Die Gartenlaube (1891)/Heft 44

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1891
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[741]

Nr. 44.   1891.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf.   In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf.   In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Ein Götzenbild.

Roman von Marie Bernhard.

(8. Fortsetzung.)

Herr Grimm legte seinen Arm in den Andrees und zog ihn mit sich durch ein paar Räume, die ganz und gar mit Topfgewächsen angefüllt waren. Auf den breiten Fenstersimsen, auf hohen und niedrigen Gestellen, auf abgesägten Baumstämmen, auf Blumentischen und Trittleitern grünte und sproßte und blühte es – in mächtigen Kübeln hochragende Blattgewächse, die mit ihren grünen gefiederten und gezackten Kronen fast an die Zimmerdecke rührten, kriechende und niedrig wuchernde Pflanzen, die sich aus ihren Behältern herausrankten, seltene Rosen, Maiblumen, Flieder, Narzissen, stachlige Kakteen und blüthenbesäte Azaleen – das stand alles da, wohlgeordnet, wohlgepflegt, und das Blühen und Gedeihen legte Zeugniß ab für des Hausherrn sorgsame Pflege.

Er konnte denn auch nicht so ohne weiteres an seinen Blumenkindern vorbei. Eine kleine Blumenspritze und ein Gartenscheerchen in der Hand, stäubte und schnitt er im Weiterschreiten da und dort eine Ranke ab und machte seinen Gast mit ein paar Worten auf dies oder jenes besondere Gewächs aufmerksam. Andree freute sich an der grünen und bunten Pflanzenwelt, verstand aber nichts von Blumen und brachte es deshalb nur zu einigen allgemeinen Bemerkungen. Herr Grimm merkte das und führte ihn rasch durch ein paar andere Zimmer in ein längliches Gemach mit drei hohen Fenstern, das er seine Bildergalerie getauft hatte.

Hier fand der Maler einige sehr tüchtige Kopien alter Meister, namentlich von Murillo, Rubens und Rembrandt, vorwiegend aber neuere Bilder aus der Münchener Schule, zumeist alte Bekannte, die wiederzusehen ihn lebhaft interessierte – darunter auch eines der besten Stillleben von Hilt, einen Kristallkrug, zur Hälfte mit tiefrothem Wein gefüllt, dazu eine Schale mit Austern, von halbzerschnittenen Citronen gekrönt, und zwei gekochte Hummern, alles wie eilig auf einem verschobenen feinen Damasttischtuche serviert. – Und hier seitwärts, neben einem behaglichen Klosterbruder von Eduard Grützner, der sein Maßkrüglein unter den Krahn eines Weinfäßchens hielt, war auch Andrees „Pescatore“, ein flott und keck hingeworfenes Bild, zum Staunen lebensvoll. Diese bröcklige, im heißen Sonnenschein in grellem Gelb strahlende Mauer, auf welcher der Junge sitzt, das Stückchen wolkenlosen Himmels drüber, unten angedeutet ein glitzernder Wasserstreifen – und nun dieser barfüßige zerlumpte Bengel, ganz Eifer, ganz leidenschaftliche Spannung, den Oberkörper weit vorgebeugt, das


Weintraubenverkäufer in Wolhynien.
Nach einer Zeichnung von T. Rybkowski.

[742] eine der nackten braunen Beine selbstvergessen hoch emporgezogen, als könne ihm das helfen, den an der Angel zappelnden Fisch rascher in die Höhe zu schnellen, die Handhabe der Angel in den gekrümmten Fingern – und diese aufblitzende Freude, diese triumphierende Lust in den dunkeln Augen unter dem Wust von schwarzem Haar: ich hab’ ihn! Man meinte, das beschleunigte Athemholen des Jungen zu hören.

Schön war er nicht, der „kleine Fischer“! Hilt wäre zufrieden gewesen. Ein braunes mageres eckiges Gesicht, eine langaufgeschossene Figur, die gar nicht „Pose machte“, sondern ganz ungeniert und natürlich auf der Mauer lag – aber eben darum!

Andree konnte nicht anders, er hatte seine helle Freude an dem „Pescatore“, und neben ihm stand einer, der theilte diese Freude. „Sehen Sie,“ sagte Herr Grimm, „ich freue mich jedesmal, wenn ich den Schlingel da anschaue, er ist mir die verkörperte Lebenslust, die harmlose, meine ich natürlich. Was ist denn Ihr neuestes Sujet? Darf man es wissen?“

„Sie müssen mir nicht böse sein – nein, ich kann es Ihnen nicht sagen! Ich weiß noch nicht, ob ich die Idee, die ich mit mir herumtrage, werde verwirklichen dürfen, es liegt mir mehr daran, als ich sagen kann; allein gerade deshalb –“

Eben jetzt öffnete sich vorsichtig die Thür der „Bildergalerie“, das faltige Gesicht der Frau Müller sah herein, und sie meldete: „Der Kaffee!“

„Kommen Sie!“ sagte Grimm, und ein nachdenklicher, fast trüber Zug, der eben bei Andrees stockender Rede in seinem Antlitz sichtbar geworden war, verflog wieder. „Liebenswürdig ist meine Alte nicht, wie Sie merken können, aber sie versieht mein Hauswesen ausgezeichnet, versteht einiges von Blumen, respektiert Hafis und respektiert auch mich auf ihre besondere Art, mehr kann man nicht verlangen.“

Herr Grimm schob wieder seinen Arm in den des Gastes und führte ihn ins Wohnzimmer zurück.

Andree ließ immer wieder seine Blicke rundum gehen in dem behaglichen Zimmer mit den schönen, altmodischen Möbeln und sah dann in das feine, sympathische Gesicht seines Wirthes. Gewiß, er würde ihm ein Freund werden! Nicht einer, wie es ihm Werner Troost gewesen war – das kam wohl nie wieder! Diese fast schwärmerische Liebe, dies zärtliche, sorgende Empfinden lag mit dem schönen Jüngling dort unten im sonnigen Süden begraben. Aber es konnte doch eine Freundschaft werden, wie sie Andree noch kaum gekannt und zuweilen sich aufrichtig gewünscht hatte, eine Freundschaft, in der er selbst auch häufig der nehmende, nicht nur immer der gebende Theil sein, in welcher der ältere, gereifte Mann sein Rathgeber, sein Führer werden würde.

Merkte der kluge, weißhaarige Herr neben ihm diese Empfindung heraus? Er plauderte immer offenherziger, und die Mehrzahl seiner Bekannten wäre sehr erstaunt über ihn gewesen, – Senator Brühl an der Spitze.

Andrees schlichtes Wesen, gleich frei von Blasiertheit wie von jedem Gefühlsüberschwang, seine warme Begeisterung für die Kunst, sein ruhiges, sicheres Urtheil, sein gesunder Humor, alles sagte Herrn Grimm zu, außerdem sah er ihn gern an. Er hatte schönere Männer gesehen, ohne Zweifel! Aber Andrees stattliche Gestalt, das ernste männliche Gesicht mit dem schwarzen Bart und den blauen Augen fesselten seinen Blick immer aufs neue. „Wirklich ein prächtiger Mensch!“ dachte er für sich. „Ich hoffe nur das eine, daß er sich nicht in das Götzenbild, diese Stella verliebt. Das wäre geradezu ein Unglück! Er ist ja tausendmal zu gut für sie. Und er wird es auch nicht thun! Aber freilich, – Künstler ist er, und sie ist nun einmal wunderbar schön, das bleibt unbestreitbar!“

Herr Grimm wurde jedesmal unfrei in seiner sonst so fließenden Rede, sobald Andree das Gespräch auf Stella oder den Senator brachte, und natürlich fühlte der Maler das bald heraus. Seinen Fragen nach den jüngeren Kindern und wie es denn komme, daß sie in eine ihrer Natur augenscheinlich ganz fernliegende Richtung gezwungen würden, und wessen Werk das sei, ob des Vaters oder der Mutter, wich der ältere Mann verlegen aus, und vollends ein Gespräch über den Senator selbst und sein eigenes Verhältniß zu demselben in früherer und in jetziger Zeit verursachte Grimm sichtliches Unbehagen; er brach es kurz und unvermittelt ab, sodaß sogar Andree, dessen Natur es sonst sehr fern lag, überall Geheimnisse zu wittern, unwillkürlich denken mußte, hier liege eines verborgen. Und was konnte es zu bedeuten haben, daß jedesmal, wenn Stellas Erwähnung geschah, ein Flor, ein Schatten sich über Herrn Grimms klare Augen senkte und er seinen Gast besorgt und traurig anschaute wie jemand, der wohl sprechen, warnen möchte, aber genau im voraus weiß, es sei unnütz, vielleicht sogar gefährlich? Andree merkte es sehr bald: das Haus Brühl war ein heißer Boden, auf dem sich der ehemalige Compagnon und Freund – er hatte ausdrücklich betont, der Senator sei ihm seit langen Jahren nichts weiter als ein Bekannter, wie er deren ein halbes Hundert habe – offenbar ungern bewegte. Man änderte also das Thema, und beiden Männern war es dabei wohler zu Muthe.

Mitten in einem lebhaften Hin und Her über Hamburg, wie es früher gewesen war, wie es jetzt sei, und welchen Umschwung der Zollanschluß herbeigeführt habe, unterbrach Herr Grimm seine Auseinandersetzungen und rief:

„Nun sehen Sie meinen Hafis! Wie er sich wäscht! Wir bekommen mithin noch Besuch, – ich kann nicht sagen, daß mich dieser Gedanke erfreut!“

Der persische Kater thronte wieder auf der Sofalehne, nahe der Schulter seines Herrn, und führte über Ohr und Nase bedächtig seine feuchte weiße Pfote. Plötzlich ließ er sie mitten in der Luft stehen und bewegte lauschend die Ohren. Es kam ein Geräusch von draußen, rasche Schritte, die den Flur entlang liefen, dann wurde die Thür hastig aufgerissen.




13.

Andree hatte sich von seinem Sitz erhoben und trat unwillkürlich ein paar Schritte hinter einen hohen, dunkeln Schrank zurück. So kam es, daß er die Scene bequem überschauen konnte, ohne fürs erste selbst gesehen zu werden.

Gerda Brühl stürzte ins Zimmer, in der rechten, hoch erhobenen Hand ein weißes, zappelndes Kaninchen tragend, das sie bei den langen Ohren hielt.

„Onkel Grimm, Sie müssen es nehmen, ja, bitte?“ rief sie athemlos statt der Begrüßung. „Bloß so lange, bis wir draußen auf der Uhlenhorst sind, da ist viel mehr Platz, da können wir’s beim Gärtner unterbringen, – aber hier leidet sie es ja nicht und hat gesagt, sie lasse es totmachen. Solch’ ein hübsches Thier, – und Wolf freut sich so darauf, Kaninchen zu haben! Lieber Onkel Grimm, bloß drei oder vier Tage, bis wir draußen sind, ja?“

Sie hatte den freien Arm schmeichelnd um seine Schulter gelegt und sah ihm bittend ins Gesicht, das bedrohte Kaninchen dadurch unbedacht in Hafis’ gefährliche Nähe bringend. Die Perserkatze hatte sich mit gesträubtem Fell aufgerichtet und in ihren Augen funkelte es bedenklich.

„Wir wollen schon sehen!“ begütigte Herr Grimm freundlich und streichelte Gerda über das erregte Gesicht. „Für ein paar Tage allenfalls, Raum ist ja genug, – aber, Kind, geh etwas weiter von Hafis fort, – und überhaupt, – wo ist denn“ –

Weiter kam er nicht, denn jetzt gewahrte Gerda Andrees Gestalt neben dem Schrank, stieß ein entsetztes „Ach!“ aus und ließ die Ohren des Kaninchens los. Das kleine Thier, das sich in seiner Zwangslage sehr unglücklich gefühlt hatte, galoppierte in kurzen Sprüngen durch das Zimmer, Hafis that einen wilden Satz von der Sofalehne herab und jagte fauchend hinter dem Flüchtling her, Gerda, die mit Recht das Leben des Ausreißers für bedroht ansah, riß eine Serviette vom Kaffeetisch und verfolgte den Kater mit lautem Wehgeschrei, Herr Grimm endlich wollte seiner Autorität über den Hausgenossen Geltung verschaffen und rief in warnendem Ton, der sich bis zur Drohung steigerte: „Hafis! Hafis!“ Andree mußte lachen, besann sich aber nicht lange und nahm an der Jagd theil, indem er zuerst den naheliegenden Gedanken, das Terrain zu beschränken, in die That umzusetzen suchte. Leider schon zu spät, denn als er gerade die zum Nebenzimmer führende Thür, die offen stand, erreicht hatte, huschte ihm das Kaninchen zwischen den Füßen durch und flüchtete in das nächste Gemach, Hafis selbstverständlich hinterher. Es gab Getümmel, Geschrei, Rufen und Fragen ohne Ende. „Hier ist es!“ „Nein, hier, hinter dem Vorhang!“ [743] „Hafis, hierher!“ „Einen Stock!“ „Ja, den habe ich hier nicht!“ „Um Gotteswillen, es wird noch die Decke herunterreißen!“ – Und Andree mit seinen langen Beinen sprang durch die Zimmer, als sei die Kaninchenjagd sein täglicher Sport, Herr Grimm, um sein Eigenthum und um Hafis besorgt, lief athemlos von einer Ecke zur andern, Gerda lachte und jammerte in einem Athem, und alle zusammen vollführen einen solchen Heidenlärm, daß die alte Müller herbeistürzte und wie festgenagelt, ein Bild des Entsetzens, in der Thür stehen blieb, von der unheimlichen Befürchtung ergriffen, bei einem von den drei wie rasend Umherjagenden sei die Tobsucht ausgebrochen.

Das findige Kaninchen aber, der Urheber des ganzen Lärms, ließ sich von niemand greifen, weder von den Männern, noch von Gerda, noch auch von Hafis. In unvorhergesehenen Augenblicken schoß es aus irgend einem Winkel hervor in ein neues Versteck, und zuletzt kroch es unter einen Schrank, der auf so niedrigen Füßen stand, daß selbst der geschmeidige Hafis hierher nicht folgen konnte.

Erschöpft und schwerathmend umzingelten die Jäger den Schlupfwinkel und setzten das Kaninchen in Belagerungszustand. Frau Müller wurde angewiesen, sich mit Hafis zu entfernen, was erst nach einiger Zeit gelang, denn die Perserkatze, in der das Raubthier leider ganz erwacht war, umschlich mit lüsternen Blicken die Verschanzung und ließ sich lange vergebens locken, ehe sie mit Frau Müller abging.

„Jetzt hole ich Ihren Stock, Onkel Grimm!“ erklärte Gerda. „Ich weiß ja, wo er steht!“

„Thu das, mein Kind, und wenn Du die kleine Kreatur erwischt hast, dann bringe sie in den Verschlag, wo die Eimer und Besen stehen, da kann sie keinen Schaden anrichten!“

Sehr verschüchtert und verängstigt kam das Kaninchen endlich zum Vorschein, und Gerda begrüßte es mit Entzücken.

„Da ist es! Onkel Grimm, ich hab’ es! Sehen Sie nur, Herr Andree, ganz klare, rothe Augen hat es in seinem weißen Gesichtchen! Ist es nicht niedlich? Es hat sich fürchterlich entsetzt, sein kleines Herz klopft so rasch unter meiner Hand. Wenn Hafis es gepackt hätte, ich kann es nicht ausdenken!“

Sie drückte zärtlich ihr Gesicht in das weiße Fell des Thierchens und ging, es in seinen Verschlag zu setzen.

Als sie dann wieder ins Wohnzimmer zurückkam und nun mit ganz gesetzter Miene den beiden Herren gegenüber Platz nahm, überwältigte sie die Erinnerung an die soeben erlebte komische Scene dermaßen, daß sie, nach einigen völlig nutzlosen Bemühungen, ernst zu bleiben, mit einem Mal in ein schallendes, frohes Gelächter ausbrach.

Die zwei stimmten ohne weiteres mit ein, und Herr Grimm wischte sich zuletzt die Thränen aus den Augen.

„Du Schelm, Du Wildfang!“ drohte er Gerda, „daran bist Du mit Deinem Kaninchen schuld!“

„Seien Sie nicht böse, Onkelchen!“ Sie rieb ihre Wange an seinem Sammetrock wie ein schmeichelndes Kätzchen. „Ich bringe Ihnen nie wieder eines!“

„Wer ist denn ‚sie‘, die Ihnen das Thierchen fortnehmen oder totmachen wollte?“ fragte Andree. „Gewiß Frau Willmers, nicht wahr.“

Gerda schlug die Augen nieder und begnügte sich, zu antworten: „Frau Willmers kann sehr böse sein!“

Es entstand eine kleine Stille.

„Und wie steht’s mit den Verbis auf mi?“ examinierte Andree neckisch weiter.

„Ach, erinnern Sie mich nur nicht daran! Denken Sie, ich kann sie noch nicht! Wolf auch nicht! Doktor Winkler war ganz ärgerlich auf uns und sagte, wir hätten für Grammatik gar keinen Kopf. Darin hat er auch recht. Für die alten Sprachen sind wir verloren!“

„Freuen Sie sich auf den Aufenthalt in Uhlenhorst?“ fragte Andree das junge Mädchen.

Sie zog nachdenklich die Augenbrauen hoch. „Ach – ich weiß nicht recht – der Garten dort ist sehr hübsch – aber wir haben immer soviel Besuch, ich kann nie nach Herzenslust darin umhertoben. Mit mir ist es schon immer dasselbe, wo ich auch bin!“

„Das Umhertoben schickt sich auch für Dich wirklich nicht mehr ganz!“ lächelte Herr Grimm.

Gerda zog ein Gesicht, als ob sie weinen wollte.

„Was soll ich denn eigentlich?“ rief sie mit mühsam unterdrückter Heftigkeit im Ton. „Wenn ich irgendwie nur den kleinsten Wunsch laut werden laß’, wenn ich einmal wage, mitzureden, da heißt es gleich: Was fällt Dir ein? Du bist ja noch ein Kind; wie kannst Du es wagen, eine Meinung zu haben, einen Anspruch zu machen? – Und bin ich einmal wild mit Wolf und freu’ mich an kleinen Dingen und bin wie ein Kind – da werd’ ich angeschrieen: Schämst Du Dich nicht? Solch ein großes Mädchen und beträgt sich wie ein ungezogener Junge! Aus Dir wird nie im Leben eine wirkliche Dame werden – man kann Dich nie in die Welt einführen!“

Die ganze Bitterkeit des beiseite geschobenen Kindes klang in diesen Worten wieder, aber auch dessen ganze Liebenswürdigkeit brach durch, als Gerda dem väterlichen Freunde ihre Hand über den Tisch hinüberreichte und sagte: „Ja, Onkel Grimm, wenn Sie auch mitgingen!“

„Besucht Sie denn Herr Grimm nicht auf der Uhlenhorst?“ forschte Andree befremdet, erhielt aber ein kurzes „Nein“ zur Antwort.

Gerda hatte die beiden Arme vor sich auf den Tisch gestützt und starrte vor sich nieder. Ihre Haltung war nachlässig, ihr Benehmen ungleich … sie hatte wirklich gar keine Manieren. Die Röthe, welche die lebhafte Bewegung zuvor ihr ins Gesicht getrieben, hatte dies schmale Antlitz ein wenig belebter und jugendlicher erscheinen lassen, jetzt war es wieder von eintöniger Blässe und düster im Ausdruck. Die großen grauen Augen, von sehr dichten schwarzen Wimpern und Brauen begrenzt, hätten hübsch sein können ohne den mißtrauisch prüfenden, grübelnden Blick, der fast beständig darin wohnte. Gerda trug wieder das graue Kleid, in dem Andree sie damals zuerst auf der Treppe und dann auch beim Ballfest gesehen hatte. Es saß ihr schlecht, und ihre ungelenken Glieder schienen sich dagegen zu sträuben, es tragen zu müssen. Sie sah jetzt von der Tischplatte, an der ihre Blicke eine ganze Weile gehaftet hatten, auf und begegnete Andrees Augen, die mit einem ernsten, messenden Ausdruck auf sie gerichtet waren. Sie nahm die Arme vom Tisch, richtete sich straff auf und wurde roth.

„Nun, Maus“ – Herr Grimm, der das kleine Manöver wohl bemerkt hatte und Gerda über die Verlegenheit forthelfen wollte, nahm sie beim Kinn und drehte ihr Gesicht zu sich herum – „hattest Du mir denn heute nur das Kaninchen in Pension zu geben, oder hast Du noch sonst etwas auf dem Herzen gehabt, als Du kamst?“

Sie warf ihm einen raschen Blick zu, der ein „Später!“ bedeutete, und sagte zugleich lebhaft:

„Ja, ich hab’ etwas – etwas Wunderschönes sogar! Denken Sie sich, Onkel, heut’ vormittag war die Prinzessin ausgefahren, und vor der lateinischen Stunde bin ich ein paar Minuten in ihren Salon geschlüpft – Frau Willmers, der alte Drache, hatte Besuch bekommen – und da sah ich etwas – etwas ganz Neues, es kann erst ein paar Tage da sein – ach Gott, nein, zu schön! Eine Büste also, eine Marmorbüste von der Prinzessin selbst, auf einer schwarzen Ebenholzsäule – zum Sprechen ähnlich – ach – und entzückend – und entzückend!“

Ganz außer Athem hielt sie inne, und jetzt kamen auch die Augen, die vor Begeisterung dunkel leuchteten, zur Geltung.

„Wer hat sie denn gemacht? Wie ist Stella dazu gekommen?“ fragte Herr Grimm.

„Weiß ich nicht – weiß ich alles nicht. Wer wird mir etwas sagen, Onkel? Und ich hätt’ es so schrecklich gern gewußt, wie das alles zusammenhängt!“

„So fragen Sie doch einfach Ihre Schwester, die weiß es am besten!“ sagte Andree.

Gerda schüttelte stumm den Kopf, ihr Blick wurde verschlossen und trübe.

„Dann will ich es Ihnen sagen!“ fuhr er freundlich fort. „Diese Büste hat ein junger Bildhauer in Ron angefertigt und mir mitgegeben. Er hat Ihre schöne Schwester sehr – sehr – verehrt, und als Zeichen dieser seiner Verehrung hat er ihr dies Kunstwerk geschickt!“

„Ach,“ fiel sie ihm ungestüm ins Wort, das ist gewiß Werner Troost gewesen! Wissen Sie noch, Onkel Grimm, vor ein paar Jahren war er hier – vielleicht sind’s auch noch nicht [744] volle zwei Jahre! Ich hab’ ihn oft gesehen, wenn er zu uns kam, er war wunderhübsch und immer so freundlich zu mir und Wolf. Mir hat er einen reizenden kleinen Amor modelliert – so groß nur – den hab’ ich noch, und für Wolf einen Neptun mit dem Dreizack. Ja, und ich glaube, er ist in Stella sehr verliebt gewesen!“

„Sieh’ einmal, was Du nicht alles weißt!“ warf Onkel Grimm dazwischen.

„O bitte, Herr Andree,“ fuhr das Mädchen im vollen Eifer fort, ohne die Unterbrechung zu beachten, „sagen Sie mir, ob es Werner Troost gewesen ist, der die Büste gemacht hat! War er es? Sie nicken – also richtig, er war es – sehen Sie, Onkel, ich hab’ das Rechte getroffen! Lebt er noch in Rom? Was thut er da? Warum kommt er nicht mehr hierher nach Hamburg zurück? Ich hatte ihn so lieb! Er ist nicht mehr in Rom? Ja - wo ist er denn geblieben?“

„Fräulein Gerda,“ sagte Andree ernst, als in der sich überstürzenden Fluth von Fragen und Ausrufen eine kleine Pause eintrat, „es thut mir leid, es Ihnen, da Sie Werner Troost lieb hatten wie wohl jeder, der ihn gekannt hat, sagen zu müssen: mein Freund ist im März in Rom gestorben!“

Gerda starrte ungläubig zu ihm hinüber, dann hob ein krampfhaftes Aufseufzen ihre Brust, sie warf die verschränkten Arme quer über den Tisch, legte den Kopf darauf und brach in ein lautes, bitterliches Weinen aus.

Und Andree that dieser jugendliche, rückhaltlose Schmerz seltsam wohl. Der Verstorbene war in seiner sonnig liebenswürdigen Weise gut zu diesem Kinde gewesen, und nun das Kind seinen Tod erfuhr, erinnerte es sich dessen und weinte seine heißen, ungestümen Kinderthränen.

Die ältere Schwester hatte ihr soviel tieferes Leid still getragen, sie verstand eben schon die schwere Kunst der Selbstbeherrschung … das Kind aber, dem nur selten ein freundliches Wort zutheil wurde, zahlte den Tribut seines Schmerzes in der einzigen Form, die es dafür hatte!

„Wie – wie hat er denn so schnell sterben können?“ Gerda hob ihr thränennasses Gesicht empor, sie sprach schluchzend und stockend. „Er war ja so jung – und so gesund – und schön!“

„Das war er,“ nickte Herr Grimm. „Ich habe ihn nur selten und flüchtig zu Gesicht bekommen, aber jedesmal meine Freude an ihm gehabt. Werner Troost – ja, ja, ganz recht! Ein schlanker, blühender Mann, mehr Jüngling als Mann, möchte ich sagen – mit schönen dunklen Augen und gelocktem Haar; eine Persönlichkeit, die man nicht leicht vergißt.“

„Ach, und er konnte so lustig sein, so fröhlich lachen!“ klagte Gerda. „Einmal hat er sich mit Wolf und mir im Garten auf der Uhlenhorst gejagt und mit uns Haselnüsse gesucht und sich so gefreut, als wir ein kleines Eichkätzchen sahen. Die Prinzessin war damals nicht zu Hause, und da hat er mit uns gespielt, als ob er selber noch ein Kind wäre, und gesagt, wir sollten ihn Werner nennen und Du! Und einmal hat er zu mir gesagt – nein – das kann ich bloß Onkel Grimm allein erzählen!“

„Mir also nicht?“ fragte Andree.

„Nein, Ihnen nicht! Aber Sie müssen mir erzählen, wie Werner gestorben ist!“

Das that Andree, und sein Bericht fiel ausführlicher und eingehender aus als vor acht Tagen Stella gegenüber, er fühlte sich freier vor dieser jetzigen Zuhörerschaft. Gerda bekam immer wieder Thränen in die Augen während seiner Erzählung, und als er zu Ende war, saß sie, ohne sich zu rühren, mit einem sehr nachdenklichen Gesicht da. Andree hätte gern ihre Gedanken erfahren, auch den Ausspruch, den sie zuvor unterdrückt hatte, aber er wußte es nun schon: was dies Kind nicht sagen wollte, das ließ es sich auch durch keine Ueberredung entlocken.

„Weiß Stella das alles? Haben Sie es ihr so erzählt wie eben jetzt uns?“ fragte endlich Gerda leise aus ihrem Sinnen heraus.

„Ja!“ antwortete Andree kurz.

Sie schien noch mehr fragen zu wollen, unterdrückte es aber. Dann, nach einer Pause:

„Er fand sie so hinreißend schön, ich weiß es! Darum hat er sie ja auch gemeißelt – ich kann mir’s denken! – Und wie hat er mich ausgelacht, als ich einmal so unglücklich war über meine Häßlichkeit!“

„Möchten Sie denn so sehr gern schön sein, Gerda?“ fragte Andree lächelnd.

Sie nickte lebhaft. „Ja!“

„Nun, und wenn Sie es wären – was thäten Sie wohl?“

„Ach, das ist doch leicht zu sagen: ich würde glücklich! Aber was hilft das alles: ich bleib’ nun, wie ich eben bin!“

„Glaub’ ich nicht!“ erwiderte er mit bedächtigem Ernst. „Sie sehen in zwei, drei Jahren ganz anders aus!“

„Meinen Sie – hübscher?“ fragte sie eifrig dagegen. „Ach, ich glaub’ es aber nicht!“ klang es in tiefer Muthlosigkeit hinterdrein. „Was an mir soll eigentlich hübsch werden?“ Sie warf einen Seitenblick in den Spiegel, der ihre Gestalt in dem schlecht sitzenden Kleide, ihr Gesicht mit den verschwollenen Augen wiedergab. „Nein, das kann ich mir nicht denken! Und dazu mein Name: Gerda! War’s nicht irgend eine Blumen- oder Frühlings- oder Liebesgöttin, die so hieß? Ich und eine junge Göttin! Für andere ist’s zum Lachen und für mich zum Weinen. Meinem armen Bruder geht’s ebenso. Den haben sie Wolfgang genannt, auf daß er ein zweiter Goethe oder ein zweiter Mozart werde. Nichts davon! Er kann keine Melodie behalten und hat in seinem Leben noch keine zwei Reime zusammengebracht. Eigentlich müßte man erst dann seinen Namen bekommen, wenn es sich feststellen läßt, wie man aussieht!“

Herr Grimm lachte über diese in altklugem Ton ausgekramte Weisheit, und Andree erhob sich, um zu gehen.

„Ach, Sie wollen schon fort?“ sagte Herr Grimm und klopfte seinem Gast gemüthlich auf die Schulter. „Aber, nicht wahr, wenn es Ihnen in meinem Nest gefallen hat – und es trägt den Anschein, als sei es so – dann kommen Sie bald einmal wieder?“

„So bald, daß Sie sich wundern sollen! Mir ist hier so behaglich und ‚zu Hause‘ zu Muthe geworden wie lange nicht. Auf Wiedersehen, Herr Grimm! Adieu, Fräulein Gerda!“

„Ach – bitte – bloß Gerda! Mich nennt eigentlich noch kein Mensch Fräulein, trotzdem ich so groß bin! Einmal haben Sie heute auch „Gerda“ gesagt, und darüber habe ich mich so gefreut!“

„Habe ich das wirklich? Nun, die Freude sollen Sie noch oft erleben, ich sage mit Vergnügen Gerda zu Ihnen!“

„Werden Sie auch zu uns herauskommen, wenn wir auf Uhlenhorst sind?“

„Ich denke – ich hoffe – aber das hängt nicht von mir ab! Wollen Sie Ihrer Schwester sagen, daß ich ihres Rufs gewärtig bin, und daß es mich glücklich machen würde, wenn sie das Versprechen von jenem Ballabend einlösen möchte. Werden Sie ihr das wörtlich bestellen, Gerda?“

Sie stand vor ihm mit schlaff herunterhängenden Armen und sah mit großen, traurigen Augen zu ihm in die Höhe. Sein Gesicht spiegelte eine mühsam niedergehaltene innere Bewegung wieder – das kaum dem Kindesalter entwachsene Mädchen aber hatte es noch nicht gelernt, seine Mienen zu beherrschen; es sah geradezu unglücklich aus.

Sie nickte zu seiner letzten Frage ganz mechanisch mit dem Kopf, erwiderte nicht seinen herzhaften Händedruck und hörte theilnahmlos zu, wie er von Herrn Grimm endgültig Abschied nahm. Als dieser, der seinen Gast höflich hinausbegleitete, wieder zurückkam, stand Gerda mit finster zusammengezogenen Brauen auf derselben Stelle und starrte vor sich nieder.

„Was ist das für ein Kassandragesicht!“ rief Herr Grimm scherzend und hob ihr Kinn mit sanftem Griff in die Höhe. „Was hat Dir denn unser liebenswürdiger Gast zuleide gethan, daß Du aussiehst wie Hans Huckebein, der Unglücksrabe? Was denkst Du von ihm, Gerda? Wie?“

„Denken?“ rief sie hart. „Dasselbe, was Sie auch wissen, Onkel – daß er in Stella verliebt ist wie alle – wie alle!“

„Hm!“ Er wiegte langsam seinen weißen Kopf hin und her. „Es könnte sein, daß Du recht hast – mir schien es auch so!“

„Schien? Sie wissen, daß es so ist - nicht nur so scheint! Er hat solch treue, gute Augen, Onkel, und er wird sehr unglücklich sein, wenn’s ihm geht wie den andern. Er ist zu gut dazu, zehntausendmal zu gut!“

„Aber Kind! Wenn sie diesen sympathischen und, wie ich höre, als Künstler hochbedeutenden Menschen vielleicht wirklich lieben lernt –“

[745]

Die Beisetzung des Königs Karl von Württemberg.
Nach einer Zeichnung von R. E. Kepler.

[746] „Stella und lieben! Sie wissen recht gut, Onkel, daß sie niemand liebt als nur sich selbst! Und gar jetzt, wo sie alles dransetzt, um den Prinzen zu heiraten!“

„Den Prinzen? Woher weißt Du das?“

„Einerlei woher – ich weiß es ganz genau! Aber sie wird sich von diesem –“ Gerda nickte nach dem Platz hinüber, auf dem Andree zuvor gesessen hatte, als befände er sich noch dort „von diesem malen lassen und wird ihn anlocken und ihn glauben machen, sie sei verliebt in ihn, und dann wird sie ihn fortstoßen und lachen und sich freuen. Ja, ja, Onkel, und wenn Sie noch so entrüstet aussehen! Ich weiß, was ich rede. Sie hat zur Willmers gesagt, sie habe schon eine ganze Reihe von Freiern aufzuweisen wie eine Schnur von Drosseln, die in der Schlinge zappeln, aber es sei ihr noch lange, lange nicht genug, denn dies wäre ihr bester Sport. Ja, das hat sie gesagt, ich hab’ es mit meinen eigenen Ohren gehört. Und sie weiß, daß ich es zufällig damals gehört habe, und weil sie überzeugt ist, daß ich sie durchschaue, darum kann sie mich nicht leiden, darum quält sie mich und verfolgt mich und nimmt mir jede kleinste Freude. Weil sie es will, muß ich Lateinisch und Griechisch lernen, was mir eine Strafe ist und was ich nie in meinem ganzen Leben werde brauchen können. Weil sie es will, muß ich schlechte Kleider tragen, die mich noch häßlicher machen, als ich schon bin, und darf mit keinem andern Mädchen umgehen und mir niemand einladen und nie lustig sein wie alle andern. Weil sie es will, darf ich nicht ins Freie hinaus und nicht aufs Wasser – sie reitet und fährt spazieren, und ich habe nichts – nichts – und ich wünsche mir so für mein Leben ein Pferdchen!“

Sie schluchzte in kindischem Schmerz laut auf, unterdrückte es aber rasch.

„Ich weiß, Onkel, Sie haben gesagt, ich soll mich nicht über meine Angehörigen beklagen, das sei häßlich – und ich thue es ja auch sonst nicht, bei keinem Menschen, nur bei Ihnen! Warum ist auch der liebe Gott so ungerecht und giebt dem einen alles – Schönheit und Verstand und Liebreiz und ein Lächeln und eine Stimme, die jeden bezaubert und die klügsten Menschen zu Narren macht – und der andere geht ganz leer aus und steht daneben und sieht, wie alles zusammenhängt, und hat nichts. Darf auch nichts sagen – denn wer würde ihm glauben und nicht denken, es sei erbärmlicher Neid? Alles, alles wendet sich ihr zu, und alles wird ihr verziehen, alles geht ihr hin – denn sie ist ja so wunderschön! Jetzt hat sie sich ein neues Zimmer für die Villa bestellt, die ganze Einrichtung aus Porzellan! Aus dem feinsten, schönsten, theuersten Porzellan – der Kamin, die Wände, die Spiegelrahmen – alles! Unser Pierre weiß, wieviel es kostet, und hat es mir gesagt. Und für mich ist nicht einmal ein neues Sommerkleid zum Gartenfest gekauft worden, und wie neulich eine arme Frau kam und so jämmerlich weinte, weil sie vier Kinderchen habe und einen kranken Mann, da hat Stella gesagt, das sei alles gewiß von einem Ende zum andern erlogen, und hat ihr nichts gegeben, und für ein einziges Kleid giebt sie oft fünf- bis achthundert Mark aus! Die Fremden denken alle, Stella sei ein Engel, und sie sieht ja auch aus wie einer – aber vorgestern hat sie Dudu eingesperrt und hungern lassen, weil er ihr ein kostbares gesticktes Kleid zerrissen hat, als er zufällig mit dem Fuß drauf trat. Als das Mohrchen hier ankam und etwas Neues war, da hat sie es gehätschelt und überall mitgenommen und über alles Dumme, was es that und sagte, gelacht und es mit Naschwerk gefüttert, und alle Bekannten und Verehrer haben es natürlich nachgemacht und auch gelacht und Dudu auch beschenkt und verwöhnt. Aber wie das arme Mohrchen nun nichts anderes mehr wußte und immer dasselbe kauderwelsche Geplapper und dieselben Faxen vorbrachte, da hat sie es in die Ecke geworfen, als wär’ es eine Puppe von Hobelspähnen und Zeugfetzen und nicht ein armer Mensch. Und er weint manchmal so erbärmlich, und wie friert er in seinem dünnen Affenjäckchen, und neulich hab’ ich mühsam, mühsam aus ihm herausbekommen – denn er kann ja bloß ein Dutzend deutsche Worte und ist wirklich dumm! – daß er so schreckliches Heimweh habe nach seinem heißen Afrika. Ach, er thut mir zu leid!“

Gerda hielt erschöpft inne, ihr war der Athem bei dem überstürzten Sprechen ausgegangen. Unter ihren dichten Wimpern hervor stahl sich ein kurzer, ängstlicher Blick zu Onkel Grimms Gesicht empor. Als sie gewahr wurde, daß er nicht böse, sondern ernst und theilnahmvoll aussah, seufzte sie erleichtert auf.

„Gott, Onkel Grimm, Sie halten mich für eine schlechte Schwester, und ich bin auch eine, ich fühl’ es ja selbst – aber ich kann nicht anders! Ich wäre eine gute Schwester geworden, stolz auf Stella und ohne Neid, ich hätte sie verehrt und bewundert, wenn sie ein wenig, nur ein klein wenig lieb mit mir gewesen wäre! Aber mich hat niemand lieb, man hat mich im ganzen Hause herumgestoßen und herumgeschoben, als wenn ich allen nur im Wege wäre, und keines hat sich um mich bekümmert und gefragt, ob ich leide. Wie ich noch ein ganzes Kind war, da hat Stella sich sorglos gehen lassen in ihrer Gefallsucht und hat geglaubt, ich verstehe das noch nicht; aber ich verstand recht gut. Sie hat die Herren so angesehen und so angelächelt, daß sie gar nicht anders konnten als annehmen, sie habe sie auch ungeheuer gern – und wenn dann die Briefe kamen und die Anfragen bei Papa, dann hieß es „Nein“, und sie lachte über die einfältigen, eingebildeten Männer. Und mit Werner Troost ist sie heimlich verlobt gewesen – ganz gewiß, Onkel, es ist Wahrheit! Ich wollte es bloß vorhin nicht sagen, als Herr Andree hier war, aber ich hab’ es einmal im Garten draußen auf der Uhlenhorst mit angesehen, wie sie sich geküßt haben. Und jetzt werd’ ich es Ihnen auch erzählen, was ich vor einer Weile nicht sagen wollte – das, was Werner Troost einmal zu mir gesagt hat. Es war damals, als Stella nicht zu Hause war und er mit Wolf und mir spielte und wir das Eichhörnchen sahen. Da verlangte er, wir sollten ihn Werner und Du nennen, und Wolfgang war auch gleich bereit – aber ich wollte nicht und meinte, das schicke sich nicht. Da bekam er mich bei meinem Zopf zu fassen und zog mich in seine Arme und flüsterte mir zu: ‚Und Du sollst mich Werner nennen und duzen, hörst Du? Seinen Schwager muß man Du nennen, kleine Schwägerin!‘ Gleich darauf legte er erschrocken den Finger an die Lippen: ‚Aber schweigen, Gerda! Versprichst Du mir? Gegen jedermann, es sei, wer es sei!‘ Ich versprach’s und ich hab’ es auch gehalten – aber wozu jetzt? Werner Troost ist tot! – Sie, Onkel – für mich geht das nicht und würde auch gar keinen Eindruck machen – Sie müssen Herrn Andree sagen, daß Stella ganz bestimmt heimlich mit Werner Troost verlobt gewesen ist, und Sie müssen ihn vor ihr warnen!“

„Kind, das Du bist! Glaubst Du, das würde etwas helfen?“ fragte Grimm mit einem wehmüthigen Lächeln.

Gerda sah ihn erschrocken an.

„Sie meinen, es würde gar nichts helfen?“

„Helfen, Gerda? Im Gegentheil, es würde nur Oel ins Feuer gießen und ein falsches Licht auf den Warner werfen. Wenn es sonst von Nutzen wäre, würde ich das letztere gern ertragen.“

Sie waren beide eine Weile in trübes Sinnen verloren.

„Läßt sich nichts thun, Onkel?“ fragte endlich Gerda schüchtern.

„Nein, mein kleines Mädchen! Nichts, als dem lieben Gott vertrauen!“

„Ach! Der liebe Gott!“ Sie warf trotzig die Lippen auf.

„Du glaubst nicht alt ihn?“ fragte Herr Grimm sehr ernst.

„Ich möcht’ es schon thun, denn es muß schön sein, zu denken, er thut alles zu unserem Besten. Aber ich kann gar nicht recht! Wissen Sie, Onkel –“ Gerda trat nahe heran und flüsterte ihr Geheimniß dem alten Herrn ins Ohr – „bei uns im Hause glaubt kein Mensch an den lieben Gott, niemand will etwas von ihm wissen. Ich muß mich auch oft im stillen wundern, daß den einen alles glückt und den andern alles mißglückt – ist das gerecht? Die Armen müßten doch durch irgend etwas anderes dafür entschädigt werden, daß sie soviel entbehren müssen!“

„Das geschieht auch, mein Kind!“

„Wirklich, Onkel Grimm?“ fragte Gerda ungläubig. „Aber ich sehe es nicht!“

Du siehst es nicht, weil Du noch sehr jung bist und die Menschen noch nicht kennst. Wenn Du erst älter sein und mehr Gelegenheit haben wirst, Dich im Leben umzusehen, dann wirst Du erkennen, daß, trotzdem wir alle uns Christen nennen, in jedem Hause fast ein Götzenbild aufgestellt ist, dem die Menschen Opfer bringen und dienen. Hier ist es der Reichthum, dort Macht und Stellung, da der Ruhm, der Ehrgeiz, die Schönheit, – alles dies sind Götzenbilder, und die Leute, die sich ihnen unterwerfen, [747] sind solche, für die der Spruch: ‚Du sollst keine anderen Götter haben neben mir!‘ ein leerer Schall ohne jede Bedeutung ist!“

„Das ist wahr, Onkel!“ sagte Gerda mit Nachdruck. „Wir haben ja auch unser Götzenbild im Hause, und Abgötterei wird genug damit getrieben. Aber nun müßte Gott kommen und zeigen, daß er der Herr ist, er allein, – nicht wahr?“

„Das thut er auch. Gerda, wahr und wahrhaftig, wenn auch oft spät und oft auf wunderbaren Wegen. Ich hab’ es erfahren, mein Kind, ich könnte es mit Beispielen belegen, wie mancher beneidet und glücklich gepriesen wird und doch ein bedauernswerther Mensch ist!“

„Eigentlich“, meinte Gerda mit blitzenden Augen, „müßte ’mal wieder eine Sintfluth kommen und all die Götzenbilder und Götzenanbeter verschlingen, und bloß die Gerechten müßten übrig bleiben!“

„Rechnest Du Dich unter die?“ fragte Herr Grimm lächelnd.

Das Mädchen sah den alten Freund verdutzt an, – es zuckte ihr um die Lippen wie ausbrechendes Weinen.

„Sie meinen, Onkel, weil ich schlecht von den Eltern und von Stella gesprochen habe? Aber soll ich denn lügen und zu Ihnen kommen und sagen, sie sind gut und liebevoll zu mir, wenn sie doch das Gegentheil thun? Und immer schweigen und schweigen und alles hinunterschlucken, das kann ich auch nicht! Wer mich liebevoll behandelt, der kann alles, alles aus mir machen, und ich bin Ihnen auch dankbar und habe Sie sehr lieb.“

Gerda legte ihre Arme zutraulich um den braunen Sammetrock und küßte Onkel Grimm geradeswegs auf den Mund.

„Dank schön!“ sagte er lächelnd. „Und komm bald wieder, mein Kind!“

„Ja, Onkel, aber jetzt muß ich laufen, – wahrhaftig, es ist schon ganz dunkel, und ich habe noch zur Litteraturstunde die Biographie von Martin Opitz zu lernen. Offen gesagt, ich mach’ mir nichts aus dem Boberschwan! Aber nun adieu, Onkel! Und vergessen Sie nicht, dem Kaninchen etwas zu essen zu geben und den Hafis zu bewachen, daß er keine Raubgelüste empfindet!“

Der Onkel nickte und ging zu einem Schrank, dem er ein Päckchen entnahm.

„Hier, Du kleines Süßmaul, – die Chokolade nimmst Du mit!“

„Danke schön, Onkel! Wolf bekommt auch etwas davon ab! Wenn ich Sie nicht hätte …“

Sie schob das Päckchen in ihre Kleidertasche, warf dem Onkel eine Kußhand zu und wirbelte aus dem Zimmer.




14.

Jetzt endlich hat der Frühling Ernst gemacht und die alte Hansestadt mit seinem ganzen Segen überschüttet. Nun prangt sie im hellen Festkleide.

Bis in die schmalen Straßen, die Twieten, hinein funkelt das Sonnengold, und das Wasser in den Fleeten glitzert märchenhaft. die Sonnenstrahlen aber, die hier so mühsam durch Spalten und Risse schlüpfen müssen, haben draußen freieres Spiel. Da tanzen sie lustig die Außenalster entlang, lassen die Schaufeln der Dampfschiffe Massen von glitzerndem Schaum aufwühlen und leuchtende Funken von den Rudern der Jollenführer herabtropfen, da huschen sie über die lachenden Ufer und wärmen die spröden Knospen der Fruchtbäume, bis sie sich aufthun, langsam und scheu, um den Lenz bis tief in ihr kleines Blüthenherz blicken zu lassen, – und da stehen nun die braunen, stämmigen Apfelbäume mit ihrer weißrosigen Last, die hohen Birnbäume mit ihren weitausladenden schneeigen Kronen und die Kirsch- und Pflaumenbäume in ihrem duftigen zarten Kleide, das in jedem kosenden Windeshauch süß erschauert.

„Hinaus aufs Wasser!“ „Hinaus zum Fährhaus auf der Uhlenhorst!“ Das war jetzt die Losung für Hamburger und Fremde. Die Dampfbote und Jollen zeigten sich voll beladen, – wer mochte bei dem herrlichen, warmen Maiwetter einen andern Weg wählen?

Auch Se. Durchlaucht Fürst Riantzew sammt seiner hochgeborenen Gemahlin und den Kindern, selbstverständlich ein kleines Gefolge von Dienern und Bonnen mit einbegriffen, wünschten sich das Vergnügen da draußen einmal anzusehen, und da die kleine Mascha fast hergestellt und ihr viel Bewegung im Freien verordnet worden war, so ließ der Fürst einen kleinen Dampfer miethen – denn mit „fahrendem Volk“ konnte er doch unmöglich gemeinschaftliche Sache machen! – und begab sich mit seiner Familie bald nach genossenem Diner auf die Reise. „Die kleine Durchlaucht,“ Prinz Alexander Riantzew, des Fürsten Bruder, war leider nicht mit von der Partie. Der Fürst hätte so heiter sein können, da sein Lieblingskind genesen und das Wetter so entzückend war, aber sein erlauchter Herr Bruder machte ihm Sorge. Er wich ihm aus, er ließ sich so wenig wie irgend möglich blicken, er war, wenn sie je einmal zusammentrafen, zerstreut und einsilbig und beschränkte seine Unterhaltung auf das oberflächlichste Gebiet. „Er muß wieder gespielt haben!“ sagte sich der Fürst mit einiger Verstimmung. Einmal hatte er seine sorgenvollen Gedanken nach einer anderen Richtung wandern lassen, davon aber bald Abstand genommen. Der Prinz hatte ihn ja „auf seine Ehre und sein Gewissen“ versichert, daß er die bewußte Hamburger Familie nicht wieder aufgesucht habe. Nun also! Auf die Ehre und das Gewissen eines fürstlich Riantzewschen Sprossen konnte man sich schon verlassen! Daß diese Betheurung in der Vergangenheit lag und der Vereidigte sich geschickt einen Vorbehalt für die Zukunft offen gelassen haben könnte, kam dem Fürsten nicht in den Sinn. Solche Haarspaltereien lagen ihm selbst ganz fern, daher vermuthete er sie auch nicht bei seinem Herrn Bruder.

Die Außenalster wimmelte von Fahrzeugen; sie alle suchten langsamer zu fahren oder nahe am Bord des fürstlichen Dampfers vorüberzustreichen, sobald dieser in ihre Nähe kam. Seltsam genug sah ja auch die Gesellschaft aus, die dieser Dampfer trug. Unter einem sehr auffallend grellroth- und goldgestreiften seidenen Zeltdach lag die Fürstin, auf weichen Polstern lang ausgestreckt wie auf Makarts bekanntem Gemälde die ägyptische Kleopatra, mit der sie im übrigen nicht die leiseste Aehnlichkeit hatte. Ihre zarte, ätherische Schönheit hatte viel eingebüßt, nur ihr berühmtes Blondhaar, das in langen Locken niederfiel, war ihr in seiner ganzen Herrlichkeit geblieben. Sie trug ein aus blauer und röthlicher Seide zusammengewirktes Kleid, das im Sonnenlicht blendend schillerte, einen Goldgürtel um die biegsame Taille und einen Pariser Hut mit bunten Windenblüthen. Hinter ihr stand eine Georgierin in ihrer malerischen Landestracht, ein hübsches junges Geschöpf mit brennenden Augen, und hielt einen großen rothseidenen Sonnenschirm über ihre Gebieterin, die von dem Wiederschein der Seide in eine sanfte Rosengluth getaucht wurde. Ein paar Diener steckten in ihren rumänischen Nationalkostümen, dann war noch eine flinke, kleine französische Bonne da, ein schlanker, junger Mann, der Privatsekretär des Fürsten, und eine behäbige Russin, welche die Kinder beaufsichtigen sollte. Diese letzteren waren nach englischer Manier gekleidet, was besagen will, daß sie sehr wenig bekleidet waren und außer breiten, bunten Schärpen und Mützen und sehr üppigen Haaren möglichst viel von nackten Armen, Schultern und Beinchen sehen ließen. Sie sprangen und hüpften unaufhörlich auf dem Deck des Dampfers kreuz und quer herum und thaten aus Grundsatz niemals das, was man von ihnen verlangte.

Man wollte zum Fährhaus hinauf und fuhr langsam nahe am Ufer hin, um die schönen Gärten der reichen Hamburger mit Muße in Augenschein nehmen zu können. Selbst Madame la princesse hob die Lorgnette an dem langen goldenen Stiel vor die müden Augen und erklärte dem Gemahl in ihrem schleppenden Französisch: „Recht hübsch! Für eine deutsche Stadt recht hübsch!“

Und Fürst Emmerik freute sich, daß seiner unzufriedenen Gemahlin endlich einmal etwas gefiel, und fand es gleichfalls „recht hübsch“.

Der Dampfer war jetzt bis zu einem Garten gekommen, der an Größe und Schönheit die übrigen noch übertraf. Er hatte sehr schöne, alte Bäume, von denen einige bis dicht ans Ufer traten und ihre Zweige tief ins Wasser senkten. In das junge Laub der Buchen und Linden mischten sich die weißbeschneiten Häupter der zahlreichen Obstbäume, über den Rasenflächen lag das flaumige Maigrün in smaragdner Schönheit, und an den großen Bosketts entfalteten sich schon die Blüthen des Roth- und Weißdorns.

Aber dies hübsche Stück Frühlingsgarten war’s nicht allein, was die Blicke der fürstlichen Familie so besonders fesselte.

In der Nähe des Ufers war ein lebendes Bild zu sehen.

[748] Unter einer Gruppe von Apfelbäumen, deren aneinanderstoßende Kronen ein natürliches Schattendach bildeten, stand eine gußeiserne Gartenbank mit niedriger Rücklehne. Auf dieser Bank saß ein weißgekleidetes junges Mädchen, vielmehr, es balancierte auf einer Ecke der Bank wie ein großer weißer Schmetterling, der sich müde geflattert hat und nun für eine Weile hier auszuruhen wünscht. Sie hielt in ihren Händen eine dicke Strähne rother Seide, und vor ihr, etwas niedriger als sie, kauerte auf einem tiefen Rohrsessel ein junger Mann in dunklem Anzug, mit lichtblondem, sorgfältig frisiertem Haar, – mehr war nicht von ihm zu sehen, da er sein Gesicht dem weißgekleideten Mädchen zugewandt hatte und dem Wasser den Rücken zukehrte. Jetzt hob er seine beiden Hände auf, und der Strang rother Seide wanderte von ihr zu ihm hinüber, während sie einen aus Elfenbein geschnitzten Stern aus der Tasche zog und sich dran machte, die Seidenfäden darauf zu wickeln.

Das Mädchen im weißen Kleide war so schön, daß der Fürst einen halblauten Ausruf der Bewunderung ausstieß und sogar seine Gattin ein beifälliges: „Ei, sieh da!“ murmelte. Die völlig unbefangene Art, mit der das wundervolle Geschöpf dicht am Ufer der von Fahrzeugen aller Art belebten Alster saß und Seide wickelte, als sei es ganz allein, wirkte mit, die ganze Scene noch anziehender zu machen. Der Fürst mußte sich sagen, daß er kaum je in seinem vielbewegten Leben etwas so Vollkommenes gesehen hatte, als Gestalt und Gesicht dieses jungen Wesens.

Aber während er sich innerlich diese Kritik gestattete, hatte er zugleich ein unbehagliches Gefühl, und dies bereitete ihm der junge Mann, der da auf dem niedrigen Rohrstuhl saß und die Seide auf den ausgebreiteten Händen hielt. Dem Fürsten kam dieser blonde, schön gestutzte Kopf so seltsam bekannt vor. Das konnte doch nicht … Unsinn! Die Durchlaucht räusperte sich leicht, um ein beklemmendes Gefühl aus der Kehle fortzubekommen.

„Onkel Sascha!“ sagte in diesem Augenblick ein feines Stimmchen neben ihm. Er blickte sich um und gewahrte sein zweites Söhnchen, den kleinen Radu, und der Knirps wies wichtig mit dem ausgestreckten dicken Aermchen auf den blonden Mann am Ufer und wiederholte mit voller Sicherheit: „Onkel Sascha!“

„Wahrhaftig!“ bemerkte Ihre Durchlaucht die Frau Fürstin und hob sich ein paar Zoll von ihrem orientalischen Lager empor, um besser sehen zu können.

Fürst Emmerik biß sich auf die Lippe. War es erhört? Hier saß sein einziger Bruder Alexander, der Sproß eines rein fürstlichen Hauses, und leistete vor aller Welt einem unbekannten Mädchen augenscheinlich mit Entzücken einen Dienst, der schon tausendmal seine Rolle als Vermittler vertraulicher Annäherung im Leben junger Damen und Herren gespielt hat und vermuthlich ebenso oft noch spielen wird.

Zum Ueberfluß kehrte jetzt der junge Mann mit einer raschen Kopfwendung den Vorüberfahrenden sein Profil zu, und nun war keine Täuschung mehr möglich, es war wirklich Zoll für Zoll die „kleine Durchlaucht“, die jetzt glücklich lachend zu der jungen Dame in Weiß emporsah, – sie schüttelte gerade ihr Köpfchen und schien ihm eine Strafrede zu halten, vermuthlich hatte er sie zu viel und die Seide zu wenig angesehen, und es waren ein paar Fäden heruntergeglitten.

„Wie heißt sie?“ fragte die Fürstin ihren Gemahl. Der Dampfer war inzwischen vorübergefahren, und die tief niederhängenden Zweige der alten Bäume hatten das reizende Bild den Blicken entzogen.

„Ich weiß nicht!“ murmelte der Fürst verstimmt. „Ich glaubte, es sei längst vorüber. Man hat mir ihren Namen einmal vor längerer Zeit genannt, ich habe ihn jedoch vergessen. Aber ich werde Sascha den Standpunkt klar machen! Ich möchte nur wissen, was er sich eigentlich denkt!“ (Fortsetzung folgt.)     




Trauerklänge aus Schwaben.

Im Herzen des Schwabenlandes, tief eingebettet in die mächtigen Forsten des Schönbuchs, liegt, nicht gar weit entfernt von der Musenstadt Tübingen, ein alter Klosterbau, die ehemalige Cistercienserabtei Bebenhausen. Längst sind freilich die Mönche verschwunden, und in den Hallen von klassisch schöner Gothik hatte der Herrscher des Landes, König Karl I., sich heimisch gemacht, um hier fernab vom rauschenden Weltgetriebe köstliche Tage der Ruhe zu verbringen oder auch eine fröhliche Jagdgesellschaft um sich zu versammeln. Auch dieses Jahr hatten die schönen Herbsttage den König nach jenem stillen Waldsitz eingeladen, auch dieses Jahr wieder umgab ihn das idyllische Thal mit seinem würzigen Duft und seinem erquickenden Frieden – aber von der Seele dessen, der sich in seinen Schutz geflüchtet, vermochte aller Waldeszauber die schwarzen Schatten der Sorge nicht mehr zu bannen, und aus dem geheimnißvollen Flüstern der uralten Buchenhaine klangen die rauschenden Fittiche des Todesengels!

Als ein schwer kranker Mann mußte König Karl am 3. Oktober das traute Thal verlassen, um auf den Rath seiner Aerzte in seine Residenz Stuttgart zurückzukehren. Ein traurig Scheiden – auf Nimmerwiederkehr!

Und nun ein paar lange, lange Tage des Bangens, des Hoffens – und des Verzagens!

Als am Morgen des 6. Oktober das Tagesgestirn in siegreichem Glanze emporstieg über Stuttgarts freundlichen Höhenkranz, da huben auf einmal von allen Thürmen die Glocken zu läuten an, und man wußte, was das Läuten bedeute. Nach so vielen Stunden unsäglicher Schmerzen war dem greisen Herrscher der erlösende Tod erschienen – die Glocken verkündeten es seinem trauernden Volke.

Ja, Württemberg trauert um seinen König! Der Tag ist noch nicht gekommen, wo die Geschichte der neuesten Zeit so offen vor unseren Augen liegt, daß jedermann sich ein Urtheil über den persönlichen Antheil des Herrschers bilden könnte, welcher in den letzten siebenundzwanzig Jahren die württembergische Krone getragen hat. Was aber König Karl als Mensch gewesen ist, das weiß jeder; die schlichte Einfachheit seines Auftretens, die sichere Zuverlässigkeit und vornehme Milde seines Charakters, die Großmuth und Güte seines Herzens, der rege Sinn für die idealen Güter des Lebens, für Bildung, Kunst und Wissenschaft, das alles sind Züge, die, früh in ihm erkannt und nie vermißt, sich unauslöschlich seinem Volke eingeprägt haben, Züge, die mit dem Bilde König Karls, so wie es in den Herzen seiner Unterthanen fortleben wird, unzertrennlich verknüpft sind.

Aber auch außerhalb der schwarz-rothen Grenzpfähle hat der Tod König Karls schmerzlichen Widerhall geweckt. Mit seltener Einmüthigkeit hat die deutsche Presse aller Parteischattierungen dem Heimgegangenen Nachrufe voll ehrender Anerkennung gewidmet. Denn auch da, wo man die Vorzüge seiner Persönlichkeit nicht unmittelbar vor Augen hatte, wußte man doch die Eigenschaften zu schätzen, die dem König Karl die Verehrung seines Volkes sicherten.

Es ist ja heute in unserem deutschen Vaterlande das Gefühl der Stammesgemeinschaft glücklicher Weise so hoch entwickelt, daß alle Glieder unseres vielverzweigten Volksganzen sich solidarisch fühlen, daß des einen Freude auch des andern Lust und des einen Trauer auch des andern Schmerz ist. Und nicht bloß das: man hat in König Karl auch immer einen von denjenigen deutschen Bundesfürsten gesehen, welche unter opfervoller Selbstbeschränkung den Boden geebnet haben, auf welchem ein solches Solidaritätsgefühl sich herausbilden konnte, man ist sich stets bewußt geblieben, daß dieses Verdienst um so schwerer wiegt, je höher der Fürst stand, der es sich erworben, je bedeutsamer die selbständige Macht war, die er vertrat. Von den Königen, die vor nunmehr bald einundzwanzig Jahren an der Gründung des Deutschen Reiches mitgewirkt haben, war König Karl der letzte – auch ein Gesichtspunkt, der seinen Tod über die Bedeutung eines bloßen Thronwechsels hinaushebt.

Und nun haben sie auch ihn bestattet zur ewigen Ruhe wie vor ihm so manchen gekrönten Mitarbeiter an jenem großen Werke, bestattet pomphafter vielleicht, als in seinem bescheidenen Sinne gelegen hatte. Es war sein Wunsch gewesen, daß seine Beisetzung ohne die Theilnahme auswärtiger Fürstlichkeiten oder ihrer Vertreter stattfinde. Doch noch ehe dieser Wunsch zum Ausdruck gelangte, trafen die Anmeldungen befreundeter Fürsten ein, denen es ein inniges Bedürfniß war, ihre Theilnahme durch persönliches Erscheinen bei der Leichenfeier oder durch Absendung hervorragender Vertreter zu bezeugen. So kamen sie denn, der Kaiser Wilhelm II.

[749]

König Karl von Württemberg auf dem Totenbett.
Nach einer Photographie von Hofphotograph H. Brandseph in Stuttgart.

an der Spitze, der noch vor kaum mehr als zwei Jahren die fröhlichen Tage des fünfundzwanzigjährigen Regierungsjubiläums an der Seite König Karls mitgefeiert hatte, und so folgten sie dem Sarge an der Seite seines Nachfolgers, des heute regierenden Königs Wilhelm II., bis zu der Kapelle im ehrwürdigen „Alten Schloß“, unter welcher der verewigte König bald nach seiner Thronbesteigung für die Mitglieder des württembergischen Königshauses eine Begräbnißstätte hatte erbauen lassen. Und mit ehrfürchtigem Staunen blickten die dichtgedrängten Volksmassen rechts und links von dem kurzen Weg, welchen der Zug zurückzulegen hatte, auf das glänzende fürstliche Gefolge, das ihren König zu seiner letzten Ruhe geleitete – sie wußten, daß etwas mehr als bloß höfisches Ceremoniell diese stolze Schar zusammengeführt hatte, und sie verstanden, was das bedeutete. Mitten in aller aufrichtigen Trauer durchdrang sie ein erhebendes Gefühl, sie waren noch einmal stolz auf ihren König Karl.




Das Verschwinden des Lord Bathurst in Perleberg im Jahre 1809.

Von Eduard Schulte.
I.

Das Verschwinden des englischen Gesandten Bathurst auf seiner Durchreise durch Perleberg im Jahre 1809 hat seiner Zeit eine ungemeine Aufregung hervorgerufen; es ist bis heute ein nicht völlig gelöstes Räthsel geblieben.

Benjamin Bathurst wurde im Jahre 1784 als dritter Sohn des Bischofs von Norwich geboren. Er trat früh in den diplomatischen Dienst. Seit dem Jahre 1805 war er mit der Tochter eines Sir John Call verheirathet und hatte zwei Kinder. Im Jahre 1807 weilte er in Schweden, und dort lernte ihn ein anderer, um zwei Jahre jüngerer englischer Diplomat kennen, der spätere Botschafter bei der Pforte, Lord Stratford de Redcliffe. Dieser sagt in seinen erst im Jahre 1888 veröffentlichten Aufzeichnungen, Bathurst sei ein Gentleman von hoher Ehrenhaftigkeit und von ausgezeichneter Befähigung gewesen, aber „stark nervösen Einwirkungen unterworfen.“ Es ist für die Beurtheilung der Schicksale Bathursts nicht unwichtig, seine nervöse Reizbarkeit durch einen Menschenkenner wie Lord Stratford bezeugt zu wissen.

Zu Beginn des Jahres 1809 wurde Bathurst als außerordentlicher Gesandter nach Wien geschickt, um dort, da man in Oesterreich eine Erhebung gegen Napoleon plante, den Kampfeseifer anzuspornen und eine Verstärkung der auf der Pyrenäenhalbinsel gegen die Franzosen kämpfenden englischen Truppen zuzusagen. Bekanntlich nahm der Krieg, den Oesterreich unter großen Erwartungen begann, einen unglücklichen Verlauf. Im Mai zog Napoleon als Sieger in Wien ein; auf die für die Oesterreicher ruhmvolle Schlacht bei Aspern mit ihrem nicht ungünstigen Ausgange folgte bald die Niederlage bei Wagram, und Kaiser Franz mußte sich im Wiener Frieden, der im Oktober zustande kam, zu neuen erheblichen Opfern verstehen.

Bei Annäherung der Franzosen an die Hauptstadt war Bathurst dem österreichischen Hofe nach Komorn gefolgt. Er war dort mit Lord Walpole, dem ständigen Gesandten Englands in Wien, und einigen Mitgliedern der österreichischen Aristokratie vergeblich bemüht, den Kaiser Franz von der Annahme der [750] ungünstigsten Friedensbedingungen abzuhalten. Mit dem Abschluß des Friedens war die Mission Bathursts beendet, und er begab sich im November auf die Rückreise nach England. Um französischen Spähern und Küstenwächtern zu entgehen, wählte er nicht den Seeweg durch das Mittelmeer über Malta, sondern den Landweg über Berlin; in Hamburg wollte er sich einschiffen.

Ein erster nicht aufgehellter Punkt in der Reihe der hier zu erzählenden Vorgänge ist nun folgender: Bathurst sprach sich vor seiner Abreise von Wien Bekannten gegenüber dahin aus, daß Napoleon ihm persönlich zürne; die politische Geheimpolizei des französischen Machthabers stelle ihm nach und trachte ihm nach dem Leben. Bathurst zeigte sich durch diese Befürchtung so völlig eingeschüchtert und so nachhaltig bedrückt, daß seine Freunde seinetwegen in großer Sorge waren. So sicher es ist, daß er diese Befürchtung aussprach und hegte, so wenig ist bekannt geworden, welchen Grund sie gehabt hat. Denn sie wird ja nicht dadurch erklärt, daß Bathurst als Gesandter eines mit Napoleon in beständigem Kriege lebenden Staates mit einem Auftrag betraut gewesen war, welcher den Franzosen neue Feinde erwecken sollte. Nicht wenige Diplomaten in Europa hatten ähnliche Pflichten wie Bathurst zu erfüllen, ohne daß sie darum dem persönlichen Hasse Napoleons verfallen wären. Nur ein besonderer Anlaß hätte eine solche Feindseligkeit verursachen können; aber von einem solchen ist niemals etwas bekannt geworden und man ist vollständig auf Vermuthungen angewiesen. Konnte der Auftrag Bathursts vernünftigerweise die Furcht vor persönlicher Gegnerschaft Napoleons und vor einer Verfolgung durch französische Polizei nicht begründen, so ist es eine andere Frage, wie sich Grund und Folge hier in einem krankhaft erregten Gemüthe darstellten, wenn es sich unter dem Einflusse eines gewandten und beredten Mannes befand, der ein Interesse daran hatte, diese Furcht zu erwecken und zu nähren. Agenten und Spione der französischen Polizei gab es in jenen Jahren unter verschiedenen Masken in allen Hauptstädten. Es ist denkbar, daß ein solcher Agent in den von Bathurst während seines vielmonatigen Aufenthalts in Oesterreich aufgesuchten Gesellschaftskreisen scheinbar harmlos verkehrte, dessen nervöse Aengstlichkeit erspähte und sie für seine Zwecke ausnützte. Der französische Agent kann dem Diplomaten eingeredet haben, daß der Auftrag, den er übernommen, für ihn persönlich gefährlich sei. So lange Bathurst für seine Sache thätig war, hat er seine Furcht bemeistert; als er nichts mehr zu erwirken hatte, erlag er. Ein solcher Zusammenhang ist möglich und wahrscheinlich; etwas Sicheres ist darüber nicht mehr zu ermitteln.

Bathurst reiste bis Berlin unter seinem eigenen Namen. Zum Begleiter hatte er einen Deutschen Namens Fischer, der die Dienste eines Sekretärs und Kuriers versah; außerdem hatte er einen deutschen Diener Namens Nikolaus Hilbert bei sich. Die drei Reisenden fuhren in einem stattlichen, dem Gesandten gehörigen Reisewagen, für den sie sich auf den Poststationen Pferde geben ließen. In Berlin verschaffte sich Bathurst zwei Pässe; der eine bezeichnete ihn selbst als „Kaufmann Koch“, während der andere den Sekretär als „Kaufmann Fischer“ aufführte. Es ist aus dem Verlauf der Dinge zu schließen, daß der Gesandte der Polizeibehörde in Berlin seinen wirklichen Namen und Amtscharakter angegeben habe, als er um diese Pässe nachsuchte.

Ueber die Reise von Berlin bis Perleberg ist bekannt geworden, daß Bathurst auf den Poststationen große Unruhe zeigte, die geladenen Pistolen, die er bei sich führte, wiederholt genau besichtigte und sich erkundigte, ob man unterwegs auf französische Truppen stoßen werde. Er soll geäußert haben, man habe ihn schon zweimal vergiften wollen, und deshalb trage er Gegengift bei sich.

Am Sonnabend den 25. November kamen die Reisenden um die Mittagszeit in Perleberg an. Als der Wagen vor der Post hielt, traten sie in das Posthaus und bestellten Pferde zu sofortiger Weiterreise nach Hamburg, zunächst nach Lenzen. Gleich darauf bestellten sie die Pferde jedoch wieder ab. Sie gingen vom Posthause aus nach dem in derselben Straße gelegenen, etwa hundert Schritt entfernten Gasthofe „Zum Weißen Schwan“, der dem Gastwirth Leger gehörte und an das Parchimer Thor stieß, durch welches der Weg nach Hamburg führte. In der Gaststube des „Weißen Schwans“ pflegten die mit der Post angekommenen Reisenden sich aufzuhalten, und Bathurst aß dort mit seinen Begleitern zu Mittag. Zwei Kaufleute aus Lenzen, die ebenfalls angekommen waren und abends weiterreisten, sahen ihn dort.

Kurz vor oder nach dem Essen ging Bathurst allein zu dem am Markte wohnenden Kommandanten von Perleberg, dem Kapitän von Klitzing, der eine damals in Perleberg stehende Schwadron des Brandenburgischen Kürassier-Regiments Nr. 3 befehligte, und bat ihn um eine Wache, da er sich nicht sicher fühle. Bei dieser Gelegenheit sah ihn eine Dame, welche noch in späteren Jahren mit großer Lebendigkeit von dieser Begegnung zu erzählen wußte. Sie führte als junges Mädchen die Wirthschaft des Hauswirths, bei welchem der Kapitän von Klitzing wohnte. Klitzing kam an jenem Nachmittage zu ihr und sprach den Wunsch aus, daß sie schnell etwas Warmes, am liebsten Thee, bereiten möge, da er einen Fremden bei sich habe, der vor Frost fast umkomme. Sie hatte kochendes Wasser bereit und trug den Thee alsbald in Klitzings Zimmer. Nach ihrem Bericht war der Fremde ein stattlicher Mann von einnehmenden Gesichtszügen; auf der Brust trug er, wohl in der Busennadel, einen Brillanten. Frost oder Angst schüttelten ihn so, daß er die Theetasse kaum fassen und halten konnte. Der Kapitän von Klitzing hatte einen geschwollenen Hals und bat deshalb die Dame, das Gespräch zu führen. Da der Fremde etwas Deutsch, sie etwas Französisch verstand, konnten sie sich verständigen. Es wurde nur wenig gesprochen; der Fremde sagte, er sei sehr angegriffen und müsse sich bald wieder entfernen. Ein Trinkgeld, das er ihr für den Thee geben wollte, nahm sie nicht an. Er sagte dann zu ihr: „Du bist ein gutes, braves Kind.“ Darauf empfahl er sich hastig und stürzte davon. Der Kapitän hatte ihm zwar erklärt, daß er seine Befürchtung, es könnten ihm französische Soldaten oder Agenten im Orte oder auf der Landstraße begegnen, nicht theile; doch stellte er vor das Posthaus oder vor das Gasthaus zwei Kürassiere. Daß der Fremde ihm, ehe die Dame bei ihm eintrat, Namen und Stand genannt hatte, ist wahrscheinlich, da der Kapitän für einen unbekannten Kaufmann Koch seine Kürassiere schwerlich aufgeboten hätte.

Wie der Gesandte die Stunden verbrachte, welche zwischen seinem Besuche bei Kapitän Klitzing und der festgesetzten Abfahrtszeit lagen, ist nicht so genau bekannt, wie man meinen sollte. Vielleicht nahm er sich im Gasthofe ein besonderes Zimmer und ruhte sich dort aus; berichtet wird uns, er habe einige Zeit geschrieben und Papiere verbrannt. Um sieben Uhr abends zogen die Kürassiere auf sein Verlangen wieder ab; vermuthlich wollte er um diese Stunde abreisen. Er änderte aber seine Bestimmung über die Abreise mehrmals und setzte sie endlich auf neun Uhr abends fest; er muß geglaubt haben oder überredet worden sein, daß er bei Nacht mit größerer Sicherheit reisen könne als bei Tage. Zwischen dem Gasthofe und dem Posthause scheint er wiederholt hin- und hergegangen zu sein. Nach englischen Berichten, die hier aus einigen Gründen den Vorzug vor den deutschen verdienen, hielt der Wagen um neun Uhr nicht vor dem Posthause, sondern vor dem „Weißen Schwan“. Der Sekretär Fischer beglich mit dem in der Hausthür stehenden Wirthe die Rechnung; ein Kellner stand daneben, während der Diener Hilbert mit dem Reisegepäck beschäftigt war. Der Hausknecht des Wirthes stand mit einer brennenden Handlaterne neben dem Postillon bei den Pferden. Beim Scheine der Handlaterne oder der Wagenlaterne sah man den Gesandten vom Gasthause her an dem Wagen in der Richtung, wohin gefahren werden sollte, vorübergehen, etwa als ob er auf den Weg, den der Wagen nehmen sollte, einen prüfenden Blick werfen oder, da es dunkel war, hinaushorchen wolle, oder aus einem andern Grunde. Von diesem Augenblick an ist Bathurst lebend nicht wieder gesehen worden, und auch seine Leiche ist mit Sicherheit nicht nachgewiesen.

Nachdem die um den Wagen versammelten Männer einige Zeit gewartet hatten, suchten sie nach dem Fremden und riefen nach ihm. Da sich dies als vergeblich erwies, meldete der Diener Hilbert noch an demselben Abend dem Kapitän von Klitzing, daß der Fremde verschwunden sei. Klitzing erstattete sofort den Bezirksvorstehern der Stadt, die erst seit der neuen Städteordnung vom Jahre 1808 in Thätigkeit waren und im Zusammenwirken mit dem Bürgermeister die städtische Polizei ausübten, Bericht und forderte sie zu Nachforschungen auf; sie kamen dieser Aufforderung sogleich nach und suchten nach dem Fremden die ganze Nacht hindurch. Der Kapitän nahm ebenfalls noch an demselben Abend den Wagen und die Effekten der Reisenden in Beschlag und führte den Sekretär Fischer und den Diener Hilbert in einen am anderen Ende der Stadt liegenden Gasthof. Er stellte ihnen zu [751] ihrer Sicherheit einen Kürassierposten vor die Thür. Als Gefangene betrachteten sie sich nicht; der Sekretär Fischer blieb zwar auf seinem Zimmer, aber der Diener verkehrte unbehindert in der Gaststube.

Am Sonntag mittag verreiste der Kapitän von Klitzing trotz seines Unwohlseins und kehrte erst am Montag abend zurück. Er war entweder nach Kyritz gefahren, um dem dort stehenden Kommandeur seines Regiments dienstliche Meldung abzustatten, oder, was wahrscheinlicher ist, nach Berlin, um sich mit dem Gouverneur und dem Polizeipräsidenten in Verbindung zu setzen. Die Reise nach der in der Luftlinie sechzehn Meilen entfernten Hauptstadt und zurück ist in so kurzer Zeit zwar anstrengend, aber mit Extrapost und Kurierpferden nicht unmöglich. Am 1. Dezember theilte der Landesdirektor von Rohr dem Magistrat zu Perleberg mit, daß der Kapitän Klitzing von dem Gouvernement in Berlin ermächtigt sei, „in dieser Angelegenheit mit Vermeidung aller Publicität allein und für sich zu verfahren“. Ebenso wurde das damalige Stadtgericht in Perleberg angewiesen, nicht selbständig einzuschreiten, sondern dem Kapitän für die Untersuchung freie Hand zu lassen.

Diese Uebertragung der Leitung aller Nachforschungen und Untersuchungen auf den Kapitän von Klitzing läßt nur eine Erklärung zu: die Behörden in Berlin, welche Namen und Stand des Gesandten gekannt haben müssen, sind auf den mündlichen oder schriftlichen Bericht Klitzings, besonders in Rücksicht auf die diesem bekannt gewordenen Befürchtungen des Fremden vor französischen Nachstellungen, zu der Ueberzeugung gekommen, daß beim Verschwinden Bathursts die französische Geheimpolizei die Hand im Spiele habe. Preußen, bei Jena besiegt und in Tilsit beraubt und geknebelt, seufzte damals unter dem Druck französischer Besatzungen und Kriegskontributionen; es hatte gegründete Ursache, den Unwillen Napoleons nicht wachzurufen. Die preußischen Behörden wollten deshalb alles vermieden wissen, was in Paris Anstoß erregen könnte. Hatte die französische Polizei den Gesandten heimlich aufheben und gefangen setzen oder töten lassen – und das schien allerdings so – so sollten preußische Behörden nicht diejenigen sein, welche diese Vorgänge ans Licht zogen. Man hätte sich damit mißliebig gemacht, und die Folgen wären nicht abzusehen gewesen; die Ungnade Napoleons, der eben erst die Oesterreicher besiegt hatte und wußte, daß in Preußen die Neigung bestanden hatte, ihnen beizuspringen, bedrohte den Bestand des Staates. Nach dem Sturze Napoleons freilich ließen sich die preußischen Oberbehörden an die mißliche Rücksicht und Abhängigkeit, welche sie bei dieser Untersuchung gezeigt hatten, ungern erinnern; noch mehrere Jahrzehnte hindurch durfte innerhalb des preußischen Staatsgebietes die „Frage Bathurst“ in Zeitschriften oder Büchern nicht erörtert werden.

Daß unter den gegebenen Umständen die Nachforschungen, welche unter Kapitän Klitzings Leitung angestellt wurden, in vielen Punkten unzulänglich blieben, darf nicht wunder nehmen. Der Kapitän wird uns als ein tüchtiger und einsichtiger Mann geschildert, und er nahm sich der Sache mit Eifer an, aber er handelte offenbar unter dem Einfluß der Befürchtung, daß die Untersuchung seinen Händen entschlüpfe, daß mehr als nöthig über sie bekannt werde und daß sie eine Wendung nehme, die in Berlin und Paris unerwünscht sein könnte. Nur so ist es verständlich, wenn wir erfahren, daß er über eine Vernehmung des Dieners Hilbert durch die städtischen Behörden in großen Zorn gerieth. Es entspann sich darüber und über andere ähnliche Anlässe ein unerquicklicher Zwist, bei dem die Regierung den Stadtbehörden, das Gouvernement von Berlin dem Kapitän Recht gab; der König entschied endlich, daß Klitzing im Verkehr mit den Stadtbehörden rücksichtsvollere Ausdrücke wählen solle. Die Stadtbehörden ihrerseits thaten ihr Bestes, aber ihnen waren die Hände gebunden, und daß man höheren Orts Vorsicht wünschte, blieb auch ihnen nicht verborgen. Als es ihnen unwahrscheinlich wurde, daß der Fremde nur ein „Kaufmann Koch“ gewesen sei, ersuchten sie den Kapitän, ihnen den wahren Namen des Fremden anzugeben und näheres über ihn mitzutheilen. Aber der Kapitän schrieb ihnen unter dem 8. Dezember, er werde über Koch Mittheilungen geben, wenn die Ermächtigung dazu seitens der Oberbehörden vorliegen werde. Nur das Gouvernement in Berlin, an welches Klitzing allein berichtete, hätte diese Ermächtigung geben können; es gab sie aber nicht. Als die Familie Bathurst für Nachweise und Entdeckungen über den Verschwundenen eine Belohnung von fünfhundert Thalern aussetzte, sollte dies zwar in der Gegend bekannt gegeben werden, aber ohne öffentlichen Aufruf. Hätte übrigens auch die städtische Polizei, hätte auch Klitzing ohne jede Nebenrücksicht und ohne jedes nicht in der Sache liegende Hinderniß vorgehen können, so würde ihnen beiden doch die Erfahrung gefehlt haben, die nur ein gewiegter Untersuchungsrichter oder Polizeibeamter haben kann. So ist es gekommen, daß wichtige Feststellungen, welche in den ersten Tagen und Wochen noch zu beschaffen gewesen wären, nicht beschafft wurden. Es ist versäumt worden, alle Personen, welche in Perleberg mit dem Gesandten in Berührung kamen, zu ermitteln, sie eingehend zu vernehmen und Verdächtige zu überwachen und zu beobachten. Außerdem haben einige Protokolle, welche damals aufgenommen wurden, später nicht mehr aufgefunden werden können, so daß man sich über manche Aussagen und Vorgänge nicht mehr genau unterrichten kann.

Als der Kapitän Klitzing den Sekretär und den Diener des Gesandten am Abend des 25. November aus dem „Weißen Schwan“ nach einem anderen Gasthofe führte, hörte er von dem Sekretär, daß dessen Pelz und der Pelz Bathursts im Posthause liegen geblieben seien. Es ergab sich, daß die Frau des Postwagenmeisters und Briefträgers Schmidt, welche im Posthause aufzuräumen pflegte, spät abends die Pelze an sich genommen hatte. Der dienstthuende Postsekretär hatte ihr gesagt, fremde Sachen dürften nachts nicht im Posthause bleiben; sie möge sie am folgenden Morgen wiederbringen, damit sie den Eigenthümern nachgeschickt werden könnten. Er nahm wohl an, daß die beiden anderen Kaufleute, welche den Tag über theils in der Post, theils im „Weißen Schwan“ verweilt hatten und abends abgereist waren, die Eigenthümer der Pelze seien. Als der Kapitän die beiden Pelze von der Frau Schmidt fordern ließ, verabfolgte sie nur einen, den des Sekretärs; von einem zweiten behauptete sie nichts zu wissen. Doch wurde dieser Pelz, der viel kostbarer als jener war und als der Pelz des Gesandten erkannt wurde, im Holzstall der Familie Schmidt aufgefunden, wo der Sohn der Frau, August Schmidt, ihn unter dem Holze versteckt hatte. Nach einer englischen Erzählung dieser Vorgänge, welche zumeist auf den durch die Bathurstsche Familie angestellten Ermittelungen beruht, besteht sogar ein Zweifel darüber, ob auch Bathursts Pelz im Posthause geblieben und nicht vielmehr ihm oder seiner Leiche geraubt war, ehe er bei den Schmidts gefunden wurde. August Schmidt hatte nicht den besten Ruf. Er trieb sich viel in Schenken umher und spielte gern um Geld; zeitweilig fiel sein Aufwand auf. Von Beruf Weißgerber, hatte er damals keine bestimmte Beschäftigung und lebte meist von den Trinkgeldern, die er sich durch Dienstleistungen von den Postreisenden verdiente. Zu solchen Dienstleistungen eignete er sich deshalb, weil er sich auf seiner weiten Wanderschaft Sprachkenntnisse erworben hatte und z. B. im Verkehr mit französischen Offizieren den Dolmetscher spielen konnte. Wegen der Pelze zur Verantwortung gezogen, wurde er vom Gericht ebenso wie seine Mutter nur wegen Diebstahls zu acht Wochen Gefängniß verurtheilt. Die Frage, ob er nicht von dem Verschwinden des Gesandten selbst wußte und etwa daran betheiligt war, erledigte das Gericht unglaublicher Weise damit, daß es sich mit einem von August Schmidt geführten Alibibeweis beruhigte, der darin bestand, daß Schmidt in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag in mehreren Schenken gesehen worden war. Die vom Generalpostamt zu Berlin an das Perleberger Stadtgericht ergangene Aufforderung, zugleich festzustellen, ob August Schmidt an zahlreichen bei Perleberg in letzter Zeit verübten Postdiebstählen betheiligt gewesen sei, blieb unerfüllt. Nach Jahr und Tag forschte eine von Berlin nach Perleberg gesandte Gerichtskommission noch einmal nach dem Thun und Lassen Schmidts an jenem Sonnabend, aber es wurde nichts mehr ermittelt.

An dem Sonntage, welcher auf diesen Sonnabend folgte, wurde die durch Perleberg fließende Stepenitz durchsucht, an den folgenden Tagen sogar abgelassen. Man suchte in Gräben und offenen Brunnen und durchstieß den lockeren Boden in Gärten mit Visireisen. Bürger und Bauern, Förster und Jäger durchforschten die Umgegend. Aber von dem Vermißten wurde keine Spur gefunden.

Der Sekretär Bathursts reiste am 10. Dezember mit einem von Klitzing ausgestellten Passe, der ihn diesmal als „Kaufmann Krüger“ bezeichnete, nach Berlin. Nach einem Schreiben des Polizeipräsidenten Gruner an den Magistrat zu Perleberg ist er am 16. Dezember dort eingetroffen. Der Diener Hilbert soll von Perleberg bis an die etwa zwei Meilen entfernte Elbe gewandert und dort übergesetzt sein. Weiteres erfährt man von diesen beiden Männern nicht.

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Die drei Vereinsbrüder.

Eine Erzählung von Ernst Lenbach. 0 Illustriert von Fritz Bergen.

In einer mittelgroßen, etwas abgelegenen Stadt Westdeutschlands bestand bis vor wenigen Jahren ein Verein, welcher seines Namens wie seines Wesens halber in seiner Blüthezeit zu den Merkwürdigkeiten des Landes zählte. Die altangesessenen „guten“ Familien gehörten ihm fast ausnahmslos an, und für die nicht eben häufigen Zuzügler galt die Aufnahme in diesen Verein als eine Art zweites Bürgerrecht, nicht minder ehrenvoll denn das erste und jedenfalls schwerer zu erlangen. Seiner Zweckbestimmung nach war es nur ein ganz gewöhnlicher Verein von Bürgern zu geselligen und gemeinnützigen Zwecken, und seine geschriebenen Satzungen hätten in guter Druckschrift kaum einen Bogen gefüllt. Neben diesen aber gab es noch ein ungeschriebenes Gesetz, und nach ihm regelte sich Jahrzehnte lang das gesammte öffentliche und gesellige Leben nicht bloß unter den Vereinsgliedern, sondern in der ganzen Stadt. Die Hüter dieses ungeschriebenen Stadtbuches waren eine Anzahl einsichtiger Männer von gutem Vermögen und heiterer Festigkeit des Gemüthes, und als Hüterinnen standen ihnen ihre Hausfrauen zur Seite, soweit jene Männer nämlich beweibt waren; es gab aber damals noch nicht so viel Junggesellen unter den vollwüchsigen Bürgern. Streitigkeiten des Bekenntnisses und der politischen Parteimeinungen gab es nicht innerhalb des Vereins, weil in beidem jeder dem anderen volle Freiheit ließ, nur nicht die Freiheit der Unduldsamkeit. In schweren Zeiten half man einander nach gewissenhafter Selbsteinschätzung und ohne viel Lärm um etwas zu machen, das für selbstverständlich galt, in guten Jahren und zu festlichen Zeiten gab man sich der Freude und sogar einem landesüblichen derben Wohlleben hin; wenn dabei je nach den Mitteln sogar ein gewisser Luxus entfaltet wurde, so war es immer doch ein behäbiger solider Luxus, der fest auf seiner Grundlage bleibt und nicht über die Kante weggleitet. Alles in allem war es ein recht behagliches Dasein in diesem Vereine, und die Familienfeste, die er an schönen Sommertagen in seinem großen Garten mit dem kleinen, rebenumrankten Wirthshaus und dem weiten luftigen Tanzsaale dahinter abhielt, wurden von den Nachbarstädten aus immer beachtet, zuweilen als altfränkisch verspottet, aber stets sehr gerne besucht.

Der Verein führte den stolzen Namen „Der Königsbund“, und den verdankte er seiner Entstehung, denn er war vom König selber gestiftet worden. Es hatte sich nämlich in den ersten Jahren nach den großen Befreiungskriegen ereignet, daß die ganze Bürgerschaft durch eine geringfügige Ursache in zwei Parteien gespalten wurde, die sich in der politischen Stille des beginnenden Weltfriedens aufs bitterste befehdeten. Da sich beide Parteien in Gemeinderath und Bürgerschaft genau die Wage hielten, so war kein Ende des Streites abzusehen, den man mit ererbter Lebhaftigkeit und eine gute Weile auch nicht ohne Behagen weiter führte. Als der König kam, um auch diese neuerworbene Stadt seines Reiches zum ersten Male das Antlitz des Herrschers sehen zu lassen, fand er statt eines Empfanges ihrer zwei: Triumphbogen, Sängerchor, weißgekleidete Jungfrauen, alles war doppelt vorhanden, und der zweite Bürgermeister hatte sich eine Rede einstudiert, welche diejenige des ersten noch an Länge und rednerischem Schmuck übertraf. Der gütige Landesvater ließ sich den Fall erklären, und seinem Ansehen und freundlichen Zureden gelang es, den Hader zu schlichten. Er vereinte beide Parteien in einer, friedlichen Zwecken geweihten Gesellschaft und verließ seine treue Stadt als Stifter des „Königsbundes“, in dem berechtigten Bewußtsein, ein gutes Werk gethan zu haben.

Der Verein bestand nun sechs Jahrzehnte fort und überdauerte manche stürmevolle Zeit, ohne in seinen Grundfesten erschüttert zu werden. Aber gefährlicher als die Stürme erwiesen sich allgemach die sanften Winde, welche von der Welt draußen hereinwehten und allerlei neue Entwickelungskeime heimlich mit sich trugen. Die Eisenbahn, die Industrie, der Aufschwung des Handels und des Unterrichts brachten neue Bestandtheile in die Bevölkerung und erweckten neue, ungewohnte Neigungen in den Herzen der Alteingesessenen, sonderlich unter dem jüngeren Geschlecht. Das behäbige Wesen von früher wurde bereits nicht mehr bloß von den Fremden als altfränkisch empfunden, mehr und mehr hörte der „Königsbund“ auf, der begehrte Mittelpunkt und Maßstab geselligen Vollbürgerthums zu sein, man zog sich von ihm zurück, man empfand das Bedürfniß nach „neuen Formen“, und auf dem so bereiteten Nährboden entwickelten sich nun mit einem Male zahlreiche neue Vereinsbacillen. Mit einer wunderbaren Schnelligkeit schoß ein Verein neben dem andern, ja zuweilen schon gegen den andern empor. Es schien, als wäre die gute Stadt von einer wahren Vereinssucht ergriffen, wie man wohl liest, daß im Mittelalter eine ganze Gemeinde von der Tanzsucht befallen wurde, als wollte sie jetzt mit einem Male alles nachholen, was sie auf diesem wichtigen Gebiete der neuzeitlichen Bildung bisher sträflich versäumt hatte.

Da bildeten sich Vereinigungen aller Art und zu allen Zwecken: zum Singen, zum Turnen, zum Kegelschieben; zum Sammeln von Cigarrenabschnitten, von Briefmarken, von Parteigeldern und von Beiträgen für sonstige Zwecke; einige dienten der Wohlthätigkeit, viele dem Vergnügen, und mehrere suchten den einen Zweck durch den anderen zu erreichen. Auch allerlei hübsche Erinnerungen wurden gemeinsam in eigens dazu gestifteten Vereinen erneut; es gab eine solche Menge Vereine von „Ehemaligen“, daß sogar die Findigkeit der Post daran zu scheitern drohte und zuweilen ein Brief an den Präsidenten Müller vom Verein ehemaliger Holzhändler gerieth, während er doch an Herrn Müller, Ehrenpräsidenten der ehemaligen lateinlosen Bürgerschüler, gerichtet war. Kurzum es gab eine Unmenge von Vereinen, von nützlichen und überflüssigen; alle aber hatten das mit einander gemeinsam, daß jeder alsbald für seine Mitglieder zum alleinigen Centrum des geselligen Lebens wurde, während er doch nur den Punkt abgeben sollte, in dem sich die verschiedenen Lebenskreise schnitten.

Abseits von all diesem Treiben bestand der „Königsbund“ noch fort, doch es war nur ein

[753]

Ein guter Stand.
Nach einem Gemälde von Robert Schleich.

[754] Scheindasein, welches er führte. Wenige Familien fanden sich noch zu seinen Festen zusammen, und diese Feste nahmen nachgerade das Wesen von jenen Schmäusen an, die man in dortiger Gegend zum Angedenken an Verstorbene zu halten pflegt. Der „Königsbund“ war nicht mehr zeitgemäß, das empfanden auch die wenigen Treugebliebenen, und sie mußten sich mit dem Gedanken befreunden, das alte Wappenschild in zwölfter Stunde mit Ehren zu zerbrechen, ehe es unter dem Ruß der industriellen Neuzeit verschwand.

Unter diesen Treuen waren besonders drei Freunde, denen das Verhängniß schwer zu Herzen ging: der Justizrath und Notar Königs, der Rentner und frühere Apotheker Schmitz und der Thierarzt Vollmer. Der Justizrath war unbeweibt, dafür aber fast ein Mitglied in den Familien seiner beiden Freunde; die Familien standen von jeher in freundnachbarlichem Verkehr, und es war so ziemlich ausgemacht, daß der junge Dr. Heinrich Vollmer, welcher demnächst als Arzt die heilende Praxis seines Vaters nach der menschlichen Seite hin ergänzen wollte, und das hübsche blondlockige Gretchen Schmitz die Freundschaft bald noch durch ein eheliches Bündniß befestigen sollten. Alle diese zarten Verhältnisse, ja die Freundschaft der drei alten Herren selbst und die Stiftung der beiden Familien hatten sich vom „Königsbunde“ aus gebildet, er war die gesellige Heimath dieser wackeren und warmherzigen Menschen, und so erklärte sich vollauf der Kummer, mit welchem sie das Hinsiechen des alten bewährten Vereines verfolgten. Der Justizrath suchte die Sache mehr in seiner stillen zurückhaltenden Art mit entschuldigender Resignation hinzunehwen, die beiden anderen aber waren erregter und nahmen kein Blatt vor den Mund, wenn die Rede wieder auf eine neue Gründung in dem weiten Gebiete des Vereinslebens kam. Mit einem gewissen Behagen des Aergers vertieften sie sich in das Meer dieser Zeiterscheinungen und ließen so leicht keine neue Stiftung unbesprochen.

Dabei erwies es sich nun aber ganz allmählich, daß auch sie nicht ungestraft unter den Palmen gewandelt waren. Anfänglich unvermerkt, keimte in der Brust des Thierarztes wie des Apothekers eine verbotene Neigung auf. Da sie so lange alle Vereine außer ihrem „Königsbunde“, auch die nützlichsten, verachtet und geschmäht hatten, so rächte sich der Genius des Vereinswesens dadurch, daß er jeden für eine ganz absonderliche Spielart begeisterte; und zwar vertieften sich beide in etwas, das ihrem Wesen möglichst entgegengesetzt war. Der derbe Thierarzt, dessen blondhäuptige Riesengestalt jedem altdeutschen Kriegslager Ehre gemacht hätte, fing an, die Bestrebungen des „Philanthropischen Friedensvereines, Ortsgruppe Nr. XXIII“, mit beifälligen Blicken zu verfolgen, während der sanfte, etwas schüchterne Apotheker in aufgeregten Träumen sich schon auf dem Bärenfell, das Trinkhorn in der Hand, zu sehen glaubte; denn seine stille Liebe war der „Hainbund Walhalla“ – von Haus aus eine ganz harmlose Zechgesellschaft, welche mit allerlei altdeutschen halbverstandenen Namen und Bräuchen ihrem durstigen Thun eine „ideale Weihe“ zu geben suchte.

Anfangs, als die verschiedenen Neigungen noch winzig waren und nur erst so mit dem Köpfchen verschämt aus dem Herzensboden heraus lugten, wäre es vielleicht einer verständigen und festen Freundeshand noch gelungen, die üble Saat rechtzeitig auszurupfen. Da aber beide Freunde vor einander ein böses Gewissen hatten, so überging jeder mit ängstlicher Schonung die Neigung des andern, ohne inzwischen an der Lächerlichkeit derselben oder an der Vortrefflichkeit des eigenen heimlichen Ideals irre zu werden. Und so mußte denn das Unheil seinen Lauf nehmen.

An einem trüben Dezemberabend saß eine kleine Schar meist bejahrter Bürger beisammen in einem größeren Gasthofzimmer. Es war der Vorstand des „Königsbundes“, welcher sich hier versammelt hatte, um die einstweilige Aufhebung des alten Vereins zu beschließen. Der Justizrath führte den Vorsitz; über ihm an der Wand hing eine improvisierte Papptafel mit dem Vereinswappen, das Bild des hochseligen Königs in der Mitte. Nach einigen kummer- und würdevollen Reden war der Beschluß gefaßt: das Vermögen des Bundes wurde einer sicheren Stätte überwiesen, die Zinsen zu wohlthätigen Zwecken bestimmt, während man den Vereinsgarten dem bisherigen Oekonomen weiter in Pacht ließ, der dort eine gedeihliche Sommerwirthschaft zu führen hoffte. Wie das Grabgeläute der alten Stiftung klangen zwischen den Reden dumpfer Lärm, Gläserklirren und Reden von links und rechts herein. Die Menge der neuentstandenen Vereine übertraf schon fast das Angebot von verfügbaren Räumen, und so waren auch die beiden Nachbarsäle an zwei Gesellschaften vergeben, die heute abend gleichzeitig tagten und um die Wette lärmten. Die eine war die Ortsgruppe des „Philanthropischen Friedensvereins“, die andere der „Hainbund Walhalla“. Man schien auf beiden Seiten schon in ziemlich lebhafter Stimmung zu sein. Ab und zu verfehlte ein Friedensbruder oder ein Walhallagenosse den Ausgang aus seinem Wigwam und öffnete statt der betreffenden Gangthür geräuschvoll die Thür zu dem Mittelzimmer, um mit einem verlegenen „Pardon!“ wieder zu verschwinden. Unter diesen beengenden Umständen hatte die letzte Sitzung des „Königsbundes“ schnell ihr Ende erreicht, und zuletzt saßen nur noch die drei Freunde unter dem Wappenschilde beisammen, um einander bei einer Flasche Rauenthaler ihr Herz auszuschütten. Während der Justizrath versuchte, die Lage mit einem gewissen Galgenhumor von der heiteren Seite zu fassen, quollen die beiden anderen über von ingrimmigen Betrachtungen über das Vereinsunwesen, wobei doch wieder bei jedem unter dem Unmuth das Schlänglein der eigenen Neigung verrätherisch hervorzüngelte. Nun hatte sie aber der Verdruß des Abends unverträglicher denn sonst gemacht, und so kam es, daß sie zum ersten Male die stillschweigend vereinbarte Schonung verletzten und ihre Steckenpferde gegen einander antrieben; erst in gutmüthigem und gleichsam scherzhaftem Spiele, dann immer schärfer und zuletzt in schonungslosem schneidigen Turnier. Worte flogen hin und her, bissig und ätzend, wie es zu geschehen pflegt, wenn ältere und ernste Männer einmal in Leidenschaft gerathen. Der Justizrath suchte umsonst zu vermitteln. Immer heftiger und persönlicher wurde der Streit, und endlich sprang der Thierarzt in heller Wuth auf, schlug mit der geballten Faust auf den Tisch und rief: „Zank’ und trink’ Du weiter, mit wem Du magst, ich hab’s längst satt, es ist Zeit, daß man in eine andere Gesellschaft kommt – adjes, Königs, ich geh’ zu den Friedensfreunden!“ Sprach’s und verschwand mit dröhnendem Schritt hinter der Thür zur rechten Hand. Der Apotheker, der auch aufgesprungen war und schon ein scharfes Wort zur Erwiderung auf den Lippen hatte, starrte einen Augenblick auf die Pforte, hinter welcher sein Gegner verschwunden war, dann lachte er höhnisch und rief seinerseits: „Mit Dir wär’ ich freilich fertig – und jetzt geh’ ich in die Walhalla!“ Und mit einem flüchtigen Abschiedswort an den Justizrath zog er eilends durch die Thür nach links ab.

In wortloser Bestürzung blieb der Dritte allein zurück. Aus den beiden Zimmern klang ein verworrenes Durcheinanderreden und Gläserklingen herein; die neuen Genossen wurden beiderseits feierlich begrüßt. Der Justizrath trank seinen letzten Rest aus und erhob sich zum Weggehen. Da fiel hinter ihm rasselnd etwas zu Boden. Es war das Interimsschild des „Königsbundes“. Der Nagel, an dem es gehangen, mochte von einem eilfertigen Kellner nur lose eingeschlagen gewesen sein, und von dem Lärm und Gestrampel nebenan war er vollends aus der Wand geglitten. Nun lag das Schild am Boden, verkrümmt und bestaubt, durch [755] die Mitte zog sich ein breiter Riß. Der Justizrath hob es kopfschüttelnd auf, trug es sorgsam in eine Ecke und stellte es dort gegen die Wand. Dann nahm er Hut und Stock und verließ in tiefen Gedanken das Wirthshaus, um daheim unter der Obhut seiner sorgsamen Haushälterin die stille Häuslichkeit zu genießen, auf welche er als Nichtvereinsmensch ja ein gewisses Anrecht hatte.

Es begann nun eine schlimme Zeit für die Familien Schmitz und Vollmer. Die beiden einst so eng verbundenen Freunde hatten ein für alle Mal gründlich mit einander gebrochen, und es schien, als ob sie am liebsten den Bruch ohne weiteres auch auf ihre Familien ausdehnen wollten. Da sich dies nun doch aus mancherlei Rücksichten nicht so ganz durchführen ließ, so thaten sie wenigstens ihr Möglichstes, um ihren Frauen und erwachsenen Kindern den Verkehr nach Kräften zu erschweren und unschmackhaft zu machen.

Von der Verlobung zwischen Heinrich Vollmer und Gretchen Schmitz durfte überhaupt nicht mehr die Rede sein. Es war ein Glück, daß der junge Doktor wenigstens zur Zeit auf einer Vertretungsstelle abwesend war und daß so ein häßlicher Zusammenstoß zwischen Vater und Sohn vermieden wurde. Die beiden Hausväter waren aber um so hartherziger, je mehr sie sich bewußt waren, durch ihre neuen geistigen Errungenschaften den sittlichen Werth ihrer Familien zu heben. Der Rentner und frühere Apotheker, oder wie er sich jetzt nannte: „Geldzüchter, früher Niederlagerer“ Schmitz hatte vordem viel Freude an den Namen seiner drei Kinder gehabt: jetzt machte der fünfzehnjährige Stammhalter Philipp noch einmal eine verspätete Bekanntschaft mit der strafenden Hand des Vaters, weil er sich hartnäckig weigerte, auf seinen Schreibheften und Büchern das „Philipp“ in „Roßhart“ zu verwandeln. Die siebzehnjährige Klara weinte verstohlene Thränen über den Namen Perchta, mit welchem der sonst so liebevolle Vater sie erst zu einer Deutschen gemacht zu haben behauptete, während der Wildfang Gretchen bei allem Liebeskummer doch wieder lachen mußte, wenn der Vater sie einem anderen Edeling oder gar einem Freigrafen mit den Worten vorstellte: „Meine älteste Tochter Perle!“ Es gab nämlich drei Rangstufen unter den Walhallagenossen: Freigrafen, Edelinge und Freilinge. Hauptsächlich unterschieden sie sich dadurch, daß die Edelinge mehr bezahlten und vielfach auch mehr tranken als die Freilinge, während die Freigrafen am meisten tranken, aber am wenigsten bezahlten; sie waren die Macher des Ganzen, und wenigstens bei ihnen hatte der ganze Mummenschanz einen begreiflichen Grund. Der Apotheker war ohne weiteres als Edeling aufgenommen worden, mit dem besonderen Beinamen „Krautamund“. Der Name gefiel ihm recht wohl, und wenn er daheim nach dem Mahle allein in seiner Gelaghalle auf der Bärenhaut lag, d. h. wenn er nach Tisch im Eßzimmer sich aufs Sofa gestreckt hatte, so streichelte er mit der Hand wohl ein paar Mal zufrieden über seine Weste und sprach recht nachdrucksvoll vor sich hin: „Krautamund! Edeling Krautamund!“

Unterdeß aber saßen Frau und Töchter in der „Kemenate“ beieinander und erwogen, wie solcher Narretei wohl abzuhelfen sei. Freilich fehlte ihnen der bekannte Trost in allem Unglück nicht; denn Frau Vollmer und ihre Tochter Gertrud hatten fast noch mehr zu klagen, so schwer hatten sie unter der Friedensbegeisterung ihres Herrn zu leiden. Alle die schönen Stahlstiche von berühmten Siegern und Siegen unseres Volkes, mit denen sein patriotischer Sinn einst die Zimmer des Hauses geschmückt, mußten jetzt als „unsittlich“ und „verrohend“ auf den Speicher wandern. Eine köstliche Schachtel voll Bleisoldaten hatte Frau Vollmer eben angekauft, um sie ihrem achtjährigen Schwestersohne zum Geburtstag zu schenken, der Thierarzt aber warf dieses „barbarische Spielzeug“ in den Ofen, wo das geschmolzene Zinn den ganzen Rost verstopfte, und schickte dem Knaben dafür fünfzehn kleine Abhandlungen des Vorsitzenden des internationalen Friedensbundes, Mynheer Sebulon van der Putten. Daran sollte sich der Knabe allmählich zu einem ordentlichen Friedensfreunde heranlesen, sein Vater war jedoch barbarisch genug, die schönen Traktate als Fidibusstoff zu verwenden, und die Familienbeziehungen gestalteten sich seitdem bedeutend weniger friedlich. Mit dem Vornamen seiner Tochter war Herr Vollmer auch nicht mehr recht zufrieden, er fand ihn zu kriegerisch und versteifte sich darauf, seine Gertrud in eine Emma zu verwandeln. Das Schlimmste aber war, daß die allwöchentlichen Erörterungen der Friedensfreunde eben jetzt infolge einer Fehde zwischen dem Centralverein in Deventer und der Ortsgruppe in Honduras über Statutenänderung stets sehr erregt, folglich auch sehr lang und feucht ausfielen und dem vollblütigen Thierarzte jedesmal einen Kater bereiteten, in welchem er dann über die Maßen reizbar und unfriedlich war. (Schluß folgt.) 


Blätter und Blüthen.

Antonie Adamberger. In den Tagen, welche dem Andenken des Dichters Theodor Körner gewidmet waren, ist auch vielfach wieder der Name seiner Geliebten und Braut genannt worden, und auf diese liebenswürdige Künstlerin fällt aus neuen Veröffentlichungen ein neues Licht. Es gilt dies namentlich von der verdienstlichen Gedenkschrift „Theodor Körner. Am 23. September 1891“ (Leipzig, F. A. Brockhaus), welche Rudolf Brockhaus mit Benutzung seines reichen Autographenschatzes herausgegeben hat, und welche besonders auch über die Knaben- und Jünglingsjahre des Dichters manche neue Auskunft giebt. Nicht bloß in den mitgetheilten Autogrammen und Briefen spielt die Wiener Schauspielerin eine wichtige Rolle, sie ist auch die Heldin eines Anhangs, in welchem ihr Sohn Alfred Ritter von Arneth ihren Charakter und ihre Lebensschicksale schildert. Dieser Anhang bringt Auszüge aus Arneths nur als Manuskript gedruckter Schrift: „Aus meinem Leben“, welche hier mit seiner Bewilligung einem größeren Publikum mitgetheilt werden. Gleich aus dem ersten Autogramm Theodor Körners ersehen wir die innige Zuneigung, welche der Dichter für das anmuthige Mädchen empfand. Er schreibt am 20. März 1813 an seinen Vater, den er als seinen herzlichsten Vertrauten von Jugend auf zu betrachten gewöhnt ist: „Vater, treuer, treuer Freund, ich habe das Ziel gefunden, wo ich meinen Anker werfen soll, Vater, ich liebe. Sieh, es ist mein großer Stolz, daß ich mit dieser Freiheit der Empfindung Dir ins väterliche Auge blicken und sagen kann: ich liebe, liebe einen Engel! Nun, Du wirst sie sehen, und wenn Dich ihr Anblick nicht ebenso ergreift wie mich, wenn Dir aus ihrem dunklen Auge nicht ebenso die friedliche Seligkeit entgegenlacht wie mir, so ist es eine Lüge, was mein kindliches Herz von Uebereinstimmung und Harmonie unserer Seelen geträumt hat. Vater, die Gewißheit, die ich in mir trage, daß sie Dich ebenso begeistern wird wie mich, sei Dir ein Bürge meiner Liebe, meiner Wahl.“

Weiterhin bekennt er, daß er ohne sie wohl untergegangen wäre im Strudel neben ihm; er spricht von seinem warmen Blut, seiner wilden Phantasie, seinem ungestümen Gemüth – Antonie war sein Schutzengel. Immer von neuem betheuert er seine innige unendliche Liebe und schließt den im Stil der Schillerschen Jugenddichtungen mit Ueberschwänglichkeit abgefaßten Brief mit den Worten: „Vater, mir stehen die Thränen in den Augen; ich gäb’ eine Welt darum, wenn ich Dich jetzt in diesem heiligen Augenblick umarmen könnte. Wenn ich je das Glück verdiene, was mich an Tonis Herzen erwartet, hab’ ich’s nicht Dir, nicht Deiner Liebe zu danken und der guten, edeln Mutter? Ich werde zu weich. Leb’ wohl! Vater, Du hast einen glücklichen Sohn und bei Gott, er will es verdienen!“

Wehmuth erfüllt alle Leser dieser Zeilen bei dem Gedanken, daß noch im Laufe desselben Jahres eine feindliche Kugel alle diese Träume eines schönen Glückes vernichten sollte. Und welche traurige Zeit für die Braut, als der Geliebte ins Feld gezogen war! Darüber spricht sie sich selbst in einem Brief vom 18. Mai 1813 an „die liebe gütige Mutter“ aus: „Es stürmt gewaltig in meinem Herzen! Nie, ich bitte Sie, nie soll Theodor erfahren, was ich, wie ich leide; aber seiner Mutter, meiner Mutter darf ich ja wohl gestehen, daß ich in diesem Augenblicke sehr unglücklich bin. Sein Leben, seine Gesundheit sovielen Gefahren hingegeben, vielleicht hingeopfert dem Tyrannen! O Mutter, der Gedanke kostet mich schon soviele Thränen und wird mich noch ums Leben bringen.“ Sie arbeitet viel, sie sucht sich zu zerstreuen, doch in der Seele wird’s nicht ruhig. Wie treffend und geistreich sagt sie: „Ich habe soviele Leute um mich und so wenig Menschen.“

Wenn wir uns das Bild des schönen, geist- und seelenvollen Mädchens, welches wir in Nr. 38 unseren Lesern vorgelegt haben, ergänzen wollen, so kommen uns dabei die Mittheilungen Arneths zu Hilfe; wir erfahren, daß sie kohlschwarze Augen und dunkles Haar besessen hat, und daß ihre Stimme stark und klar war, erwähnt sie selbst in den wenigen Aufzeichnungen, die sie hinterlassen; hier erzählt sie auch, wie sie Körners Bekanntschaft machte. Einem alten Schauspieler Krüger war der junge Dichter, der seine ersten kleinen Bühnenstücke verfaßt hatte, von einem Berliner Freunde empfohlen worden. „Geh’ Du nach Wien,“ hatte der joviale Herr dem Dichter scherzend gesagt, „mein Freund Krüger hat eine bildschöne Tochter; für diese schreibst Du einige Rollen, verliebst Dich gelegentlich in das Mädchen, und Dein Glück ist gemacht.“

Der junge Musensohn stimmte in lustiger Weise ein und zog in den ersten Tagen des Januar 1812 nach Wien. Aber es sollte anders kommen, als der Berliner Freund gedacht. Kaiser Franz hatte früher die Aufführung der „Maria Stuart“ verboten auf den Wunsch seiner Gemahlin, welche die Szene zwischen den beiden Königinnen nicht auf der Bühne sehen wollte. Nun war aber die Kaiserin tot; bei einer Probe stritt sich Nelli Krüger mit dem jungen Dichter über die Frage, ob der Kaiser jetzt [756] noch jenes Verbot aufrecht erhalten dürfe. Zur Schiedsrichterin rief sie Antonie Adamberger auf, indem sie dieser den Dichter vorstellte. Körner behauptete, ein Kunstwerk sei Eigenthum der Gesammtheit, Antonie aber sagte ganz einfach: „Ich weiß durchaus nicht, was ein Kaiser darf und was er nicht darf. Aber ich weiß, daß ich als Mensch nie, unter keiner Bedingung das Wort brechen würde, das ich einem Menschen gegeben.“

Dann spielte Antonie im „Grünen Domino“ mit und fand des Dichters Beifall, der selbst am Schluß hervorgerufen wurde. Das waren die ersten Beziehungen zwischen beiden, aber sie hatten schon über sein Herz entschieden. Für Antonie schrieb er seine „Toni“; mit tiefem Weh riß er sich von ihr los, um fürs Vaterland in Kampf und Tod zu gehen.

Als die Eltern Theodors im Juli nach Wien kamen, schenkte die Mutter seiner Toni eine Perlenschnur. Aus Ehrfurcht und andächtiger Scheu hat diese sie nie getragen, aber empfunden hat sie die Wahrheit des Spruches: „Perlen bedeuten Thränen“. Als Körner zu Tode getroffen fiel, hatte er ihr Bild, von Lieder gemalt, auf der Brust, ihren Ring mit einem kleinen Herzen am Finger, ihre Briefe in der Tasche. Im Jahre 1817 schied sie von der Bühne und heirathete einen jungen Offizier, den Ritter von Arneth. Die Erinnerung an den herrlichen Dichter aber hat sie ihr Leben lang treu im Herzen gewahrt, wenngleich sie es vermied, von der glücklichsten und traurigsten Zeit ihres Lebens zu sprechen.  

Weintraubenverkäufer in Wolhynien (Zu dem Bilde S. 741.) Der Schauplatz, auf welchem sich der in unserem Bilde wiedergegebene Vorgang abspielt, ist eine jener düstern öden Moorgegenden, welche neben großem Waldreichthum das nördliche Wolhynien landschaftlich kennzeichnen und auf den Beschauer den Eindruck einer trostlosen Wüstenei machen.

So schlimm steht es jedoch in der That nicht. Im Gegentheil zählt die ehemals polnische, jetzt russische Provinz Wolhynien mit ihrer aus Rußniaken, Juden, Großrussen, Zigeunern, Rumänen, Tataren und selbstverständlich auch Deutschen bestehenden Bevölkerung zu den ergiebigeren und zugleich industriereicheren Bezirken des großen Czarenreiches.

Nein, die Wolhynier darben und verkümmern nicht in der Noth des Daseins, sie können sich wohl den Luxus gestatten, fern vom Süden hergeführte Weintrauben zu kosten. Aber wie ein schwerer Druck lastet der meist bleigraue Himmel über dem Ganzen, und so sieht selbst der Wohlstand kümmerlich, die Armuth doppelt ärmlich aus. Dumpf und stumpf knuspern die magern Gäule an ihrem Futter, sitzen die Männer bei ihrer Ware, betrachten die Bäuerinnen die seltenen Früchte des Südens und überlegen, ob die Befriedigung der Neugierde die geforderten Kopeken (russische Kupfermünze) auch werth sei. Und wenn sie sich dann endlich entschlossen haben, den Aufwand zu machen, dann schelten sie mürrisch über das schlechte grüne Zeug, für das man ihnen ihr gutes sauer verdientes Geld abnehme, und gehen brummend und fröstelnd auseinander. Es fehlt eben die allbelebende Sonne am Himmel, und dieser Mangel drückt der Landschaft und den Menschen ihr Gepräge auf. Sch. 

Ein guter Stand. (Zu dem Bilde S. 753.) Die Hühnersuche ist vorüber, das Feld ist leer. Der Brunftschrei des Hirsches ist verklungen, und Nachtfrost und Sturm haben von Baum und Busch den herbstlichen, in bunter Farbenpracht leuchtenden Blätterschmuck mit rauher Hand abgestreift. Schon zieht aus der nordischen Brutheimath des Jägers Liebling, die Schnepfe, zurück, um nach kurzer Rast im Lande, wo die Citronen blühen, ihre Winterfreuden zu suchen, und Reineke, der Hochstapler mit den bestechenden Manieren, hat, weil’s ihm zu kalt geworden, sein dünnes Sommerjackett mit einem behäbigen Pelzrock vertauscht. Es will Winter werden. Jetzt beginnt die Zeit der Holztreibjagden, und Robert Schleich hat uns auf seinem Bilde „Ein guter Stand“ mitten in das frische lustige Jägerleben einer solchen hineingeführt.

Guten Anlauf haben, oft zu Schuß zu kommen, ist der sehnsüchtige Wunsch aller Jäger. Dieses Jagdglück aber kann vom Jagdgeber, wenn auch nur im beschränkten Maße, beeinflußt werden, denn er kennt ganz genau die Stände, über die beim Treiben erfahrungsmäßig das Wild gern wechselt, besonders aber die Fuchspässe. Daß auf diese kein unsicherer Schütze zu stehen kommt, daran braucht Freund Grünrock nicht erinnert zu werden. Im letzten Triebe hat er seinen Freund, den Hofstallmeister, auf den Fuchspaß an die Kreuzbuche, den besten Wechsel auf dem ganzen Revier, gestellt. Der Hofstallmeister ist aber auch ein Jäger, wie man sie suchen muß, und wenn seine Flinte spricht, so ists gewiß kein Salutschuß – Fehlschüsse kennt er nur dem Namen nach.

Kaum hat das Geklapper der Treiber begonnen, so steckt auch schon Meister Schlauberger sein rothes Spitzbubengesicht aus dem Gebüsch und sucht sich dann über die mit vertrockneten Disteln bewachsene Bahn aus dem Triebe zu stehlen. Aber langsam, vorsichtig hat sich die Flinte gehoben – es knallt – und ohne zu zucken hat Reineke die Strafe für seine vielen Frevelthaten verbüßt.

Der Fuchs ist am leichtesten von allem Wilde zu schießen, wenn man ruhig steht und man, wenn er vertraut antrabt, die Flinte an den Kopf zu kriegen weiß, ohne daß er das Blinken oder die Bewegung der Läufe sieht – das ist die Kunst für den Schützen. Sieht ein Hase sich was bewegen, so macht er häufig „einen Pfahl“ – ja selbst beim Fehlschuß kommt das vor – der Fuchs ist aber so neugierig nicht, blitzschnell ist er verschwunden.

Die Treibwehr rückt klappernd und schreiend näher – Hase hie! wehrt’n! wehrt’n! – Schnepfe, Tiro! – Erdmännchen, hu faß! Ein Reh! ’n Reh! Es knallt an allen Ecken – hier witscht Lampe über die Bahn, dort hoppelt er am Saume des Triebes entlang und dort sucht er sich hinter einem Busche zu drücken – immer begrüßt vom Geknatter der Flinten.

Jetzt, fast ist der Trieb schon beendigt, stürmt bei unserem Freunde an der dicken Buche noch ein Hase heraus – wieder knallt’s – und der arme Lampe überschlägt sich in elegantem Saltomortale und bleibt regungslos liegen.

Der Trieb ist zu Ende, die Treiber kommen aus der Dickung. Der alte Obertreiber tritt zu unserem Schützen: „Einen Fuchs und einen Hasen? Sieh mal einer an. Ja! die Kreuzbuche, die verläßt nicht, Herr Baron – die ist schon seit alters immer ‚ein guter Stand‘.“
Karl Brandt. 




Kleiner Briefkasten.

(Anfragen ohne vollständige Angaben von Namen und Wohnung werden nicht berücksichtigt.)

Fr. H. in Prag. Das vorzügliche Reliefbildniß Mozarts nach dem Grünhofschen Medaillon, welches wir in unserer Nummer 39 abgebildet haben, ist auch in photographischer Vervielfältigung bei Franz Hanfstaengl, Kunstverlag A.-G., in München erschienen.

„Badenserin“ in F. Aber ist denn die freundliche Mutter Natur bei Ihrer Ausstattung wirklich so farbenblind gewesen, daß Sie es nöthig haben, Ihren Haaren mit Gewalt eine andere Farbe zu geben? Das anzunehmen, verbietet uns ebenso die Höflichkeit gegen Sie wie gegen die Allerzeugerin Natur, der man nicht entgegenhandeln soll. Also – kehren Sie nicht eben zu Ihrer ersten Liebe, aber zu Ihrer ursprünglichen Haarfarbe zurück!



Inhalt: [Anm. WS: Inhaltsverzeichnis des vorstehenden Heftes, nicht transkribiert]



E. Marlitt’s Romane und Novellen.
Elegante Einzel-Ausgaben zu billigen Preisen.

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Die Frau mit den Karfunkelsteinen.0000Elegant brosch. M. 4,50. Elegant geb. M. 5,50.

Im Schillingshof.0000Elegant broschiert M. 4,50. 0/0 Elegant gebunden M. 5,50.
Goldelse.0000Elegant broschiert M. 3,––. 0/0 Elegant gebunden M. 4,–.
Amtmanns Magd.0000Elegant broschiert M. 3,––. 0/0 Elegant gebunden M. 4,–.
Thüringer Erzählungen.0000Elegant broschiert M. 3,––. 0/0 Elegant gebunden M. 4,–.

Jeder dieser Romane (nicht illustriert) ist einzeln zu dem beigesetzten Preise in den meisten Buchhandlungen zu haben, und bietet sich allen Marlitt-Verehrern, welche noch nicht sämmtliche Romane der gefeierten Dichterin besitzen, die günstige Gelegenheit, sich das ihnen noch Fehlende auszuwählen und billig zu erwerben. Wo der Bezug auf Hindernisse stößt, wende man sich direkt an die

Verlagshandlung: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig.



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.