Die Gartenlaube (1891)/Heft 45

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1891
Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[757]

Nr. 45.   1891.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf.   In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf.   In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Ein Götzenbild.

Roman von Marie Bernhard.

(9. Fortsetzung.)

„Gnädiges Fräulein,“ sagte unterdessen der verliebte Prinz, der noch immer das Seidengarn hielt und keine Ahnung hatte, daß soeben die Augen seiner nächsten Verwandtschaft voll Erstaunen und Unwillen auf ihm geruht hatten, „gnädiges Fräulein – hat Ihnen der Maler Andree hier draußen in Uhlenhorst schon seinen Besuch gemacht?“

„Nein, noch nicht!“ sagte Stella freundlich und sah dem Prinzen mit ihren leuchtenden Augen in das gespannt aufhorchende Gesicht. „Herr Andree weiß es übrigens, daß er nicht früher hier heraus kommen darf, als bis ich ihn rufe; es bestehen Gründe dafür.“

„Nun – – und Sie?“

„Ich? O – – ich werde ihn rufen, wenn ich es an der Zeit finde.“

Zwischen den geraden Brauen des Prinzen erschienen ein paar feine Fältchen. „Ich wollte, Sie thäten das lieber nicht!“ brachte er nach einer Pause hervor.

„Warum aber nicht, mein Prinz?“

„Mir zu Gefallen!“ Er machte seine schwermütigsten Augen und ließ die erhobenen Hände sinken. „Wenn ich Sie bitte – ich – ich weiß nicht, – aber mir ist dieser Herr nicht sympathisch.“

„Ach! Aber mir ist er sympathisch!“ rief sie wohlgemuth zurück und zog den rothen Seidenfaden straff – sie wollte doch sehen, ob sie die „kleine Durchlaucht“ schon richtig am Fädchen hatte. Da! Er hob gehorsam wieder die Hände auf. „Meine Eltern wollen sogar, ich soll mich von ihm malen lassen.“

„Ihre Eltern würden keine halbe Stunde auf ihrem Wunsch bestehen, sobald Sie selbst, meine Gnädige, sich weigerten.“

„Ganz recht, das würden meine Eltern nicht thun – sie sind sehr gut gegen mich. Aber warum sollte ich mich wohl weigern?“

„Sie können noch fragen?“

„Ja, ich kann noch fragen.“ Stella sah ihn so offen und harmlos wie ein Kind an.

Er biß sich in die Lippen.

„Ich möchte wissen, ob Sie wirklich so raffiniert grausam sind, um mich absichtlich zu quälen, oder ob Sie in der That so unbefangen sein können, nicht zu sehen – –“

„Ich sehe, daß Sie meine arme Seide mißhandeln und daß wir aufhören müssen, wenn Sie so fortfahren. Da! Wieder verwickelt! Mit Ihnen kann man keine Seide spinnen, Prinz!“

Er senkte den Kopf und murmelte: „Schon möglich!“

„Ich will versuchen, den Schaden zu verbessern.“ Damit stand Stella auf, näherte sich dem Prinzen und neigte sich über seine Hände, um den Knoten zu lösen.

Der junge Mann fühlte, wie ihm alles Blut ungestüm zum Herzen schoß. Er fühlte

Van Dyck als Lohengrin.
Nach einer Photographie von Benque u. Comp. in Paris.

[758] ihren leichten Hauch auf seiner Wange, er athmete den feinen Duft ihres Haares ein, ihre Hand streifte die seine wieder und wieder. Er schloß beinahe ganz die Augen und blieb regungslos sitzen, wie gelähmt an allen Gliedern. Das weiße Kleid schimmerte vor seinem Blick, von den beiden blassen La France-Rosen, die Stella auf der Brust trug, ging ein betäubendes Duften aus – er hatte das noch nie an einer solchen Rose bemerkt. Die süße Mailuft, die blühenden Apfelbäume, der herbe Hauch des frischen, jungen Laubes, … alles umspann ihn mit einem fremdartigen Zauber.

– – Die Circe! „Den Schaden verbessern!“ hatte sie gesagt! Und sie vergrößerte ihn ins Unendliche, goß Oel in den Brand und schürte ihn auf jede Weise. Sie gab vor, den Knoten lösen zu wollen, und schürzte ihn so fest, daß er sich schwerlich jemals würde entwirren lassen. Dem Prinzen begann der Kopf zu schwirren. Daß er einmal beabsichtigt hatte, dies schöne Mädchen in sich verliebt zu machen, um schließlich in tadelloser vornehmer Haltung vom Schauplatz abzutreten: „Mein gnädiges Fräulein, – ich habe die Ehre!“ das fiel ihm keine Sekunde mehr ein. Er dachte, er rechnete, er plante nicht mehr – es ging ihm alles unter in dem einen brennenden Wunsch: ich muß sie haben – und Bruder, Stellung, Zukunft und Standesvorurtheil waren vergessen.

Fräulein Stella Brühl sah auf ihn nieder und wußte ebenso genau, was in ihm vorging, als er selbst es fühlte. Nun, sie konnte zufrieden sein! Das war ja über Erwarten rasch und gut gegangen! Eigentlich zu rasch! Sie hatte ja noch allerlei andre stille Pläne, die durften ihr nicht durch diesen kopflos verliebten Prinzen zu Wasser werden.

Wenn doch jemand käme! Die Lage mußte rasch geändert werden – so oder so!

Und es kam in der That jemand.

In der Nähe knirschte der Sand unter einem herankommenden Schritt. Das junge Mädchen ließ die rothe Seide los und trat zurück, der Prinz hob den Kopf und blickte verwirrt um sich, – vor seinen Blicken taumelte alles durcheinander.

Unter einer Gruppe junger Birken, deren herzförmige, hellgrüne Blättchen leise im Lenzeshauch bebten, trat Gerda hervor, und an ihrer Seite schritt Kuno, Ritter von Tillenbach, blöder und verlegener denn je einher.

„Es ist Besuch für Dich da, Stella!“ sagte Gerda kurz. „Hier – Kuno ist gekommen.“

Der Prinz nickte dem in röthliches Tuch gekleideten jungen Herrn, der wie ein halbgar gesottener Lachs aussah, einen herablassenden Gruß zu. Aus Gerda in ihrem unscheinbaren Kleide wußte er nichts Rechtes zu machen und grüßte sie daher auch nicht. Da sie Stella duzte, so hielt er sie für eine entfernte junge Verwandte des Brühlschen Hauses, die eine etwas untergeordnete Stellung einnehme. Daß sie die Schwester seiner Angebeteten sein könnte, darauf kam er einfach nicht, – er hatte überhaupt keine Ahnung, daß sie noch Geschwister habe.

Gerda konnte den hochmüthigen Prinzen nicht leiden, und da sie von dem Grundsatz ausging, jeder Herr müsse jede Dame stets zuerst grüßen, gleichviel, wie er heiße und was er sei, so grüßte sie ebenfalls nicht, und als Stella sie strafend ansah, machte sie ein ganz verständnißloses Gesicht.

„Ach Gott, bitte, Gerda, laufen Sie doch nicht fort!“ bat Kuno kläglich, als sie Miene machte, zu gehen. Der Gedanke, mit Stella, die ihm unerreichbar wie eine Göttin erschien, und mit dem Prinzen, der ihm unendlich imponierte, allein zu bleiben, machte den blöden Kuno ganz elend. Eigentlich plauderte er am liebsten mit Gerda, ihre schöne Schwester schüchterte ihn hoffnungslos ein, sein letztes Restchen Verstand flog davon, sobald er mit ihr reden sollte, – – und was sollte er denn auch mit ihr reden?

„Sind Sie heute allein zu uns herausgekommen?“ frug Stella. Sie behandelte Kuno leidlich, weil er ihr so gut zu paß gekommen war.

„Nein! Herr Grimm fuhr mit mir heraus. Er ist bei Ihrem Herrn Papa und redet mit dem. Aber was er mit ihm zu reden hat, das hat er mir nicht gesagt.“

Der Prinz, der neben einem blühenden Weißdorngesträuch stand und mechanisch an den kleinen, halberschlossenen Blüthen herumzupfte, wobei er sich abgewendet hielt, drehte sich plötzlich kurz um und sah Stella nach den Augen, mit einer zornigen und ungeduldigen Frage im Blick.

Das schöne Mädchen zuckte dazu leicht die Achseln, was ein wenig gleichgültig aussah und sich etwa übersetzen ließ: „Thu’, was Du willst! Wenn Du es nicht länger ertragen kannst – ich halte Dich nicht! Ich muß aber ausharren!“

Laut sagte sie dann: „Und Sie sind von den beiden Herren wohl fortgeschickt worden, Kuno? Sie müssen nämlich wissen, Prinz, Kuno und ich, wir sind Jugendgespielen, er ist einige Jahre älter als ich, hat aber immer viel Geduld mit mir gehabt und sogar mir zuliebe mit Wachspuppen gespielt und mit mir gekocht.“

„O ja, – ja!“ fiel Kuno eifrig ein. „Wir haben miteinander Chokoladencreme gemacht und kleine Omeletten gebacken, – wissen Sie noch, Stella, wie Sie sich die Händchen dabei verbrannten und weinten? Ich weinte auch, – ja, wahrhaftig, auf Ehre, ich weinte auch, – was hätte ich sonst thun sollen? Ich spielte immer sehr gern mit Stella, sie war ein so schönes Kind! Sie glauben es gar nicht, Durchlaucht, was für ein schönes Kind damals Stella war.“

„O ja, gewiß, ich glaube es schon,“ pflichtete der Prinz mit starker Betonung bei.

Der arme Kuno behielt den Mund vor Verblüffung offen, was nicht zu seiner Verschönerung beitrug. Hatte er etwas Dummes gesagt? Er drehte seinen niedrigen Sommerhut in den Händen hin und her und fragte endlich mit gänzlich verschüchterter, kleinlauter Stimme:

„Soll ich lieber wieder gehen?“

Darauf sah Gerda ihn mitleidig an und Stella lachte.

„Bewahre, Kuno! Die Herren drinnen können Sie entschieden nicht brauchen. Bleiben Sie nur! Hier – Sie können mir die Seide halten – aber vorsichtig, wenn ich bitten darf! So, – hierher setzen Sie sich! Warum sehen Sie so düster aus, Prinz Riantzew? Alte Jugend- und Spielkameraden haben doch auch ihre Rechte!“

„Zumal, wenn sie Millionenmännchen sind!“ dachte Gerda spöttisch den Mund verziehend.

Der Prinz lächelte ebenfalls spöttisch. Da saß nun dieser „Halb-Idiot“ in der Nähe des schönen Mädchens und nahm seine – des Prinzen – Stelle ein, und er – der Prinz – konnte daneben stehen und sich das ansehen! Unerhört! Was dachte, – was erlaubte sich denn diese Hamburger Bürgerstochter? Wenn auch keine Rede davon sein konnte, daß er – der Prinz – in einem solchen Hanswurst von Mann einen Nebenbuhler sehen durfte, so war doch die Art, wie Stella den einen neben den andern stellte, einfach empörend. Das beste war, er empörte sich wirklich und ging fort.

Einen entrüsteten Blick warf er noch auf die Gruppe – – und blieb halb abgewendet stehen. Denn dieser Blick hatte ihn in Stellas Augen lesen lassen, … was stand darin geschrieben?

„Du wirst doch nicht denken, ich könnte diesen armen Narren ernst nehmen? Du wirst doch nicht so abgeschmackt sein, mir zu zürnen? Ich bitte, ja, ich bitte Dich, thu das nicht! Sieh, es müßte Dir eigentlich an mir gefallen, daß ich ein so weiches Herz habe und Barmherzigkeit übe an dem blöden Jungen, den ich mit einem Wink meiner Hand selig machen kann. Bleib, ich bitte Dich, bleib!“

Das alles stand in den wunderschönen blauen Augen zu lesen, und der Prinz war auf solche Lektüre in hübschen Frauengesichtern sehr eingeschult. Er verstand also und blieb – – blieb ungern und zögernd, drehte der Gruppe fast den Rücken, – aber er ging doch nicht.

Gerda, die sich halb hinter ein Gebüsch zurückgezogen hatte und auf die niemand weiter acht gab, beobachtete das alles mit ihren klugen Augen. Ein halb belustigtes, halb verächtliches Lächeln hob ihre Lippe, – plötzlich schien ihr ein Gedanke zu kommen. Sie wühlte in ihrer Kleidertasche und brachte endlich ein ziemlich großes Stück weißes, zerknittertes Papier und einen Bleistift zum Vorschein. Sie zog ihr linkes Knie hoch, stemmte es gegen den nächsten Baumstamm, legte das Papier darauf, und in dieser unbequemen Stellung fuhr sie mit dem Bleistift auf dem weißen Blatt hin und her, fixierte dann wieder mit scharfem Blick die drei stummen Persönlichkeiten in ihrer Nähe und strichelte emsig weiter. Zuletzt lachte sie leise in sich hinein, sah prüfend [759] auf ihr Machwerk nieder, setzte mit fliegender Hast eine Unterschrift darunter und faltete das Papier sorgsam zusammen, um es sammt dem Bleistift wieder wegzustecken. Das Knie that ihr weh, als sie es endlich wieder herunterließ, aber sie sah ganz schelmisch und zufrieden aus, als sie sich sachte davonschlich.




15.

„Du wunderst Dich natürlich sehr, daß ich zu Dir herauskomme, nicht wahr, Brühl?“

Mit diesen Worten trat Herr Grimm, der einstige Freund und Compagnon des Senators Brühl, in dessen Wohnzimmer.

„Du willst sagen, ich freue mich, daß Du mir einmal die Ehre erweisest, hierherzukommen, lieber Bernhard,“ rief der Senator eifrig. „Nimm diesen Fauteuil, lieber Freund, er ist am bequemsten. Ich kann es nicht ausdenken, seit wann Du zum letzten Mal auf der Uhlenhorst gewesen bist.“

„Nun, – auf der Uhlenhorst bin ich oft genug gewesen, – nur hier in Deiner Villa, – nein! Du weißt es, ich komme nicht gern hierher!“

Der Senator schien es wirklich zu wissen und mit einem geradezu körperlichen Unbehagen zu empfinden. Sein Fauteuil mußte lange nicht so bequem sein wie der, welchen er seinem Gast angeboten hatte, denn er rückte unruhig darauf hin und her und sah in das sonnenbeschienene Grün hinaus, das sich vor dem geöffneten Fenster hinzog.

„Du darfst nicht denken, daß ich den armen Einfaltspinsel, den Kuno, extra in der Stadt aufgelesen habe, um ihn Dir, beziehungsweise Deinen Damen als auserlesene Ueberraschung mitzubringen. Wir trafen zufällig zusammen, und ich konnte nicht umhin, das kleine Jammermännchen unter meine Flügel zu nehmen. Genug von ihm! Die Prinzessin wird schon wissen, was sie mit ihm anzufangen hat. Es ist Gerda, um derentwillen ich komme.“

„Gerda?“ Des Senators Stirn verdüsterte sich.

„Warum siehst Du so unzufrieden aus?“

„Ich? Lieber Grimm, weil Gerda mir Sorge macht.“ Er rückte dem Gast näher und legte seine Hand zutraulich auf dessen Knie. „Was soll einmal aus dem Mädchen werden, ich bitte Dich! Ich, wie Du mich da siehst, habe alle Hände voll damit zu thun, die Ansprüche meiner Frau und Tochter –“ er sprach, als ob er nur eine einzige Tochter hätte! – „zu befriedigen. Wenn man eine solche Tochter hat, dann giebt es Verpflichtungen, – kurz, – das begreift sich. Jetzt das Porzellanzimmer, – ein Wunder von Geschmack und Schönheit, aber natürlich auch an Kostbarkeit,“ – er lachte etwas gezwungen – „und ein großes Bild soll von ihr gemalt werden, – hier soll es ein Einweihungsfest geben, – ich muß mich geschäftlich nach allen Seiten hin stark engagieren, um nur diese häuslichen Ausgaben zu decken. Ja, wenn Du mir noch mit Deinem bewährten Rath, mit Deinem kolossalen Ueberblick und Deiner Geschäftskenntniß zur Seite stehen wolltest! Es giebt Deinesgleichen sobald nicht in der Hamburger Kaufmannswelt, und es würde mir vom ungeheuersten Nutzen sein –“

„Laß’ doch das, Brühl!“ unterbrach ihn Herr Grimm mit einer abwehrenden Handbewegung und völlig unbewegter Miene. „Du weißt, das ist vergebliche Mühe, und Du kennst auch meine Gründe dafür. Was hat das alles mit Gerda zu thun?“

„Ja so, – mit Gerda!“ Der Senator bemühte sich, seine Enttäuschung zu verbergen und einen Seufzer zu unterdrücken. „Ich meine eben, lieber Bernhard, ein solches Mädchen, das nun einmal so aussieht wie sie und also nicht die mindeste Aussicht bietet, einmal eine Partie zu machen, – ein solches Mädchen muß doch wenigstens etwas lernen. Ich lasse es mich ein gehöriges Stück Geld kosten, damit sie und der Junge vorwärts kommen“ –

„Aber nach der falschen Richtung!“ unterbrach ihn Grimm mit gerunzelter Stirn. „Weil der Junge träge und nicht sehr begabt zum Lernen ist, darum muß das arme Kind, Gerda meine ich, sich mit alten Sprachen und allerlei schwerem, unverdaulichem Zeug vollpfropfen, das ihr im späteren Leben nur unnützer Ballast werden kann, und das, wofür sie die Natur bestimmt hat und wofür sie Veranlagung besitzt, bleibt in ihr unterdrückt und unausgebildet. Du weißt es, ich habe mich all diese langen Jahre hindurch jeder Einmischung in Deine persönlichen Verhältnisse enthalten, und es fällt mir schwerer, als Du ahnst, mein mir gegebenes Wort zu brechen und dennoch meine Hand in Deine Angelegenheiten zu stecken. Aber das Kind dauert mich zu sehr, – Du kannst daraus ersehen, wie ich es ins Herz geschlossen habe.“

„Was findest Du an dem Mädchen?“

„Das ist nun meine Sache!“ fertigte Grimm die Zwischenfrage kurz ab. „Wenn Du, als ihr Vater, Dir nicht die Mühe gegeben hast, das Kind zu beobachten und festzustellen, was an ihm beachtenswerth und liebenswürdig ist, ich habe mich dieser Aufgabe unterzogen und weiß, was ich von Gerda zu halten habe. Und wenn sie weiter so erzogen und behandelt wird wie bisher –“

„Hat sie sich über ihre Erziehung und Behandlung bei Dir beschwert?“

„Gleichviel, ob sie das that oder nicht – mit einem Wort, ich bin gekommen, um Dir einen Vorschlag zu machen. „Ich bin Stellas Pathe geworden, damals, weißt Du, als wir noch gute Freunde waren. Nimm Du nun an, ich sei Gerdas Pathe! Die Prinzessin braucht mich nicht, – Gerda kann mich brauchen. Bei Stella stand Glück und Schönheit und Glanz und Freude mit mir als Pathe, – bei Gerda stehe ich ganz allein da. Du und Deine Gemahlin, Ihr fragt nichts nach Eurer jüngsten Tochter, – gut denn: gebt sie mir! Laßt mich Gerda zu mir nehmen als mein Kind und für sie sorgen! Sie zu einem guten, tüchtigen Menschen heranzubilden, soll meine Lebensaufgabe sein.“

Herr Senator Brühl saß ganz starr da wie eine Bildsäule. Wie mußte Grimm das unreife, unschöne Kind lieben, um ihm, dem Senator, von dem er sich lange Jahre hindurch so absichtlich fern gehalten hatte, ein solches Anerbieten, das ihre beiden Häuser selbstverständlich wieder in nähere Beziehung zu einander brachte, zu stellen? Der Senator hatte lange Zeit hindurch mit aller Kraft danach gerungen, diese näheren Beziehungen wieder herzustellen, denn er fühlte es immer wieder, wie sein kühles und fremdes Verhältniß zu dem ehemaligen Freund und Geschäftstheilhaber ihm bei seinen alten Geschäftsfreunden schadete und wie es ihnen immer noch zu denken gab. Jetzt, nach so langen Jahren, sollte das anders werden? Würde es ihm auch heute noch nützen? Würde Grimm ihm auch geschäftlich die Hand reichen, wie er, der Senator, es sich so sehnlichst wünschte? Doch wohl! Aber seine Frau, und vor allem seine Tochter Stella, – was würden sie sagen, wenn er so ohne weiteres über Gerda verfügte? Sie hingen nicht an dem Mädchen, es war ihnen beiden gleichgültig, das war sicher, – aber sie würden beide außer sich gerathen, wenn sie Herrn Grimms Pflegetochter würde, das war ebenso sicher.

Freilich, wenn Grimm forderte, wenn er ernstlich sein Anerbieten in die Form eines Verlangens kleidete, dann hatte Herr Senator Brühl zu gehorchen, das wußte er nur zu genau. Seine Gemahlin und Stella hatten sich oft genug heimlich und laut gewundert, daß der Gatte und Vater Herrn Grimm einen so großen Einfluß einräumte, sich jederzeit seinem Urtheil unterwarf und von seiner Familie geradezu forderte – er, der sonst kaum etwas zu erbitten wagte! – daß sie auf Herrn Grimm jederzeit Rücksicht nehme. Einmal hatte sich der Senator Stella gegenüber die Bemerkung entschlüpfen lassen, er sei seinem ehemaligen Compagnon lebenslänglich verpflichtet für einen Dienst, den dieser ihm einst geleistet habe. Welcher Art derselbe gewesen, davon hatte er kein Wort gesagt, und schon die kurze Andeutung schien ihn zu reuen. Aber er stand unter einem moralischen Zwang, und wenn Herr Grimm jetzt sagte: „Ich will Gerda haben!“ so hatte sich der Senator zu fügen und sie ihm zu geben. –

Er zwinkerte mit den Augen, fuhr sich mit der rechten Hand durchs Haar, so daß das Sperbergefieder sich mehr denn je sträubte, und feuchtete seine trocknen Lippen wiederholt mit der Zungenspitze an.

„Ich stehe, – ich stehe,“ brachte er endlich hervor – „ich stehe unter dem Eindruck einer ungeheuren Ueberraschung, und ich bitte Dich, damit zu rechnen – mit meiner wirklich ungeheuren Ueberraschung zu rechnen! Du siehst mich überwältigt, mein lieber, alter Freund! Du siehst mich, – ja, Du siehst mich (Herr Grimm sah ihn in der That, und zwar mit sehr scharfen, prüfenden Augen!) vollkommen fassungslos. Es ist dies von Dir ein Anerbieten, das mir als Vater, das meiner Frau als Mutter völlig [760] unerwartet kommen muß. Ein Kind, – ein leibliches Kind fortgeben, – aus dem Hause geben? Ich frage Dich nur das eine: was werden die Leute dazu sagen?“

„Das ist mir herzlich gleichgültig, und es wäre mir lieb, wenn Du Dich auf denselben Standpunkt stelltest. Im übrigen, – ich werde die Thatsache, sobald sie erst eine geworden ist, schon zu vertreten wissen. Ich fühle mich allein, ich liebe die Jugend, ich möchte ein frisches, belebendes Element um mich haben, – Du leistest mir einen großen Dienst.“

„In der That, – Du bist zu gütig. Daß ich Dir jeden Dienst, – das versteht sich ja von selbst – – aber nun Gerda, – als belebendes Element – –“

„Mir ist sie eins! Mich belebt sie! Du kennst Dein eigenes Kind nicht, hast Dir nie die Mühe genommen, es kennenzulernen. Nun, schadet auch nichts, ich kenne Gerda, und ich möchte sie haben!“

Diesmal legte Herr Grimm schon mehr Nachdruck auf die letzten Worte. Dem Senatar wurde es sehr heiß. Er suchte lange nach seiner Rocktasche, um sein Taschentuch zu finden, betastete hilflos seinen ganzen Körper und athmete hörbar.

„Du gestattest, daß ich mit meiner Frau darüber spreche,“ murmelte er endlich.

„Mein guter Brühl,“ sagte Grimm sehr ruhig und strich mit zwei Fingern der rechten Hand über sein kleines Schnurrbärtchen, „Deine Gemahlin wird ganz und gar dagegen sein!“

„Oh!“ machte der Senatar. „Ja, siehst Du, – und Stella –“

„Auch Stella wird ganz und gar dagegen sein. Es ist Deine Aufgabe, den Widerstand dieser beiden Damen zu besiegen.“

Der Senatar sah sehr unglücklich aus, – ihn schien diese Aufgabe nicht zu begeistern. Er hatte endlich sein kleines, rothseidenes Taschentuch aus der Tiefe einer Rocktasche ausgegraben und bearbeitete damit sein feuchtes Gesicht.

„Wenn Du es durchaus wünschest …“

„Ganz recht! Ich wünsche es durchaus! Jetzt, da es Sommer wird, möchte ich natürlich das Kind nicht in meine Stadtwohnung einsperren, – sie hat hier mehr Freiheit, – vorausgesetzt, daß ihr genügende Freiheit gewährt wird, wofür ich Dich zu sorgen bitte. Da Deine Kronprinzessin keine Reiselust bezeigt, – ich glaube, die Gründe dafür zu kennen, aber gleichviel! – so werdet Ihr ja wohl alle hier in Uhlenhorst bis zum Herbst zusammenbleiben. Erfolgt Eure Uebersiedlung zur Stadt, dann möchte ich, daß Gerda ihrerseits zu mir übersiedelt. Du kannst ja Deine Gattin und Prinzessin Tochter einstweilen auf diese Thatsache vorbereiten. Abgemacht?“

Er hielt ihm die Hand hin, – aber der Senator zögerte immer noch. „Wenn es denn wirklich Dein voller Ernst ist …“

Herr Grimm erhob sich, seine ruhigen, klugen Augen begannen zu funkeln.

„Kannst Du ernstlich annehmen, ich würde mit einer so wichtigen Sache Scherz treiben? Mir ist durchaus nicht spaßhaft zu Muth, mein guter Brühl, wenn ich Dir zum letzten Mal sage: ich möchte Gerda haben!“

Es war das letzte Mal, – der Senatar fühlte es deutlich. Sein ehemaliger Freund hatte aufgehört, ihm einen Vorschlag zu machen, einen Wunsch auszusprechen: er forderte, – – und Brühl mußte gehorchen.

„Sei mir um Gotteswillen nicht böse, lieber, alter Freund,“ sagte er kläglich und faßte jetzt die Rechte des anderen mit seinen beiden Händen, „es soll ja alles sein, wie Du sagst, ich werde mit Molly und Stella reden und werde den harten Strauß muthig auszufechten bestrebt sein. Denn ein harter Strauß wird es werden, Bernhard, Du – Du kannst Dir schwerlich davon eine Vorstellung machen! Es ist von Dir, einem Hagestolzen, nicht zu verlangen, daß Du Dich in die Gefühle eines Vaters, einer Mutter und einer Schwester versetzest, denen man – –“

„Bitte,“ unterbrach ihn Herr Grimm trocken, „Du kannst dies immerhin dreist von mir verlangen, obgleich ich unverheirathet bin. In die Gefühle, die Ihr als Eltern und Stella als Schwester für Gerda hegt, kann ich mich mit leichtester Mühe hineinversetzen, und ich weiß ganz genau, daß ich keinem von Euch das Herz zerreiße, wenn ich das Mädchen zu mir nehme. Du wirst Deine Frau und Tochter noch heute von meiner und Deiner Absicht verständigen?“

„Ja!“ seufzte der Senator, vollständig überwunden.

„Und Du wirst ferner die Freundlichkeit haben, bei Deinem hier auf der Uhlenhorst bevorstehenden Sommerfest einigen Deiner Gäste – ich brauche sie Dir nicht näher zu bezeichnen – von der baldigen Umgestaltung der Dinge Mittheilung zu machen und ihnen zu sagen, ich hätte Dich und Deine Gattin gebeten, mir mein Pathenkind Gerda als Pflegetochter zu überlassen, und Ihr wäret darauf eingegangen. Daß nicht Gerda, sondern Stella einmal mein Pathchen gewesen ist, dürften die wenigsten wissen, denn die es wußten, werden es vergessen haben. Die neue Thatsache in Deinem ganzen großen Bekanntenkreise zu verbreiten, das werden die paar Gäste, denen Du Deine Eröffnung machst, schon mit der nöthigen Schnelligkeit besorgen; dergleichen kommt herum wie ein Lauffeuer. Ich selbst bin so frei, mich, entgegen meiner sonstigen Gewohnheit, zu Deinem Sommerfest gleichfalls als Gast einzuladen, und werde auch meinerseits alles dazu thun, Dir in die Hände zu arbeiten. – Inzwischen gestattest Du mir wohl, mein Adaptivkind schon jetzt mit einigen Kleinigkeiten zu erfreuen, nach denen, wie ich weiß, ihr kleines Herz steht. Ich rechne dahin auch ein Pferdchen, das in den nächsten Tagen hierhergebracht werden wird. Kann Stellas Jokey den ersten Unterricht nicht übernehmen, oder wünscht dies seine Herrin nicht, so werde ich für einen tüchtigen Reitknecht sorgen. Die Reitstudien sollen nicht nur ein Vergnügen für Gerda werden, sondern vielmehr auch ein ihrer Gesundheit zuträglicher Sport. Das Kind ist rasch gewachsen und blutarm, es braucht viel Bewegung in freier Luft. Ich gehe jetzt und suche mir meine neue Tochter im Garten auf, um ihr die Verhältnisse ein wenig klar zu legen. Daß sie gern einwilligen wird, glaube ich bestimmt zu wissen. – Also adieu, Brühl! Noch eins: bist Du zufällig bei Wildensteiner Prioritäts-Obligationen betheiligt?“

Der Senatar sah Herrn Grimm eine kleine Weile ganz starr ins Gesicht, ehe er überhaupt begriff. Diese vernünftige geschäftliche Frage mitten in die Unterhandlungen über Gerda hinein, die Grimm schon „seine neue Tochter“ nannte und über die er schon ganz als solche verfügte, machte ihn verblüfft. Sein Gast mußte die Frage wiederholen.

„Wo bist Du mit Deinen Gedanken, Brühl? Ich frage Dich, ob Du bei Wildensteiner Prioritäts-Obligationen betheiligt bist. Hast Du gekauft?“

„Ja, ich habe!“ sagte der Senatar langsam, noch immer ganz benommen.

„Wieviel? Eine große Summe?“

„Allerdings! So ziemlich alles, worüber ich für den Augenblick verfügen konnte – fünf- bis sechsmalhunderttausend werden’s sein.“

„Verkauf’, so rasch Du kannst! Such’ die ganze Geschichte, sobald es irgend angeht, loszuwerden, es ist ein ganz fauler Zauber damit. Nimm Kornhöfer Industrie-Aktien dafür!“

„Du meinst? Für alles?“

„Für alles! Du wirst gut dabei fahren, denk’ an mein Wort! Aber was Du thust, das thue bald! Du kannst gleich an Deinen ersten Buchhalter telephonieren, er soll die Obligationen schleunigst abwerfen und die Aktien belegen. Adieu!“

Herr Grimm war zur Thür hinaus.

Der Senatar, welcher so verdutzt war, daß er nicht einmal seinen Gast bis zur Thür begleitete, blieb sitzen und sah diese Thür an, wie wenn sie ihm helfen könnte. Er war kein schneller Denker. Es dauerte ziemlich lange, bis sich die Gedanken in seinem Kopf einigermaßen geordnet hatten.

Nun hatte Grimm seit langen, undenklichen Jahren zum ersten Mal wieder mit ihm von Geschäften gesprochen, ihm einen Rath ertheilt. Er erinnerte sich der Zeit, da ihm dieser Rath stets zur Verfügung gestanden hatte, der Zeit, da das Triumvirat Brühl, Winzer, Grimm gemeinsam eine Firma gebildet und gemeinsam sich gemüht hatte, emporzukommen. Sie hatten damals mit Recht Bernhard Grimm den „Kopf“ genannt, der das Ganze leitete, Brühl und Winzer waren die beiden Hände gewesen, die das ausführten, was der Kopf ersonnen hatte. Immer hatte er das Richtige getroffen, sie hatten oft mit einander gelacht über die wunderbar feine Witterung, mit der er Schwankungen an der Börse spürte, Veränderungen voraussah. Ohne Zweifel war auch der heutige Rath gut und werthvoll, mehr noch als damals, denn die langjährige Erfahrung hatte den Blick des klugen Mannes noch mehr geschärft, die Fühlung noch feiner gemacht. Er hatte seinem ehemaligen Compagnon diesen geschäftlichen Wink als ein Pflaster

[761]

Welke Blätter.
Nach dem Gemälde von Louis Doyen.

[762] auf die Wunde, die er ihm geschlagen, legen wollen, ihm einen Brocken zugeworfen, um ihm die soeben erlittene Demüthigung ein wenig zu vergüten, das fühlte der Senator recht gut, und seine Dankbarkeit hatte einen bittern Beigeschmack. Recht wohl war ihm ohnehin nie, wenn er diesen Grimm zu sehen bekam, so zuvorkommend er ihn auch stets behandelte.

Die guten, alten Zeiten! Die glücklichen Stunden, wenn die drei fröhlichen, sorglosen Junggesellen zusammensaßen und plauderten von ihrer lustigen Kinder- und Schulzeit, von ihren Eroberungen und Zukunftsplänen! Brühl war allezeit der ehrgeizigste gewesen, der, welcher am höchsten hinaus wollte, – er hätte am liebsten die waghalsigsten Spekulationen unternommen, um nur rasch zu Ansehen und Reichthum zu kommen. Aber Grimm, der vorsichtige „Kopf“, ließ es nicht zu, daß die vorschnelle „Hand“ übereilte Griffe that, er wollte stetig und langsam in die Höhe kommen und versprach es den zwei anderen immer wieder: „Nur Geduld, wir steigen schon empor!“

– – – Wenn nur Gerhard Winzer nicht immer ein so lockerer, leichter Patron gewesen wäre! Er konnte es nicht lassen, ab und zu „ein kleines Börsenmanöverchen“ auf eigene Hand zu machen, oft mit gutem Erfolg, denn er war sehr begabt, oft aber auch mit erheblichem Schaden. weil er eben ein Bruder Leichtfuß war und die Folgen nicht abmaß. Winzer spekulierte nicht aus Ehrgeiz oder Geldgier, beides lag ihm fern, aber er lebte gern gut, der Gedanke. sich diesen oder jenen Genuß versagen zu müssen, konnte ihn ganz elend machen; zudem hielt er es für seine Pflicht, die Firma großartig zu vertreten und die Leute zu dem Glauben zu bringen, es ginge ihr glänzend, was ja ihrem kaufmännischen Ruf nur nützlich sein könne. Der hübsche Gerhard Winzer, der überall gern gesehen wurde, dem niemand lange böse sein konnte, selbst der verständige Grimm nicht, ließ es sich wohl sein auf Erden, was, nach seiner Meinung, jedes Menschen erste Pflicht war. Er hatte Liebesabenteuer an allen Ecken und Enden, er hielt sich ein Pferd, hatte eine elegante Wohnung und liebte es, zuweilen ein kleines Spielchen zu machen, und wenn es auch ein Hazardspielchen war, – lieber Gott, das prickelte ihm so angenehm in den Nerven, und seine Nerven bedurften der Anregung! Aber einmal, da hatte es ein unglückseliges Zusammentreffen gegeben: ein auf eigene Hand von dem unternehmenden Gerhard Winzer geplantes Börsenmanöver, das sehr glänzend hätte ausfallen können, war ins Gegentheil umgeschlagen, die Firma hatte einen gehörigen materiellen Schaden, und, was schlimmer war, ihr Kredit, ihr Ansehen kam ins Wanken. Und dann hatte das nervenanregende Hazardspielchen großartige Verhältnisse angenommen, Winzer hatte böse Verluste gehabt, die er auszugleichen gedachte. Er lief, wie man zu sagen pflegt, seinem Gelde nach, aber es ließ sich von ihm nicht einholen, und es kam, als sich der ganze Verlust übersehen ließ, eine so bedeutende Ziffer heraus, daß selbst der leichtherzige Lebemann erschrak. Er sah nun selbst ein: so durfte es nicht weiter fortgehen, – er riß seine beiden alten Freunde ins Verderben und brachte die Firma um den Kredit. Darum beschloß er, zu gehen, was ihm weiter nicht so besonders schwer fiel, denn sein Heimathsgefühl war nie sehr stark entwickelt gewesen, und für seine Freunde war es besser, er befreite sie von seiner Persönlichkeit. Brühl zumal, der inzwischen eine sehr verwöhnte, anspruchsvolle Dame geheirathet hatte und bereits Vater eines Töchterchens war, fing an, den lustigen Verschwender mit nichts weniger als freundlichen Blicken anzusehen, und das alte, vertrauliche Verhältniß schien bedenklich gelockert. So zogen denn Grimm und Brühl mit Mühe noch eine kleine Summe aus dem so schwer geschädigten Geschäft und gaben von ihren eigenen Mitteln her, was sie entbehren konnten, das heißt, Grimm, der unverheirathet geblieben war und für sich selbst wenig verbrauchte, nahm den Löwenantheil davon auf sich, und mit diesem Gelde versehen, machte sich Winzer auf den Weg nach dem gelobten Lande Amerika.

Zuvor gaben ihm seine beiden Freunde noch ein kleines, hübsches Abschiedsessen in einem Weinkeller. Winzer war dabei bald lustig, bald sentimental; jetzt hatte er „große Rosinen“ im Kopf, sah sich als Krösus in Philadelphia herumstolzieren und die alte Hamburger Dürftigkeit mitleidig belächeln, – zehn Minuten später erblickte er sich im Geist als Drehorgelspieler, Zeitungsverkäufer oder Straßenfeger in einem schäbigen Habit, einen einzigen Cent in der Tasche, – und dazwischen leerte er sein Glas Röderer und knetete Brotkügelchen und baute eine Pyramide aus Austernschalen und griff sich plötzlich in die Brusttasche und zog ein zusammengefaltetes Papier heraus und drückte es Brühl in die Hand mit dem Rufe: „Da ist es! Da nimm es!“ Und auf die verwunderte Frage: „Was denn?“ hieß es in gerührt weinseligem Ton weiter: „Mein Lotterielos, Kinder! Ein ganzes! Redlich und ehrlich von meinem kleinen Privatgewinn bei den Dettebürger Hütten-Aktien erworben. Ich hab’s auf die Firma anschreiben lassen, der Esel von einem Kollekteur brauchte es ja nicht zu wissen, daß ich es auf meine eigene Kappe nahm. Nimm es hin, Brühl, edle Biederseele, und wenn es das große Los gewinnt, dann, Kinder, meldet es mir per Draht, und es soll mir lieb sein, die Kunde zu vernehmen. Ist’s aber, was leider viel wahrscheinlicher ist, eine verfluchte Niete, dann zündet Euch jeder mit der Hälfte dieses Loses eine Friedenscigarette an und raucht dieselbe zu meinem Andenken! – Geschrieben wird nicht eher, als bis ich zu vermelden habe: es geht mir gut! Und damit soll’s geschieden sein!“ – –

Brühl sah ihn deutlich im Geist vor sich, den fidelen Gerhard Winzer, wie er in dem grellen Lampenlicht vor ihm stand, den Kopf etwas geneigt, den Hut unternehmend schief gerückt, die schimmernden Augen halb zugedrückt. Er hatte die beiden Freunde abwechselnd an sein Herz gedrückt und hatte ein wenig geschluchzt und dazwischen gelacht und gesagt. „Kinder, es ist der Sekt!“ und hatte sie beschworen, nicht aufs Schiff zu kommen, denn ein Abschied zu Wasser sei das Scheußlichste, was er kenne, – dann war er gegangen.

Gegangen auf Nimmerwiederkehr! Denn sie hatten nichts mehr von Gerhard Winzer gehört, kein Laut, keine Kunde war mehr zu ihnen gedrungen. Sie hatten in den ersten Wochen nach seiner Abreise jeden Tag mit nervöser Geschwindigkeit die eingegangenen Postsachen durchblättert, umsonst, kein Lebenszeichen von Gerhard Winzer!

Kurze Zeit nach Winzers Abfahrt ging es aber den bei den zurückgebliebenen Freunden selbst schlecht, – so schlecht, daß sie wirklich kaum mehr an den Deserteur dachten, und wenn sie es thaten, immer in einem halb neidischen Gefühl: „Der ist doch gut dran! Der hat sich beizeiten aus dem Staube gemacht, und da drüben kennt ihn kein Mensch, während hier die Leute bald mit Fingern auf uns zeigen werden!“

– – – Sie hatten spekuliert, sie hatten es müssen, um sich einigermaßen in die Höhe zu arbeiten, sich von dem schweren Schlage, den die Firma erlitten hatte, zu erholen, – selbst der vorsichtige Grimm hatte das für nothwendig gehalten. Nun traf es sich unglücklich, daß ein großes überseeisches Haus, mit dem sie sich weit eingelassen hatten, ganz unerwartet seine Zahlungen einstellte und sie jetzt „fest saßen“, – zum Verzweifeln fest!

Namentlich Brühl verlor vollständig den Kopf, und man konnte ihm das nicht so ganz verargen. Grimm stand allein, er konnte schlimmstenfalls, wenn die Firma nicht mehr zu halten war, auch „hinüber“ gehen nach Amerika oder nach den Kolonien oder auch in eine andere Handelsstadt übersiedeln. Brühl aber hatte eine Familie gegründet, er brauchte viel, er war ein Hamburger Kind, eine stadtbekannte Persönlichkeit, er hatte einen großen Umgangskreis, machte ein feines Haus und war überdies, von seiner Gattin darin redlich bestärkt, eitel und ehrsüchtig, er wollte glänzen, eine Rolle spielen, nicht aber ins Dunkel zurücktreten oder gar aus seiner geliebten Vaterstadt verschwinden. Bernhard Grimm hatte Mühe, den Fassungslosen zu beruhigen und ihn von ganz gefährlichen Ideen abzubringen. Brühl sprach von Selbstmord, von Pistolenkugeln und anscheinendem Verunglücken bei einer Segelpartie, – er gestand seinem Freunde, daß seine Frau völlig ahnungslos sei, daß er nicht den Muth gefunden habe, ihr auch nur ein Wort von der so nahe bevorstehenden Katastrophe zu sagen, daß sie, ihrer etwas angegriffenen Gesundheit halber, eine kostspielige Reise mit Kind, Wärterin und Jungfer nach dem Süden unternommen, daß sie ihn zu einem Hauskauf gedrängt habe, da es sie geniere und demüthige, zur Miethe zu wohnen, und daß er diesen Kauf eigentlich schon abgeschlossen habe, im festen Vertrauen, ihre Spekulation werde sich glänzend bewähren. Grimm war entrüstet über so viel Unvernunft und Schwäche, allein seine Entrüstung machte die Thatsachen nicht ungeschehen. Das Schwert hing drohend über ihren Häuptern, jeden Augenblick konnte es herabstürzen. – –

(Fortsetzung folgt.)
[763]
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Die Astronomie auf der Straße.

II.

In Nr. 18 dieses Jahrgangs haben wir den Versuch gemacht, an der Hand eines Theilkärtchens des gestirnten Himmels den Freunden der Himmelsbeobachtung ein müheloses Auffinden wichtiger Sterne und Sterngruppen zu ermöglichen, wobei grundsätzlich jedes weitere Eingehen auf die Theorie vermieden und vorzugsweise die gegenseitige Lage der Hauptsterne ins Auge gefaßt wurde.

Indem wir unsere Wanderung fortsetzen, gehen wir wieder vom Sternbild des Großen Bären aus. Es wurde schon angedeutet, wie am Himmel das von sechs bis sieben Sternen gebildete W, die Cassiopeia, aufzufinden ist; man denkt sich eine Linie von dem Stern 5 des Bären nach dem Polarstern gezogen und verlängert: diese Verlängerung führt dann durch die Mitte der Cassiopeia. Bei dieser Gelegenheit möge auch daran erinnert werden, daß die „Linien“, durch die wir hierbei in Gedanken zwei Sterne verbinden, in Wahrheit keine geraden Linien, sondern Kreisbögen am Himmelsgewölbe sind, die sich dann in ebenen Abbildungen, wie z. B. in unseren Kärtchen, als Gerade darstellen; und entstehen allerdings auf diese Weise manche kleine Ungenauigkeiten, allein das läßt sich nicht umgehen, wenn wir unseren Zweck erreichen wollen, in möglichst klarer und einfacher Weise annähernde Orientierungslinien am Himmelsgewölbe zu geben.

Die eine Diagonale im Viereck des Großen Bären, die Linie, welche die Sterne 3 und 1 verbindet, führt ziemlich genau nach dem Algol im Sternbild des Perseus – einem neuerdings von wissenschaftlicher Seite vielfach besprochenen Stern, der für eine merkwürdige Klasse von Sternen, für die sogenannten veränderlichen, als typisch gelten kann. Algol ist nämlich einer regelmäßigen Veränderlichkeit seines Glanzes in der Weise unterworfen, daß er stets zwei Tage und dreizehn Stunden dieselbe Helligkeit von etwa zweiter Größe zeigt, dann aber innerhalb drei bis vier Stunden zur vierten Größe herabsinkt, so eine Viertelstunde verharrt, um dann wieder in seinem Glanz zuzunehmen; er besitzt auf diese Weise eine Periode des Lichtwechsels von zwei Tagen und zwanzig Stunden – wenigstens gegenwärtig. Denn diese Periode ist im Lauf der Zeit kürzer geworden.

Verlängert man ferner die Linie, welche durch die Sterne 1 und 2 des Großen Wagens geht und früher zur Auffindung des Polarsterns diente, nunmehr in der entgegengesetzten Richtung, so leitet sie zu einer Gruppe von Sternen, die meist in der Form eines Trapezes zusammengefaßt werden; an einem Ende der Grundlinie steht Regulus, ein Stern erster Größe, am anderen Ende erblickt man Denebola von der zweiten Größe. Weiter – die Linie, welche die beiden Sterne 4 und 1 des Großen Wagens verbindet, geht, falls man sie von der Deichsel des Wagens oder vom Schwanz des Bären aus in entgegengesetzter Richtung fortsetzt, in der Nähe der Capella (Ziege) vorbei, eines besonders glänzenden Sterns erster Größe im Bilde des Fuhrmanns; in ihrer weiteren Verlängerung weist diese Linie den Weg nach dem Aldebaran im Sternbild des Stiers (Stierauge), das unter anderem die bekannten Sterngruppen der Hyaden und Plejaden (Gluckhenne) enthält.

Wir sind damit in einer Gegend des gestirnten Himmels angelangt, die namentlich an den Abenden der Wintermonate durch den großen Reichthum an Sternen erster Größe besonderen Lichtglanz verbreitet und die deshalb und infolge der eigenthümlich regelmäßigen Gruppierung der Hauptsterne unter Laien am meisten bekannt ist; fast jeder hat doch schon einmal den Sirius, den Jakobsstab, die Zwillinge, die Gluckhenne, Rigel, Beteigeuze sich zeigen lassen. Die Zwillinge, Castor und Pollux, lassen sich vom Großen Bären aus, der für Bewohner mittlerer Breiten „niemals in Okeanos’ Bad hinabsteigt“, leicht auffinden, wenn man sich die andere Diagonale, die Verbindungslinie der Sterne 4 und 2, fortgeführt denkt. Die Linie vom Polarstern zum Pollux trifft ungefähr auf Procyon im Kleinen Hund, und die Linie Polarstern – Capella leitet nach dem schönsten Sternbild am Himmel, dem Orion mit dem Orionnebel; die hier sofort in die Augen fallenden drei Sterne in gerader Linie (Gürtel des Orion, Jakobstab) weisen durch eine Verlängerung ihrer Verbindungslinie nach Osten zu fast genau auf Sirius im Großen Hund, den glänzendsten Stern am Firmament, der rund eine Million Sonnenweiten oder siebzehn Jahre Lichtzeit von uns entfernt ist, d. h. das Licht braucht siebzehn Jahre, um von diesem Stern zur Erde zu gelangen. Sirius scheint sich in geschichtlicher Zeit aus einem rothen Stern zu einem weißen umgewandelt zu haben; er ist ferner ein Doppelstern, was Bessel durch bloße theoretische Erwägung erkannte, noch ehe der Begleitstern mit dem Fernrohr gesehen wurde. Nach Kant, der die Ideen von Wright weiter entwickelte, soll unser Planetensystem als Theil in einem weit größeren Sternensystem von linsenförmiger Gestalt enthalten sein, als dessen Kante sich für uns die Milchstraße darstelle und dessen Centralsonne eben der Sirius sei.

Wir haben vorhin flüchtig den Namen der veränderlichen Sterne erwähnt, bei welchen die Stärke des Glanzes einem Wechsel unterworfen ist. Neben ihnen giebt es nun noch sogenannte neue (kurzzeitige, temporäre) Sterne, die plötzlich ohne Vermittlung am Firmament glänzend auftauchen, um dann nach längerer oder kürzerer Frist wieder zu verschwinden. Der erste „neue Stern“ wurde im Jahr 134 v. Chr. im Sternbild des Skorpions von chinesischen Astronomen beobachtet, wie Ed. Biot aus der Sammlung des Matuan-Lin ermittelte: im Jahr 130 n. Chr., zur Zeit des Hadrian, wurde ebenfalls ein neuer Stern beobachtet; im Jahr 173 n. Chr. ein sehr großer Stern im Centaur, der nacheinander fünf verschiedene Farben annahm und nach acht Monaten verschwand; im Jahr 945 n. Chr. unter Otto dem Großen ein Stern zwischen Cepheus und Cassiopeia; aus dem Jahr 1012 erwähnt ein Mönch von St. Gallen, Hepidannus, einen neuen Stern im Widder, der die Augen blendete und wunderbarerweise bald größer, bald kleiner erschien, zuweilen auch gar nicht sichtbar war; 1264 und 1572 tauchten beide Mal im Sternbild der Cassiopeia neue Sterne auf, und jetzt ist die Zahl der bekannten Erscheinungen dieser Art auf mehr als dreißig gestiegen.

Bei weitem der berühmteste aller neuen Sterne ist derjenige vom 11. November 1572, der von seinem Auftreten an bis zu seinem Verschwinden von Tycho de Brahe und weiterhin von vielen Astronomen eingehend beobachtet wurde. Man stellte damals die verschiedensten und abenteuerlichsten Vermuthungen zur Erklärung des Räthsels auf; Tycho de Brahe selbst nahm an, der Stern sei eine neue Schöpfung Gottes. Neuerdings scheint es, daß die Spektralanalyse auch auf diese Erscheinung der neuen oder wenigstens neu erscheinenden Sterne einiges Licht zu werfen imstande sei; Huggins fand, allerdings im Gegensatz zu Vogel, daß die Spektralfarben des neuen Sterns in der „Krone“ von 1866 vorzugsweise dem Wasserstoff angehörten, und schloß, daß die Ursache für das Aufflammen und Wiederverlöschen des Sterns brennendes Wasserstoffgas sei, das sich infolge einer innern Umwälzung in großer Menge aus dem fernen Weltkörper entwickle. Gegenwärtig neigen sich manche Astronomen mehr und mehr der Ansicht zu, daß man es hier mit einem Zusammenprall zweier Weltkörper zu thun habe, eine Annahme, die um so eher unsere Antheilnahme erregt, wenn wir bedenken, daß damit die Kunde eines Ereignisses zu uns dringt, das vor vielen Hunderten von Jahren in entlegenen Fernen des Raums sich vollzog. Wie erwähnt, giebt es eine Reihe von veränderlichen Sternen, wie z. B. Algol, die eine mehr oder weniger regelmäßige Veränderlichkeit ihres Glanzes aufweisen; mit bloßem Auge allein sind über vierzig solcher Sterne sichtbar; Gould glaubt sogar, daß alle Sterne veränderlich sind. Diese veränderlichen Sterne wurden früher mit den temporären, kurzzeitigen zusammengenommen. Kepler wagte es 1604 als erster, den Gedanken auszusprechen, „daß alle Planeten und Fixsterne sich um ihre Achse drehen“; er gab damit den Astronomen einen neuen Grundsatz zur Erklärung für eine Menge von räthselhaften Vorgängen am Himmel an die Hand. Riccioli, in seinem „Neuen Almagest“, nahm von diesem Grundgedanken aus an, es gebe am Himmel gewisse Sterne, die von Ewigkeit her zur Hälfte leuchtend, zur anderen dunkel seien. „Will nun Gott den Menschen besondere Zeichen erscheinen lassen, so läßt er einen von diesen Sternen sich plötzlich um seinen Mittelpunkt drehen, und durch eine ähnliche Drehung entzieht sich der Stern wiederum unseren Augen; entweder plötzlich oder allmählich.“ Danach seien die Sterne von 945, 1264 und 1572 Erscheinungen desselben Sterns in verschiedenen Drehlagen.

Gegenwärtig werden die kurzzeitigen Sterne völlig von den veränderlichen geschieden. Prof. Vogel und Dr. Scheiner haben in neuerer Zeit durch die Methode der Verschiebung der Spektrallinien nachgewiesen, daß sich Algol vor der Verfinsterung von uns entfernt, nach derselben sich uns wieder nähert; und auf Grund der Annahme, daß die Ursache des zeitweisen Hell- und Dunkelwerdens in der zeitweisen Verdeckung durch einen dunklen Begleiter liege, mit dem sich Algol um einen gemeinschaftlichen Schwerpunkt dreht, war es sogar möglich, die sämmtlichen Verhältnisse dieses unsichtbaren Begleiters zu ermitteln; ist seine Bahn eine Kreisbahn und seine Dichte die gleiche, wie die des Hauptsterns, so ist der Durchmesser des Begleiters 180 000 Meilen und seine Entfernung vom Hauptstern Algol 700 000 Meilen.

Die Forschung mit Hilfe der Photographie hat sich neuerdings ebenfalls dieser Objekte bemächtigt. Auf der photographischen Platte erscheinen die Sterne als Scheibchen von größerem oder kleinerem Durchmesser, je nach der Helligkeit des Sterns; nun fand Kapteyn bei photographischen Sternaufnahmen des südlichen Himmels öfters zu verschiedenen Zeiten verschiedene Durchmesser für diese Scheibchen; es liegt also sehr nahe, den Grund dafür in der faktischen Veränderlichkeit der Sterne zu suchen und diese Beobachtung zur Messung zu verwenden, Dr. C. Cranz.     

[764]

Die drei Vereinsbrüder.

Eine Erzählung von Ernst Lenbach. 0 Illustriert von Fritz Bergen.

 (Schluß.)

In solcher Noth verfielen endlich die Frauen auf einen sonderbaren Ausweg, d. h. eigentlich ging der Gedanke von dem kleinen Gretchen aus, dessen natürliche Schlauheit durch den Liebeskummer noch wesentlich geschärft war. Sie beschlossen nämlich, ihrerseits auch einmal eine Sitzung abzuhalten, in welcher alle Betheiligten außer den beiden Hausherren „zur Lage Stellung nehmen“ sollten. Zu diesem Ende versammelte man sich an einem Winternachmittage, während Walhallabend und Friedensverein ihre Getreuen in außerordentlichen Sitzungen festhielten, bei dem Justizrath Königs zu einem großen Kaffee und Kriegsrath. Außer den fünf Damen und dem Justizrath waren noch zugegen der junge Doktor Vollmer, welcher sich vor wenigen Tagen wieder eingefunden hatte und zum Segen des Familienfriedens, durch die Anfänge seiner Praxis zumeist draußen in der Vorstadt festgehalten wurde, sowie zwei andere jüngere Herren, wohlbegüterte Bürger von durchaus gutem Ruf und Aussehen. Worauf sich ihre Theilnahme an diesem Familienrathe begründete, konnte jeder merken, der nur fünf Minuten lang beobachtete, welche Blicke zwischen ihnen und den beiden „noch zu habenden“ Haustöchtern hin- und herflogen. Gerade ihnen hatte der Justizrath die wichtigste Rolle in seinem Kriegsplane zugedacht. Es erwies sich nämlich alsbald, daß der alte Herr – sein Pathenkind Gretchen hatte ihn nicht umsonst instruiert – die eigentliche Feldherrnstelle einnahm, während die beiden älteren Damen kaum über wortreiche Klagen und vielfach umschriebene „Was nun?“ hinauskamen. Der Justizrath ließ sie sich eine Weile aussprechen, dann klappte er bedächtig ein paar Mal die silberne Dose auf und zu und sagte: „Meine Damen, was Sie da alles erzählen, mag ja betrübend im einzelnen Falle sein, im ganzen aber scheint es mir eher erfreulich. Denn es beweist, daß die lieben Steckenpferdchen schon sehr scharf geritten werden; und scharf, möglichst scharf muß so ein unartiger Gaul geritten werden, damit er um so eher lahm wird und wieder hübsch ins Ställchen kommt. Wir haben also nichts weiter zu thun, als diesen natürlichen Prozeß wohlwollend zu unterstützen und derweilen Geduld zu haben, Geduld allesammt – auch Du, lieber Heinrich! Also mein Plan wäre der –“ und nun entwickelte er seinen Plan, welchen er denn auch mit sieghafter Beredsamkeit gegen alle weiblichen Bedenken und ungeduldigen Einwürfe des jungen Arztes bei der dritten Kanne Kaffee zur einstimmigen Annahme brachte.

Die nächste Folge dieses Kriegsrathes war, daß die beiden oben genannten „jüngeren Herren“ noch am selbigen Tage der eine in den „Hainbund Walhalla“, der andere in den „Internationalen Friedensverein, Ortsgruppe XXIII“ eintraten. Natürlich wurden sie als wohlbegüterte und angesehene Leute mit offenen Armen empfangen; sie erwiesen sich aber auch alsbald als rührige Mitglieder von einem unermüdlichen Eifer für die verschiedenen „guten Sachen“. Nach wenigen Wochen zeigte es sich, daß man von ihrem Eintritte geradezu eine „neue Aera“ für die Walhallagenossen und die Friedensbrüder herschreiben konnte. Was man vordem in den beiden seltsamen Vereinen getrieben, erschien nur als der bläßliche Morgenschimmer des leuchtenden Tages, der nunmehr erst emporstieg. Mochte es früher einem spottsüchtigen Beobachter vorgekommen sein, als ob doch hier und da etwas Kinderei mit im Spiele sei, so hätte jetzt Ben Akiba selbst vergebens in seiner Erinnerung nach Vorbildern gesucht für alle die Seltsamkeiten, welche jeden Samstagabend in den beiden Vereinssälen unter einem Wirthshausdach aufstiegen, sich überschlugen und durcheinander purzelten wie bezechte Heinzelmännchen. Es war aber keineswegs nöthig, daß die beiden Urheber dieser „schärferen Tonart“ auch fernerhin dabei mitwirkten. Sie brauchten nur anzufangen. Nach ein paar kühnen Vorturnerleistungen konnten sie ruhig mit verschränkten Armen zusehen, wie die freigewordene Vereinsbegeisterung sich in selbsterfundenen Clownstückchen überbot. Dem Justizrath aber wurde über alles getreulich Bericht erstattet; die ganze Entwicklungsgeschichte der „Walhalla“ und des „Friedensvereins“ vom Eintritt seiner jungen Sendboten an lag offen vor ihm.

Er hatte freilich wohl gewußt, was er that, als er damals im Kriegsrathe dem versammelten Volk vor allem „Geduld“ anempfahl; denn eine ganze Weile lang machten die beiden alten Herren den Aufschwung ihrer Vereine heldenmütig mit und suchten natürlich auch ihre Familien mitzuziehen. Es zeigte sich aber allmählich, daß diese neue Vereinsbegeisterung der beiden ehemaligen Freunde drei Abstufungen durchlief wie die meisten elementaren und menschlichen Sturmerscheinungen. Anfangs machten sie alles voller Ehrlichkeit mit, waren ganz Feuer und Flamme und trachteten ehrgeizig danach, daß sie nicht von Jüngeren an Entschiedenheit und Eifer übertroffen würden. Dann kam eine Zeit, wo ihnen dies und jenes nachgerade doch zu bunt wurde, auch wohl in ihren Herzen eine unüberhörbare Stimme immer öfter und dringender von der guten alten Zeit zu raunen begann; sie bezwangen sich aber und stellten sich gerade in solchen Stunden am begeistertsten. Schließlich half auch der Trotz nicht mehr, sie sagten sich und den lieben Vereinsbrüdern gelegentlich über manche Einzelheit offen die Wahrheit, und da man ihnen nicht folgte, wurde es ihnen in jeder Hinsicht ungemüthlich in ihrer Vereinshaut; zu Hause aber ließen sie noch nichts davon merken und mühten sich ganz kläglich ab, nicht aus der Rolle zu fallen, mit der nun einmal ein gutes Stück von ihrer menschlichen Eitelkeit verwachsen war.

Darüber war der Winter vergangen, der Schnee war weggeschmolzen, die Amseln flöteten, im Garten des „Königsbundes“ draußen vor der Stadt blühten die Aprikosenbäume, ein Anblick wie im Paradiese. Dem Justizrath war es, als ob nun auch allgemach das letzte Eis von den Herzen seiner lieben alten Freunde schmelzen müßte. Zeit war es freilich; denn zumal mit der Ungeduld des jungen Doktors war kaum mehr fertig zu werden.

Da geschah es eines Samstagabends, daß der Justizrath sich vor einem Aprilregen in den Gasthof flüchtete – vielleicht war auch der Regen nur ein Vorwand. Während der Kellner ihm seinen Schoppen „Steeger“ brachte, hörte er über sich verworrenes Gehen und allerlei Lärmen. „Ja,“ meinte der Kellner lächelnd, „da oben geht’s heute wieder toll zu. Das ist der Friedensbund, die wollen ja heute wohl beschließen, daß sie sich mit den Vete–Veteranen zusammenthun.“

„Mit was für Herren?“ fragte der Justizrath.

„Na, mit den Leuten, die nur grünes Zeug und Obst essen,“ erklärte der Befragte.

„Ach so,“ lachte der Justizrath, „mit den Vegetarianern. So, so, mit denen wollen sich die da oben zusammenthun. O, das ist ja sehr gut!“

„Ja wohl,“ fuhr der Kellner fort, „und dann wollen sie auch darum einkommen, daß die Stadtsergeanten keine Säbel [765] mehr tragen, sondern nur noch mit freundlichen Worten zureden sollen.“

Den Justizrath litt es nun kaum mehr, da der Lärm über ihm immer lauter wurde. Jetzt glaubte er sogar mit seinem scharfen Gehör deutlich die dröhnende Stimme seines alten Freundes Vollmer herauszuhören. Da ging er hinaus und schlich trotz seiner juristischen Würde wie ein Dieb leise die Treppe hinauf und hinein in den dunklen Zwischensaal, dessen Thür zum Glück nur angelehnt war.

Hier überzeugte er sich denn freilich, daß der Lärm nur etwa zur Hälfte von den Friedensfreunden geliefert wurde, auf der anderen Seite, in Walhalla, herrschte ebenfalls ein starker „Thurst“ und ein offenbar sehr bewegtes „Thing“. Zur Rechten aber schien gegenwärtig in der That der Thierarzt seine Meinung zu sagen, und zwar recht deutlich. Jetzt riß er die Thür auf und rief noch einmal in den Friedenstempel hinein: „So, meine Herren, und wenn Sie sich ’mal unwohl fühlen sollten, für Patienten bin ich immer zu sprechen, im übrigen können Sie mir gütigst gestohlen werden!“

Dann flog die Thür krachend ins Schloß, und der Thierarzt ließ sich mit einem tiefen Seufzer auf dem nächsten Stuhle nieder, ohne zu ahnen, daß sein Freund Königs aus einer Ecke des dunklen Saales Zeuge seiner kraftvollen Abschiedsworte gewesen war.

Eben wollte der Justizrath den zornentbrannten Friedensfreund anreden, da erhob sich in einer anderen Ecke des Gemaches ein ziemliches Gepolter, mehrere Stühle wurden von einem unvorsichtig vorstürmenden Dritten, der dort wohl bis jetzt still gesessen hatte, übereinander geworfen, und die Stimme des Apothekers Schmitz rief: „Bravo, Vollmer, Heinz, alter Freund, denen hast Du’s ordentlich gegeben! Willst Du nicht auch der Walalla-Brüderschaft da drinnen eine ähnliche Empfehlung übermitteln? Die brauchen’s noch nothwendiger!“

Unterdessen war es dem Sprecher geglückt, mit Aufopferung von zwei weiteren Stühlen Vollmers Standpunkt zu erreichen und seine Hand zu fassen, der Thierarzt aber rief, allen Grolles vergessend:

„Was, alte Seele, bist Du denn auch vernünftig geworden und hast denen da drinnen Valet gesagt?“

„Ach,“ meinte Herr Schmitz, „soll ich etwa morgen mit einem nachgemachten Wolfsfell vom Kürschner Leber als Mantel und einem Eichenkranz auf meiner Glatze draußen nach dem Tannenbusch ziehen, wie sie’s vorhaben?! Nein, was zu toll ist, ist zu toll.“

„Hm,“ machte der Thierarzt nachdenklich, „weißt Du, eigentlich etwas Männliches, ein ordentlicher Kern steckt doch von Haus aus in der Walhallageschichte. Ich habe darüber neuerdings manchmal nachgedacht.“

„Was,“ eiferte der Apotheker, „ordentlicher Kern? Unsinn war’s! Nein, da wär’s doch noch gescheiter, wenn es eben nur möglich wär’, die Menschen friedlicher zu machen.“

„Kinder,“ ließ sich jetzt der Justizrath vernehmen, „nun thut mir den einzigen Gefallen und begeistert Euch nicht noch weiter, sonst geht mir schließlich der eine nach links und der andere nach rechts ab und die Geschichte ist wieder wie vorher, nur umgekehrt! Und nun kommt“ – dabei suchte und fand er nach einiger Mühe auch die Hände der Ueberraschten – „laßt mich Euch und mir herzlich zu dieser Wiederversöhnung gratulieren und auch Euren Familien!“

„Herrgott ja, meine Familie!“ seufzte Herr Schmitz. „Wie bring’ ich’s denen aber bei? Ich bin um meine ganze Geltung daheim – weißt Du, meine Frau –“

„Ach ja,“ seufzte der Thierarzt nun gleichfalls, „und erst die meine! Mensch, Königs, da mußt Du Rath schaffen!“

„Nun gut,“ entschied der Justizrath lachend, „wir wollen sehen, was sich machen läßt. Und nun Kinder, hört meinen Vorschlag: da Ihr Euch beide so ein klein wenig vor dem Heimweg zu fürchten scheint, zieht mit mir auf mein Malepartus, da wollen wir uns bei einem guten Tropfen zusammensetzen, um Raths zu pflegen und wieder wie früher ‚froher Jugendzeit angefrischt zu gedenken‘!“

Das wurde mit Dank und Freude angenommen. Unter dem Schutze der Dunkelheit und des Regens gelangten die drei Freunde unerkannt zu der gemüthlichen Behausung des Justizraths, und nachdem dieser auf seinem Amtszimmer noch einen „kurzen, unaufschiebbaren Brief“ erledigt und durch seinen gescheiten Schreiberjungen fortgesandt, erschien er wieder mit einigen vielversprechenden Flaschen und dem trefflichsten Rauchzeug. Da verbrachten denn die Wiedervereinten einen ganz andern Abend, als die Walhalla und der Friedensbund zu bieten vermochten. Einen befriedigenden Ausweg aber, wie die große Wendung den Familien sogleich ohne Schädigung der hausväterlichen Autorität oder – Eitelkeit beizubringen sei, fand auch der alte Jurist anscheinend nicht. Endlich beschloß man auf seinen Antrag, am morgigen Nachmittag wieder selbdritt zu berathschlagen, und zwar im Gartenhause des „Königsbundes“ da draußen, wo man just an diesem Tage, einst dem herkömmlichen Termin des ersten Frühlingsfestes jener entschwundenen Gesellschaft, einer freundlichen Eingebung wohl gewärtig sein durfte.

Dort fanden sich denn zeitig am folgenden Sonntag Nachmittag die Freunde ein. Bis vor die Stadt waren sie auf verschiedenen Wegen geschlichen; draußen wandelten sie gemeinsam und freuten sich herzlich der erwachenden Frühlingspracht, des vielstimmigen Vögelgezwitschers und der ersten Obstblüthen. Als sie nun aber, von dem klug lächelnden Wirthe begrüßt, die alte Stätte ihrer Freuden betreten hatten und im sogenannten „Königszimmer“, neben dem Familiensaale, vor dem Bilde des hochseligen Stifters standen, da gingen den beiden Versöhnten die Herzen und schier die Augen über. – „Sieh’,“ sagte Herr Vollmer, hier war’s, wo wir damals vor achtundzwanzig Jahren unsere Verlobung feierten, auf einen Tag."

„Ich weiß,“ erwiderte der Apotheker, „’s war just ein Tag wie heute, – Frühlingssonnenschein nach Regen und Sturm.“

„Es war ein schöner Tag,“ murmelte der Thierarzt. „Und alles freute sich mit und stieß an, hier und nebenan im Saale und dahinter im Erkerzimmer. Wo sind sie nun, die da mit uns sich freuten? Nun liegt das alles hier öde und still, bis es von neuen, fremden Leuten belebt wird.“

„Vielleicht doch nicht ganz öde,“ meinte der Justizrath, „mich [766] dünkt, ich höre Stimmen hier nebenan,“ und damit hatte er auch schon die Thür zu dem Saale geöffnet.

Da bot sich ein gar freundliches Bild dar. Um den ländlich reich besetzten Kaffeetisch saßen sie alle beisammen: Frau Vollmer und Frau Schmitz mit ihren Töchtern und Söhnen, strahlend in Glück und fröhlicher Spannung; auch die beiden Freier fehlten nicht.

„Das nenn’ ich eine Ueberraschung!“ rief der lustige Justizrath. „Was sagt ihr dazu, Freunde?“

Der Thierarzt drückte ihm lächelnd die Hand: „Mir scheint, das ist schon mehr eine Ueberlistung! Was soll man dazu sagen, Konrad?“

Aber ehe der Apotheker, an den die letzten Worte gerichtet waren, noch antworten konnte, fühlte er sich schon von den Armen seiner Tochter Gretchen umschlungen und hörte ihre lieben, schmeichelnden Worte, und nun drängten sie sich alle heran, wetteifernd in fröhlichen, liebevollen Begrüßungen, fern von jeder kränkenden oder leichtfertigen Berührung der überwundenen Kümmerniß. Sie war abgethan und vergessen wie ein schwerer Traum.

Das Brautpaar hatte sich von selbst zusammengefunden, es stand inmitten der Eltern, die in seinem lieblichen Anblick sich nun ganz wieder zur alten Gemeinschaft herzinniger Freundschaft vereinten. Da schlug der Justizrath mit dem Löffel an die Tasse und rief: „Nun aber, Kinder, hinüber ins alte, trauliche Erkerzimmer, dort wartet unser ein anderer, würdigerer Trank als des Königswirths Mokka! Es hat Uns nämlich nach Unserer erprobten juristischen Weisheit gefallen, in Voraussicht dieser allgemeinen Zusammenfindung alldorten durch den besagten Königswirth aufstellen zu lassen das edle Getränk, so da heißet die erste Maibowle!“ Und sie zogen paarweise mit Lachen und Scherzen, unter vielfältigen Lobsprüchen auf den weisen Juristen, hinüber in das trauliche Gemach, wo auf dem Tische der köstliche Trank schon bereit stand. Da füllten die Mädchen Glas um Glas, und dann hob der Justizrath an:

„Liebe Frauen und Freunde, laßt mich noch ein kurzes Wort reden, ehe wir uns in diesem ersten Weihetrunk des Frühlings einander Glück und Frieden zutrinken! Wir haben ihn hier oft und gerne gebraut und gekostet, in unserem alten ‚Königsbund‘. Nun ist der ‚Königsbund‘ aufgelöst, er ist tot, sagen die Leute. Aber das ist ja gar nicht wahr. Der Königsbund lebt und webt, er blüht und gedeiht, hier und nicht bloß hier, überall im deutschen Lande. Ueberall, wo sich kluge ehrenfeste Hausväter und freundliche, vorsorgliche Mütter, starke Söhne und blühende Töchter zusammenschließen in dem wundersamen Zauberring der Eltern- und Kindesliebe; wo sich Familie und Familie zusammenfinden in herzlichem, innigem, fröhlichem Vereine und auch einem alten Junggesellen und Onkel ein liebes Plätzchen offen halten, – da blüht und gedeiht er fort und fort. Das deutsche Haus, die deutsche Familie in Zucht und Fröhlichkeit, das ist unser wahrer Königsbund. Ihm lasset uns dieses erste Glas vom heimischen Frühlingstranke weihen!“

Und sie ließen die Gläser zusammenklingen und blickten einander an, die Alten mit erneuter, herzlicher Freundschaft, in inniger Liebe Braut und Bräutigam, und die Freier nebst ihren Auserkorenen mit Blicken verstohlener seliger Hoffnung, die auch von den Eltern bemerkt und freundlich getheilt ward.

Unterdessen zog draußen auf der Landstraße, die zum Tannenwald führte, eine wunderlich vermummte Schar einher. Das waren die „Walhallagenossen“. Sie hatten ihre nagelneuen Wolfsfelle umgehängt, trugen Kränze auf den Köpfen, und etliche schwangen große Trinkhörner in den Händen. Es war aber schon recht warm, und so mußten sie unter dem ungewohnten Oberkleid viel Schweiß vergießen, zumal auch mancher von ihnen schwer an der eigenen Leibeslast zu tragen hatte. Dabei war ihnen im Grunde gar nicht wohl zu Muthe, da sie sich in der harmlosen Frühlingsnatur doch eigentlich recht stilwidrig vorkamen. Weil sie sich nun sehr unbehaglich fühlten und sich selber fast lächerlich zu finden begannen, so lärmten und sangen sie über die Maßen laut. Sogar die kecke Amsel, die am Wege auf einer wilden Kastanie saß, entsetzte sich über das Getöse. Mit einem kurzen, melodischen Gelächter strich sie ab und flog hinüber zum Garten. Da setzte sie sich in den Aprikosenbaum vor dem Erkerzimmer und sang dem neuen Königsbunde ihr schönstes Lied.




Das Verschwinden des Lord Bathurst in Perleberg im Jahre 1809.

Von Eduard Schulte.
II.

Am 16. Dezember fanden zwei Perleberger Frauen, welche in einem etwa eine Viertelstunde von jenem Parchimer Thor entfernten Wäldchen Holz suchten, ein Paar Beinkleider. Sie wurden als diejenigen erkannt, welche Bathurst zuletzt angehabt hatte. Sie waren umgewendet und zeigten trotz sichtlich an ihnen vorgenommener Reinigungsversuche Spuren davon, daß der, welcher sie getragen, auf der Erde gelegen hatte. In einer Tasche, welche die damals übliche Uhrtasche gewesen zu sein scheint, fand man einen Brief Bathursts an seine Gattin, worin er angab, er fürchte, nicht wieder in die Heimath zurückkehren zu können; wenn er umkomme, so werde der Graf von Entraignes der Urheber seines Todes sein. Dieser Graf lebte damals in London und galt als Agent nicht Napoleons, sondern des Grafen von Provence, des französischen Prinzen und Prätendenten, der später als Ludwig XVIII. den Thron bestieg. Entraignes ist auf mehr oder minder unaufgeklärte Weise in mehrere politische Händel verwickelt gewesen. Es läßt sich nicht angeben, was den englischen Diplomaten veranlaßt haben kann, in ihm seinen Feind zu sehen. Dagegen hat Entraignes der Gattin Bathursts erzählt, ihr Gatte sei von Napoleons Polizei nach Magdeburg geführt und dort getötet worden. Haben Agenten Napoleons den Gesandten eingeschüchtert, so könnten sie geflissentlich den geheimen Agenten der royalistischen Gegenpartei als den gefährlichen Mann bezeichnet haben, während Entraignes wiederum die Agenten Napoleons als gefährliche Leute bezeichnete. Ein Skelett sollte auch später in Magdeburg gefunden worden sein, und zwar aufrecht im Grabe stehend und mit gebundenen Händen, aber diese Schauergeschichte gehört in das Reich der Fabel.

Die beiden Perleberger Finderinnen wurden mit einigen Thalern belohnt. Der Fund schien unwiderleglich zu beweisen, daß die Leiche Bathursts vom Perleberger Gebiet nicht entfernt worden war. Die Beinkleider zeigten zwei vermuthlich von hindurchgeschossenen Kugeln herrührende Löcher, doch ohne Blutspuren, so daß es den [767] Anschein erweckte, als ob die Schüsse nachträglich auf das Kleidungsstück abgegeben worden wären. Wenn ein Mord vorlag, so konnte der Mörder die Beinkleider in jenem Walde niedergelegt haben, um bei einer Haussuchung nicht in ihrem Besitze betroffen zu werden, und er konnte einige Kugeln hindurchgejagt haben, um die Vermuthung zu erregen, daß der Verschwundene durch Schüsse umgekommen sei, während der Mörder eine andere Art der Tötung angewandt hatte. August Schmidt hatte vor Gericht geäußert, daß Bathurst sich wahrscheinlich selbst erschossen habe, da Frau Schmidt ihm Schießpulver habe besorgen müssen. Man hat dieser auffälligen Aussage, welche vielleicht mehr verrieth, als der Aussagende verrathen wollte, nicht weiter nachgeforscht.

Im April 1810 kam die Gemahlin des Gesandten, Mistreß Bathurst, mit einigen Bekannten ihres Mannes nach Perleberg, um jetzt, da der Erdboden nicht mehr gefroren war, mit Hilfe von Spürhunden weitere Nachforschungen anzustellen. Aber auch diese blieben erfolglos.

Von Perleberg begab sich Mistreß Bathurst nach Paris, um sich von Napoleon selbst Auskunft zu holen. Er bewilligte ihr eine Audienz und versicherte, von dem Vorgefallenen nichts Näheres zu wissen; er erbot sich zugleich, ihre Bemühungen um Auffindung des Verschwundenen zu unterstützen.

Bald nach der Abreise der Mistreß Bathurst von Perleberg machte eine Frau Hacker, welche im Thurmgefängniß am Parchimer Thore wegen mehrerer Betrügereien in Untersuchungshaft saß und welche wie ihr Mann übel beleumundet war, dem Gerichte folgende Aussage: In dem Städtchen Segeberg in Holstein sei sie im Wirthshause mit einem Schuhmachergesellen Goldberger zusammengetroffen, den sie von Perleberg her kenne. Derselbe habe an einer Uhrkette goldene Schlüssel und Petschafte getragen und in seinem Geldbeutel viele preußische Friedrichsd’or sehen lassen. Auf ihre Frage, woher das viele Geld stamme, habe er geantwvrtet, er sei dazu gekommen, wie der Engländer erschlagen worden sei, und man habe sein Schweigen mit 500 Thalern und einer Uhr mit Kette erkauft. Später nahm aber die Frau diese Aussage zurück, da sie dieselbe erdichtet habe, um aus dem Gefängniß entlassen und nach Hamburg gebracht zu werden. Auch diese Angabe wurde nicht näher untersucht.

Die Hackerschen Eheleute wurden ebenso wie August Schmidt noch von einer anderen Seite her mit der Sache in Verbindung gebracht. Die bereits erwähnte Dame, welche den Gesandten im Zimmer Klitzings sprach, versicherte, gesehen zu haben, daß der Fremde, als er ihr Haus verlassen hatte, nicht wieder den nächsten zur Post führenden Weg einschlug, sondern in einer Richtung sich entfernte, wo Hackers Haus lag, in welchem auch August Schmidt viel verkehrte. Bald nachdem der Fremde von ihr gegangen, sei August Schmidt bei ihr eingetreten und habe nach dem „Herrn Lord“ gefragt. Ihr sei diese Frage auch deshalb erinnerlich, weil sie damit die Aufklärung empfangen zu haben meinte, daß der Name des Fremden „Lord“ sei. Sie wies den Schmidt nach der Richtung, die der Fremde genommen hatte, und sah noch, wie er ihm nachging. Daß sie etwa in das Hackersche Haus eintraten, konnte sie nicht sehen, und die Vermuthung, daß Bathurst um diese Zeit im Hackerschen Hause getötet worden sein könne, ist hinfällig, da ja feststeht, daß er nach dem Besuche bei Klitzing noch einige Stunden im „Weißen Schwan“ und im Posthause geweilt hat. In Perleberg behauptete sich gleichwohl das Gerücht, daß die Hackerschen Eheleute um das Verschwinden Bathursts gewußt haben müßten, um so mehr, als Hacker unmittelbar darauf die Stadt verließ und bald auch sein Haus verkaufte; er soll dann in Altona in verhältnißmäßiger Wohlhabenheit gelebt haben. Sein Ruf, sein Umgang mit Schmidt und sein plötzlicher Umzug verdächtigten ihn, aber der letztere kann auch zufällig gewesen sein. Hat die Hacker wirklich in Goldberger einen Zeugen des Mordes getroffen und wußte sie zugleich ihren eigenen Mann schuldig, so sollte man meinen, daß sie sich gehütet haben müßte, von jenem Goldberger zu sprechen, da eine Untersuchung ihren Mann mit gefährdet hätte. Vielleicht machte sie trotzdem die Aussage, weil die Schlaffheit des Untersuchungsverfahrens, die einer erfahrenen Frau wie ihr schwerlich entging, sie anfangs ermuthigte, und sie mochte hoffen, etwas von der ausgesetzten Belohnung zu erhalten. Nachträglich mag sie die Aussage doch als gefährliche Uebereilung erkannt und deshalb den Rückzug angetreten haben.

Nach einem anderen Gerüchte, das in der Stadt umlief, wäre der Fremde unter irgend einem Vorwande in ein Haus gelockt worden, welches der Post gegenüber lag und von einer als franzosenfreundlich bekannten Familie bewohnt war. Dort soll er seinen Tod gefunden haben. Der Umstand, daß über die beiden Begleiter Bathursts so wenig oder fast nichts bekannt geworden ist, gab der sagenbildenden Phantasie freien Spielraum, wenn sie sich ausmalte, wie diese Begleiter oder einer von ihnen die Rolle des von Frankreich erkauften Verräthers gespielt habe.

Von menschlichen Gebeinen, welche im Jahre 1830 in einer Mergelgrube bei der Stadt gefunden und zu dem Verschwinden Bathursts in Beziehung gebracht wurden, ließ sich nachweisen, daß sie nicht die Gebeine des Vermißten waren.

Im April des Jahres 1852 fand man aber beim Abbrechen eines Hauses, welches an der Hamburger Chaussee dreihundert Schritt vom „Weißen Schwan“ entfernt lag, unter der Schwelle des Stalles ein menschliches Skelett. Spuren von Kleidungsstücken waren nicht vorhanden. Der Kopf war in Steine förmlich eingemauert. Der Hinterkopf des Schädels zeigte eine auf einen Achtelszoll geschätzte Vertiefung, welche auf einen hierher geführten schweren Schlag zu deuten schien. Das Haus war im Jahre 1803 von einem gewissen Mertens gekauft worden, der im „Weißen Schwan“ neben dem Hausknecht bedienstet war; seine Töchter hatten es nach seinem Tode im Jahre 1828 wieder verkauft. Von Mertens wurde ermittelt, daß er sich des besten Rufes erfreut habe; sein langjähriger Dienst im Gasthofe habe ihm so viel Geld eingebracht, daß er der einen Tochter tausend, der andern acht hundert Thaler Mitgift habe geben können.

Nachdem die Familie Bathurst von dem Funde Kenntniß erhalten hatte, erschien, da Mistreß Bathurst nicht mehr lebte, die Schwester Bathursts, eine Mistreß Thistlethwaite, im August in Perleberg. Sie verglich den Schädel und den durch Unvorsichtigkeit der Finder zerbrochenen Unterkiefer mit einem mitgebrachten Porträt ihres Bruders und erkärte, sie könne diese Ueberreste als die ihres Bruders nicht anerkennen. Nach dieser Erklärung wurden amtliche Untersuchungen nicht mehr angestellt, und weitere Entdeckungen, welche mit dem Verschwinden Bathursts in Zusammenhang stehen konnten, wurden auch nicht mehr gemacht.

Wir haben jetzt noch einige Zeitungsnachrichten zu besprechen, welche bald nach dem Verschwinden Bathursts erschienen und Aufsehen erregten.

Die erste Kunde, die man über den Vorfall las, stand im „Moniteur“, dem amtlichen Blatte Napoleons. Es war darin ein aus Berlin vom 10. Dezember datierter Bericht enthalten, welcher besagte, „daß Sir Bathurst bei seiner Reise durch Berlin Spuren von Wahnsinn gezeigt und sich darauf in der Gegend von Perleberg selbst ums Leben gebracht habe.“ Ein vom 23. Januar 1810 datierter, wahrscheinlich ebenfalls amtlich beeinflußter Artikel der englischen „Times“ antwortete darauf mit der Vermuthung, daß das Verschwinden des Gesandten vielmehr der französischen Negierung zur Last falle. Es wurde dabei auf ähnliche Gewaltthätigkeiten hingewiesen, für welche Napoleon und seine Kreaturen allerdings die Verantwortung trugen. Der „Moniteur“ vom 29. Januar blieb aber bei seiner ersten Behauptung, indem er bemerkte, daß es zu den Gewohnheiten des britischen Kabinetts gehöre, für diplomatische Sendungen Leute zu verwenden, die unter der ganzen Nation am wenigsten Verstand hätten.

Weniger Beachtung hätte eine Nachricht aus London vom 6. Januar 1810, die am 23. Januar im „Hamburgischen Korrespondenten“ stand, verdient. Hier hieß es, der Gesandte Bathurst, der sich nach einigen Nachrichten in einem Anfall von Wahnsinn getötet haben sollte, sei frisch und gesund und seine Freunde hätten Briefe von ihm, die am 13. Dezember, also nach dem für seinen Tod angenommenen Tage, geschrieben seien. Hinter dieser Mittheilung sind geheimnißvolle Zwecke gesucht worden, gewiß mit Unrecht. Daß Bathurst seit dem 25. November 1809 verschwunden und vermuthlich nicht mehr am Leben war, konnte, auch wenn die Nachrichten auf weite Entfernungen sich damals viel langsamer verbreiteten als heute, nicht lange verborgen bleiben. Die Mittheilung war schwerlich mehr als ein Gerücht, welches dadurch veranlaßt worden sein mag, daß man den verschollenen Bathurst mit einem in England lebenden gleichnamigen Verwandten verwechselte.

[768]

Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.
Hungrige Gesellschaft.
Nach dem Gemälde von B. Vautier.

[769] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [770] Was ist nun als das wahrscheinliche Lebensende Bathursts anzusehen? Hat er selbst Hand an sich gelegt? Oder hat die französische Geheimpolizei ihn beseitigt? Oder ist er durch Raubmord umgekommen? Jede dieser drei Möglichkeiten hat ihre Anhänger gefunden.

Was die erste derselben angeht, so muß man zugeben: Bathurst hat sich in Perleberg und vorher so erregt gezeigt, daß man sich eines plötzlich gefaßten verzweifelten Entschlusses wohl hätte versehen können. Bathursts eigene Familie hat anfangs Selbstmord angenommen. Aber wie ungenügend auch die Untersuchungen in Perleberg vom kriminalpolizeilichen Standpunkte aus gewesen sind, so haben sie wenigstens das mit Sicherheit ergeben, daß ein auf Perleberger Gebiet verübter Selbstmord nicht vorliegen kann; in diesem Fall würde die Leiche eben nicht unentdeckt geblieben sein. Und wie sollte man annehmen, daß Bathurst sich im Augenblicke der Abfahrt in dunkler Novembernacht aus der Stadt entfernt hätte, um sich anderswo zu töten? Die Möglichkeit des Selbstmordes muß als ausgeschlossen gelten.

Die Ueberzeugung, daß Bathurst das Opfer der französischen Polizei geworden sei, ist in den ersten Jahrzehnten nach seinem Verschwinden die herrschende gewesen. Varnhagen hat sie noch dreißig Jahre später vertheidigt, und die englische Zeitschrift „Spectator“ trat noch im Jahre 1862 dafür ein. Hatte Bathurst nicht vorher gesagt, er werde französischen Nachstellungen erliegen? Hatte Napoleon nicht wiederholt Rechte verletzt, welche im Verkehre der Völker heilig gehalten werden? Welchen Werth hatte in seinen Augen ein Menschenleben? Wer sonst als er hatte dazu die Macht, einen Menschen geheimnißvoll verschwinden zu lassen? Was war die Darstellung im „Moniteur“ anders als das versteckte Eingestehen eines Verbrechens und als der Versuch, den Verdacht von sich abzulenken? Was bedeuteten Napoleons Unschuldsbetheuerungen vor Bathursts Gemahlin, da er als Angeklagter in eigener Sache sprach? Ist da nicht zuzugestehen, daß es begreiflich war, wenn man Napoleon und seine Polizei für schuldig hielt? Ihm, dem gefürchteten und gewaltthätigen Zwingherrn, auch diese Unthat zuschieben zu können, war eine Art stiller Genugthuung, und außerdem hatte die Thäterschaft Napoleons und seiner Geheimpolizei einen viel romantischeren Reiz als die Thäterschaft eines Raubmörders. Dennoch halten die Gründe, welche man für diese Möglichkeit angeführt hat und anführen kann, einer ernstlichen Prüfung nicht Stand.

Zunächst folgt aus der allerdings zweifellosen Thatsache, daß Bathurst französische Nachstellungen gefürchtet hat, noch nicht die Thatsächlichkeit der Nachstellungen. Es ist bereits oben erwähnt, daß die Befürchtungen Bathursts sich am natürlichsten erklären, wenn man annimmt, daß sie auf Einflüsterungen und Einschüchterungen beruhten, welche von einem französischen Agenten ausgingen und bei Bathurst auf einen nur zu empfänglichen Boden fielen. Hätte die französische Geheimpolizei Hand an ihn legen wollen, so würde sie geschwiegen und gehandelt haben, und schwerlich würden ihm schon in Wien Winke über ihre Pläne zugegangen sein. Aber wie die Furcht vorhanden sein konnte, ohne daß eine Gefahr bestand, so konnten allerdings auch Gefahren bestehen, gleichviel, ob sie gekannt und gefürchtet wurden oder nicht. Der Charakter des Krankhaften, den die Befürchtungen Bathursts unzweifelhaft annahmen, beweist keineswegs, daß die Befürchtungen selbst grundlos waren. Die Thatsächlichkeit französischer Nachstellungen ist indessen aus anderen Gründen abzulehnen.

Daß an Anwendung offener Gewalt und namentlich gewaltsamer Entführung füglich nicht gedacht werden kann, liegt auf der Hand. Wohl hatte Napoleon den Herzog von Enghien auf badischem Gebiet in Ettenheim aufheben lassen, aber Ettenheim hatte keine Besatzung, und doch wurden außer Gendarmen drei hundert Dragoner für das Unternehmen aufgeboten. Perleberg war preußische Garnisonstadt, und in diesem Theile der Mark stand kein französischer Soldat. Das königlich westfälische Gebiet begann erst jenseit der über zwei Meilen entfernten Elbe. Ein Erscheinen französischer Bewaffneter auf preußischem Gebiet hätte unmöglich verborgen bleiben können. Zu der immerhin abenteuerlichen Annahme, daß Bathurst durch geheime Agenten, zu denen etwa auch sein Sekretär und sein Diener gehört hätten, in Perleberg heimlich ermordet worden sei, würde man sich erst dann drängen lassen dürfen, wenn sie unausweichlich wäre und nicht andere Möglichkeiten näher lägen. Aber gesetzt einmal, geheime Agenten hätten es gewagt und ermöglicht, Bathurst gefangen zu nehmen und zu töten, so würden sie ein Werk, zu dessen Ausführung sie eine anerkennenswerthe Geschicklichkeit aufgeboten hätten, als Stümper beendet haben. Sie durften dann nicht Kleidungsstücke des Ermordeten zum Vorschein kommen lassen. Sie mußten dafür sorgen, daß die Leiche mit einer tödlichen Schußwunde und mit einer Pistole in der Hand, oder mit einer tödlichen Stichwunde und mit einem Dolche in der Hand gefunden wurde, um durch den Schein des Selbstmordes bei einem Manne, der als excentrisch bekannt war, den Verdacht von sich und ihrem Herrn abzuwälzen. Brachten sie den Mord fertig, dann mußten sie auch eine solche Verdeckung desselben fertig bringen, wie man sie einst vielleicht bei Pichegru fertig gebracht hatte, den man erdrosselt fand, als hätte er sich selbst erdrosselt, der aber vermuthlich erdrosselt worden war. Und schließlich bleibt doch noch die Hauptfrage übrig: welchen Zweck soll die Ermordung Bathursts für die französischen Agenten oder für Napoleon gehabt haben?

Als Bathurst zu Anfang des Jahres 1809 nach Wien ging, mochte es für Napoleon von einigem Werthe sein, zu erfahren, welche Anerbietungen und Vorschläge England an Oesterreich zu machen hatte, und wenn er damals den Gesandten hätte seiner Papiere berauben lassen, bei welchem Unternehmen derselbe sich gewehrt und seinen Tod gefunden hätte, so würde dies ein allenfalls verständlicher Vorgang gewesen sein. Aber wozu sollte er ihn jetzt berauben oder töten lassen? Oesterreich war besiegt und für die nächste Folgezeit zu jedem kriegerischen Vorgehen außer stande. Was England etwa mit Oesterreich zu Anfang des Jahres unter Voraussetzungen verabredet hatte, die nicht eingetreten waren, konnte für Napoleon zu Ende des Jahres völlig gleichgültig sein. Daß Bathurst an jenem verhängnißvollen Sonnabend Papiere verbrannt hat, ist kein Beweisgrund dagegen. Er war bekanntermaßen krankhaft erregt, und überdies liebt es kein Privatmann und vollends kein Gesandter, seine Papiere durchsucht zu sehen, wenn er doch einmal fürchtet, in die Hände von Gegnern zu fallen. Die geheimnißvolle Wichtigkeit dieser Papiere ist damit nicht erwiesen. Wer sagen wollte, Napoleon habe vielleicht nach Aufschlüssen über die Haltung des preußischen oder des russischen Hofes forschen wollen, müßte zeigen, daß derselbe irgend welchen Anhalt zu der Voraussetzung hatte, solche bei Bathurst zu finden. Im übrigen war Napoleon, wie wir namentlich aus neueren Veröffentlichungen wissen, während des Feldzuges in Oesterreich und vor dem Verschwinden Bathursts über jene Höfe sehr genau unterrichtet. In den Jahren seines Glückes hatte er keine Veranlassung, Gesandte zu berauben, um zu erfahren, was er wissen wollte; es standen ihm genug anderweitige Mittel und Wege dafür zu Gebote. Die persönliche Feindschaft Napoleons gegen Bathurst war ein Hirngespinst Bathursts. Anwendung von Gewalt gegen einen Gesandten war eine Handlung, die Napoleon, ohne dessen Zustimmung sie nicht erfolgt wäre, nur zugelassen hätte, wenn ihr voraussichtlicher Nutzen zu ihrer zweifellosen Bedenklichkeit in nicht allzu grellem Mißverhältniß stand. Um seinen Zweck zu erreichen, hat er mehr als einmal während seiner politischen Laufbahn verwerfliche Mittel angewendet und geheiligte Schranken mißachtet, aber einer zwecklosen Handlung, auch einer zwecklosen Gewaltthat, war er nicht fähig. Eine Beraubung und Ermordung Bathursts kann von Napoleon nicht angeregt worden sein, aus dem einfachen und zureichenden Grunde, weil sie keinen Sinn und Verstand gehabt hätte.

Da von den drei Möglichkeiten, welche für das Ende Bathursts vorliegen, zwei ausgeschlossen sind, so bleibt also nur die dritte übrig.

Daß ein Raubmord stattgefunden habe, ist die Ueberzeugung, der die neueren Darstellungen des Falles mehr oder minder rückhaltlos Ausdruck geben, so die jüngere der beiden im „Neuen Pitaval“ enthaltenen Darstellungen und die erst im Jahre 1887 erschienene englische. Der Kapitän Klitzing hat von Hause aus an französische Nachstellungen nicht recht zu glauben vermocht, obwohl Bathurst solche gefürchtet hatte, und hat sich in seinem späteren Leben wiederholt dahin ausgesprochen, daß es sich nur um einen in Perleberg verübten Raubmord handeln könne.

Man möchte sagen: „Wenn man Anzeichen für diese Thatsache hatte, warum hat man dann den Raubmord nicht rücksichtslos [771] festgestellt und verfolgt? Man hätte auf diese Weise die Annahme eines politischen Mordes, die in Berlin und Paris anstößig war, am besten aus der Welt schaffen können.“ Aber wir haben gesehen, daß diese Anzeichen zunächst nicht deutlich genug waren; weil man auf Beweise für einen politischen Mord zu stoßen fürchtete, betraute man in Berlin mit der Untersuchung der Sache nicht einen erfahrenen Kriminalbeamten, der mehr Aussicht gehabt hätte, die Lösung der schwebenden Frage zu finden, als Klitzing und die Stadtbehörden. Wenn die polizeiliche und gerichtliche Untersuchung unter den obwaltenden Umständen Gewisses und auch den Raubmord nicht erwiesen hat, so wissen wir, welche Gründe und Rücksichten sie hemmten und lähmten. Die Ergebnißlosigkeit der Untersuchung ist noch kein Beweis gegen ein an Bathurst verübtes Verbrechen.

Es darf nicht vergessen werden, daß damals, als Bathurst verschwand, die Sicherheitspolizei mit allem, was dazu gehörte, seit Jahrzehnten im Argen lag. Die staatlichen Reformen hatten eben erst begonnen, und für die Sicherheitspolizei waren sie nicht weniger unerläßlich als für die Armee. Das damals lebende Geschlecht war im Zeichen der Stadtsoldaten herangewachsen, über die man lachen durfte, aber auch im Zeichen der Räuber und Beutelschneider, die das nothwendige Gegenstück zu den Stadtsoldaten bildeten und vor denen man auf der Hut sein mußte. In Preußen stand es besser als in den meisten andern deutschen Staaten, aber Schlaffheit und Ohnmacht der Behörden hatten wenigstens in den preußischen Grenzstädten, zu denen auch Perleberg gehörte, vielfach ein verwegenes Verbrecherthum großgezogen, das sich den Behörden vorläufig noch überlegen zeigte. Es ist ein bezeichnender Zug, daß das Generalpostamt in Berlin längst auf die häufigen Postdiebstähle bei Perleberg aufmerksam geworden war, ohne daß es wirksam dagegen einschreiten konnte. Als man in Berlin einen so verdächtigen Menschen wie August Schmidt endlich näher ins Auge faßte, war es für die Aufhellung seiner Beziehungen zu Bathurst schon zu spät.

Auf das Andenken des Dienstknechts Mertens fällt, wie erwähnt, in den erhaltenen Berichten kein Schatten; er wird uns als ein gottesfürchtiger Mann genannt. Aber der böse Fund in dem Stalle seines Hauses rechtfertigt doch, da die Leiche schwerlich ohne sein Wissen an dieser Stelle vergraben worden ist, die Zweifel daran, ob man den Mertens auch genau gekannt habe. Daß er in dem Gasthofe einer kleinen Stadt und noch dazu in einer untergeordneten Stellung so viel erwarb, um seinen Kindern außer seinem Hause auch noch achtzehnhundert Thaler hinterlassen zu können, ist ebenfalls auffällig.

Wir müssen auf die Entdeckung des Skeletts noch einmal zurückkommen. Es leuchtet ein, daß die Feststellung der Zugehörigkeit eines Schädels eine schwierige und mißliche Sache ist. Angenommen, ein Gerichtshof hätte einen gewiegten Anatomen, der mit Bathurst genau bekannt gewesen wäre, befragt, ob er den gefundenen Schädel als den Schädel Bathursts anerkenne oder nicht, so würde die bejahende wie die verneinende Antwort des Anatomen von großem Gewicht gewesen sein; aber selbst dann wäre es fraglich, ob der Gerichtshof es wagen würde, auf diese Antwort hin folgenschwere Schlüsse zu bauen, wenn nicht noch anderweitige Anzeichen hinzuträten. Was ein Laie in solchem Falle über einen Schädel aussagt, ist bedeutungslos, und das Nein, das die Schwester Bathursts beim Anblick des ihr gezeigten Schädels gesprochen hat, wiegt nicht mehr, als ihr Ja gewogen hätte. Eher als am eigentlichen Schädel kann ein Laie die Zugehörigkeit an den Zähnen erkennen, ein Zahnarzt kann es unter Umständen mit völliger Sicherheit. In diesem Falle kannte niemand das Gebiß. Wir hören nur, daß die Zähne bis auf einen alle vorhanden, aber infolge der Unvorsichtigkeit der Finder meist aus den Kiefern gefallen waren. Es läßt sich also sagen, daß das Wenige, was wir von dem Skelett wissen, wenigstens nicht gegen die Annahme spricht, daß hier die Ueberreste Bathursts gefunden worden seien. Die auf einen wuchtigen Schlag deutende Vertiefung im Hinterkopf würde in den als wahrscheinlich anzunehmenden Zusammenhang der Dinge genau passen. Das Mertenssche Haus lag, wie oben bereits gesagt ist, an der Chaussee, die der Wagen Bathursts einschlagen sollte, in einer aus wenigen und weit von einander getrennten Häusern bestehenden Vorstadt, und war nur dreihundert Schritt von dem Gasthofe entfernt, vor dem der Wagen hielt, es lag also zugleich in der Richtung, welche Bathurst nahm, als er an seinem Wagen vorüber auf das Parchimer Thor zuschritt. Weit kann Bathurst nicht gekommen sein, und ein lärmender Kampf, ein Aufsehen erregendes Geräusch, etwa gar der Knall von Schüssen, könnte die Ermordung nicht begleitet haben. Der Kopf Bathursts war nur durch eine Mütze geschützt. Ein Schlag, vom Rücken her mit einem Hammer, einem Brecheisen oder der stumpfen Seite eines Beiles auf den Hinterkopf geführt und von sofort tödlicher oder doch betäubender Wirkung, würde zu dem lautlosen Verschwinden Bathursts einerseits und zu dem Skelettfunde andererseits am natürlichsten stimmen.

Ueber die Personen, welche den Mord verübten, und über die Mittel, welche sie anwandten, um den Fremden zu jenem verhängnißvollen Gange von seinem Wagen hinweg zu bestimmen, kann man natürlich nur mehr oder minder wahrscheinliche Vermuthungen anstellen. Da wir nicht erzählen können, wie der Hergang gewesen ist, so wollen wir einmal erzählen, wie er gewesen sein kann.

Bathurst kam während seines etwa neunstündigen Aufenthalts im „Weißen Schwan“ und im Posthause mit August Schmidt mehrfach in Berührung. Das machte sich von selbst, denn Schmidt war als Sohn des Postwagenmeisters gewissermaßen der amtlich bestellte Diener der mit Extrapost reisenden Fremden. Ueberdies sprach Schmidt etwas französisch, und so konnte der Diplomat, welcher der deutschen Sprache nur unvollkommen mächtig war, sich mit ihm verständigen, besser jedenfalls als mit einer anderen Person im Gasthofe. Schmidt ist gegen den Fremden dienstbeflissen und zuvorkommend gewesen und hat bei Gelegenheit einiger für ihn ausgeführter Besorgungen wahrgenommen, daß derselbe über beträchtliche Geldmittel verfügte. Bathurst, der das Verkehren mit Bankiers auf seiner weiten Reise hat vermeiden wollen, um nicht seinen wahren Namen in fremden Städten bekannt geben zu müssen, hat eine große Geldsumme, einige tausend Thaler, und zwar meist in preußischen Goldstücken und Banknoten, bei sich geführt. Daß Schmidt für das Geld, für den auf mehrere hundert Thaler abgeschätzten Pelz und für den Brillanten des Fremden begehrliche Blicke hatte, ist diesem um so weniger aufgefallen, als seine Befürchtungen nicht einem möglichen Diebstahl oder Raub, sondern französischen Nachstellungen galten. Während er sich in seiner Aengstlichkeit und Verwirrung vor einer Gefahr fürchtete, die nur in seiner Einbildung bestand, übersah er die wirkliche Gefahr, die ihm unmittelbar drohte. Er hat dem Schmidt seine Besorgnisse offen mitgeteilt, schon weil er eine Art Bedürfniß fühlte, das wiederholte Bestellen und Abbestellen der Pferde, das Schmidt vermittelt hat, begründend zu entschuldigen. Aus einem willigen Diener ist Schmidt im Laufe des Nachmittags der vertrauliche Berather Bathursts geworden, während gleichzeitig der Plan zu einem Raubmord in ihm entstand und allmählich eine bestimmte Gestalt annahm. Ab- uud zugehend, fand Schmidt in den langen Nachmittagsstunden Zeit und Gelegenheit, sich mit Mertens, dessen Haus sich zur Ausführung der That eignete, ins Einvernehmen zu setzen und alle nöthigen Verabredungen und Vorbereitungen zu treffen. Mertens sorgte dafür, daß seine Angehörigen am Abend nicht zu Hause waren, und vielleicht wurde ein Grab für Bathurst schon gegraben, ehe er tot war.

Einige Leser lieben vielleicht ein „Wenn nun aber doch“ und geben ihm diesmal folgende Fassung: „Wenn nun aber doch August Schmidt von Franzosen einen Wink bekommen hätte? Mit dem Raubmord könnte ja der politische Mord vereinigt sein!“ Wir antworten: wäre ein solcher Wink ertheilt worden, so würde Schmidt zweifellos angewiesen worden sein, den Fremden, um ihn nicht mißtrauisch zu machen, nur mit dem Namen zu kennen und zu nennen, unter dem er reiste, also als den „Kaufmann Koch“. Der durch die oben erwähnte Perleberger Dame überlieferte, an sich gleichgültige Umstand, daß Schmidt unbedenklich von einem „Herrn Lord“ sprach, indem er das „Mylord“ der beiden Begleiter Bathursts in seiner Weise wiedergab, zeigt, daß das Verbrechen von französischer Seite nicht angeregt sein kann. Schmidt und Mertens handelten auf eigene Hand.

Wir lassen wieder unserer Einbildungskraft die Zügel schießen. „Ja. ja, Herr Lord,“ hat Schmidt zu Bathurst gesagt, „den Franzosen ist nicht zu trauen, und es kann wohl sein, daß die in der Stadt ihre Helfershelfer haben. Aber verlassen Sie sich auf mich. Wir hier kennen das schon, und ich habe schon mehr als einen Fremden weiterspediert, der nicht bekannt werden lassen wollte, wohin und wie und wann er fuhr. Wir machen das so: [772] Sie bitten sich von dem Kommandanten Kürassiere aus, die bewachen Sie den Tag über. Am Tage fahren Sie nicht weiter, denn da könnte man auf Sie aufmerksam werden und Sie verfolgen. Sie bestellen den Wagen auf 9 Uhr abends und thun, als wenn Sie vom ‚Weißen Schwan‘ abfahren wollten. Aber beim ‚Weißen Schwan‘ steigen Sie noch nicht in den Wagen. Beim Abfahren stehen da immer allerhand Leute aus der Nachbarschaft umher, und die muß man über die wirkliche Abfahrt täuschen, damit sie nicht französischen Soldaten auf Ihre Spur helfen können. Im letzten Augenblick vor der Abfahrt, wenn alles fertig ist, gehen Sie möglichst still und ungesehen dreißig Schritt vor dem Wagen her auf das Thor zu. Dort werden Sie mich finden, und ich führe Sie in das gleich vorn an der Chaussee liegende Haus meines Freundes Mertens, der hier im Gasthofe dient und ein zuverlässiger Mann ist. Dort sollen Sie unbemerkt auf Ihren Wagen warten. Ich kehre dann um und gebe dem Postillon einen Wink, daß er nachher vor dem Hause hält und Sie einsteigen läßt. Dem Sekretär aber rufe ich laut und so, daß die umstehenden Leute es hören, zu, er solle allein abreisen, der Herr Lord würde heute noch nicht fahren. Im Nothfall geben Sie mir für den Sekretär einen Zettel mit, auf den Sie Ihren Befehl aufgeschrieben haben. Die Hauptsache ist, daß wir das ganz genau so ausführen und daß wir zu niemand davon sprechen, auch zu dem Sekretär nicht. Dann haben wir die Sache allein in der Hand und schlagen den Franzosen ein Schnippchen. Wenn die Sie dann noch hier in einem Gasthofe vermuthen, sind Sie längst da, wo kein Franzose Ihnen mehr schaden kann.“

Bathurst hat diese Weisungen pünktlich befolgt, und die Ereignisse haben den von den Verbrechern gewünschten und berechneten Verlauf genommen. Als Bathurst von seinem Wagen her auf das Thor zuging, traf er den Schmidt und ließ sich von ihm nach dem Mertensschen Hause führen. In diesem Hause oder auf dem dazu gehörigen Hofe angekommen, ist er von einem der beiden Verbündeten in ein Gespräch verwickelt worden, und während desselben hat der andere ihn niedergeschlagen. Vielleicht ist Goldberger wirklich dazu gekommen, als sie ihn vergruben.


Blätter und Blüthen.

Ernst van Dyck. der ausgezeichnete Tenorist, dessen Name während der diesjährigen Bühnenfestspiele in Bayreuth und dann jüngst wieder aus Anlaß der Lohengrinaufführungen in Paris viel genannt wurde, ist von Geburt Vläme und zugleich ein Nachkomme des berühmten Malers, worauf er, und mit Recht, nicht wenig stolz ist. Es macht ihm stets ein Vergnügen, die geradlinige Abstammung aktenmäßig nachweisen zu können. Für seine Kunst von heiligem Ernste erfüllt, hatte er bittere Kämpfe zu bestehen, bis er erst seinen Willen durchgesetzt hatte, sich der Bühne widmen zu dürfen, bis er dann die Schwierigkeiten überwand, welche seine französische Erziehung und der Mangel an Kenntniß der deutschen Sprache ihm in den Weg legten, als er sich entschloß, zur deutschen Oper überzugehen. Diejenigen, welche ihn im Jahre 1888 in Bayreuth zum ersten Male als „Parsifal“ zu hören bekamen, werden sich gewiß ihres Erstaunens erinnern über das Wagniß, den der deutschen Sprache fast gänzlich Unkundigen in einer solchen Rolle auf die Bühne zu stellen. Aber dem eisernen Fleiße van Dycks gelang es, diesen Mangel bald auszugleichen. In den wenigen Jahren seines Wirkens an der Wiener Oper hat der junge Künstler viel gelernt, dank seinem Meister Dr. Hans Paumgartner; und als es galt, dem „Lohengrin“ den lange bestrittenen Platz auf der Pariser Bühne zu erobern, da war es klar, daß man für die Titelrolle in erster Linie van Dyck von der österreichischen Hauptstadt heranzog.

In guter Schulung gehalten, entwickelte sich Stimme und Ausdruck bei dem Sänger in glänzender Weise. Wäre es nach dem Willen seiner Eltern gegangen, nimmer würde van Dyck die Bretter betreten haben. Er wurde am 2. April 1861 zu Antwerpen geboren, studierte in Löwen und Brüssel die Rechte und ging dann unter dem schärfsten Widerstande seiner Familie nach Paris, um dort Gesangsunterricht zu nehmen. Damit er seinen Lebensunterhalt findet – die wohlhabende Familie hatte die Kasse gesperrt! – wird er Mitarbeiter des Blattes „La Patrie“ und studiert nebenher bei St. Yves. So wurde er dreiundzwanzig Jahre alt, als ihn zufällig in einem Privatkonzerte der Komponist Massenet singen hörte – und sein Schicksal war entschieden. Massenet ließ ihn sofort im „Institut de France“ auftreten und damit war van Dycks Name gemacht. Selbstverständlich ist der junge Sänger begeisterter Anhänger von Richard Wagners Kunst. Er hätte sonst wohl auch kaum das Wagestück unternommen, trotz aller Hetzereien und Drohungen, welche der Aufführung vorangingen, in der urdeutschen Rolle des Lohengrin vor das Publikum der französischen Hauptstadt zu treten.

Eine neue Schlacht im Krieg gegen die Straßenschleppe hat die Gemeindeverwaltung von Meran geschlagen, mit siegreichem Erfolg. Die Belästigung durch die staubaufwirbelnden langen Kleider der Damen wurde dort namentlich für die Kranken eine unerträgliche. Die Gemeinde beschloß, Abhilfe zu treffen, und ließ einfach überall die Promenadeordnung anschlagen mit besonderer Betonung des Paragraph 3, welcher lautet: „Die Damen werden höflichst ersucht, sich auf den Promenaden fußfreier Kleider zu bedienen, um das Aufwirbeln des Staubes zu verhindern.“ Wer sich dieser Vorschrift nicht fügte, wurde von den Aufsichtsorganen ohne Unterschied der Person auf die Verfügung aufmerksam gemacht, und diese Fingerzeige müssen wohl noch stärker gewirkt haben als die Lockungen der Mode, denn die Schleppen verschwanden allmählich auf den Promenaden, die Damen überließen das Geschäft des Staubaufwirbelns dem Winde. Vielleicht entschließen sich die einsichtigen Vertreterinnen des Geschmacks auch in anderen Städten zu einem ähnlichen Verzicht und beseitigen so endgültig dieses große Stück – „Frauenfrage“.

Welke Blätter. (Zu dem Bilde S. 761.) Ein trübseliges Geschäft, an kühlem nebligen Herbstmorgen die von den Bäumen des Parkes gefallenen Blätter, die stummen Zeugen der ersterbenden Natur, zusammenzukehren. Ob wohl die Männer, welche wir auf unserem stimmungsvollen Bilde bei solcher Arbeit begriffen sehen, eine Empfindung dafür haben? Fast scheint es, als ob das nicht der Fall wäre. In gleichmäßiger Ruhe, mechanisch verrichten sie ihre Obliegenheit, und sie beachten wohl kaum das abgehärmte Menschenkind, welches vor ihnen auf der Bank sitzt und trüben Blickes ihrem Thun zusieht. Welke Blätter! Ja, in der Seele dieses müde zusammengebrochenen Mädchens sind auch die schönen Hoffnungen auf Liebe und Glück erstorben, ein blühender Sommer der Freude und Zuversicht ist dem tödlichen Reif des Herbstes erlegen, ihr Leben liegt vor ihr – ein welkes Blatt!

Aber der Lenz wird kommen, und seine Sonnenstrahlen werden neues Keimen und Grünen den Bäumen des Parkes entlocken. Der Frühling wird seinen heilenden Balsam auch auf die Wunden dieses armen Menschenherzens träufeln, daß es gesunde zu neuem Leben und neuer Daseinsfreude!




Inhalt: Ein Götzenbild. Roman von Marie Bernhard (9. Fortsetzung). S. 757. – Van Dyck als Lohengrin. Bildniß. S. 757. – Welke Blätter. Bild. S. 761. – Die Astronomie auf der Straße. II. Von Dr. C. Cranz. Mit Sternkarte. S. 763. – Die drei Vereinsbrüder. Eine Erzählung von Ernst Lenbach (Schluß). S. 764. Mit Abbildungen S. 764, 765 und 766. – Das Verschwinden des Lord Bathurst in Perleberg im Jahre 1809. Von Eduard Schulte. II. S. 766. – Hungrige Gesellschaft. Bild. S. 768 und 769. – Blätter und Blüthen: Ernst van Dyck. S. 772. (Zu dem Bildniß S. 757.) – Eine neue Schlacht im Krieg gegen die Straßenschleppe. S. 772. – Welke Blätter. S. 772. (Zu dem Bilde S. 761.)



In dem unterzeichneten Verlag ist soeben erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:

[Verlagswerbung Ernst Keils Nachfolger für Neuerscheinungen von Sanders und Traeger. – hier nicht dargestellt.]



Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.