wiederholende Rufen, und vor allem das dumpfe Brausen der von fern wieder herandrängenden Fluth gaben ihm Muth und Ausdauer, das Unerhörte zu vollbringen. Er erkannte, daß die Last des Bündels seinen Körper nur unnütz beschwere und durch den vermehrten Druck ihn rascher in das schauerliche Grab befördere; er legte daher den Postsack vor sich hin und benutzte ihn als breiten festen Stützpunkt für die noch freien Arme. Langsam, sehr langsam arbeitete er so seinen Unterkörper aus dem zäh sich anhängenden Grunde los. Oft wollte er verzweifelnd nachlassen, um nur einen Augenblick zu ruhen. Aber sofort fühlte er sich wieder einsinken und von neuem rang er, sich der schweren Erde zu entwinden. Endlich, endlich! Noch ein letzter Ruck, und er stand wirklich auf seinen Füßen. Zwar schienen ihm seine Glieder in Blei verwandelt zu sein, aber dennoch wankte er mit seinem kostbaren Postsack mühsam dem rettenden Licht entgegen.

Zehn Schritte noch von der Schaluppe entfernt, stieß der zum Tod Ermattete einen schwachen Schrei aus und sank abermals nieder. Jetzt aber waren die Retter nahe: Bleik Stummen schwang sich über Bord in das höher und höher gurgelnde Wasser und half dem Erschöpften durch die steigende Fluth auf die sicheren Planken.

Ueber den grausigen Anblick, den Lars mit seinem todbleichen, von zerzaustem Haar umgebenen Gesicht, mit seinem ganzen blut- und schlammbedeckten Körper bot, verloren Frank Kunert und Bleik Stummen kein Wort; sie gaben Lars einen tüchtigen Schluck Branntwein und schoben ihm das mit so vielen Gefahren errungene Postbündel unter den Kopf, worauf er trotz steigender Fluth und trotz Wettersturm sofort einschlief, um nicht eher wieder zu erwachen, als bis der Strand von Helgoland unter dem Kiel der Schaluppe knirschte.

*  *  *

Wenige Stunden danach stand Lars in einem frischen sauberen Schifferanzug abermals vor dem Bette des alten Helgoländer Lotsen. Haar und Bart hatte er glatt gebürstet, aber sein Gesicht war noch bleich und ernst und die Schulter trug unter der Wolljacke einen regelrechten Verband.

„Ik bin to Stäe,“ sagte Lars einfach und mit ruhigem Stolze, „dat Postgood is gau an Bord.“

Der Alte guckte mit seinen scharfen Augen den Sprecher an – Lars merkte nicht, daß in dem alten Gesicht der Humor zuckte – und antwortete: „Ik heff hürt! Na? un de Lohn?“

Diese Frage kam Lars so unerwartet, daß er bestürzt schwieg. Knud Froden, der alte Schelm, hatte längst durch freundlich geschäftige Zungen die wunderbare Mär von der Postfahrt vernommen, und Gesches seltsames Benehmen, bald Weinen, bald Lachen, hatte ihm das Uebrige gesagt. Dennoch konnte er es nicht unterlassen, den braven, muthigen Jungen, den Lars, ein wenig zappeln zu lassen. Er weidete sich an der Verlegenheit des Burschen und fuhr ihn endlich fast grob an: „’ne Slup dör de Bräkers bringen[3], wat is mi dat? aberst ’n lütt leiw Famel[4] ’winnen, dor fehlt em Kurasche, he? watt?“

Da war auch schon die lachende und weinende Gesche aus ihrem Winkel hervorgekommen und hing an Lars’ Halse. Der küßte sie und flüsterte: „Min lütt, säut’ Deern, wo kann’t denn sien? Dat Glück is to grot, ja to grot.“


Blätter und Blüthen.

Zu J. G. Fischers fünfundsiebzigstem Geburtstag. Es sind jetzt einunddreißig Jahre her, da erschien in der „Gartenlaube“ ein Gedicht, das einen tiefen Eindruck hervorrief im ganzen deutschen Volke. Es war jener elementare Nothschrei aus Deutschlands Zerfahrenheit heraus, jenes stürmische Stoßgebet aus dem Herzen eines glühenden Vaterlandsfreundes: „Nur einen Mann aus Millionen!“, das seitdem so oft als ein historisches Stimmungsbild citirt wurde und – was noch besser ist – das seitdem so herrliche Erfüllung gefunden hat. Der Dichter hieß Johann Georg Fischer und war ein Schwabe, kein Jüngling mehr, sondern ein reifer Mann, auch als Dichter nicht unbekannt, sondern bereits durch eine Gedichtsammlung in litterarischen Kreisen vortheilhaft eingeführt – den breiten Massen unseres Volkes aber ist sein Name wohl erst durch jenen Sturmgesang bekannt geworden.

Und das deutsche Volk hat J. G. Fischer nicht mehr vergessen. Manch feierlicher Festesklang ist im Wandel der Jahre von seiner Harfe gerauscht, manch zartes, sinniges Lied, manch gedankenvolle Betrachtung hat ihm seine Muse geschenkt. Und wenn auch seine Dramen auf den Bühnen nicht häufig erschienen, so haben sie doch die Leser durch idealen Gehalt und edles Pathos der Sprache begeistert. So blieb er eine vertraute Gestalt für alle diejenigen, welchen der Sinn für die köstlichen Gaben der Poesie im Drange des ernüchternden Tagesringens nicht verloren gegangen ist, eine vertraute Gestalt auch den Lesern der „Gartenlaube“, welche manche seiner Schöpfungen zuerst genießen durften.

Am 26. Oktober feiert nun J. G. Fischer seinen fünfundsiebzigsten Geburtstag. Sollte da die „Gartenlaube“ unter der Schar der Glückwünschenden fehlen?

Zu den bewundernswerthesten Eigenschaften unseres Dichters gehört die jugendliche Frische und unverkümmerte Schöpferkraft, welche er sich bis über die Schwelle des Greisenalters hinaus bewahrt hat. Fast übermüthig sang er noch an seinem siebzigsten Geburtstage:

„Redet mir nicht von siebzig Jahren,
Redet mir nicht von Kräftesparen;
Der eine verthut’s und hat’s doch immer,
Der andere spart’s und gebraucht’s doch nimmer.
Hab’ ich die siebzig nun erklommen,
Und Gott erhält mir in alten Gnaden
Die Lust an seiner Wälder Pfaden,
Den fröhlichen Blick zwischen Licht und Wahn,
Und liebe Menschen zugethan,
Wohlan, so mögen auch achtzig kommen!“

Und wahrhaftig, wer den etwas schmalgebauten, aber immer noch aufrechten und hellen Auges in die Welt blickenden Mann durch die Straßen Stuttgarts wandeln sieht, wer sich in seine letzte, vor kurzem erschienene Gedichtsammlung „Auf dem Heimweg“ vertieft, der wird diese Prophezeiung nicht zu kühn finden.

Wohl hat Fischer vor nunmehr sechs Jahren sich veranlaßt gesehen, die Last seines Lehramts für Geschichte und Litteratur an der Oberrealanstalt zu Stuttgart auf jüngere Schultern zu übertragen, wohl hat der Tod der heißgeliebten Gattin, welche vor Jahresfrist von seiner Seite gerissen wurde, einen schmerzlichen Schatten auf seinen Lebensabend geworfen, aber mit der Spannkraft einer von innen heraus durchaus gesunden Natur hat er die Schmerzen und Widrigkeiten überwunden und in seinem Dichten sich frei gemacht von dieser Erde Druck, sich selbst des Trostes Lieder zugesungen. So steht heute, an dem Tage, da er das dritte Vierteljahrhundert vollendet, J. G. Fischer vor uns als das Ideal eines zu ruhiger Klarheit durchgedrungenen Menschengeistes, vor dem der Gang des Erdenlebens liegt wie der Kreislauf eines Tages.

Mögen aus der letzten Sammlung seiner Gedichte noch die folgenden Verse hier Platz finden, welche diesem Gedanken einen so ergreifend schönen Ausdruck verleihen:


 Ein Tag.
 Frühmorgens.

Die dunkle Nachtgestalt entweicht,
Wie wird’s am Himmel hell und leicht!
Die Sonne tritt an meine Wand,
Noch deck’ ich’s zu mit einer Hand.

Noch ist’s ein Punkt – nun werden’s viel,
Du schönes, wunderschönes Spiel!
Bald ist von Glanz die Kammer voll,
Wie deine Seele werden soll,

Wenn erst ein Hauch im Herzen quillt
Und dann in Fülle überschwillt,
Bis alle Welt umher verschönt
Von Einem Lobgesange tönt.

[740]

  Am hohen Mittag.
Er breitet seine vollsten Schwingen,
So hat die Sonne es gewollt,
Ihn freut, wie seine Adler dringen
Durch des erwärmten Aethers Gold.

Man fühlt des Lebens Quellen fließen
So nahe und so himmelweit,
Man hört die Stunden leise gießen
Die Tropfen in das Meer der Zeit:

Es fluthet wie für Ewigkeiten
Dahin, was der erfüllte Tag
Bis an der Ufer fernste Weiten
Verströmen und umfassen mag.

Des Weges aber zieht ein Wandrer,
Die Stirn mit Wunderlicht umsäumt,
Der, schon in dieser Welt ein andrer,
Von einer neuen Erde träumt.

  Gute Nacht.
Die letzten Sonnenstreifen schweben
An meiner Hütte gleitend ab,
So sinkt ein Tag, so sinkt ein Leben
und alles, was die Sonne gab.

O wärt ihr theuren festzuhalten,
Doch eure Neige schon zerfloß,
Gewohnte süße Lichtgestalten,
Wie sich das liebste Auge schloß.

Nun schwandet ihr, es ist geschehen,
Und wie der letzte Dämmer schied,
So wirst du selber niedergehen,
Du meine Seele, du mein Lied.


Mein Hans. So sehr sich der wilde Fischotter durch große Scheu und Mordlust und im Nothfall durch todesverachtende Tapferkeit auszeichnet, so bietet doch dasselbe Thier ein ganz anderes Bild, wenn es an die Berührung mit dem Menschen gewöhnt ist. Acht Wochen säugt die Mama Fischotter ihre 3 bis 4 Jungen, um sie dann ins Wasser zu führen und in den Künsten des Schwimmens und Raubens zu unterrichten, und sind sie erst damit bekannt, dann allerdings ist es vergeblich, sie zähmen zu wollen. Hat man dagegen Gelegenheit, ein ganz junges Exemplar zu erhalten, so belohnt sich die Mühe und es giebt für die Abrichtung nicht leicht ein gescheiteres und dankbareres Thier.

An den romantischen Ufern der Schlei, jenes tief eingeschnittenen Meerbusens an der Ostküste von Schleswig-Holstein, kommt der Fischotter besonders häufig vor, dort war auch die Geburtsstätte meines „Hans“.

Unter einer sogen. „Schleppstelle“, einer aus Bohlen hergestellten[WS 1] schiefen Ebene, die dazu dient, Boote ins Wasser zu lassen oder aufs Land zu ziehen, hatte ein Fischotterweibchen sein Wochenbett hergerichtet und bezogen, unmittelbar am Hafen mit seinem lärmenden Treiben. Einige Knaben hatten, aufmerksam gemacht durch die Laute der Jungen und in der Meinung, es seien Ratten, eine Bohle losgebrochen, um zu dem Nest zu gelangen. Als die Alte die Gefahr merkte, sprang sie mit einem Jungen im Maul ins Wasser. So blieben nur noch zwei Sprößlinge im Lager zurück, die mir zugetragen wurden. Ich brachte sie auf dem Boden in einer Kiste unter und ernährte sie mittels der Saugflasche, da das Gebiß mit Ausnahme der kleinen nadelscharfen Fangzähne noch vollständig fehlte. Leider ging das eine Exemplar nach wenig Tagen ein, während Hänschen mit Wollust saugte. Schon nach vier bis fünf Tagen hörte er auf seinen Namen, folgte mir in Haus und Garten auf dem Fuße nach, ja, als er an einem Morgen sehr früh die Treppe herunterpurzelte, fand er schon ganz allein durch mehrere Zimmer den Weg zu meinem Bett. Aus dem Hänschen ist nun ein Hans geworden von 105 Centimetern Länge, allein seine Anhänglichkeit und Gutmüthigkeit ist die gleiche geblieben. Als er zu groß für die Flasche wurde, nährte er sich von Zwieback, der in Milch eingeweicht wurde und den er sehr artig von einem Theelöffel nehmen lernte, während er früher das Maul in die Schale gesenkt und nach jedem Bissen die am Bart hängenden Reste durch Schütteln entfernt hatte. Jetzt frißt er alles, natürlich Fische und Fleisch mit Vorliebe, und zwar in jedem Zustande, roh oder zubereitet. Immerhin ist sein Geschmack etwas wählerisch. In erster Linie sagen ihm Aale zu, dann folgen Häringe, Butten und Dorsche, doch kehrt er sich von den größten Leckerbissen ab, wenn er schon durch andere Nahrung gesättigt ist.

Mein Hans.

Das ganze Wesen von Hans ist äußerst merkwürdig und in jedem Augenblick fesselnd. Er geht mit mir spazieren, selbst an die Schlei, ohne einen Fluchtversuch zu machen, ja als er eines Tages zufällig hineinfiel, sprang er so schnell wieder ans Land, als hätte er sich verbrannt, was mir um so auffallender war, als er täglich mit großem Behagen in einem Kübel sein Bad nimmt. Denn reinlich ist er im höchsten Grade und nie schmutzt er das Zimmer.

Bewundernswerth ist es, wie er seine Füße gebraucht. Das sind keine Werkzeuge nur zur Fortbewegung, es sind zugleich vier Hände, vollständig zum Greifen befähigt. Er schwimmt, er läuft, bald trottend wie ein kleiner Bär, bald in langen Sätzen wie der flüchtigste Hase, er folgt mir wie die flinkste Katze eine steile Leiter hinauf und spielt, auf dem Rücken liegend, wie ein Jongleur mit einer Glaskugel, indem er sie abwechselnd mit den Vorder- und Hinterfüßen blitzschnell erfaßt. Selbst fressen kann er in dieser Lage, er hält dabei die Nahrung mit den Vorderfüßen und beißt gemüthlich davon ab. Mit gleicher Eleganz und Leichtigkeit, nicht ruckweise wie etwa ein Hund, richtet er sich auf den Hinterfüßen auf, um Umschau zu halten und zu „sichern“. Ist er des Spielens müde, so kommt er zu mir; mit leise kicherndem Ton legt er seine Vorderpfoten auf mein Knie und sieht mich treuherzig und bittend an. Auf mein „Hopp Hans!“ springt er dann auf meinen Schoß und legt sich nieder, ohne sich zu regen. Wo er sich auch aufhält, im Garten oder im Haus ― ein leiser Ruf genügt, ihn zu mir zu locken. Ebensowenig scheu ist er gegen andere Menschen, die er schon einmal gesehen hat, er fühlt sich vielmehr so wohl in menschlicher Gesellschaft, daß es abends immer einer gewissen Ueberredung bedarf, ihn in sein Nachtquartier zu bringen.

Sein Verhältniß zu anderen Haustieren ist verschieden. Gegen Katzen hat er eine ausgesprochene Abneigung, seit ihm eine solche, als er mit ihr spielen wollte, einen Tatzenschlag gab; auch ergreifen sie sofort vor ihm die Flucht. An Haushühnern kann er ruhig vorübergehen, so lange sie nicht flattern; ihrerseits betrachten sie ihn immer sehr mißtrauisch, und ich möchte beide nicht gern ganz ohne Aufsicht zusammentreffen lassen. Verschieden benimmt er sich gegen Hunde. Neugierig geht er geradeswegs auf den fremden Hund los, in friedlicher Absicht; ist jener vernünftig genug, das zu verstehen und sich mit ihm einzulassen, dann gut. Zeigt er aber nur im geringsten eine feindliche Miene, pustet oder faucht ihm Hans ins Gesicht, und ich habe hier noch keinen Hund gesehen, der dann nicht schleunigst den Schwanz eingezogen hätte und ausgekniffen wäre. Seit März habe ich ihm einen Dachshund zum Gespielen gegeben. Anfangs ließ sich der Verkehr der beiden recht übel an, nach wenigen Tagen aber hatte ich sie überzeugt, daß sie sich recht wohl vertragen könnten, und nun ist die Freundschaft wirklich innig und unzertrennlich. Der eine ladet den andern förmlich zum Spielen ein, und dann geht das Necken und Ueberkugeln los. So ist Hans der Liebling des ganzen Hauses und durch sein possierliches Wesen ein Gegenstand der Aufmerksamkeit für alle geworden, welche ihn kennenlernen. O. Haserick.     




Kleiner Briefkasten.

(Anfragen ohne vollständige Angabe von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

H. M. in B. Ein hübsches Lebens- und Charakterbild von Theodor Körner hat Dr. Gotthold Kreyenberg im Ehlermannschen Verlag zu Dresden veröffentlicht. Da Sie eine gut ausgestattete, kurz gefaßte Biographie des Dichters suchen, so dürfte das genannte Buch mit seinem interessanten Bilderschmuck Ihrem Wunsch entsprechen.

P. M. in Th. Wir danken für die freundliche Mittheilung. Der Besitzer des Ballons „Herder“ möge es uns nicht übel nehmen, wenn wir ihn aus „Siegsfeld“ in „Liegsfeld“ umgetauft haben. Der verehrte Künstler, welcher uns die Schilderung zu jenem Ballonbild eingesandt hat, wird ihm durch Vorlegen einer Handschriftprobe den Beweis liefern, daß dieser Irrthum verzeihlich ist.

L. P. in H. Sie möchten die gute alte Sitte des Stammbuchs mit seinen mannigfaltigen Erinnerungen nicht schwinden sehen und wünschen, von einem Buch zu hören, das Ihnen eine Auswahl von Gedenksprüchen zu gelegentlicher Verwendung bieten könnte. Vielleicht finden Sie, was Sie suchen, in den „Stammbuch-Aufsätzen“ von Ebersberg, von denen neuerdings im Verlag von A. Hartleben in Wien die 6. Auflage erschienen ist.



Inhalt: Ein Götzenbild. Roman von Marie Bernhard (7. Fortsetzung). S. 725. – Orientalisches Blumenmädchen. Bild. S. 729. – Am Plansee. Von Arthur Achleitner. S. 732. Mit Abbildungen S. 725, 732 und 733. – Der Hausarzt. Eine Plauderei von N. Guth. S. 733. – Eine Fahrt um die Braut. Erzählung aus Helgolands Vergangenheit von Helene Pichler (Schluß). S. 735. – Der Geburtstag des Gutsherrn. Bild. S. 736 und 737. – Blätter und Blüthen: Zu J. G. Fischers fünfundsiebzigstem Geburtstag. S. 739. – Mein Hans. Von O. Haserick. Mit Abbildung S. 740. – Kleiner Briefkasten. S. 740.


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Kniffe, böse Tücken
  2. „Blüse“ wird der mächtige Thurm auf Neuwerk genannt, der als Leuchtthurm und zugleich als Rathhaus, Gefängniß, Herberge und Vorrathsmagazin diente und noch dient. Kurze Zeit nach dem hier Erzählten wollten die Franzosen das alte Steinbauwerk in die Luft sprengen; ob mit oder ohne den darin eingesperrten Gefangenen, konnte nicht ermittelt werden. Die Sprengung gelang indeß nicht völlig.
  3. Eine Schaluppe durch die Becher (Wellen) bringen.
  4. Mädchen.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: hergegestellten