Die Gartenlaube (1892)/Heft 24
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Halbheft 24. | 1892. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Jahrgang 1892. Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf. alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.
Es ist sehr schwer für ein junges Menschenkind, das, was das
Herz bewegt, beglückt, beschwert, fest in sich zu verschließen.
Die Eindrücke, die ein solch kleines Herz empfängt, drohen es zu
zersprengen, und andere theilnehmende Herzen müssen helfen, die
wichtigen, wonnigen oder schmerzlichen Begebenheiten einer ersten
Liebe zu tragen. Selten ist die Mutter die Vertraute, fast immer
ist es eine Freundin, die auch ihrerseits ein Geheimniß hat.
Solche Mädchenfreundschaft ist ein rührendes Ding – immer
bereit, zu trösten, mitzuweinen oder mitzulachen, und immer
bereit, Wunder zu entdecken, wo vielleicht ein anderer die reinste
Prosa sehen würde.
Mamsell Unnütz besaß keine Mutter, und die, die deren Stelle zu vertreten gelobt hatte, vermochte noch immer keine Liebe zu ihr zu fassen. Das stille Kind würde es nie gewagt haben, irgend etwas, von dem es bewegt wurde, der blassen bekümmerten Tante auch nur anzudeuten. Und Therese Krautner war ihr keine Freundin im eigentlichen Sinne; besonders mied sie alle Vertraulichkeit mit Julia, seitdem sie sich mit ihrem Bruder verlobt hatte, und diese war viel zu stolz, um eine Freundschaft zu suchen, die sich ihr versagte. Aber sie litt unter ihrer Herzenseinsamkeit namenlos schwer, denn von Natur war sie anschmiegend und zärtlich, und all ihre Kühle und scheinbare Unempfindlichkeit war künstlich, ein Ergebniß der ohne Liebe verlebten Jugendzeit. Nur aus den wunderbaren Augen erkannte man das helle süße Feuer, das ihre Seele barg; aber diese Augen lagen fast immer verschleiert unter den blauschwarzen Wimperm. Freilich nannte die Frau Räthin eben das „Koketterie“, denn hoben sich plötzlich die Wimpern und schaute Mamsell Unnütz einem anderen Menschen voll ins Gesicht, so konnte dieser erschrecken vor den Strahlen, die ihm entgegenflammten, ein tiefes innerliches Leben verrathend, eine Fülle von Empfinden.
„Zum Glück,“ pflegte die Räthin zu sagen, „hat sie gar keine Gelegenheit, ihre gefährlichen Augenkünste zu versuchen, denn außer mit dem Fritz verkehrt sie mit keinem Mann, und der ist ihren Anblick gewöhnt, dem thut’s nichts – man kann in der schönsten Landschaft wohnen und man merkt’s gar nicht, saß man von jeher darin. Na, und außer den Augen ist auch wirklich nichts an dem Mädchen, was man schön heißen könnte; die schwarzen Zöpfe sehen aus als wie aus Nähseide geflochten, und der Teint ist so gelblich wie meine Garnitur echter Spitzen.“
Und doch sollte es auf einmal einen Menschen geben, in dem diese Augen Liebe geweckt hatten, der um jeden Preis die Besitzerin dieser Augen – die Räthin schlug die Hände über dem Kopfe zusammen – heirathen wollte!
Mamsell Unnütz selbst hatte keine Ahnung davon gehabt, daß die Liebe eines Mannes sie suchte mit fieberhaftem Verlangen; sie sprach mit dem Kranken, der fast allmorgendlich am Arme eines Dieners die Schwelle des Wartezimmers mühsam überschritt, so freundlich wie mit allen anderen, vielleicht noch freundlicher, denn angesichts eines solchen Elends floß ihr Herz über von Güte. Gab es denn etwas Trostloseres, als jung, reich, befähigt zu sein und dabei an allem gehindert zu werden durch einen gebrechlichen Körper? Sie, die bei aller Ruhe ihrer Bewegungen
[742] doch eigentlich ruhelos war, die es nicht ausgehalten hätte, ohne daß sie jeden Tag drei- bis viermal durch den Garten zum Strome hinuntereilen, im Sommer hinausrudern konnte mit den zarten und doch so kräftigen Armen, sie mußte es doppelt mitleidsvoll empfinden, wenn sie einen Menschen erblickte, der nur von seinem Rollstuhl aus die Natur genießen konnte. Aber diese ihre Theilnahme brachte dem armen Menschen auch noch ein krankes Herz. Er meinte plötzlich, in dem schönen freundlichen Wesen das gefunden zu haben, was ihn mit dem Leben versöhnen könne, und heute in der Mittagsstunde war seine Mutter erschienen und hatte die Räthin um eine Unterredung unter vier Augen bitten lassen.
Sie war Witwe, eine stolze Frau, die sich nie in den Andersheimer bürgerlichen Kreisen gezeigt und mit ihrem Sohne ganz für sich gelebt hatte.
Ein sehr armes Mädchen aus altem französischen Adel war sie gewesen, als Herr Norban sie kennenlernte, gerade nachdem ihr Vater den letzten Kreuzer am Spieltisch verloren und sich dann in plötzlicher Verzweiflung erschossen hatte. Dies mochte zu dem Entschluß beigetragen haben, den bürgerlichen Bewerber um ihre Hand zu erhören und ihm als Gattin nach seiner schönen Villa am Rhein zu folgen. Glücklicherweise lag diese durch einen weitläufigen Park von der Fabrik getrennt; sie mochte nicht gern daran erinnert werden, daß ihr Eheherr „Deutschen Schaumwein“ fabriziere, wenngleich es ihr ein kleiner Trost war, daß Napoleon III. der Sage nach einst um die schöne Veuve Cliquot gefreit habe. Aber sie war doch eine Frau von Charakter und dazu eine schwer geprüfte Frau. Ihr armer einziger Sohn, ihr Alphonse, der zu den herrlichsten Hoffnungen berechtigt hatte, war seit seinen Knabenjahren ein Krüppel. Er hatte, stark erhitzt, im Rheine gebadet und war gelähmt nach Hause getragen worden – ein furchtbarer Schlag für die Frau, die dennoch ihren Muth nicht verlor. Sie suchte dem vergötterten Sohne jeden Wunsch zu erfüllen, sie gab ihm die sorgfältigste Erziehung, und als sein Vater an den Folgen seiner im Kriege gegen Frankreich erhaltenen Wunden starb – er hatte an dem Feldzug als Reserveoffizier theilgenommen – da ward sie nicht nur der alleinige Trost ihres Knaben, da ward sie auch eine Deutsche; sie vergab es ihren Landsleuten nie, daß sie dem armen Jungen den Vater geraubt.
Und diese Frau kam heute, um für ihr geliebtes Kind Hand und Herz der kleinen Mamsell Unnütz zu fordern.
Sie hatte sich achtundvierzig Stunden verzweifelt gegen diesen Plan zur Wehr gesetzt, ihr Herz war beinahe gebrochen darüber. Sie hatte dem Einzigen alles sein wollen, und der Gedanke, seine Liebe mit einer anderen theilen zu müssen, war ihr fürchterlich. Aber nun hatte sie sich darein ergeben, es beherrschte sie nur noch die Angst, er, der Krüppel, könnte verschmäht werden.
Der Räthin schwindelte es förmlich, als ihr Frau Norban gemeldet wurde; denn die stolze Frau pflegte keinerlei Verkehr zu suchen. Nun saß sie wie ein Steinbild auf dem Kanapee neben der Dame, deren schwarzes Schnurrbärtchen auf der Oberlippe sie zum ersten Male in der Nähe sah und deren zobelverbrämter Sammetmantel vollends dazu beitrug, der Frau Rath den Verstand zu verdrehen.
„Enfin,“ sagte Frau Norban, „Alphonse liebt dieses junge Mädchen; was er ihr zu bieten hat, ist ja doch immerhin sehr viel. Ein Vermögen – wir würden sie für den Fall seines frühen Todes aufs beste versorgen – eine Stellung, die rührende dankbare Liebe seines guten Herzens. Er – –“ sie fuhr mit der Hand über die Augen und wischte eine Thräne weg.
„Aber, ich bitte Sie, gnädige Frau,“ versicherte die Räthin, „welches Mädchen würde nicht glücklich sein, wenn Ihr Herr Sohn – – und heirathen will er die Julia?“ unterbrach sie sich, aufs neue in Erstaunen gerathend, „wirklich heirathen?“
Frau Norban räusperte sich. „Da ich persönlich als seine Fürsprecherin komme, so dächte ich, die Sache sei klar. Die Tante der jungen Dame ist mir als schwer zugänglich geschildert worden, deshalb wende ich mich an Sie, meine liebe Frau Rath.“
„O Gott,“ antwortete diese, als sei ihr selbst ein großes unverhofftes Geschenk in den Schoß gefallen, „welch ein Glück für das Kind und für meine arme Schwester!“
„Bitte, ermöglichen Sie es mir, das junge Mädchen zu sehen.“
„Wie? Sie kennen das Julchen noch gar nicht?“
Frau Norban schüttelte den Kopf. „Nur aus der Beschreibung meines Sohnes.“
Die Räthin eilte, so rasch es auf ihren Filzschuhen ging, aus dem Zimmer und die Treppe hinauf. Julia stand droben in der Küche und rührte die Hafermehlsuppe für Tante Riekchen, die durch das Ausbleiben aller Nachrichten von dem Pflegesohn krank geworden und wie gebrochen im Bette verblieben war.
Gleich einer Gewitterwolke schoß die Räthin auf ihren unhörbaren Sohlen in die Küche und roth vor Aufregung schrie sie mit zitternder Stimme dem erschreckten Mädchen zu:
„Mach’ rasch, zieh’ Dir ein anderes Kleid an, wasch’ Dir die Hände, es ist jemand drunten –“ Sie schnappte nach Luft – „Mach nur fix und komme recht nett und lieb, hörst Du?“
„Und was soll ich unten, Tante?“ fragte Julia ruhig.
„Eine Dame ist ohnmächtig geworden – bring’ ein Glas Wasser!“
Die Räthin fand diese Ausflucht selbst außerordentlich thöricht, als sie die Treppe hinunterschoß, aber es fiel ihr rein nichts anderes ein. Sie saß, noch heftig nach Athem schnappend, neben ihrem Besuch, als sich langsam die Thür aufthat und das junge Mädchen erschien mit einem Tellerchen, auf dem ein Glas frischen Wassers stand. Sie hatte sich nicht umgekleidet, denn nach ihrer Meinung war die Robe, in der man einem Ohnmächtigen zu Hilfe eilt, nur Nebensache, und so kam sie in ihrem knappen dunklen Wollkleidchen, mit leicht vom Herdfeuer geröthetem Antlitz.
Frau Norban, die keine Ahnung hatte, daß sie als eine Ohnmächtige gelten sollte, nahm die Lorgnette und sah mit erstaunten Augen der eigenartig reizenden Erscheinung entgegen. Ja, nun verstand sie alles; sie kannte den glühenden Schönheitssinn ihres Sohnes, sie selbst hatte ihn ausgebildet. Und dieses Geschöpf, diese blühende Schönheit, die wollte er für sich haben, der arme Bub’? Sie ließ die Lorgnette fallen und senkte die Augen vor denen Julias, die ihr das Glas Wasser darbot.
„Ich danke Ihnen, mein liebes Kind.“
„Der gnädigen Frau ist schon besser!“ rief die Räthin.
„Ja, aber wollen Sie nicht einen Augenblick Platz nehmen?“ fuhr Frau Norban mit leise verwunderter Miene fort, als Julia sich umwandte, um wieder zu gehen. „Ich möchte nämlich,“ fuhr sie fort und zog das Mädchen auf den Stuhl an ihrer Seite, „ich möchte Ihnen danken. Sie kennen mich nicht, aber ich kenne Sie durch meinen Sohn.“
„Doch, Frau Norban, ich kenne Sie,“ antwortete Julia. „Ihr Herr Sohn hat mir oft genug von seiner Mutter erzählt.“
„That er das?“ fragte sie, freudig erröthend. „Er ist ein guter Mensch, ein guter edler Mensch, ich kann es sagen als glückliche Mutter. Sie sollten seine Gedichte lesen – wollen Sie? Ich werde sie Ihnen schicken; Sie lernen daraus sein ganzes Herz kennen!“
Julia hielt die Wimpern gesenkt. „Ich werde mich sehr freuen,“ antwortete sie verlegen. Sie fühlte, daß irgend etwas Ungewöhnliches die Frau so sprechen ließ.
„Und wollen sie mich einmal besuchen? Ja? Das ist lieb von Ihnen. Vielleicht heute nachmittag?“
„Es thut mir leid, gnädige Frau, aber meine Tante ist gerade heute besonders leidend.“
„Ach was, papperlapapp!“ fiel die Räthin ein, „deshalb kannst Du ruhig gehen, ich sehe schon nach ihr; wirst doch nicht immer bei ihr hocken können!“
„Sie sind ein gutes Kind,“ sprach Frau Norban und erhob sich. „Heute also nicht, aber morgen lasse ich mir keinen Korb geben, morgen schicke ich Ihnen den Wagen. Und nun leben Sie wohl – auf Wiedersehen!“
Sie hatte beide Hände von Mamsell Unnütz erfaßt, und ein wehmüthiges Lächeln zog sich um ihre vollen Lippen, als sie die süße kindliche Verlegenheit beobachtete, die sich auf des Mädchens Gesicht ausprägte.
„Auf Wiedersehen, liebes Kind – adieu, Frau Räthin!“
Sie ging der Thüre zu. Julia blieb wie angewurzelt stehen, die Räthin aber eilte der Weggehenden nach und begleitete sie über den Hof bis zum Wagen. Als sie zurückkam, stieg eben das junge Mädchen die Treppe wieder hinauf.
Daß Gott erbarm’! Nicht einmal neugierig war dieses hölzerne Ding!
„So wart’ doch,“ schrie sie, „daß die Tante nicht einen zu großen Schreck bekommt!“
„Weshalb einen Schreck?“ fragte Julia, stehen bleibend.
[743] Da war die erregte Frau schon an ihrer Seite. „Lieber Gott, bist Du denn ganz und gar mit dem Verstand zu kurz gekommen? Oder thust Du nur so, als merktest Du nicht, wie das Glück Dich überschütten will?“ Sie faßte das Mädchen an der Hand und schob die Willenlose durch die Schlafstubenthür von Tante Riekchen. Dann rief sie mit in die Seite gestemmten Armen ihrer erschrockenen Schwester zu:
„Nein, Riekchen, nun sieh sie Dir an, sieh Dir nur das da an! Nein, das hätten wir alle beide nicht gedacht – ach, du lieber Himmel, ich muß mich setzen!“
Die nervöse Kranke war jäh im Bette emporgefahren. „Was ist denn?“ stieß sie mühsam hervor, und ihre Augen flogen wahrhaft entsetzt zu dem blassen Mädchen, dem jetzt eine unbestimmte Ahnung aufstieg, daß es sich um die Zukunft ihrer Person handle.
Brauchst nicht zu erschrecken, bist Deine Sorgen mit einem Male los, Riekchen! So denk’ doch nur, dieses dumme Gänschen da hat ein Glück wie kein anderes Mädchen in der Stadt – einen Heirathsantrag, einen, der aber nicht von Pappe ist – was meinst, Riekchen? Der Alphons Norban will sie!“
Ein leiser banger Aufschrei war durch das Gemach geflogen zugleich mit den letzten Worten der Frau. Dann ward es totenstill. Die beiden Schwestern hingen mit ihren Augen an Mamsell Unnütz, die noch auf demselben Flecke stand, hochaufgerichtet, den Kopf zutückgeworfen und leichenblaß. Nur ein leises Schütteln ging durch ihren Körper.
„Das ist nicht wahr!“ brach es endlich von den zitternden Lippen.
„Nicht wahr? Nun ja, schwer zu glauben ist’s, aber wahr ist’s doch! Seine Mutter hat mich ausdrücklich beauftragt, mit Deiner Tante darüber zu reden.“
„Aber Minna, er ist ja – er ist ja –“
„Geh’ hinaus!“ unterbrach die Räthin, zu Julia gewandt, ihre Schwester. „Und Du, Riekchen, schweig’ still mit den sentimentalen Redensarten! Freilich ist’s ein kränklicher Mensch – soll er darum keine Frau bekommen?“
„Aber nicht mich!“ kam es jetzt von Julias Lippen. Sie war stehen geblieben und hatte ruhig und besonnen gesprochen. „Nicht mich!“ wiederholte sie noch einmal.
„Das wirst Du Dir doch wohl noch überlegen,“ erklärte unbeirrt die Räthin, „erst will ich aber mit Dir reden, Riekchen; geh’ hinaus, Julia!“
„Ich möchte hier bleiben!“
„Laß sie hier,“ sagte auch die Kranke und legte sich seufzend in die Kissen zurück, „es ist doch ihre Sache, und ich will nicht, daß sie denkt, ich mischte mich in etwas, was sie allein zu entscheiden hat.“
„Mit Euch red’ der Kuckuck! Ihr wartet wohl auf den Großmogul? Als ob die Gelegenheit wiederkäme, so ein Fräulein von Habenichts auch nur annähernd zu versorgen! So denk’ doch nur ums Himmelswillen, Kind, in was für Verhältnisse Du heirathest! In ein wahres Feen-Nestchen setzen sie Dich; der arme Mensch ist rein weg von Dir, und was dem gefällt, gefällt seiner Mutter erst recht. Jetzt denk’ ’mal, wie sorglos Du da leben kannst als geachtete Frau. Du kannst Reisen machen, die Welt sehen, hast Dein reizendes Haus, die Theaterloge in Wiesbaden und die Equipage; Du bist versorgt und geschützt und gepflegt wie ein Prinzeßchen; keine Noth des Lebens kann an Dich heran, während sie sonst allerwegen auf Dich lauert. Oder denkst Du Dir’s so leicht, als armes Mädchen durch die Welt zu ziehen, von einer Stellung in die andere getrieben zu werden? Denn das kannst Du Dir doch nicht verhehlen, daß es hier nicht lange mehr geht. An Deiner Stelle hätt’ ich’s schon längst nicht mehr mit ansehen können, wie Deine arme Tante im Gram um Deine unversorgte Zukunft vergeht. Auf die Knie müßtest Du fallen und Gott danken, daß er einen Ausweg schickt aus all dem Wirrsal und Dir Gelegenheit geben will, dem armen Thierchen da“ – sie wies auf die Kranke – „das ein wenig zu vergelten, was sie für Euch gethan hat. Betrachte es nur ’mal von dieser Seite, dann wirst Du anders denken!“
Mamsell Unnütz hatte während dieser Rede mehr und mehr den Kopf gesenkt, die Arme hingen ihr schlaff herunter, es wirbelte ihr vor den Augen; ihr war, als ob eine eiskalte Hand sie zurückdränge, immer weiter zurück aus hellem friedlichen Sonnenschein in einen blumenlosen trüben Wintertag; und sie wollte doch nicht. Sie umfaßte das, was ihr Halt gewesen, und klammerte sich fest daran mit ihrem geängstigten Herzen.
„Ach, ich will alles thun um der Tante zu helfen nur das nicht, das nicht!“
„Alles thun? Das sind Redensarten!“ eiferte die Räthin. „Was willst Du denn thun? Etwa eine Stelle suchen? Davon wirst Du allein kaum satt, für andere fällt nichts ab. Und was willst Du denn werden. Bezahlte Krankenpflegerin etwa? Da thätest Du besser, Deinen eigenen Mann zu versorgen, dann weißt Du was Du hast.“
„Aber ich will nicht!“ rief das Mädchen plötzlich, „hör’ auf, Tante, ich will nicht!“
„Und warum denn nicht?“
„Weil ich ihn nicht lieb haben kann!“
„Na, verlangt ja auch keiner. Ist das der ganze Grund? Weißt Du, der ist aus der Mode, das ist lächerlich, wenigstens in Deiner Lage sehr lächerlich.“
Mamsell Unnütz wandte langsam ihre empörten Augen zu Tante Riekchen hinüber. Die mußte sich ja ihrer annehmen, mußte sie verstehen, denn sie war ja auch dem Geliebten treu geblieben und hatte jeden anderen abgewiesen, selbst dann noch, als jener sich von ihr gewandt. „Hilf’ Du mir!“ heischten ihre Blicke. Aber rasch senkten sich ihre Wimpern; aus den weit geöffneten glänzenden Augen der Fieberkranken war eine Bitte an ihr Herz gedrungen, eine angsterfüllte heiße Bitte. „Wenn Du Dich entschließen könntest!“ stand darin so deutlich, ach so deutlich!
Da wandte sich das Mädchen mit einer schier verachtungsvollen Gebärde ab und ging hinaus. Und nun saß sie in ihrem engen Stübchen, die Hände im Schoße gefaltet. Was werden solle, war ihr nicht ganz klar, nur das eine wußte sie, er würde ihr helfen, er würde endlich, endlich sagen: „Laßt das Quälen – sie ist mein, mein für immer!“ Wenn er nur erst käme, er blieb heute gar so lange!
Die Stimme der Räthin drang gedämpft bis hierher; sie mußte sehr laut und sehr eifrig reden. An das Mittagessen dachte sie heute nicht. Diese Brautwerbung hatte gewirkt wie ein Blitzschlag und alle gewohnte Ordnung umgestoßen.
Jetzt ward nebenan die Thüre zugeschlagen und die Räthin huschte über den Flur; ihre Tritte hörte man nicht, wohl aber ihr ärgerliches Gemurmel. Dann ward es ganz still.
Das junge Mädchen erinnerte sich endlich, daß die Kranke ihre Suppe noch nicht bekommen habe, und eilte, sie ihr zu bringen. Tante Riekchen lag mit heißem schmerzenden Kopfe in ihren Kissen und wollte nicht essen; sie wehrte unwillig der Hand, welche die ihrige ergriff. „Geh’ nur, geh’,“ sagte sie, „ich mag nichts sehen und hören von all den Geschichten, ich habe nur noch einen Wunsch – ich wollte, ich wäre tot!“
Mamsell Unnütz wagte nicht, ein beruhigendes Wort zu sprechen; sie wußte nun, auch hier zürnte man ihr, weil sie nicht die erste beste Gelegenheit ergriff, um das Haus von ihrer lästigen Gegenwart zu befreien. Sie schlich davon und schaute aus dem Flurfenster über den Hof, ob er noch immer nicht komme, der sie schützen sollte. Aber der verschneite Hof lag einsam da und im ganzen Hause war es totenstill. Die Räthin mochte wohl versuchen von den Aufregungen des Vormittags auszuruhen. Julia erinnerte sich nicht, jemals die Frau so aufgeregt, so geärgert gesehen zu haben. Was konnte ihr nur so groß daran liegen, ob sie, Julia, reich würde oder nicht? – Dann stieg vor den Augen des Mädchens das blasse eingefallene Gesicht des Mannes auf, der sie zur Frau begehrte. Diese Züge, so aschfahl, so durchsichtig, so sterbenskrank, und ein Frösteln überlief sie, ein Widerwille, der sich bis zum körperlichen Unbehagen steigerte. – Käme er doch erst!
Und auf einmal hörte sie drunten die Klingel, ganz leise; er pflegte so zu kommen, wenn er vermuthete, daß seine Mutter schlief. Im nächsten Augenblick war sie auf der Treppe und lief durch den Flur in das Wartezimmer. Er zog eben den Ueberzieher aus und sah kaum auf Mamsell Unnütz, die ihm mit blassem Antlitz und fest ineinander gepreßten Händen entgegenschritt.
„Fritz,“ begann sie, und jetzt, wo sie sich geborgen glaubte, verlor sie ihre mühsam bewahrte Ruhe, „Fritz, Du hast mir gesagt, im Sommer war’s, wenn man mir etwas thun wolle – bei Dir fände ich Schutz. Nun bitte ich Dich, hilf mir!“
„Komm, Julia, hier ist’s kalt,“ antwortete er ruhig und ging voran in sein Wohnzimmer. „Gewiß helfe ich Dir, wenn Du Hilfe nöthig hast. Was ist denn geschehen? Hast Du armes kleines Ding wieder Schelte bekommen, hast Du etwas vom alten [744] Porzellan meiner Mutter zerschlagen, oder was ist sonst Erschütterndes geschehen?“
Er nahm bei diesen Worten Hörrohr und Verbandtasche aus dem Rocke, setzte sich in seinen Lehnstuhl vor dem Arbeitstisch und wies ihr lächelnd einen Sitz neben sich an. „Nun?“ fragte er dann.
Julia blickte ihm unverwandt ins Gesicht, und ihr fiel auf, daß er heute anders aussah als sonst, so viel ernster und dennoch förmlich verklärt; und sie kannte das Zucken in seiner Wange, so war es, wenn ihn etwas im Innersten erregte. Ach, sie hatte ja nur dieses Antlitz auf der Welt gesehen, immer nur dieses!
„Nun?“ fragte er noch einmal.
„Du sollst der Tante und Deiner Mutter klar machen, daß ich den Herrn Norban auf keinen Fall heirathen werde,“ sagte sie rasch.
Er fuhr herum und starrte sie an. „Aber Kind, wenn ich nicht wüßte, daß Du ein leidlich vernünftiges und ruhiges Geschöpfchen bist, so würde ich denken, in Deinem Kopfe sei es nicht ganz richtig; eine solche Zumuthung wird Dir wohl kein Mensch stellen!“
„Sie ist mir aber doch gestellt worden – Frau Norban selbst ist heute bei Deiner Mutter gewesen und hat um mich angehalten für ihren Sohn.“
Er lachte ungläubig auf; als er aber das ernste Gesichtchen so schmerzvoll zucken sah, rief er, aufspringend: „Das ist ja ein toller Gedanke, der reine Wahnsinn! Aber beruhige Dich, Kind, dafür bin ich noch da! Und da kommt ja die Mutter! Nun sei nur gut und zittere nicht, Kind!“
Die Räthin prallte förmlich zurück, als sie das junge Mädchen erblickte. „Na, hoffentlich machst Du ihr den Standpunkt klar!“ sagte sie ärgerlich.
„Habe ich bestens besorgt, indem ich ihr mittheilte, daß ich es schamlos finden würde, wollte sie äußerer Vortheile wegen eine wandelnde Leiche heirathen. Zum Glück scheint sie es nicht zu beabsichtigen.“ Er hatte sehr ruhig gesprochen, legte ein paar Broschüren von einem Platze des Schreibtisches auf einen anderen und fuhr fort: „Ich werde nachher zu Frau Norban gehen, um ihr für diesen Antrag in aller Form zu danken und ihr zu bemerken, daß ich bereit bin, die Behandlnllg ihres Sohnes weiter zu übernehmen, aber nicht hier, sondern in ihren eigenen vier Pfählen; und falls er eine Gesellschafterin und Pflegerin wünscht, solle er das nur in irgend einem größeren Blatte ausschreiben – es finden sich Hunderte. Und somit wäre uns und ihnen geholfen. – Hattest Du noch etwas zu sagen, Mutter?“
Nein, die Räthin hatte nichts mehr zu sagen, sie hätte ihre Meinung auch nicht aussprechen können, selbst wenn sie gewollt hätte, so schnürte ihr die bündige Erklärung des Sohnes die Kehle zu. Sie verließ stumm das Zimmer, und man hörte drinnen eine Weile nichts als das Dröhnen vom Zuschlagen der Stubenthür.
Dann ein leises Schluchzen – Mamsell Unnütz hatte das Gesicht in ihren Händen geborgen, und während ein nervöses Zittern sie durchschauerte, stieß sie abgerissene unverständliche Worte hervor. Erschreckt suchte er sie zu beruhigen; er hatte sie niemals weinen sehen, selbst als Kind nicht, und hatte sich früher oft gewundert über das starre Gehaben des immer gescholtenen Kindes. Nun berührte ihn dieser Ausbruch einer tief inneren Erschütterung unsäglich schmerzlich; er bog sich näher zu ihr, um besser zu verstehen, was sie wolle, um zu erforschen, was sie noch drücke. Ihn rührte das schwesterliche Vertrauen, das die arme Kleine zu ihm hegte, er hob das Köpfchen sanft empor und legte die Rechte beschwichtigend auf ihr Haar.
„Julia,“ bat er, „beruhige Dich doch; Du weißt nun, die Sache ist abgethan. Sieh, in jedem Menschen steckt ein gutes Stück Selbstsucht, in dem armen Kranken, der Dich heirathen will, ein doppelt großes, ein sträfliches Stück davon. Mußt ihm das nicht übelnehmen, er ist verzogen von seiner Mutter, immer nur gewohnt, alles zu bekommen, was er haben will. Doch diesmal darf er seinen Willen nicht durchsetzen, denn meine kleine Kameradin soll dieser Selbstsucht nicht geopfert werden.“
Aber unter den Wimpern des Mädchens rieselten noch immer heiß die Thränen hervor. Ihr graute vor dem, was nun kommen würde, vor den ewigen Vorwürfen, vor dem Leben, das nach diesem Ereigniß noch trostloser werden mußte als vorher; und die Sehnsucht nach Geborgensein, nach Zärtlichkeit, nach Liebe, nach dem einzigen Herzen, das sie verstand, war in diesem Augenblick stärker als sie. Ihr thränenüberfluthetes Gesichtchen hob sich empor, ihre Hände hatten sich gefaltet und ihre Lippen regten sich. Er bog sein Ohr zu ihrem Munde, um dieses lautlose Flüstern zu verstehen, und da hörte er deutlich, was sie meinte, und das Herz wollte ihm stille stehen vor Schreck.
„O, laß mich doch nicht mehr so furchtbar allein, Fritz! Sag’s ihnen doch, daß Du – daß wir beide – daß wir –“
Er ließ sie nicht ausreden. „Julia,“ sprach er laut und hob aufstehend das Mädchen mit empor, „Julia, besinne Dich!“ Und als ihr in demselben Augenblick die rothe Flamme der Scham über das Antlitz schlug, da zog er sie an sich und sagte mit bebender Stimme: „Julia, meine arme kleine Schwester, Du bist nicht verlassen, Du wirst es nie sein, und zum Beweis, wie lieb Dich Dein alter Gespiele hat. will er Dir etwas anvertrauen. Aber komm, setze Dich neben mich –“ und er zog sie neben sich auf das Sofa. „Ich will Dir etwas anvertrauen, das ich mir vor kurzem selbst noch kaum zu gestehen wagte, noch gestern nicht, und das ich niemand sagen könnte außer Dir, meiner kleinen Kameradin. Julia – ich –“
Er stockte plötzlich und sprang auf. Es war ein furchtbares Gift, das er im Begriff stand, als Heilmittel anzuwenden, möglicherweise lebenzerstörend; und das Wort wollte ihm nicht aus der Kehle, obgleich er sich sagte, daß dieses Mittel das einzige sei, das helfen könne. Dann aber kam er entschlossen zurück und stellte sich vor das Mädchen, das geisterhaft still auf dem Sofa saß, ein irres Lächeln um den Mund. „Julia, ich liebe, und ich weiß seit heute früh, ich werde wieder geliebt. Ich weiß, Du – Du – auch Du wirst Therese gern haben, als Schwester, als meine Frau –“
So hatte er sich die Wirkung nicht gedacht! Ein wahrhaft versteinertes Antlitz starrte ihm entgegen und ein Ausruf, so schrill und weh, schlug an sein Ohr, daß er meinte, so etwas Bitteres nie gehört zu haben.
„Nein!“ hatte sie gerufen, „nein, sag’ das nicht – Therese nicht! Um Gotteswillen, sag’, daß es nicht wahr ist!“
Sie lag jetzt vor ihm auf den Knien, aufgelöst in Angst und Schmerz. Er hätte dem schüchternen mädchenhaften Geschöpf nie die rasende Leidenschaft zugetraut, die aus den großen dunklen Augen sprach, aus dem Tone ihrer Stimme, aus dem Zittern der Glieder. „Julia!“ rief er unwillig und trat einen Schritt zurück.
Sie stand nicht auf. „Fritz, ich bitte Dich – Du darfst nicht – sie darf nicht – Du weißt ja nicht – – Großer Gott, es kann ja nicht möglich sein!“
Da riß eine harte Hand sie empor. „Vergißt Du allen Anstand?“ rief die Räthin, die den Aufschrei des Mädchens bis in den Flur gehört hatte, „pfui über Dich! Hier zu Lande werfen sich die Mädchen den Männern nicht an den Hals – verstanden?“
Und als die Auftaumelnde mit den Händen an die Schläfen fuhr und dastand, wie aus einem furchtbaren Traume zur noch entsetzlicheren Wirklichkeit erwacht, da fuhr die Räthin fort: „Ja, schäme Dich nur! Aber ich hab’s längst geahnt, daß Du in den Fritz vergafft bist, hab’s nur nicht sagen wollen!“ Mit diesen Worten griff sie wieder nach des Mädchens Arm, um es hinauszuführen. Aber sie griff in die Luft; Mamsell Unnütz war lautlos zusammengesunken, und der Doktor trug die Ohnmächtige aufs Sofa.
„Gerechter Gott!“ rief die Räthin, „was habe ich Dir immer gesagt, es steckt etwas fürchterlich Gewöhnliches in diesem Mädchen.“
„Mutter,“ sprach er bebend, indem er sich um die Leblose bemühte, „wenn ich nicht wüßte, daß Du es nicht so schlimm meinst, wie es klingt – bei Gott, ich könnte irre werden an Dir! Habe die Güte und hole Wein und gieb mir den Aether dort!“
„Na,“ sagte die Räthin während sie gelassen die Dinge herbeiholte, „ihre Mutter hat’s ja gerade so gemacht, und der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Ich bin nur über eins froh, daß ich bei der Gelegenheit erfahre, daß Ihr einig seid, Du und das Thereschen, das macht mein Alter glücklich – da wacht sie schon wieder,“ setzte sie hinzu.
Es war so. Julia richtete sich langsam empor. Mit einer stummen Bewegung wehrte sie die Hand und Begleitung des Doktors ab, dann ging sie schwankend durch das Zimmer dem Ausgang zu. Ein wunderliches Lächeln zog um ihren Mund.
Droben legte sich Julia still auf ihr Bett; sie wußte nicht klar, was sie that, sie fühlte nur, daß etwas anders sei in ihr und um sie. Sie griff nach dem Herzen, das sie heftig schmerzte, und dabei lächelte sie wieder. Niemand kam, um nach ihr zu schauen, wer sollte auch? –
[745] Es war schon geraume Zeit vergangen, seit Julia bleich und zitternd die Treppe hinaufgestiegen war, als Tante Riekchens kleines Dienstmädchen in die Wohnstube der Räthin stürzte. Dort lehnte im Eckchen am grünlichen Kachelofen ein schönes blondes Mädchen in den Polstern und sah mit glänzenden Blauaugen zu dem Manne hernieder, der ihre Hand gefaßt hielt und leise einen Kuß darauf drückte.
„Also, wenn Sie wiederkehren aus dem Süden, Therese,“ hatte er eben gesagt, „dann darf ich vor Ihren Vater treten?“
„Ja,“ erwiderte sie. „Ich will ihm noch einmal den vollen Genuß des Reisens lassen, denn wenn er wüßte, daß er zum letzten Male in meiner Gesellschaft reist, so würde er das himmlische Nizza in einer ewig wehmüthigen Stimmung betrachten. Aber,“ setzte sie hinzu und drohte lächelnd mit dem schlanken Finger, „nicht ungeduldig werden, bitte!“
„Ich warte, wie Sie es wünschen, Therese, ich bin ja so dankbar, daß Sie mir wenigstens diese Stunde heute abend schenkten.“
Therese sah ihn verwundert an; es war ihr wohl recht, daß er nicht darauf bestand, schon heute seine Werbung bei dem Vater anzubringen, wollte sie doch ihre Freiheit noch einmal nach Herzenslust genießen. Aber sie hatte es sich nicht so leicht gedacht, ihren Willen durchzusetzen. Und nun machte der Doktor nicht einmal den Versuch, sein Glück schon jetzt durch goldene Ringe und Verlobungsanzeige unwiderruflich an sich zu ketten! Er saß so sicher und so still da vor ihr wie ein Mann, der jahrelang verheirathet ist und dem keinerlei Unruhe über einen möglichen Verlust die Stirn zu trüben braucht.
„Sind Sie denn gar nicht eifersüchtig?“ neckte sie.
„Eifersüchtig? Nein! Ich meine immer, Eifersucht sei beleidigend für den, welchen wir lieben. sie setzt Mangel an Vertrauen voraus.“
Sie biß sich einen Augenblick mit den kleinen weißen Zähnen auf die Unterlippe, dann lachte sie.
Und eben jetzt platzte das Dienstmädchen von droben mit verstörtem Gesicht in die Stube. „Herr Doktor, kommen Sie doch nur rasch, Fräulein Julia ist krank, sie schwatzt in einem fort zu ihrem Bruder, der doch gar nicht da ist.“
Er sprang empor und lief hinaus, ohne sich bei Therese zu entschuldigen.
„Was ist’s mit Julia und dem Frieder?“ erkundigte sich Therese und trat unruhig zu der Räthin, die wie ein Steinbild am Sofatisch vor der Lampe gesessen hatte, scheinbar so in ihren Kalender vertieft, daß sie nichts sah und hörte.
„Ich weiß nicht, mein goldiges Herzchen“ antwortete die beglückte Schwiegermama. „Sie mag wohl im Fieber reden, sie war heute nach Tisch schon gar nicht wohl.“
Aber Therese schien keine Lust zu haben, auf ein Gespräch mit der alten Dame einzugehen; sie schritt schweigend im Zimmer auf und ab.
Da kam Fritz zurück. „Sie ist sehr krank, Mutter,“ wandte er sich an diese, „ich glaube, daß es eine Gehirnentzündung wird; bis ich eine Wärterin habe, bitte ich Dich, bei ihr zu bleiben.“
„Sie ist ohne Besinnung?“ fragte Therese.
„Leider, leider!“
Und als seine Mutter gegangen war, schloß er seine Braut in die Arme und blickte ihr ernst in die Augen. „Nun komm, ich will Dich hinüberführen, ich muß nachher zu der Kranken. Aber zuvor laß mich Abschied von Dir nehmen. Auf Wiedersehen, Du mein Glück!“
Er hatte feuchte Augen, als er sie küßte – zum ersten Mal.
Vor der Thür der Villa nahm er noch einmal das schöne Antlitz zwischen seine Hände. „Gott lasse mich Dich wiedersehen!“ sagte er innig, dann ging er. –
Droben im kleinen Krankenstübchen flüsterte Mamsell Unnütz in ihren Fieberphantasien mit dem Bruder. „Ach, Frieder, wir beide – wir beide!“ sagte sie gerade, als der Doktor wieder eintrat. „Ach, Frieder, wir beide! Aber Du wirst’s vergessen, Du bist ein Bub’, Du hast auch noch tausendmal mehr – aber ich – ich hatte nur das eine –“ und sie lachte dazu.
[746] „Was will sie denn nur immer mit dem Frieder?“ flüsterte die Räthin und legte eine frische Eiskompresse auf.
Er zuckte die Achseln und setzte sich still neber das Bett seiner kleinen Kameradin. Und so saß er noch, als in früher Morgenstunde das schrille Pfeifen der Lokomotive durch das Fenster scholl – es war der Zug, welcher seine Braut dem Süden zuführte. – –
Therese lehnte in einem Coupé erster Klasse. Der alte Herr schlief schon wieder; er pflegte meistens während der Fahrt zu schlafen, aber vorher hatte er sein Töchterchen sorglich in die Reisedecke gehüllt und die kleinen Füßchen in den pelzgefütterten Schuhen auf dem gegenüberliegenden Sitze gebettet.
Sie schlief nicht, sondern starrte mit müden Augen in die Dunkelheit des Dezembermorgens. Als sich aber allmählich mit kaltem, grauem Schimmer der Tag meldete, da fröstelte es sie, und sie gähnte leise. Die Welt kam ihr so furchtbar prosaisch vor, sie fühlte sich seit gestern schrecklich ernüchtert, und doch hatte sie eben gestern den Gipfel ihrer Wünsche erstiegen, von deren Erfüllung, wie sie meinte, Glück und Ruhe ihres Lebens abhing – Doktor Roettger hatte ihr seine Liebe gestanden. Die Unrast war von ihr gewichen, ihr Ehrgeiz befriedigt, und doch! Sie gähnte wieder – dieses unangenehme frühe Aufstehen!
Halb im Traume ließ sie die Vorgänge der letzten Tage an sich vorüberziehen. Wie geschickt kam die Krankheit Julias; sie hätte sonst doch vielleicht geplaudert. So aber ahnte sie nichts, und wenn man im Frühjahr wiederkehrte, dann – nun dann war viel Wasser den Rhein hinuntergeflossen. Vorerst konnte man sich ruhig auf den Nizzaer Karneval freuen.
Sie legte den hübschen Kopf auf das Reisekissen und dachte noch einmal mit Befriedigung daran, daß der Mann, für den sämmtliche unverheiratheten Damen des Städtchens schwärmten, der Ihre geworden war. Und dann malte sie sich ihre künftige Häuslichkeit aus; man konnte das alte interessante Haus stilvoll einrichten, es barg so herrliche Räume. Die Mutter und die Tante würden freilich nicht darin bleiben können, so wenig wie Julia. Die großen Hof- und Stallgebäude paßten vortrefflich für die Dienerschaft, für Wagen und Pferdeställe, der Hof konnte etwa wie ein mittelalterlicher Burghof aufgeputzt und mit einem Rasenplatz, einer Sonnenuhr, einem schönen Brunnen und so weiter versehen werden. Der Garten – er hatte viel schönere alte Bäume als Thereschens väterlicher Garten – und die Gondel, nein, ein paar Gondeln, denn man würde feenhafte Gartenfeste – –
Dem jungen Mädchen fielen die Augen zu, sie schlief.
Eine grelle Frühlingssonne begrüßte mit ihrem blendenden Schein Mamsell Unnütz, als sie zum ersten Male nach ihrer Krankheit die Treppe hinunterschlich, um ein paar Athemzüge in frischer Luft zu thun. Sie hielt sich ängstlich fest an dem Geländer; eine stützende sorgliche Hand, wie sie sich sonst dem Genesenden, auch dem ärmsten, bietet, fehlte ihr, sie mußte schon ihren eigenen Füßen vertrauen – wenn sie nur nicht so matt gewesen wären! Aber wer sollte ihr behilflich sein? Die Tante war selbst so elend, daß sie einer Stütze bedurfte, und die Räthin? Die hatte, seit die Kranke außer Gefahr und gar außer Bett war, kaum noch einen flüchtigen Blick für sie. Seitdem sie die „unpassende Scene“ gemacht hatte, war das unnütze Anhängsel „Luft“ für sie. Fritz aber, Fritz war nach wie vor freundlich und doch so anders wie sonst. Ach, überhaupt, es war ja alles anders!
Das junge Mädchen schlich jetzt im Garten dahin. In dem breiten Rebengang brannte die Sonne durch das kahle Gezweig, und auf den Rabatten zu beiden Seiten des buchsbegrenzten Weges blühten gelb und blau Krokus und Leberblümchen. Ein süßer Veilchenduft wogte in der Luft und allenthalben schimmerte es bräunlich an dem Geäst der Sträucher und Bäume.
Der Strom war mächtig angeschwollen, die Aue drüben stand unter Wasser. Julia sah das alles wie im Traume; die Luft wirkte betäubend auf sie, die monatelang nicht im Freien gewesen war. Sie mußte sich plötzlich an den Stamm des Nußbaums lehnen; nur wie durch einen Schleier bemerkte sie noch das Funkeln des Stromes und das erwachende Leben der Natur.
In der Krautnerschen Villa wurde eben eine Flagge an der zierlich bemalten Stange aufgehißt. Julia verfolgte sie mit den müden Augen; wie sie lustig flatterte da droben! Niemand hatte ihr davon gesprochen, aber sie wußte, es war der Willkommgruß für die, die heute heimkehrten aus dem Süden.
In des Mädchens Brust regte sich ein heißer Schmerz. Sie sagte sich, daß der Fritz wohl deshalb heute zum ersten Male seinen Krankenbesuch in ihrem kleinen Stübchen unterlassen habe, weil er seine Freude nicht vor ihr zeigen wollte.
Sie biß die Zähne zusammen und schüttelte, zornig über sich selbst, den Kopf. Was wollte sie denn? Es hatte alles seine Richtigkeit – mochte er in Theresens Besitz das Glück finden, das er erwartete! Die schwere Zeit bis zu ihrer völligen Genesung mußte ja auch verfließen, und dann konnte sie das Haus verlassen, konnte auf eigenen festen Füßen stehen – und alle, die hier zurückblieben, segneten wohl den Augenblick, wo sich die Thür hinter ihr schloß. O, wie schön mußte es sein, ein liebes trautes Vaterhaus zu besitzen, einen Fleck, von dem man weiß, da bist du jederzeit willkommen, da sind treue Herzen, da sind offene Arme, Hände, die dich segnen, die ihr letztes Stückchen Brot mit dir theilen. Und wie gut hatte es doch so ein Mann wie der Frieder – ja, wo mochte wohl der Frieder augenblicklich sein?
Er hatte eines Tages seiner Tante kurz mitgetheilt, er habe den Friedensdienst der Garnison satt, habe um seine Entlassung gebeten und sich gleichzeitig als Offizier für die deutsche Schutztruppe in Ostafrika gemeldet. Sobald er zustimmenden Bescheid erhalte, komme er, um Abschied von ihr zu nehmen. So zwischen Weihnachten und Neujahr war er dann richtig auf vierundzwanzig Stunden dagewesen, um der alten Dame Lebewohl zu sagen. Julia erinnerte sich nicht, ob er auch ihr die Hand gedrückt zum Abschied, sie lag gerade damals am schwersten danieder. Tante Riekchen aber war seit jenem Augenblick ganz zusammengebrochen und alle ihre Sorge vereinigte sich auf den Fernen, alle ihre Gebete erflehten Schutz für den geliebten Pflegesohn, der, seinem Thatendrang folgend, wohl gar von den Schwarzen ermordet wurde.
Ob der Frieder Theresens Untreue erfahren hatte? Ob diese gar der Grund war, daß er Europa den Rücken wandte? Wenn dem so war, dann wußte jedenfalls außer Therese nur sie selbst um diesen Grund. Denn sie hatte niemand das Geheimniß der Verlobung zwischen den beiden verrathen – wozu den Frieden eines Herzens zerstören, das ihr das theuerste war, wozu vernichten, was ihn, den Ahnungslosen, am Ende doch beglücken konnte! Und war der Gedanke, Fritz den Charakter Theresens zu enthüllen, nicht von selbstsüchtigen unlauteren Beweggründen eingegeben, mußte sie darum nicht schweigen? Ja, wäre sie seine Schwester gewesen, aber nun – nun liebte sie ihn und wußte, daß nicht allein die Sorge um sein Wohl sie bewegte, sondern noch etwas anderes, vor dem sie sich selbst schämte, eine leidenschaftliche Bitterkeit und zehrende Eifersucht.
So schwieg sie – schwieg, wenn er am Bette saß in den Tagen, da ihr allmählich das Bewußtsein wiederkehrte, wenn er mit besorgter Miene und einem mitleidigen Ausdruck in den Augen ihre zuckende Hand hielt; schwieg, als sie von der Räthin erfuhr, daß die Verlobung des Doktors gleich nach Theresens Rückkehr stattfinden solle. Sie schrie es nicht hinaus: „Das Mädchen, das Du liebst, ist treulos, treulos bis ins innerste Herz. sie nimmt Dich nur, wie sie sich ein neues Kleid kauft – weil es Mode ist!“ Sie preßte die Lippen aneinander und stellte sich schlafend, nur damit er gehe, damit sie das geliebte Antlitz nicht sehen mußte.
Es war fast ein Wunder, daß sie unter solchen inneren Kämpfen genas, daß sie überhaupt wieder hier stand in Luft und Sonne, daß sie die Fahne dort oben wieder so lustig flattern sah. Mamsell Unnütz verfolgte jede Wendung der tanzenden Fahne in der Frühlingsluft, und dann erblickte sie über die niedrige Mauer hinweg durch das kahle Geäst den Kutscher und die Stubenmädchen, die unter lautem Lachen ein mächtiges Blumengewinde über der Hausthür befestigten, sie sah Frau Roettger in höchst eigener Person zu den Leuten treten, um ein zierliches Blumenkörbchen abzugeben, jedenfalls ein Willkommgruß in Theresens Boudoir!
Julia schritt langsam wieder dem Hause zu, ihre Kraft war erschöpft. Durch die sonnige Luft kamen jetzt voll die Klänge der Kirchenglocken; alle drei wurden geläutet, als gelte es, einen großen Festtag einzuläuten und doch klangen sie traurig. Julia kannte diese Klänge – irgend ein müdes Menschenkind trug man zu Grabe, aber einen der hienieden zu den Bevorzugten gezählt hatte.
[747] Mühsam drückte sie die schwere eichene Hausthür auf und kam in den dämmernden Flur, gerade als die Räthin von der änderen Seite eintrat. Diese that gar nicht, als ob sie das blasse Mädchen bemerkte; sie ging eilends in die Küche und rief von der Schwelle aus Luischen zu: „Eben wird der junge Norban begraben! Lieber Gott, wenn er nur weuigstens einen hinterlassen hätte, der ihn beerben könnte; jetzt sitzt die alte Mutter allein mit dem vielen Gelde da!“
„Ja, ja,“ antwortete Luischen, „wenn Fräulein Julchen den genommen hätte – was die jetzt für eine reiche Witwe wäre und wie sie das Leben genießen könnte – und was hat sie nun?“
Mamsell Unnütz lächelte, als sie mühsam die Treppe hinaufstieg. Ja, was hatte sie nun? Nichts, gar nichts! Und doch – sich selbst hatte sie noch und das Bewußtsein, recht gehandelt zu haben, und . . . den Schmerz um ihn.
Julia sah wirklich den Fritz heute nicht, zum ersten Male nicht. Er schickte ihr nur ein paar Orangen hinauf und ein Buch. Sie möge entschuldigen, daß er heute nicht komme, er habe so viel zu thun.
Nun saß sie am Fenster und blickte auf den Strom und zählte die Schiffe und starrte in die Sonne, die blutroth unterging, und sagte sich: „Jetzt müssen sie kommen.“
Drunten im Erdgeschoß war es ganz still, auch die Räthin schien nicht daheim zu sein. Vielleicht feierten sie heute schon die Verlobung, vielleicht hatte Therefe doch schon dort unten am blauen Meere dem Vater gestanden, daß sie den Fritz Roettger liebe, und dabei gefragt, ob ihm wohl dieser Schwiegersohn recht sei? Und Julia meinte, des alten Herrn freudestrahlendes Gesicht zu sehen und sein herzliches Lachen zu hören. „Ja, Töchterchen, den, den – in Gottesnamen – Du hast gut gewählt!“
Dann hatte Therese telegraphiert – sicher, so war es – und nun lag sich das Brautpaar in den Armen und Papa Krautner und Mama Roettger vergossen Rührungsthränen dabei, und der Fritz küßte seine Braut.
Welch ein schreckliches Herzpochen Julia plötzlich überkam! Und Zirp! Zirp! machten die Stare draußen und flogen glückselig miteinander in ihr Kästchen. Am Rheine drunten stand das Dienstmädchen der Tante Minna neben ihrem Schatz und spritzte ihm neckend eine Handvoll Wasser ins Gesicht, als er sie küssen wollte; ihr übermüthiges Lachen klang bis hier herauf. Und die beiden nutzten es so recht aus mit Lachen und Plaudern, das Stündchen im Abendroth, und als das Luischen endlich, mit dem Korbe voll frischgewaschenen Spinats auf dem Kopfe, sich dem Hause zuwandte, da riefen sie sich noch ein „Auf Wiedersehen!“ zu, und Julia hörte bald darauf das Mädchen in der Küche lustig singen. Sie selbst saß da, mit dem Ausdruck größter Mattigkeit, aber noch immer mit dem stillen Lächeln um die Lippen, bis das Roth draußen verblich, bis drunten die Thür ging und die hastigen Schritte der Räthin die Treppe heraufkamen, um in Tante Riekchens Stube zu verhallen. Da erhob sie sich und ging hinüber. Gewißheit, endlich Gewißheit wollte sie, denn bis zuletzt glaubt der Mensch an Märchenwunder, auch wenn er sich’s nicht eingesteht.
Sie kam gerade recht vor die angelehnte Thür, um die Worte der Räthin zu hören: „Und Du glaubst nicht, wie glücklich die beiden sind, wie die Kinder, Riekchen, wie die Engelchen, und der Alte küßt den Fritz um die Wette mit seiner Tochter, und im Mai ist die Hochzeit! Ach Gott, das ist doch endlich ’mal ein Sonnenstrahl nach so langer Prüfungszeit!“
Tante Riekchen sagte leise: „Ich gönne es Dir, Minna, weiß Gott, ich gönne es Dir!“
Mamsell Unnütz aber ging nicht hinein, sie kehrte wieder in ihre Stube zurück. Mäuschenstill blieb es drinnen, nur einmal ein Seufzer, fast wie ein Seufzer der Erleichterung – und zum ersten Male schlief sie wieder in der Nacht.
Die Gewißheit war da; die Ruhe kam über sie, die starre Ruhe der Entsagung.
Mit festem Willen vermag man viel, auch gesund zu werden, und Julia wollte gesund werden. Um keinen Preis hätte sie der Hochzeitsfeier beiwohnen mögen, vorher schon mußte sie das Haus verlassen haben. Dem Entschluß, in die Welt hinauszugehen, widersprach niemand, die Verhältnisse hatten es so gefügt, daß ihre Gegenwart mehr wie je „unnütz“ wurde.
Theresens Wünsche, das ganze Haus allein zu bewohnen, sollten sich nicht erfüllen. Noch bevor Herr Krautner dem Fräulein Riekchen Trautmann das Grundstück abkaufen konnte, hatte es in aller Stille einen anderen Käufer gefunden und zwar Herrn Doktor Roettger selbst; dieser aber war durchaus nicht zu bewegen, so sehr er auch seine Braut liebte, die Mutter und die Tante hinauszuweisen aus dem elterlichen Hause.
„Mein liebes Herz,“ sagte er ernst zu Therese, „Mutter und Tante werden zusammen unten wohnen; Mutter in ihren alten Räumen, Tante in den drei Zimmern, die neben meinem Warte- und Sprechzimmer liegen. Die Verbindungsthür lasse ich vermauern. Tante hat so ihr Reich für sich, ich das meinige daneben. Oben aber in den trauten Stuben soll das Glück mit uns einziehen und ganz allein mit uns hausen. Da oben darfst Du unumschränkt wie eine Königin herrschen, Dein Reich nach eigenem Geschmack gestalten. Drunten bleibt es, wie es war.“
Kein Bitten, kein Schmeicheln, kein Schmollen half, und Therese verschob ihren Sieg auf die Zeit nach der Hochzeit. Sie würde ihren Willen schon noch durchsetzen, meinte sie.
Die beiden alten Schwestern wollten in Zukunft gemeinschaftliche Wirthschaft führen, und zu Anfang April erprobte Julia ihre kaum wiedergewonnenen Kräfte zum ersten Male und half Tante Riekchen die Zimmer unten einrichten, denn oben wurden Maurer, Zimmerleute und Handwerker aller Art erwartet, um die Wohnung der künftigen Frau Doktor instand zu setzen. Kein Mensch fragte Julia, ob sie sich nicht zuviel zumuthe, nur Fritz sagte einmal, als er flüchtig in die Stube sah, in der Hand einen Strauß blühender Anemonen, die er seiner Braut bringen wollte: „Strenge Dich nicht zu sehr an, Unnütz – was hast Du dann, wenn Du wieder daliegst? Und trinkst Du auch noch Deinen Eisenwein?“
Sie nickte zerstreut, und er ging fort.
Er brachte fast jede freie Minute drüben in der Villa Krautner zu. Er vermied es, zusammen mit seiner Braut vor Julias Augen zu kommen, und war im Bewußtsein des Schmerzes, den er ihr bereitet hatte, noch rücksichtsvoller als sonst – und dennoch that Julia diese Rücksicht weh, und ihr Stolz bäumte sich dagegen auf in stummem Zorn.
Mitten in den Umzug kam Herr Krautner und setzte sich in all dem Wirrwarr ganz gemüthlich neben Tante Riekchen auf das Sofa, das eben an die Wand gestellt worden war; still beobachtete er, wie das blasse, fast überschlank gewordene Mädchen arbeitete, um es der alten Dame ein wenig gemüthlich zu machen und sie die altgewohnten Räume nicht allzusehr entbehren zu lassen.
„Nun, sagen Sie einmal, liebe Schwägerin“ – so nannte er Tante Riekchen seit der Verlobung – „da erzählt mir der Fritz neulich, das Töchterchen dort thue sich nach einer Stellung um?“
„Ja, ich suche danach,“ antwortete Julia.
„Hm! Da brauchen Sie diesmal nicht weit zu suchen. Kommen Sie zu mir, ich halt’ Sie wie mein eigen Kind! Ohne irgend eine Seele kann ich nicht sein, muß jemand haben, der mir einen freundlichen Gruß bietet, wenn ich abends heimkomme; und überhaupt, wenn das Thereschen fortgeht“ – er schnaubte sich heftig – „da würde ich’s allein gar nicht aushalten drüben in dem großen Hause. Also, wie ist’s Fräulein Julchen, kommen Sie zu mir?“
Tante Riekchen sah überrascht und dankbar zu ihm hinüber und setzte zum Sprechen an. Aber Julia kam ihr zuvor.
„Ich danke herzlich, Herr Krautner, indes bei Ihnen würde ich zu sehr verwöhnt, und das taugt nicht für mich. Ich muß auf eigenen Füßen durchs Leben, ich gehe unter ganz fremde Menschen und – recht weit fort.“
„Verwöhnt? Ich verwöhue keinen Menschen, am allerwenigsten Sie, Jungfer Unnütz. Ich nehme Sie auch gar nicht auf Kündigung, ich will Sie für immer da haben, bis Sie einmal einer wegholt oder bis ich die Augen zuthue. Und Alois Krautner verläßt auch die Leute im Tode nicht – verstanden?“
Sie kam herüber und die Rührung zuckte um ihren Mund. „Danke vielmal,“ sagte sie, „aber ich kann nicht, ich habe gestern eine Stellung angenommen.“
Tante Riekchen fuhr empor. „Und das weiß ich nicht?“ rief sie.
„Verzeih’, Tante, ich hätte es Dir noch heute mitgetheilt.“
„Und wo denn? Und als was denn?“ fragte die alte Dame, so gekränkt, als ob in ihr die sorgsamste Mutter hintergangen wäre.
[748] „Ich – habe mich zunächst zu einem Kursus für Krankenpflege in Köln gemeldet.“
„Krankenpflegerin – Du? Und nicht einmal Deinen eigenen Mann hättest Du pflegen wollen?"
Das Mädchen ward blaß bis in die Lippen „Vor dem Kranken habe ich mich nicht gescheut,“ sagte sie laut. „Hätte mich seine Mutter gebeten, als Pflegerin zu ihm zu kommen, ich wäre sofort gegangen. Mir hat davor gegraut, daß ich an ihn gekettet sein sollte durch Bande, die man sonst nur schließt, wenn man sich“ – und jetzt ergoß sich eine wahre Rosengluth über ihr Gesicht – „wenn man sich sehr lieb hat. Ich wäre eher gestorben, als daß ich neben seinem Rollstuhl zum Altar gegangen wäre, ich –“
„Bravo!“ rief Herr Krautner. „Da hat sie recht, Fräulein Schwägerin, und ich kann Ihnen nur sagen, heutzutage denken nicht alle Mädchen so. Um der Geldsäcke des armen Menschen willen hätten Hunderte Ja gesagt und hätten ihre frische Jugend im Krankenzimmer vergraben, oder auch nicht einmal das – sie hätten ihn dort allein sitzen lassen und sich sonst wo amüsiert. Aber den Kampf mit dem Leben aufzunehmen, dazu gehört Muth, und zur Krankenpflege, liebes Kind, der größte Muth, haben Sie das auch überlegt? Es ist ein schwerer Posten!“
„Freilich hab’ ich’s überlegt, recht lange und recht gründlich,“ erwiderte sie. „Soll ich etwa,“ fuhr sie fort, „das Heer derer vermehren, die als ‚Stütze der Hausfrau‘ ihr Brot suchen, oder soll ich um karges Geld meine mittelmäßige Begabung für Malerei verwerthen? Oder soll ich Erzieherin zu werden versuchen, wo schon Tausende vergebens auf Stellung warten? Eben für die Krankenpflege, meine ich, können gar nicht genug kommen, die es recht ernst nehmen mit ihrem Beruf. Und je feinfühliger die Persönlichkeit ist, die an das Krankenbett tritt, um so wohlthuender wird der Eindruck auf den Leidenden sein. Ich denke es mir einmal so, und der Fritz hat mir recht gegeben, als ich – als ich ihm noch half bei seinen Kranken.“
Fräulein Riekchen sagte nichts mehr; sie hatte sich abgewendet und betrachtete angelegentlich ein paar Bilder, die an der Wand standen. Sie wußte nicht, was es war, aber irgend etwas an des Mädchens Sprache packte sie zum ersten Male, so lange sie das Kind kannte, und erinnerte sie an dessen Vater. Es war wohl die Art und Weise ihres Ausdrucks oder die Handbewegung dabei. So lange hatte auch das Mädchen noch nie geredet.
„Nun,“ sagte Herr Krautner und stand auf, „alle Hochachtung vor Ihrem Entschluß! Wenn’s aber schwerer ist, als Sie geglaubt haben, wenn Ihre zarte Gesundheit nicht ausreicht, dann, Töchterchen, dann wissen Sie, wo der alte Krautner wohnt – geben Sie mir die Hand darauf! und wenn ich einmal krank bin, kein anderes soll mich pflegen. So, da wäre ich also umsonst betteln gegangen. Adieu!“
Julia hantierte nun weiter, und Fräulein Riekchen sah zu, aber sie sprachen beide nicht mehr. Erst als Julia endlich erschöpft am Fenster saß und es bereits ganz heimlich in dem Stübchen aussah, denn das Mädchen hatte verstanden, jedes Bild möglichst an den nämlichen Platz zu hängen, den es droben gehabt, erst da klang es gepreßt zu ihr hinüber. „Und wann mußt Du dort sein in Köln?“
„Am fünfzehnten Mai, Tante.“
„Kannst nicht zur Hochzeit hier bleiben? Sie ist doch schon am zwanzigsten!“
„Nein, Tante; es thut mir leid, das geht nicht,“ antwortete Mamsell Unnütz.
Dann stand sie rasch auf und ging hinaus.
Gute Nachbarschaft.
Als mir im vorigen Jahre beim Besuch des prachtvoll gedeihenden Hamburger Zoologischen Gartens zum ersten Male der sonderbare Anblick wurde, daß der dort gehegte mächtige indische Elefant und sein Nachbar und Landsmann, ein Rhinoceros, sich gegenseitig liebkosten, da fiel mir dies um so mehr auf, als ich die beiden gewaltigen Dickhäuter seit Jahren im Garten gesehen, nie aber bis dahin eine solche Scene beobachtet hatte. Auf meine befremdete Nachfrage erfuhr ich gar, daß dieses freundschaftliche Verhältniß schon lange bestehe und sich öfter bekunde. Wo blieb da das alte und vielgeglaubte Märchen von der angeborenen Feindschaft zwischen Elefant und Nashorn?
Wenn Plinius, der alte Römer, von dieser angeborenen Feindschaft spricht, so kommt es offenbar daher, daß er im römischen Cirkus den Kampf zwischen Elefant und Nashorn gesehen und dabei beobachtet hat, wie das letztere seinem Gegner mit dem Horne den Bauch aufschlitzte. Plinius war wohl auch die Quelle dieser Meinung für die späteren Jahrhunderte. Wenn man aber weiß, wie bei solchen Cirkusvorführungen die Thiere mit aller Gewalt dazu gereizt wurden, sich zu bekämpfen, so verliert der Ausspruch des Plinius jeden Werth.
Eigentliche Thierfeindschaften, d. h. in dem Sinne, daß zwei Thierarten sich gegenseitig in angeborener Feindschaft begegnen, dürfte es kaum geben, denn eine „Feindschaft“ ist es doch nicht, wenn Raubthiere, die von der Natur auf die Ernährung durch das Fleisch anderer Thiere angewiesen sind, diese anfallen, töten und fressen, und wenn die Angefallenen sich dabei nach Kräften wehren. Ebensowenig kann man es angeborene Thierfeindschaft nennen, wenn zwei Thierarten auf gemeinsamem Nahrungsplatz einmal aneinander gerathen. Die als Gegenbeweis naheliegende sogenannte Feindschaft zwischen Hund und Katze beweist auch nichts, denn einerseits sind sie Hausthiere und nicht mehr im natürlichen Zustand, vielmehr meist durch Reizung zu solcher Gegnerschaft erzogen, sodann sind sie ursprünglich Raubthiere, also von Natur jedem anderen Thiere abhold. Dem Eskimohund z. B., der weiter kein Hausthier kennt, ist jedes andere Thier eine willkommene Beute, und als bei Hagenheck einst zwei Eskimohunde aus ihrem Gehege entwischt waren, rissen sie sofort eine Ziege im Hofe nieder. Da ist aber ebensowenig von gegenseitiger Feindschaft die Rede.
Dieses und ähnliches muß dem denkenden Thierbeobachter einfallen, wenn er die in unserem Bilde dargestellte Scene sieht. In der Freiheit sowohl wie in der Gefangenschaft sind sich Nashorn und Elefant in keiner Beziehung im Wege. Denn bei dem üppigen ununterbrochenen Pflanzenwuchs ihrer Heimath wächst ihnen ja sozusagen ihre Nahrung in das Maul und diese besteht bei der großen Verschiedenheit beider Thiere sicher auch aus verschiedenen Pflanzen. Ihre Feindschaft wäre Unsinn, und Unsinn giebt es in der Natur nicht.
Demgemäß verhalten sich denn nun auch die beiden gewaltigen Thiere im Hamburger Zoologischen Garten.
Es ist ein schöner warmer Morgen im Frühling. Schon zeitig sind Elefant und Nashorn aus ihren Ställen in ihr Gehege außerhalb derselben gelassen worden. Das Nashorn, „Begum“ genannt (indischer Name für Prinzessin), springt meist mit einigen wuchtigen Sätzen mitten in sein Gehege, ist aber nun auch für lange Zeit mit dieser großartigen Leistung zufrieden, bleibt halbe Stunden lang auf einer Stelle stehen, kaum daß es dazwischen hinein einige Schritte thut oder sich einmal für einige Zeit hinlegt.
Der Elefant hingegen, auf gut Deutsch „Anton" geheißen, ein Prachtthier seiner Art, mit Stoßzähnen von seltener Länge und gegenwärtig wohl der schönste Elefant in Europa, betritt mit würdigen Schritten sein Reich, überzeugt sich zunächst durch Umblick, daß alles in der gewohnten Ordnung ist, beginnt dann aber bald seinen Umlauf rings der Umzäunung entlang mit so elastischem, wenn auch immerhin wuchtigem Schritte, daß es eine Freude ist, ihm zuzusehen.
Ist nun zur erwähnten Zeit noch kein Publikum da, d. h. kein solches, welches das Interesse Antons durch Füttern in Anspruch nimmt, so setzt er seinen Spaziergang längere Zeit unverdrossen fort. Doch – da bemerkt er auf einmal, daß sein Herr Nachbar, den er natürlich längst im Nebengehege erblickt hat, der trennenden Schranke näher gekommen ist. „Guten Morgen, da bin ich,“ scheint dieser sagen zu wollen, und der herantretende Elefant, den die Stoßzähne und die Enge des Gitters hindern, den Rüssel zwischen den Stäben weit hindurch zu stecken, hebt das gewaltige Haupt über den oberen Gitterrand und streckt den Rüssel nach dem Kopfe des Nashorns aus. Mit würdevollem Ausdruck in Haltung und Augen läßt er sein gewaltiges Riech- und Greifwerkzeug in allen möglichen Windungen um den Kopf und besonders um das Maul des Nashorns spielen, fährt ihm einmal über die Augen oder über die Stelle, wo das Horn sitzen müßte; kurz, es ist ein offenbar freundschaftliches Liebkosen, welches Begum, wenn auch mit mäßigem Eifer, durch Lecken zu erwidern sucht. Der blöde dumme Ausdruck in dessen Augen im Gegensatz zu der Würde des Elefanten steigert dabei außerordentlich das Komische dieses Anblicks, so daß ich mich in der That dabei eines herzlichen Lachens nicht enthalten konnte.
Aber noch ein anderes höchst merkwürdiges Schauspiel führt Anton auf als Beweis seiner großen Klugheit. Es sind inzwischen Besucher gekommen, welche ihm etwas spenden wollen. Da ist natürlich sein Nachbar, das Nashorn, nicht mehr für ihn da. Weit streckt er den Rüssel nach der dargereichten Gabe vor, und ruft dabei ein Kind: „Kompliment!“, so nickt er wohl etwas mit dem Kopfe, aber sehr wenig, als wollte er gleichzeitig seine Geringschätzung solcher Belästigung ausdrücken. Jetzt aber reicht ihm jemand einen Nickelzehner oder -fünfer. Der Elefant erfaßt ihn, denn er weiß, dafür kann er sich etwas kaufen. Da sein Wärter im Stalle beschäftigt ist, so ruft er diesen sofort mit einem brüllenden Tone herbei, und sowie derselbe erscheint, hält er ihm den Nickel hin. Greift aber der Wärter danach, so zieht der Elefant sofort die Münze [749] in den Rüssel hinauf, und der Wärter weiß jetzt: erst die Ware, dann das Geld. So reicht er ihm denn aus den für solche Fälle immer mit Brot gefüllten Taschen einige würfelförmige Brotstücke, und kaum sind dieselben im Elefantenmaul, so hat der Elefant auch schon den Nickel aus dem Rüsselinneren hervorgestoßen und ihn als pünktlicher Zahler dem Wärter gereicht. Die größten Triumphe feiert Antons Schlauheit, wenn er mehrere Nickel, z. B. drei hintereinander erhält; denn dann bezahlt er sie dem Wärter nicht auf einmal für die erste Brotlieferung, sondern giebt erst den einen, dann nach wiederholtem Brotempfang den anderen und ebenso schließlich den dritten hin. Es ist dabei die geschäftliche Klugheit des Thieres ebenso erstaunlich wie die Fähigkeit des gewaltigen Rüssels zu solch willkürlicher „Handhabung“ winziger Geldstücke.
Kunstsinn hat Anton trotz seiner eigenen Schönheit leider nicht, denn als ich im vorigen Jahre in stiller Nachmittagsstunde eine Studie nach ihm fertigte, da bespritzte er mich aus seinem Rüssel so unausgesetzt und sicher treffend mit Geifer, daß eine große Selbstverleugnung dazu gehörte, auszuharren, und die Reinigung von den Flecken zuletzt eine recht mühsame Arbeit war.
Da Anton sich schon seit 1871 im Hamburger Zoologischen Garten befindet, so ist er natürlich in der Stadt allbekannt. Er ist ein Geschenk der Herren Diekmann, Barkhausen u. Comp. in Rangun in Hinterindien, stammt auch von dort, wo die männlichen Elefanten meist schöne Stoßzähne haben. Begum, das erwachsene, trotz seines Namens „Prinzessin“ männliche Nashorn, ist auch bereits 1870 von einem Londoner Thierhändler für 13 380 Mark erworben worden. Die Freundschaft der beiden besteht seit dem Beziehen des 1881 eröffneten neuen Elefantenhauses, wo sie seitdem ununterbrochen nebeneinander wohnen. Zur Entwicklung des Horns ist es leider bei dem sonst tadellosen Rhinoceros nicht gekommen, weil es die Stelle fortgesetzt an Balken, am Gitter u. dgl. reibt. Sonst hätte man an ihm vielleicht auch wie an den Exemplaren des Berliner Zoologischen Gartens die Beobachtung machen können, daß diese Nashornart mitunter das Horn abwirft und daß ihr dann ein neues wächst – eine bisher wohl unbekannte Thatsache. Heinrich Leutemann.
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Altamerikanische Kulturbilder.
An einem Novembertage des Jahres 1839 stand der schon in unserem ersten Artikel erwähnte amerikanische Reisende Stephens am Ufer eines kleinen Flusses in der Nähe des Dorfes Copan an der Grenze zwischen Honduras und Guatemala, inmitten des tropischen Urwaldes, und erblickte auf der anderen Seite des Flusses eine etwa 100 Fuß hohe, zum Theil verfallene steinerne Mauer. Er setzte über den Fluß, erstieg die Mauer auf einer breiten Treppe, die hinaufführte, und befand sich plötzlich auf einer Terrasse, umgeben von den Resten einer untergegangenen Kulturwelt, von deren Vorhandensein außer den Bewohnern der nächsten Umgebung niemand etwas wußte und deren Spuren der Reisende Stephens zum ersten Male vor sich sah. Die amerikanische Alterthumskunde befand sich damals noch in den Anfängen, und Centralamerika war ein unerforschtes Gebiet. Zwar war schon im Jahre 1750 die große Ruinenstadt Palenque in der mexikanischen Provinz Chiapas von spanischen Reisenden im Urwald zufällig entdeckt worden, aber eine gedruckte Schilderung dieser Alterthümer war erst im Jahre 1822 nach Europa gelangt, und zu der Zeit, als Stephens die Ruinen von Copan auffand, gab es noch Gelehrte, die der Ansicht waren, daß eine höhere Gesittung in Amerika niemals bestanden habe, daß die Einwohner der Neuen Welt durchweg Wilde gewesen seien, und daß die Spanier daher in ihren Berichten über den Kulturzustand im alten Mexiko arg übertrieben hätten.
Was nun der Reisende Stephens damals in Copan vor sich sah, war überraschend großartig. Unter dem Urwald begraben und von der überwuchernden tropischen Vegetation vollständig verschlungen, standen da hohe, pyramidenförmige Tempelbauten mit breiten Treppen, gewaltige steinerne Altäre und zahlreiche Bildsäulen, mit reichen Skulpturen bedeckt, und manche in kunstvoller Arbeit den schönsten Denkmälern der alten Aegypter gleich. Stephens selbst schildert in den lebhaftesten Farben den Eindruck, den die Entdeckung dieser ersten Ruinenstadt auf ihn machte, und den wunderbaren Anblick, den die Alterthümer in der tropischen Urwaldsumgebung gewährten. „Eine der Bildsäulen,“ sagt er, „war durch riesengroße Wurzeln von ihrem Postament verschoben, eine andere von den Aesten der Bäume fest umschlungen und von der Erde emporgehoben, eine andere auf den Boden geworfen und von ungeheuren Schlingpflanzen festgehalten, eine endlich stand mit ihrem Altar vor sich in einem Hain von Bäumen, der sie rings umgab, als wollte er sie beschatten und wie ein Heiligthum beschützen, und in der feierlichen Stille des Waldes erschien sie wie eine Gottheit, die über ein hingesunkenes Volk trauert. Die einzigen Laute, welche das tiefe Schweigen dieser vergrabenen Stadt störten, war der Lärm der Affen, die zwischen den Wipfeln der Bäume sich bewegten, und umgeben von den wunderbaren Denkmälern kamen sie uns vor wie die wandernden Geister des verschwundenen Volksstammes, welche die Trümmer ihrer einstigen Wohnungen behüteten … Keine Ideenverbindungen verknüpften sich mit diesem Ort, keine jener begeisternden Erinnerungen, welche Rom und Athen uns so heilig machen; und doch hatten einst in diesem überschwenglich üppigen Walde Baukunst, Skulptur, Malerei, kurz alle die Künste geblüht, die das Leben verschönen, hatten Redner, Krieger und Staatsmänner, hatten Schönheit, Ehrgeiz und Ruhm gelebt und waren dahingeschwunden … In Aegypten stehen die gigantischen Tempelskelette in dem wasserlosen Sandmeer, in der ganzen nackten Wüstenöde; hier dagegen hüllte die Ruinen eine ungeheure Waldung ein und verbarg sie vor der Menschen Blicken, wodurch der Eindruck und die moralische Wirkung erhöht und ihnen ein mächtiges und fast wildromantisches Interesse gegeben wurde … Wir fragten die Indianer, wer diese Denkmäler gebaut, und ihre dumme Antwort war: ‚Quien sabe?‘ – ‚Wer weiß?‘ …“
Nach Stephens sind viele andere Reisende in diesen Gegenden Centralamerikas gewesen, so besonders in neuester Zeit der Franzose Désiré Charnay, und die meisten der noch vorhandenen [750] Baudenkmäler sind wohl entdeckt und erforscht. Wenn anfangs die meterhohen Ablagerungen von Schutt und Erde in den Höfen der Gebäude, der wuchernde PFlanzenwuchs in und auf denselben und der gänzliche Mangel einer geschichtlichen Ueberlieferung dazu verleitet hatten, den Ruinenstädten ein ungeheures, selbst vorsintfluthliches Alter beizulegen, so wichen diese phantastischen Vermuthungen bald einer nüchterneren Anschauung, als man fand, daß einige der alten Städte zur Zeit der spanischen Eroberung noch bewohnt gewesen sein mußten, da ihre Namen in den Berichten aus jener Zeit erschienen. Andere haben aber unzweifelhaft schon damals so wie heute in Trümmern gelegen, so z. B. die große Stadt Palenque in Chiapas, denn die Spanier unter Cortez sind in einigen Meilen Entfernung an ihr vorübergezogen, ohne daß sie von dem Vorhandensein eines so bedeutenden Ortes in jener Gegend etwas erwähnen. Allerdings läßt sich aus dem Umstande, daß manche der alten Städte am Anfange des 16. Jahrhunderts noch bewohnt waren, ein sicherer Schluß auf das Alter der Gebäude nicht ziehen, denn diese können trotzdem einer viel früheren Zeit angehören, und auch der Zustand der Ruinen selbst gestattet kein Urtheil, denn das feuchte und heiße Klima der Tropen und die ungeheure Vegetation zerstört die Alterthümer unglaublich schnell, so daß die Zeit nicht mehr fern ist, wo die letzte Mauer gefallen sein wird. Dennoch steht jetzt jedenfalls soviel fest, daß die Kultur, welche die Spanier bei ihrer Ankunft in Yucatan vorfanden, in unmittelbarem Zusammenhang stand mit der jener alten Ruinenstädte, und daß die heutigen Eingebornen Yucatans Nachkommen der Erbauer jener Städte sind. Ja, Stephens ererzählt in seiner Reiseschilderung die Wundermär, es liege nach Berichten der Eingebornen noch heutigen Tages tief im Innern des Landes, wohin niemals ein Europäer gekommen sei, eine jener alten Städte vollständig wohl erhalten und bewohnt von Eingebornen, die noch im Besitze der alten Bildung seien; man habe von den Gipfeln der Sierra bei klarem Wetter diese Wunderstadt in der fernen Ebene gesehen!
Die Gesammtzahl der Ruinenstädte ist sehr groß, und namentlich in der eigentlichen Heimath der Mayas, auf der Halbinsel Yucatan liegt eine Fülle solcher Baudenkmäler unter dem Urwald begraben. Die bedeutendsten sind, außer den schon erwähnten Copan in Honduras und Palenque in Chiapas, die Ruinenstädte von Uxmal, Chichen-Itza, Kabah und Tutoom in Yucatan, sämmtlich im Gebiete der Völker des Mayastammes gelegen. Der Baustil der Mayas ist im großen und ganzen dem mexikanischen, wie wir ihn aus den dortigen Teocallis (Tempeln) kennen, verwandt. Auf gewaltigen, viereckigen Terrassen, die nach den Himmelsgegenden orientiert und auf allen Seiten mit Stufen versehen sind, erheben sich die langen und niedrigen Gebäude, mit flachen Dächern und zahlreichen Eingängen, die Fronten mit Skulpturen überladen, die meist phantastisches Schnörkelwerk, mitunter aber auch sehr geschmackvolle Ornamente zeigen. Der Gesammteindruck der altamerikanischen Bauwerke ist dem der indischen Baukunst am ähnlichsten. Die überreiche üppige Tropennatur mag den künstlerischen Sinn dieser Volker auf das Barocke und Phantastische hingewiesen haben, und es läßt sich nicht leugnen, daß in der Fülle der centralamerikanischen Vegetation dieser eigenthümliche Baustil einen harmonischer Eindruck hervorbringt. Daneben finden sich aber auch vereinzelt Gebäude von ganz einfachem und edlem Stil, so z. B. zu Zayi in Yucatan ein sehr merkwürdiger, auf S. 751 abgebildeter Tempel, der mit seinen glatten Säulen und seiner strengen Architektur fast an griechische-klassische Tempelbauten erinnert.
Die Pyramidenform der altamerikanischen Gebäude hat zu mancherlei Vergleichen mit dem Baustil der alten Aegypter Veranlassung gegeben. Indessen die Unterschiede sind sehr bedeutend. Die ägyptischen Pyramiden sind selbständige Gebäude, von beträchtlicher Höhe und in der Regel mit glatten Seitenflächen, während in Centralamerika die terrassenförmig übereinandergebauten, wenig hohen aber sehr breiten pyramidenförmigen Anlagen nur den Unterbau bilden, auf dem sich der eigentliche Tempel erhebt. Unsere Abbildung des „Castillo“ zu Chichen-Itza liefert den Beleg für das Gesagte.
Eine gleich hohe Entwicklungsstufe wie die Architektur hatte die Bildhauerkunst bei den Mayas erreicht. Die vorzüglichsten Beispiele sind zu Copan gefundene Götterfiguren, etwa 4 Meter hohe, massive Steingötzen in der Form breiter Säulen, die ebenso wie die dazugehörigen Altäre mit bewunderungswürdiger Kunst gemeißelt sind und von denen unsere nebenstehende Abbildung eine Probe (nach Meye und Schmidt, „Steinbildwerke von Copan und Quirigua“) giebt. Sie bleiben hinter den ägyptischen oder indischen Bildhauerwerken in keiner Weise zurück. Nicht minder kunstvoll sind die Ornamente und Skulpturen, mit denen die Tempelwände bedeckt sind und die ehemals in bunter Uebermalung prangten. Die Figuren sind entweder alterthümlich steif, mitunter phantastisch entstellt, nicht selten aber auch von überraschender Naturtreue und Lebenswahrheit. Reich an gut ausgeführten Bildwerken sind namentlich die Gebäude zu Palenque. Da sehen wir die Gestalten der vergessenen Könige und Großen, Darsteltungen aus ihrer Geschichte und die Figuren der Gottheiten, und in langen Zeilen melden uns die Inschriften, was damals jene Welt bewegt hat. Aber die allmächtige Zeit ist darüber hingeschritten, die Namen, die einst in Mittelamerika widerhallten, sind verschollen und verklungen, die Völker verschwunden, und der Forscher aus einer fernen Welt steht vor den Hieroglyphentafeln und entziffert mit Mühe die Kalenderdaten und die sonstigen Zeitangaben, das Einzige, was bis jetzt von diesen Inschriften mit einiger Sicherheit gedeutet werden kann. –
Die Leistungen der Mayas in der Bau- und Bildhauerkunst sind um so bewunderungswürdiger, als den Mayavölkern ebenso wie den Azteken das Eisen gänzlich unbekannt war, eine höchst auffallende Thatsache, wenn man bedenkt, daß nach neueren Forschungen die alten Aegypter bereits 3000 Jahre v. Chr. im Besitz des Eisens waren. Die herkömmliche Anschauung von der Aufeinanderfolge der verschiedenen Kulturstufen: Steinzeit, Bronze- und Eisenzeit wird durch solche Thatsachen arg erschüttert. Die Mayas bedienten sich lediglich steinerner oder kupferner Werkzeuge, und derjenige Stein, der bei ihnen die Stelle des Eisens vertrat, war der Obsidian, eine vulkanische glasharte Masse, dem Feuerstein ähnlich, die allerdings den Stahl ersetzen kann und zu haarscharfen Messern, Meißeln, Beilen, Pfeil- und Lanzenspitzen verarbeitet wurde.
Was wir außer durch die Alterthümer über den Zustand des Mayavolkes erfahren, beruht meist auf den Schilderungen der spanischen Schriftsteller zur Zeit der Eroberung Mittelamerikas, und diese Berichte sind leider recht spärlich. Yucatan blieb unbeachtet, weil es keine Schätze barg; Mexiko und Peru mit ihren ungeheuren Goldreichthümern nahmen damals das öffentliche Interesse ausschließlich in Anspruch. Der größte Theil der mittelamerikanischen Kulturgeschichte wird wohl für immer in tiefem Dunkel bleiben. Manche alten Ueberlieferungen, die über das Räthsel jener großartigen Ueberbleibsel wichtige Aufschlüsse geben könnten, mögen wohl, ängstlich behütet und verborgen vor den Augen der spanischen Eindringlinge, mit dem letzten Priester der einheimischen Völker Zentralamerikas ins Grab gesunken sein.
Der Mayastamm, dem jene alten Kulturvölker höchst wahrscheinlich sämmtlich angehört haben, ist von den Azteken Mexikos ganz verschieden, spricht eine eigene Sprache und seine Abkömmlinge bewohnen noch heute Yucatan und die angrenzenden Länder. Alle diese Völker zeigen noch jetzt eine starke Widerstandsfähigkeit trotz ihrer Entartung infolge der jahrhundertelangen spanischen [751] Mißwirtschaft. Während der Indianer der Vereinigten Staaten unaufhaltsam vor der europäischen Civilisation dahinstirbt, ist davon in Yucatan keine Rede.
Der Eingeborene ist noch immer der eigentliche Herr des Landes. Ein Blick auf eine Karte Yucatans zeigt, daß fast alle Ortsnamen der Mayasprache angehören, und der Europäer, der sich im Lande niederläßt, sieht sich gezwungen, die Sprache der Eingeborenen zu lernen; der Plantagenbesitzer, der Farmer muß mit seinen Leuten „Maya“ reden. Ob die heutige Sprache dieselbe ist, in der die Tempel-Inschriften und die Handschriften abgefaßt sind, ist natürlich sehr zweifelhaft.
Viele Aufschlüsse über das merkwürdige Leben in Yucatan giebt uns aus der Zeit der Spanier besonders der schon erwähnte Bericht des Bischofs von Merida, Diego de Lauda. Das Mayareich war einst eine mächtige Monarchie, von dem alten Königsgeschlechte der Tutul Xin regiert, die ihre Residenz in Mayapan, einige Stunden südöstlich von der heutigen Hauptstadt Merida, hatten. Aber die Vasallenfürsten in den Provinzen wurden mit der Zeit immer unabhängiger, und etwa hundert Jahre vor der Ankunft der Spanier empörten sie sich gegen den König und zerstörten Mayapan. Noch heute findet man in der Gegend, wo die alte Hauptstadt des Landes gelegen hat, die Spuren von Gebäuden im Umkreise von drei Meilen. Seitdem wurde das Land von Bürgerkriegen verwüstet, und als die Spanier kamen, gelang es ihnen leicht, die kleinen, sich untereinander befehdenden Herrscher zu überwältigen.
Die Staatseinrichtungen der Mayas waren ähnlich denen der Azteken. Der Monarch war mit der Machtfülle und dem Pomp orientalischer Fürsten bekleidet, und neben ihm bestand eine mächtige Priesterschaft, der die Pflege der geistigen Kultur, die höhere Erziehung der Jugend, die Wissenschaften, die Zeitrechnung und das Kalenderwesen besonders oblagen.
Die Religion der Mayavölker weist manche höchst wunderbare Züge auf, die zu den abenteuerlichsten Vermuthungen Anlaß gegeben haben, nämlich Anklänge an christliche Ideen, wie sie übrigens auch bei anderen Kulturvölkern Amerikas vorkommen. Die Mayas verehrten das Kreuz als religiöses Symbol; in einem der großen Tempel zu Palenque sieht man es dargestellt, und als Cortez im Jahre 1519 die Insel Cozumel an der Ostküste Yucatans besuchte, fand er dort ein steinernes Kreuz, das die Eingeborenen anbeteten. Aber kein uraltes Christenthum liegt hier vor, auch kein „Spott des Teufels“, wie die Mönche glaubten, sondern das Kreuz war den Mayas das Sinnbild der vier Weltgegenden, die Windrose, in ihren Beziehungen zum Wetter, zum Regen und zur Fruchtbarkeit des Landes. Auch die Azteken verehrten eine kreuzähnliche Figur, die sie den „Baum des Lebens“ nannten.
Ebenso wunderbar ist die Thatsache, daß die Mayas die – Kindertaufe übten! Sie verbanden damit eine völlig christliche Vorstellung, denn sie hielten die Taufe für eine Befreiung von der angeborenen Sünde, eine symbolische Reinigung, und machten sie deshalb zur religiösen Pflicht; niemand durfte über sein zwölftes Jahr hinaus ungetauft bleiben. Dazu kommt noch, daß sie den Akt mit einem Namen bezeichneten, der wörtlich bedeutet: „Von neuem geboren worden!“ Die Gebräuche bei dieser Taufe waren bei den Völkern Mittelamerikas sehr verschieden, und sie weisen mitunter recht ansprechende Züge auf; so wurde bei einem Stamm dem Kinde Staub aufs Haupt gestreut mit den Worten: „O du kleines Wesen, du bist auf diese Welt gekommen, um zu leiden – leide und schweig’! Du lebst, aber du mußt sterben; viel Schmerz und Angst wird über dich kommen, bis du wieder Staub geworden bist wie dieser Staub!“ Die Tauffeierlichkeiten der Mayas werden uns von dem Bischof Landa ziemlich eingehend beschrieben. Der Taufe ging eine Beichte der Kinder voraus, und unter Gebeten wurden die Täuflinge von dem Priester mit Wasser benetzt. Sogar Taufpathen gab es, und sie spielten bei der Handlung eine ähnliche Rolle wie bei uns. Ein Schmaus schloß die Feierlichkeit. In einer der Mayahandschriften finden wir eine Scene dargestellt, die offenbar nichts anderes ist als ein Taufakt; unsere Abbildung giebt diese höchst merkwürdige Darstellung aus der Madrider Mayahandschrift wieder, ein seltsames Bild altamerikanischen Kulturlebens, dem gegenüber man es wohl begreift, wenn die spanischen Mönche hinter dergleichen Dingen den Hohn des Teufels witterten, dem sie am wirksamsten durch gründliche Vernichtung der alten Handschriften zu begegnen glaubten.
Wenn man das heutige Yucatan mit dem alten Mayareich vergleicht, so fällt der Vergleich keineswegs zu Gunsten des modernen Landes aus. Yucatan war in der alten Zeit mehr bevölkert als heutzutage – wie auch die Hauptstadt des Aztekenreiches größer und volkreicher war als das heutige Mexiko und wo heute ärmliche Dörfer stehen, erhoben sich damals große und reiche Städte. Handel und Verkehr standen dementsprechend in hoher Blüthe. Es klingt wie ein Märchen, wenn man hört, daß im alten Yucatan breite, gepflasterte Kunststraßen das Land durchzogen, wo heute die „camino real“ („Königlicher Weg“) genannten Straßen sich trotz ihres stolzen Namens meist nur als erbärmliche Maulthierpfade darstellen – wenn überhaupt ein Weg vorhanden ist.
Kaufleute, die im alten Amerika besonderes Ansehen genossen, durchzogen in internationalem Handelsverkehr Mittelamerika von Mexiko bis Honduras, und als Zahlmittel dienten an Stelle des Geldes Kakaobohnen, Kupfer und Edelsteine. Die Volksnahrungsmittel, wie z. B. der Mais, wurden zu amtlich festgesetzten Preisen verkauft, und die spanischen Schriftsteller berichten uns ausdrücklich, daß jede Verpflichtung streng eingehalten und die Erfüllung von Verträgen sorgfältig überwacht wurde. Die Justizpflege war wohlgeordnet und lag besonderen Beamten ob; in jedem Orte befand sich ein Richter, der unter Zuziehung von Beisitzern Recht sprach, und ein königlicher Kommissar reiste im Lande umher und prüfte die Thätigkeit der Gerichte.
Das Jahr theilten die Mayas in achtzehn Monate zu je zwanzig Tagen und fünf Schalttage, nebenher ging eine Zählung von Wochen zu je dreizehn Tagen. Jeder Tag erhielt daher eine Doppelbezeichnung, einen der zwanzig Tagesnamen und eine der Zahlen bis dreizehn, wodurch sich ein sehr geschicktes Kombinationssystem ergab, bei dem erst nach langen Zeiträumen wieder ein Tag denselben Namen und dieselbe Zahl bekam. Gerade auf dem Gebiete der Zeitrechnung zeigten die Mayas eine besondere Begabung. Die Zeitrechnung und der Kalender spielten denn auch im Leben des Volkes eine große Rolle, es giebt fast kein einziges Ueberbleibsel in Mayahieroglyphen, wo sich nicht unter den Schriftzeichen Zahlen und Tages- oder Monatshieroglyphen vorfänden.
Der Charakter der alten Mayas wird uns von den spanischen Schriftstellern sehr günstig geschildert, namentlich die Frauen werden als Gattinnen und Mütter außerordentlich gelobt. [752] Ein Spanier Namens Alonso Lopez de Avila, der im Kampfe eine Eingeborene von auffallender Schönheit gefangen genommen hatte, ließ dieselbe, wie uns der Bischof Landa erzählt – den Bluthunden vorwerfen, weil sie sich weigerte, ihrem Gatten untreu zu werden. Eine Schattenseite der Mayas war ihre Neigung zu Vergnügungen und berauschenden Getränken. Auch die abscheulichen Menschenopfer kamen in Yucatan vor; aber sie waren sehr viel seltener als in Mexiko, wo nach jedem Kriege Tausende von Gefangenen den Göttern geopfert wurden. Das häusliche Leben war ziemlich einfach, die Erziehung der Kinder sorgfältig und streng. Die Wohnhäuser, natürlich nicht entfernt so großartig wie die öffentlichen Gebäude, die Tempel und Paläste, waren, dem Klima angemessen, leicht und luftig, ebenso wie die Kleidung. Eine besondere Kunst der alten Centralamerikaner war die Verfertigung von kostbaren Geweben aus zahllosen bunten Vogelfedern, die sie zu einer Art von Mosaik verarbeiteten, eine Knust, die wie so manches andere mit der alten Kultur verloren gegangen ist. –
Diese kurzen Rückblicke auf die untergegangene Kulturwelt des alten Amerika, zu denen uns die 400jahrige Jubelfeier der Entdeckung der Neuen Welt die Veranlassung bot, liefern uns in gewissem Sinne die Schattenseiten der großen Ereignisse, deren Feier wir begangen haben, sie zeigen uns, daß die europäische Kultur für den amerikanischen Menschen ein Danaergeschenk gewesen ist. Wir feiern die Entdeckung Amerikas als die Träger der siegreichen Kultur, als die Nachkommen der Eroberer der Neuen Welt, als die Erben, denen die Vortheile der Kämpfe zugefallen sind. Es ziemt sich bei dieser Gelegenheit, daran zu erinnern, was auf seiten der Besiegten verloren gegangen ist, und dem Andenken der untergegangenen Welt sind diese Zeilen gewidmet. Wer die heutigen Zustände in Mittelamerika mit denen der vorkolumbischen Zeit, wie sie hier skizziert sind, vergleicht, der muß mit Beschämung eingestehen, daß die europäische Kultur die einheimischen Völker Centralamerikas nicht beglückt, nicht gefördert, sondern zurückgeworfen hat.
Beinahe 400 Jahre hat die christlich-europäische Civilisation Zeit gehabt, den Schaden zu ersetzen, den die Eroberer dem Lande zugefügt haben, und noch heute steht Mittelnmerika auf einer in vielen Beziehungen niedrigeren Stufe als vor der Entdeckung. Die nationale Kunst, die lebendige Entwicklung der Technik, des Verkehrs, des Handels, der Wissenschaften, das alles ist erstorben und bis heute nicht wieder erwacht; statt dessen herrscht die Jahrhunderte alte Mißwirthschaft, die Vernachlässigung und die Halbkultur, unter welcher der Eingeborene verkommt: oberflächlich mit europäischer Civilisation übertünchte Barbarei. Wird ein einheimisches Kulturleben, wie es das untergegangene war, auf dem Boden Centralamerikas jemals wieder erblühen?
Alle Rechte vorbehalten.
Gretchens Liebhaber.
(1. Fortsetzung.)
Anton Röver war an einem Augustnachmittag in dem kleinen Arbeitszimmer des Prinzipals im ersten Stockwerk mit dem Ordnen der Bücher beschäftigt, einer Arbeit, die immer in der stillsten Zeit des Jahres vorgenommen wurde. Das Schreibpult war bedeckt mit Briefen, Anzeigen, Kursberichten, ein Wasserglas stand dazwischen, aus dem der eifrig Beschäftigte dann und wann nippte. Aufmerksam fügte der junge Mann Zahlenreihe unter Zahlenreihe, und in seinem Herzen war eitel Frieden und Freude. Der letzte Strahl der untergehenden Sonne brach sich, von einer Fensterscheibe gegenüber zurückgespiegelt, in dem Wasserglas und warf bunte Regenbogenstreifen über den Schreibtisch. Da trat Julius Meermann in das Zimmer, den Stock mit Elfenbeingriff in der Hand wirbelnd, eine Rose im Knopfloch, elegant, lächelnd und sehr aufgeräumt. Röver hatte im Eifer den Stundenschlag überhört.
„Donnerwetter – büffelt der Mensch noch! Wie lange wollen Sie denn fortmachen? Kommen Sie mit ins Tivoli!“
„Einen Augenblick Geduld,“ sagte Röver, freundlich aufschauend. „Ich erledige nur, was mit der Post fort muß. Dann komme ich mit Ihnem.“
„Was schaffen Sie denn eigentlich hier oben?“
„Ich vertrete gegenwärtig Herrn Franz.“
„Wetter noch einmal – eine mächtige Korrespondenz! Alles in Hüten, Spitzen und Federn, Franz und Kompagnie?“
„Nicht ganz. Unser Chef macht Geldgeschäfte auf eigene Hand. Dies hier zum Beispiel geht Franz und Kompagnie nichts an.“
„So, so! Na, also, ich warte. Sputen Sie sich!“
Julius lehnte sich an die Kante des Schreibpultes und starrte ins Leere. Er sah nicht gut aus; dunkle Ränder zogen sich um die unheimlich glänzenden Augen. Seiner Mutter war dies veränderte Aussehen nicht entgangen, und sie spann Pläne, wie er Urlaub nehmen und zur Kur eine ihrer Freundinnen besuchen sollte, die in einem Badeort wohnte. Aber Julius hatte grimmig gelacht zu solchen Vorschlägen. Er war so gesund wie nie, unverschämt gesnnd; seine Körperkraft hatte nicht nachgegeben in den letzten entsetzlichen Wochen. Was hatte er unterschrieben in jener unseligen Nacht? Eine Schuldverschreibung, wie er meinte, aber Habermann behauptete, es sei ein Wechsel gewesen, und was schlimmer war, er bewies es ihm schwarz auf weiß. Dreitausend Mark schuldete er dem heillosen Menschen, dreitausend Mark mußte er auftreiben. Woher? woher? Seine Mutter besaß nur ihr karges Witwengehalt und er selbst besaß gar nichts. Und doch hielt er noch den Kopf oben. In seinem Innern glaubte er eine Stimme zu hören, die ihn versicherte, daß die Summe sich finden werde, sich finden müsse, wenn auch in letzter Minute. Und das war ihm das Schicksal ja auch schuldig! Es konnte einen so netten, gutherzigen, talentvollen jungen Mann unmöglich in der Patsche sitzen lassen. Arme Teufel ohne Bildung und Schliff, ohne Feuer und Gewandtheit mochten in solchem Schiffbruch zu Grunde gehen – aber ein Mensch von seinen Gaben – das durfte nicht sein! Vorläufig galt es nur, keine Seele ahnen zu lassen, wie es um ihn stand, seine Angehörigen nicht, vor allen Dingen nicht seinen Prinzipal. So hoch ihn dieser schätzte, einem Spieler würde er unbarmherzig sein Geschäft verschlossen haben. Allein mußte er den Sturm bestehen, um sich dann freilich nie, nie wieder in einen ähnlichen zu wagen. Und unwillkürlich schloß er sich fester an Röver an, den ernstesten, gesetztesten seiner Bekannten. Rövers Gegenwart schützte ihn vor der Gesellschaft Habermanns, vor neuen Thorheiten. Im übrigen trug er den Kopf hoch, zeigte sich lustig, übermüthig, unternehmender als je. Doch bei jedem Scherzwort, das seine Hörer zu lautem Lachen brachte, dachte er an die dreitausend Mark, die er beschaffen mußte. Sie standen für ihn auf dem Vorhang, der sich zum Beginn der Operette hob, auf den Füßchen der Tänzerinnen, auf dem Grunde der Biergläser, er las sie in den Kattunmustern im Laden seines Prinzipales; und eben jetzt grinsten sie von dem Schreibpult vor ihm in riesigen Bnchstaben. „Dreitausend Mark, zahlbar am zehnten August.“ Man schrieb heute den achten – Teufel, das Feuer brannte ihm auf den Nägeln!
In diesem Augenblick ertönte im Hintergrund des Zimmers das Telephonzeichen. Der Kassierer setzte die drahtgeflochtene Kasse, der er eben drei Tausendmarkscheine entnommen hatte, sorgfältig in den Geldschrank zurück, schlug die Scheine in eine lange Berechnnug und schob sie mit dieser in einen auf dem Pulte liegenden, bereits adressierten Briefumschlag. Dann stand er auf und ging an den Apparat.
[753]
[754] Dreitausend Mark! Julius Meermann durchzuckte es wie ein Messerstich, als er die Scheine in dem Umschlag verschwinden sah. Gerade dreitausend Mark! Gewaltsam hatte er sein Auge von der Kasse abgewandt, er konnte keine Anhäufung von Geld mehr sehen – mit übermächtiger Gewalt zog es seine bebenden Finger an. In seinem eigenen Geschäft traute er sich nicht mehr an einer Stelle vorüber, wo zehn Goldstücke bei einander lagen. Denn er wollte keine Thorheit begehen. Ein Verbrechen, wenn es sein mußte, um sich zu retten – nun ja! Aber nur keine Dummheit, wie Tölpel sie in ihrer Verzweiflung wagen, eine Dummheit, die entdeckt werden und ihren Urheber erst recht ins Verderben stürzen mußte.
„Es ist Ihre Schwester, die mich wegen einer geschäftlichen Sache, die sie vergessen hat, zu sprechen wünscht,“ sagte Röver, roth vor Vergnügen, sich vom Telephon zurückwendend.
„Wahrhaftig? Stehen sie jetzt besser mit dem Trotzkopf?“
„O, wir haben uns ausgesprochen. Wir sind jetzt sehr gute Freunde.“
Röver hielt eine lange Rede in die Mündung des Telephons, er gab ausführlich die gewünschte Auskunft. An ihm sollte es gewiß nicht liegen, wenn ihr Verhältniß zu einander nicht wieder die denkbar beste Form annahm!
Und derweil lehnte Julius am Schreibpult und sah auf den unverschlossenen Umschlag herab, der dreitausend Mark enthielt, dreitausend Mark, die ihn retten konnten! Ein zusammengefaltetes Zeitungsblatt lag daneben – ein kurioses Ding, dieses Blatt! Fast genau von derselben Größe, wie die Berechnung, in welche die Scheine geschlagen waren. Wenn er dieses Blatt in den Brief steckte und dessen Inhalt in seine Tasche – wer konnte je beweisen oder nur vermuthen, daß er die Hand im Spiele gehabt hatte? Wer durfte es wagen, ihn auch nur durch den Schatten eines Verdachts zu beleidigen? War er nicht da, der ersehnte rettende Augenblick? Konnte nicht ein einziger geschickter Handgriff Schande und Noth von seiner Person abwälzen, geschehene Thorheit ungeschehen machen? –
Röver hatte die Unterredung beendigt und kehrte sich nach Meermann um. Er sah diesen am Schreibpult lehnen, in derselben Stellung wie vorhin, das Stöckchen in der einen Hand, mit der andern an der Rose in seinem Knopfloch nestelnd.
„Jetzt stehe ich sogleich zu Diensten,“ sagte er, von dem Gespräch mit dem geliebten Mädchen noch freudig erregt. Hastig schloß und siegelte er den Werthbrief, steckte ihn mit anderen Briefen zu sich, zog den Schlüssel vom Geldschrank und nahm seinen Hut.
„Wollen Sie die Post nicht dem Laufburschen zur Bestellung übergeben?“ drängte Julius. „Es ist spät.“
„Werthsendungen pflege ich immer persönlich zu besorgen,“ erwiderte Röver. „Uebrigens werde ich Ihre Geduld auf keine harte Probe stellen.“
„Ach was, nehmen Sie’s doch nicht so pedantisch genau – ich habe lange genug auf mein Vergnügen gewartet, und Ihr Laufbursche ist ja wohl ein zuverlässiger Mensch!“
Röver besann sich einen Augenblick, dann antwortete er zögernd. „Nun ja, der Mann ist ehrlich, auch viel zu beschränkt, um eine Schlechtigkeit ins Werk zu setzen. Gehen wir also!“ Damit klingelte er und übergab dem eintretenden Diener die Briefschaften. „Schließen Sie nachher hier ab und bringen Sie diese Sachen zur Post!“
Aufathmend schob Julius seinen Arm in den Rövers, und eine lustige Melodie pfeifend, verließ er mit ihm das Zimmer.
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Ein kühler Morgenwind strich am nächsten Tage erfrischend durch die noch menschenleeren Straßen, als das Geschwisterpaar nebeneinander dahinschritt, jedes seinem Geschäft zu. Die schweren schwarzen Bandschleifen auf Gretchens Hut schlugen fröhlich im Luftzug; auf ihren Wangen lag eine feine Röthe. Sie gedachte heute besonders zeitig zur Stelle zu sein; der Chef sollte gegen Mittag zurückkehren und sie selbst den Platz an der Kasse, den sie in den letzten Tagen stellvertretend übernommen hatte, wieder an Herrn Röver zurückgeben. Da gab es noch manches zu besprechen. Sie setzte ihren Stolz darein, daß gerade er alles in bester Ordnung finde. Mit einem Handedruck verabschiedete sie sich an der Thüre des Geschäfts von ihrem Bruder und trat ein.
Bald bog auch Röver um die Ecke, ein Veilchensträußchen in der Hand, Waldmann dicht an seinen Fersen. Zwei Häuser vor dem Geschäft blieb er stehen und beugte sich liebkosend zu dem Teckel herab. „Vorwärts, Waldmann!“ Und den Hund stieß ein leises Winseln aus, kehrte sich auf den Hinterpfoten um und rannte davon. Derselbe Auftritt wiederholte sich jeden Morgen, Waldmann begleitete Röver und wurde angesichts des Geschäftes heimgeschickt. Dann kam er um die Mittagsstunde wieder, seinen Herrn abzuholen, aber die Schwelle des Ladens überschritt er nie; er wartete geduldig auf dem Asphalttrottoir gegenüber. Niemand vertrieb ihn von dort, man kannte ihn schon in der ganzen langen Straße.
Nun trat Anton Röver in die Thür und schritt gerade auf Grete zu, die eifrig in den Papieren an der Kasse kramte.
„Guten Morgen, Fräulein Meermann! Darf ich mir gestatten, Ihnen diese Veilchen zu überreichen?“
Sie standen halb verborgen zwischen den Kasten mit farbigen Bändern, zwischen den Hüten, Spitzen und künstlichen Blumen. Nur das Hausmädchen fegte mürrisch und verschlafen den Ladenraum. Sonst war niemand zugegen.
„Aber Herr Röver,“ stammelte Grete verlegen. „Sie vergessen unsere Abmachung!“
„Ich vergesse nichts, Fräulein Meermann. Sie haben mir zu verstehen gegeben, daß ich für Sie ungefähr dasselbe bedeute wie dies Kassenpult hier und der Schrank und der Ladentisch – ein Möbel, das zur Einrichtung des Geschäftes von Franz und Kompagnie gehört ...“
„Herr Röver –“
„. . . aber die Veilchen können Sje doch von mir annehmen! Wenn ich nach Jahr und Tag in meinem einsamen Junggesellenstübchen sitze, irgendwo in Chile oder Japan oder auf einer Insel im Stillen Ocean, dann werde ich mir mit immer neuer Freude sagen: an dem Tage hat sie meine Blumen getragen, an jenem sprach sie gütig mit mir.“
Grete steckte die Veilchen an ihre Brust. „Wenn Sie erst in Chile oder Japan sind, Herr Röver, werden Sie überhaupt nicht mehr an die Grete Meermann denken. Dann haben Sie eine andere Frau gefunden, die Ihrer würdiger ist und Ihre Güte besser belohnt. Aber ich danke Ihnen herzlich für Ihre Blumen. Und, Herr Röver, muß es denn just das andere Ende der Welt sei, wohin Sie Ihre Schritte lenken? Geht’s gar nicht mehr in unserem alten lieben Deutschland?"
„Mein Vaterland ist mir so theuer wie irgend einem, aber was kann ich hier für mich erwarten? Drüben über der See finden sich größere Verhältnisse, rascheres Vorwärtskommen für einen Menschen, der ohne Kapital beginnen muß wie ich. Wär’ es mir nicht um mein altes Mütterchen, das sich nicht losreißen kann von der Heimath – ich wäre längst überm Weltmeer.“
„Ihr Mütterchen? Die alte Dame, mit der ich Sie neulich am Sonntag gehen sah? Also die zügelt Ihren Ehrgeiz noch? Denn furchtbar ehrgeizig sind sie, das sagen alle. Und ich merke es wohl, Sie werden nicht ruhen, bis Sie der Inhaber eines großen Handelshauses geworden sind.“
„Mein Ziel ist das, warum soll ich es Ihnen gegenüber leugnen? Andere haben ja mit nicht größeren Aussichten angefangen als ich und haben dies Ziel erreicht. Und etwas muß der Mensch haben, ein Streben, eine Hoffnung, die er im Innersten hegt, an der er sich freut, für die er lebt. Gerade meines Mütterchens wegen bin ich ‚ehrgeizig‘, wie Sie es nennen. Die alte Frau hat sich schlimm gemüht und geplagt für mich großen Burschen. An meinem Vater, das ist leider bekannt, hat sie nur Kummer erlebt. Da soll sie wenigstens an mir Freude haben – für sich selbst hegt ihr bescheidener Sinn kaum einen Wunsch.“
„Ich wußte gar nicht, daß Sie ein so guter Sohn sind,“ meinte Grete freundlich. Dem Mann mit den bösen Augen hätte sie solche Zartheit der Empfindung nicht zugetraut.
„Dabei ist kein Verdienst,“ erwiderte er wehmüthig. „Meine Mutter ist die einzige Person auf der Erde, die mir jemals Liebe erwiesen hat – wie sollte ich ihr nicht dankbar sein?“
Frida Meier und Fräulein Rothart kamen herein, sehr verblüfft, als sie das Paar an der Kasse beisammen erblickten. Die anderen Verkäufer und Verkäuferinnen folgten ihnen auf dem Fuße. Auf dem Marktthurm schlug es acht Uhr und Zuspätkommen kostete Geld. Alle schauten nach der Kasse, und das Wispern, Tuscheln, Kichern nahm kein Ende. Als Grete ihren [755] Platz hinter dem Ladentisch einnahm, kniff die Rothart sie in den Arm.
„Sie sind mir eine Heimliche!“
Und die Meier zischelte: „Nun darf man doch wohl endlich seinen Glückwunsch anbringen?“
Die übrigen schwiegen auch nicht, die anzüglichen Bemerkungen jagten sich – es war ein moralisches Spießruthenlaufen für die arme Grete.
„Haben Sie nicht immer gethan, als könnten Sie den Röver so wenig sehen wie eine Spinne? Unter vier Augen gewinnt er wohl?“
„Sie stehen freilich früher auf als unsereins!“
„Wie macht er sich denn, der Herr Kassierer, wenn er Süßholz raspelt?“
Und eine antwortete, auf den Strauß an Gretes Brust deutend: „Ist das eine Frage? Veilchenhaft macht er sich.“
Endlich ging der Verhöhnten die Geduld aus. „Lassen Sie mich in Ruhe wegen dieser Sache, ein für allemal! Ich mische mich auch nicht in Ihre Angelegenheiten. Sie haben mich gegen Herrn Röver aufgehetzt, und er verdient das nicht. In welcher Weise ich mein Unrecht gut zu machen suche, ist meine Sorge!“
Das war Oel ins Feuer. Sie vertheidigte den Kassierer, also eine wirkliche Neigung! Und unter dem Anschein übertriebenster Rücksichtnahme gestalteten sich die Hänseleien immer spitziger und giftiger. Es war ein kleines Martyrium, das sie an diesem Morgen erduldete für einen Mann, den sie nicht liebte – nein, nicht für den Mann, für das Unrecht, das sie ihm früher angethan hatte. Unrecht fordert Sühne.
Es ging gegen Mittag; ein Wagen fuhr vor. Herr Franz kam von der Reise zurück. Er begrüßte eilfertig das Personal, ließ sich rasch vom Kassierer Bericht erstatten dann begab er sich die Treppe hinauf in sein Privatzimmer, wo die Post, seiner harrend, aufgestapelt lag, obenauf eine Depesche, die vor einer halben Stnnde gekommen war: „Herrn Franz, Franz und Co. Eigenhändig.“
Einige Minuten verstrichen – plötzlich gab es ein Durcheinanderlaufen droben, ein Rennen, Rufen, der Laufbursche ward hinaufbeordert und eilig fortgeschickt. Er kehrte ebenso eilig zurück in Begleitung eines Herrn mit zugeknöpftem Rocke und noch zugeknöpfterem Gesicht, der ohne ein Wort den Laden durchschritt und sich in das Zimmer des Chefs begab. Da – niemand konnte sagen, wer zuerst das Wort geflüstert hatte, aber mit einem Male lief es von Mund zu Mund: „Die Geheimpolizei!“ In wenigen Augenblicken wußten alle alles. Eine Werthsendung war unterschlagen worden, statt der Geldscheine hatte der Empfänger unter unverletztem Siegel ein altes Zeitungsblatt zugestellt erhalten, ein Stück einer Berliner Börsenzeitung, auf dessen Rückseite die Adresse stand: „Herrn A. Röver. Pfahlstraße Nr. 8 p.“.
Grete erblaßte bis in die Lippen. Das konnte nicht sein, er, der alles Unrecht haßte! Und doch, hatte er nicht selbst bekannt, ehrgeizig zu sein, hoch hinaus zu wollen, hatte er nicht soeben erst bedauert, kein Kapital zu besitzen? Sie blickte empört zu ihm hinüber, er saß ruhig vor seiner Kasse und schrieb; das Ziel aller Blicke, der Gegenstand aller Gespräche, schien er die Aufregung gar nicht zu merken, deren Ursache er war.
„Aber hören Sie denn nicht?“ rief sie außer sich und trat zu ihm. „Sind Sie taub und stumm? Oder warum reden Sie nicht? Weshalb vertheidigen Sie sich nicht?“
„Vertheidigen, Fräulein Meermann? Gegen welche Beschuldigung soll ich mich denn vertheidigen?“
„Wissen Sie’s wirklich nicht? O, eine Kleinigkeit – in einem Werthbrief ist statt der Tausendmarkscheine, die er enthalten sollte, ein Stück altes Zeitungspapier gefunden worden, ein Stück Papier, das zufälligerweise Ihren Namen trägt, Herr Röver!“
Röver zuckte zusammen. „Die Werthsendung nach Berlin,“ murmelte er. Er sah dabei so rathlos aus, so völlig niedergeschmettert, daß Grete nicht mehr an seiner Schuld zweifelte, und eine blinde Wuth packte sie gegen sich selbst, daß sie Partei ergriffen hatte für einen Dieb.
Röver fing an, mit großen Schritten umherzuwandern. „Es muß sich aufklären, es muß! Gott im Himmel, ist denn so etwas möglich? Gestern abend habe ich selbst die Scheine in den Umschlag gesteckt, selbst das Paket gesiegelt – Ihr Herr Bruder kann mir’s bezeugen.“
„Mengen Sie meines Brnders ehrlichen Namen nicht in Ihre unsauberen Händel, Herr Röver!“
„Fräulein Meermann!“
Das Ladenpersonal drängte neugierig herzu, einen Kreis um die Streitenden bildend. Grete suchte es nicht zu hindern, sie sollten es hören, alle, daß sie nichts gemein hatte mit einem Verbrecher.
„Wahrlich,“ rief sie bebend, „schön bin ich belohnt dafür, daß ich mich bethören ließ, für Sie einzutreten Spott und Hohn auf mich zu nehmen um Ihretwillen! Geschieht mir schon recht! Warum achtete ich nicht auf die Stimme meines Herzens, die mich von Anfang an vor Ihnen warnte, auf die Stimme aller rechtlichen Leute . . .“
„Fräulein Meermann,“ preßte Röver hervor, „mäßigen Sie sich! Es giebt Worte, die nicht zurückzunehmen sind, Dinge, die ich sogar Ihnen nicht vergeben kann. Sie haben schon einmal ein Wort zu mir gesprochen, das Sie gereute – hüten Sie sich!“
„Daß Ihr Betragen mich lächerlich mache, hab’ ich gesagt,“ gab sie höhnisch zu. „Gewiß, ich hätte das nicht sagen sollen. Nicht lächerlich, nein, verächtlich macht die Zuneigung eines Betrügers!“
Er hatte die Hände abwehrend ausgestreckt, als könne er dadurch das Wort auf ihren Lippen zurückhalten; keuchend rang er nach Athem. In diesem Augenblick trat der Geheimpolizist geräuschlos in den Laden und beschied den Kassierer Röver in das Zimmer seines Chefs. Röver stand wie angewurzelt; in seinem gelbgewordenen Gesicht funkelten die schwarzen Augen jetzt mit wirklich bösartigem Ausdruck. Seine Finger krümmten sich nach Innen. „Ich komme,“ sagte er langsam, mit einer Stimme, die fremd und gebrochen klang. Dann wandte er sich zu Grete: „Fräulein Meermann! Sie haben heut’ einen Menschen, der Ihnen nie etwas zu Leide gethan hat, tödlich beleidigt, ohne Ursache, in stolzem Uebermuth, in einer Stunde obendrein, da er gerade von Ihnen ein tröstliches Wort hätte erwarten dürfen. So wahr ich an eine Vergeltung auf dieser Erde glaube, Sie werden diese That noch bitter bereuen, werden Jahre Ihres Lebens dafür hingeben wollen, die Worte ungesprochen zu machen, die Sie mir eben gesagt haben, und werden es nicht können, so wenig, wie ich je deren Klang aus meinem Gedächtniß zu tilgen vermag.“
Damit wandte er sich schwerfällig um, die Thür schlug hinter ihm zu.
Kunden kamen, Grete war eine gesuchte Verkäuferin, man rief sie von allen Seiten, sie mußte Red’ und Antwort stehen. „Blaues Ripsband? Ja wohl, gnädige Frau! In welcher Breite?“ – Er hatte nicht mehr nach ihr zurückgeschaut, jetzt mußte er schon droben stehen vor seinem Geschäftsherrn. Ob er sich verantworten konnte? Aber wie sollte das möglich sein? . . . „Die Schattierung dürfte zu hell ausfallen! Vielleicht diese Sorte? Eine wunderschöne Farbe! Sie wollen soviel nicht ausgeben, gnädige Frau? O, wir haben dies Band in allen Preisen!“ . . . Was für eine Stirn er zeigte! Wie er sie heruntergekanzelt hatte; er – sie! Ihm stand es wahrlich an, mit der Vergeltung des Himmels zu drohen – ihm, einem Betrüger! Wenn er nun aber doch keiner wäre, wenn sie ihm unrecht gethan hätte! Wie ein Betrüger sah er nicht aus, besonders bei seinen letzten Worten nicht – natürlich nicht, war er doch ein Erzheuchler! . . . „Sie befehlen, gnädige Frau? Dieses hier? Wieviel darf ich abschneiden?“
Im Hintergrund des Ladens wurde auf das Zahlbrett geklopft. „Kasse!“ rief eine Verkäuferin durch den Raum. „Kasse!“ – Das ging sie an, sie war ja die Stellvertreterin des Kassierers.
Und sie schlüpfte hinauf und trat an das braune Pult, vor dem er eben noch gesessen hatte –
„Aber entschuldigen Sie, Fräulein, die Rechnung stimmt wirklich nicht!“
„Bitte tausendmal um Verzeihung! Sechzig Pfennige bekommen Sie heraus, nicht wahr? Nun wird’s recht sein.“ –
Im Grunde, was ging die ganze Geschichte sie an? Hatte sie nicht von Anfang an einen Widerwillen gegen den Menschen gehegt? Wer war ihr fremder als er? Und dennoch empfand sie sein Vergehen als ein ihr persönlich angethanes Unrecht: er hatte ihr Vertrauen erschlichen, er hatte nicht nur seinen Chef, sondern auch sie betrogen!
[756] Eben schritt er, begleitet von dem Geheimpolizisten, durch den Laden, mitten durch das scheu und unwillig vor ihm zurückweichende Personal – das Zimmer des Chefs hatte keinen anderen Ausgang. Er schien keinen von seinen einstigen Kameraden zu sehen. Gerade aus ins Leere starrten seine Augen unter den schwarzen Brauen hervor, die so fest zusammengezogen waren, daß sie sich an der Nasenwurzel berührten. – –
Als Grete später als gewöhnlich zum Mittagessen nach Hause ging, sah sie wenige Schritte von der Ladenthür entfernt Waldmann stehen. Die braunen Augen des Teckels spähten zwischen den Lederriemen des Maulkorbs hervor erwartungsvoll nach der Thür des Geschäftes, aus der sonst um diese Zeit sein Herr zu treten pflegte, und jedesmal, wenn eine ihm fremde Gestalt auf der Schwelle erschien, stieß er ein leises klägliches Winseln aus. Aber er gab seinen Posten nicht auf. Grete war schon die ganze Straße hinunter gegangen, als sie, sich umwendend, den Hund noch immer auf demselben Flecke gewahrte, gestoßen und getreten von den Füßen der um diese Stunde eilig und zahlreich einherhastenden Menschen, von einer seiner krummen Vorderpfoten auf die andere trippelnd, den schlanken klugen Kopf in äußerster Spannung nach der Ladenthür gerichtet. So wartete wohl auch dort in der Pfahlstraße eine alte Frau. Gretchens Herz zog sich zusammen bei diesem Gedanken, und in ihre Augen stieg ein feuchter Schimmer, doch im nächsten Augenblick wallte der Zorn nur noch heftiger in ihr auf gegen den Menschen, der Liebe so übel belohnte.
„Saubere Freunde hast Du, Julius!“ rief sie, in die Stube tretend, wo Mutter und Bruder schon bei der Suppe saßen, und warf Hut und Mantel auf die Kommode. „Wißt Ihr das Neueste? Röver ist heute morgen verhaftet worden, er hat dreitausend Mark unterschlagen!“
Die Hand des jungen Mannes, die eben den Löffel zum Munde führen wollte, sank schlaff herab. Das hatte er nicht beabsichtigt!
„Trau, schau, wem!“ sagte die Mutter kopfschüttelnd. „Wer hätte dem jungen Menschen solche Schlechtigkeit zugetraut! Machte einen so ehrbaren soliden Eindruck! Aber freilich, Art läßt nicht von Art. Es ist die Sünde der Eltern, die sich in den Kindern forterbt von Glied zu Glied.“
„Wie kaun man behaupten, daß gerade er die dreitausend Mark genommen hat!“ brauste Julius ungestüm und unvorsichtig auf. „Die Scheine können ebenso gut auf der Post gegen die Zeitung vertauscht worden sein.“
„Ja, wenn sein Name nicht darauf stände!“
„Sein Name?“
„Und seine Adresse. Es ist ein Blatt einer Berliner Börsenzeitnng, die er sich hält. Uebrigens, woher weißt Du denn schon die Geschichte mit der Zeitung?“
Julius fuhr zusammen und wurde dunkelroth. „Nun, man kommt doch unter die Leute! Solche Sachen sprechen sich rasch herum. Ich – ich wollte nur nicht davon anfangen, weil ich nicht denken kann, daß Röver schuldig ist.“
„So? Das wird ihm lieb sein, denn auf Dein Zeugniß beruft er sich gerade.“
„Auf mein Zeugniß?“
„Du seiest zugegen gewesen, als er die Papiere in den Briefumschlag schob und diesen siegelte.“
Meermann faßte sich allmählich. „Mein Gott, ja! Ich holte Röver gestern abend ab; er ordnete noch allerlei Geschäftliches und schloß auch einige Briefe, wie ich glaube. Ich habe nicht genau achtgegeben; ich konnte mir doch nicht träumen lassen, daß ich demnächst vor Gericht darüber würde zeugen müssen.“
Julius Meermann war zu Muthe wie einem Menschen, der gehofft hat, eine sumpfige Stelle ohne sonderliche Beschwerde durchwaten zu können, und der nun plötzlich den Boden unter seinen Füßen schwinden fühlt. Jetzt hieß es: durch – oder zu Grunde gehen!
In diesem Sinne zeugte er vor Gericht. Er wußte nichts, er konnte nichts aussagen. Er habe Anton Röver allezeit für einen ehrlichen Mann gehalten, es werde ihm auch jetzt schwer, an seiner Rechtschaffenheit zu zweifeln. Wenn es schon ausgeschlossen sein solle, daß die Unterschlagung auf der Post selbst verübt worden sei, so halte er eher noch den Laufburschen für fähig zu einer solchen That. Der sei ja im Zimmer des Herrn Franz zurückgeblieben, als sie beide miteinander sich entfernt hätten, und jedenfalls erkläre sich die ganze Sache am besten durch die Annahme, daß der Mann das Zeitungsblatt in den Umschlag gesteckt habe, um den Verdacht auf Röver abzulenken. Die Verletzung der Siegel habe er dann auf irgendeine Weise zu verbergen gewußt, vielleicht durch Benutzung des Geschäftssiegels selbst, dessen Aufbewahrungsort ihm ja bekannt gewesen sein könne.
Die Zuhörerschaft auf den Galerien brach bei dieser Rede in ein wohlgefälliges Gemurmel aus – das war schön und klug gesprochen zur Vertheidigung des Freundes. Aber der Laufbursche drunten auf der Zeugenbank schaute mit weit geöffneten Augen den jungen Meermann an. Im Anfang war auch gegen ihn ein Verdacht aufgetaucht, allein die kräftige Fürsprache seines Chefs, der Eindruck, den er selbst bei den verschiedenen Verhören auf den Richter machte, hatten ihn vor einer eigentlichen Anklage bewahrt – und nun sollte er auf einmal so schlimm, so ausgesucht schlau und bösartig gehandelt haben!
Da kam ihm Hilfe von einer Seite, von der er sie am wenigsten erwarten konnte – von dem Angeklagten selber. Dieser räumte ein, daß die Unterschlagung am Aufgabeort bewerkstelligt sein müsse, denn das Exemplar der Börsenzeitung gehöre ihm, er habe es an dem verhängnißvollen achten August mit ins Geschäft genommen. Aber daß der Laufbursche der Thäter sei, könne er nun und nimmer glauben. Einer solchen Durchtriebenheit, wie sie ihm von dem Zeugen Meermann zugeschrieben werde, halte er ihn nicht für fähig, um so weniger, als sich der ganze Vorgang in wenigen Minuten hätte abspielen müssen, also eine große Entschlossenheit und Sicherheit in der Ausführung voraussetzen würde. Denn, wie erwiesen sei, habe der Mann die Werthsendung schon etwa zehn Minuten nach Empfang des Auftrages auf der Post abgeliefert. Noch bestimmter freilich müsse er den schimpflichen Verdacht von sich abweisen. Selbst wenn man ihm wirklich die Schurkerei zutrauen wolle, die Zeitung statt der Werthpapiere in den Umschlag gebracht zu haben – wie man ihm die haarsträubende Dummheit zumuthen könne, ein mit seinem Namen gezeichnetes Blatt unterzuschieben, gleichsam seine Visitenkarte beizulegen bei der Ausübung einer verbrecherischen Handlung!
Diese Vertheidigung machte Eindruck auf die Richter. Das uneigennützige Eintreten für den Laufburschen wäre kaum denkbar gewesen, wenn Röver selber der Thäter war; befremdlich blieb auch die Unbesonnenheit, ein mit seinem Namen gezeichnetes Blatt unterzuschieben, und endlich – jeder weitere thatsächliche Anhalt gegen den Angeklagten fehlte. Die verschwundenen dreitausend Mark blieben verschwunden, als hätte die Erde sie verschluckt. In Anton Rövers Wohnung fanden sie sich nicht, er hatte sie auch nirgends hinterlegt, noch weniger verausgabt. Ebensowenig ließ sich etwas von der Abrechnung entdecken, in die sie eingeschlagen gewesen waren, auch nicht das kleinste Stück von ihr, nicht einmal ein Häufchen Asche im Ofen seiner Stube. Man stand vor einem Räthsel, das sich nicht dadurch lösen ließ, daß man auf Grund einer unsicheren Deutung der Indizien den Kassierer oder den Laufburschen für schuldig erklärte. So wurde denn nach langer aufregender Verhandlung Anton Röver freigesprochen „aus Mangel an Beweisen“.
Mit sehr getheilten Ansichten verließen die Zuhörer den Gerichtssaal. Die einen traten für die Unschuld des Angeklagten ein, die anderen – und das war weitaus die Mehrzahl – hielten ihn für den Thäter. Die Unterschiebung der Zeitung, meinten sie, sei zwar unbegreiflich und setze für den Augenblick der That eine völlige Verwirrung des Betrügers voraus, aber gerade solch verrätherische Dummheiten kämen bei den geriebensten Verbrechern vor, und hier sei die Möglichkeit dazu um so eher gegeben, als durch die Dazwischenkunft des jungen Meermann eine sorgfältigere Vorbereitung und Ausführung der Unterschiebung vereitelt worden sei. Man solle sich nur einmal die verdächtigen Züge des Angeklagten betrachten, diese unheimlichen Augen, diese finsteren Brauen; man solle auch nicht vergessen, daß sein Vater schon im Zuchthaus gesessen habe. Früher oder später komme eine solche Familienerbschaft immer wieder zum Durchbruch. Das Ergebniß dieser und ähnlicher Erörterungen, die tagelang das Stadtgespräch bildeten, war, daß der Verdacht auf Anton Röver lasten blieb. „Freigesprochen aus Mangel an Beweisen“ – die Formel gab dem Angeklagten die Freiheit zurück, aber nicht die Ehre.
Als das Urtheil verkündet wurde, hatte Julius Meermann, der eifrig dem Gange der Verhandlungen gefolgt war, erleichtert aufgeathmet. Einen Augenblick schwankte er, ob er den ehemaligen Freund begrüßen und zu seiner Freilassung beglückwünschen solle. Aber einige seiner Bekannten redeten ihn an, verwunderten
[757][758] sich, wie er für die Unschuld des Angeklagten so voreilig habe eintreten können, und ermahnten ihn, einen Verkehr abzubrechen, der auf ihn selbst ein zweifelhaftes Licht werfen könnte. Da drückte sich Julius schell an Röver vorüber und that, als sehe er ihn nicht.
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An der Pforte des Gerichtsgebäudes stand der Freigesprochene; unschlüssig schaute er in das Menschengewühl draußen, als scheue er sich, in die Freiheit zurückzukehren. Was sollte er unter all den Leuten! Ja, wenn seine Unschuld klar erwiesen worden wäre – aber nun! Würde nicht der Schandfleck an ihm haften bleiben, würde nicht seine Stellung vernichtet, er selbst ein Ausgestoßener sein, einsam in der Stadt von Hunderttausenden?
Da legte sich eine Haln auf seinen Arm und eine zitternde Stimme sprach leise seinen Namen.
„Mutter, Du hier?“ Mit krampfhaftem Drucke ergriff er die Hand der alten Frau. „Komm, nach Hause!“
„Ich bin so froh,“ sagte die alte Frau in einem Tone, dessen Zittern ihre Versicherung Lügen strafte.
Anton Röver schritt rasch aus und antwortete nicht. Sie aber, als wolle sie ihr Empfinden übertäuben, plauderte hastig weiter, während sie neben ihm herging. „Die nächsten Tage, denk’ ich, bleibst Du nun einmal bei mir, das habe ich mir lange gewünscht, und ich will Dir auch die Wohnung recht gemüthlich machen. Einen großen Schreibtisch, wie Du ihn immer gern haben wolltest, hab’ ich Dir gekauft, ja, denke! Freilich ist er schon gebraucht, aber noch ganz hübsch und gar nicht theuer. Wie der sich macht vor dem Fenster der Wohnstube – ordentlich vornehm! Und dann hab’ ich an unseren Vetter in Berlin geschrieben, daß er sich nach einer Stelle für Dich umthue, weil ich doch weiß, daß Du nicht gern lange feierst. – Anton,“ schloß sie zaghaft, beunruhigt durch das starre Schweigen des Heimkehrenden, „Du sagst ja gar nichts!“
Langsam öffnete Anton Röver die Lippen. „Ach, Mutter, jetzt ist doch alles einerlei!“
Sie waren vor ihrer Wohnung angelangt, einem schmalbrüstigen schmutzigen Häuschen in einer engen dunklen Straße im Herzen der Stadt. Von allen Seiten, aus den Fenstern und hinter den ärmlichen Gardinen hervor lugten die Köpfe neugieriger Nachbarn. „Heute kommt der alten Rövern ihr Anton zurück. Ist seines Vaters echter Sohn, nur schlauer! Haben ihm nichts anhaben können auf dem Gericht“ – hieß es da und dort.
Die Frau fühlte die bösen mitleidlosen Blicke mehr, als sie sie sah, fühlte sie doppelt, für sich und für den Sohn, und sie stellte sich schützend vor den großen Menschen, als könne sie ihm mit ihrer kleinen gebrechlichen Gestalt Deckung gewähren vor dem Spotte und der Verachtung, die aus allen Ecken auf ihn einzudringen schienen. Umsonst – sie trafen ihr Ziel. Als die Mutter mit bebenden Fingern und ungeschickt vor Eile ihre Thür aufgeschlossen hatte, sank Anton auf den Stuhl vor dem neuerworbenen Schreibtisch und vergrub sein Gesicht in den Händen; es schüttelte seinen Körper wie ein Krampf.
„Warum, warum mir das? Und wenn ein Unglück mich treffen sollte, warum gerade dieses? Mein ehrlicher Name – wer giebt mir meinen ehrlichen Namen wieder?“
Die tapfer behauptete Fassung der Alten stürzte vor dieser Frage zusammen. Sie legte ihren Kopf auf des Heimgekehrten Schulter und brach in hilfloses Schluchzen aus. –
Trübe traurige Tage folgten. Schande ist immer ein bitterer Trank; ist sie unverdient und kommen Armuth und Mangel als Würze hinzu, so wird sie zum lebenzerstörenden Gift. Die beiden aber mußten dies Gift trinken, Tropfen um Tropfen, es ward ihnen keiner geschenkt.
Des Sohnes kleine Ersparnisse waren während seiner Untersuchungshaft aufgezehrt worden. Der Berliner Vetter hatte „leider“ keine Anstellung für einen des Diebstahls verdächtigen Menschen, am Orte selbst fand sich noch weniger ein Unterkommen. Gleichwohl arbeitete Röver dies und das, was sich ihm eben bot; er würde Holz gehackt haben, wenn man es ihm angetragen hätte. In einer harten Jugend hatte er gelernt, daß die Noth keine Rücksicht nimmt auf den Gram, daß der Hunger seinen Wechsel unbarmherzig auch dem Traurigen präsentiert. Also arbeitete er; er machte für einen Hungerlohn vom ersten Tagesstrahl bis spät in die Nacht Abschriften und hielt kleinen Krämern, die von seiner Vergangenheit nichts wußten, die Bücher in Ordnung, freilich immer nur so lange, bis gute Freunde die Leute über den auf ihm ruhenden Verdacht aufklärten, worauf die braven Bürger sobald als möglich den gefährlichen Helfer mit mehr oder weniger Höflichkeit an die Luft setzten. Dieser Kreislauf wiederholte sich mit unabänderlicher Gleichmäßigkeit. Aber Röver ließ sich nicht abschrecken; er biß die Zähne zusammen und aus der einen Stelle fortgewiesen, versuchte er es sofort in einer anderen. Allein was er auf diese Weise verdienen konnte, reichte nicht einmal für die bescheidenste Lebensführung hin. In Erwartung besserer Zeiten versetzten Mutter und Sohn das bißchell Wohlstand, das sie noch besaßen – die Sonntagskleider, die Bilder von der Wand, die überflüssigen Bettstücke. Mit fest zusammengepreßten Lippen brachte Frau Röver ein Stück ums andere ins Leihhaus, und der Ausdruck ihres kummervollen Gesichts wurde dabei immer trostloser und verbitterter. Sie, die früher nie ein hartes Urtheil gefällt hatte, wurde jetzt fast von Haß erfüllt gegen die mitleidlose Selbstgerechtigkeit der Leute. Nur dem Sohne begegnete sie nach wie vor mit der rücksichtsvollsten Zärtlichkeit. Heimlich ging sie alle Wochen ein oder zweimal einen halben Tag zum Waschen oder Scheuern, um durch den bescheidenen Verdienst, den sie so erwarb, seine Last wenigstens einigermaßen zu erleichtern. Weil ihr aber Anton seit er die ersten Groschen verdiente, diese harte Arbeit streng untersagt hatte, redete sie ihm vor, sie müsse frische Luft schöpfen, sie mache einen weiten Spaziergang, und er that, als durchschaue er die fromme Lüge nicht. Konnte er die Mutter doch nicht vor Mangel schützen! Welches Recht hatte er da, ihr zu wehren, daß sie selbst sich schützte, wie sie’s vermochte?
Und eines Tages brachte die alte Frau auch das letzte schwerste Opfer. Leise trat sie hinter seinen Stuhl und murmelte:
„Magst wohl recht gehabt haben, Toni, damals, als Du hinaus wolltest, weit, weit über die See. Warst eben gescheiter als ich alte Person. ’s ist gut von Dir gewesen, daß Du damals meinen Bitten nachgegeben hast, aber besser hättest Du gethan, nicht auf mich zu hören. Und ich wollte Dir nur sagen: wenn Du jetzt noch Dein Heil anderswo versuchen möchtest, überm Wasser, in Amerika oder wo Du willst, da würd’ ich gern mit Dir gehen. Ich, siehst Du, ich geb’ nichts mehr um unsere Stadt. Dummes Zeug überhaupt, gerad’ an ein Fleckchen Erde sein Herz zu hängen! Und ich möcht’ wohl auf meine alten Tage noch ein Stück Welt sehen, ja, das möchte ich. Hab’ also keine Sorg’ um mich, Toni – ich geh’ überallhin mit Dir, ohne Herzweh!“
Er wandte sich langsam zu ihr um und sah sie müde an mit den uberwachten überarbeiteten Augen, um welche dunkle Ringe lagen.
„Auswandern? Wohin? Und mit was? Ja hätt’ ich auch die Mittel, woher nähme ich den Muth? Laß sein, Mutter!“
„Aber,“ sagte die Frau und rang die Hände, „so kann’s doch nimmer weiter gehen! Wie soll es enden?“
Die Feder des Sohnes zog schon wieder Buchstaben um Buchstaben. „Zuletzt ganz gewiß fünf Schuh unter der Erde,“ antwortete er bitter.
Das Ziel wußte die Frau auch, nur meinte sie, der Weg dahin sei für ihn noch weit. „Dir wenigstens hätte ich so gern ein wenig Glück gegönnt!“
Anton erwiderte nichts mehr. Glück? Ihm? Was hatte er mit Glück zu schaffen, je zu schaffen gehabt! Ja, wenn er den Menschen, der ihn und seine Mutter in dies Elend gebracht, hätte auffinden können, wenn das Schicksal ihn in seine Gewalt gegeben hätte, nur eine Stunde lang! Er hatte einen Verdacht, langsam war derselbe groß geworden – wenn er Beweise dafür fände! – Narr, der er war! Diese Hoffnung würde sich so wenig erfüllen wie all die anderen Wünsche, die er gehegt hatte und die ihm zeitlebens versagt geblieben waren.
Tiefer beugte er sich über den Schreibbogen und ließ die Feder noch hastiger über die weiße Fläche jagen, während die Mutter still in die Küche ging, um sich auszuweinen.
Es war wenige Tage vor Weihnachten, als Frau Meermann noch stolzer denn gewöhnlich zu Markte zog. Ihr Julius hatte eine neue Sprosse auf der Leiter kaufmännischer Ehren erstiegen. Mit dem Jahreswechsel sollte er Vorstand der Konfektionsabtheilung in seines Prinzipals Geschäft werden, und dieses freudige Ereigniß gedachte die Mutter durch einen besonders reichen [759] Weihnachtsschmaus zu feiern, denn „Jedem das Seine!“ pflegte sie zu sagen. „Wo viel Verdienst, da ist billig viel Ehr’!“
Bald strotzte denn auch ihr Marktkorb von den eingekauften Herrlichkeiten und ihre Miene drückte völlige Befriedigung aus, während sie durch die langen Reihen der Feilhaltenden heimwärts wanderte, mit Ernst erwägend, welcher Fleischsorte sie für den Festbraten den Vorzug geben solle.
Da rief zwischen den Geflügelständen ein Marktweib sie an: ,Nicht eine schöne Gans gefällig, Madame Meermann, eine schöne Weihnachtsgans? Habe was Extrafeines. Ganz wie für Sie ausgesucht.“
„Wird was Rechtes sein!“ brummte Frau Meermann, trat aber doch näher, denn sie war Kennerin und sagte einer Gans jede Tugend und jeden Fehler auf den Kopf zu, sobald sie nur einen Schimmer von den Füßen oder vom Schnabel zu Gesicht bekam.
Die Händlerin erschöpfte sich in Betheuerungen. Wenn’s nichts Rechtes wäre, würde sie die Madame Meermann gewiß nicht dazu rufen! Das wisse der ganze Markt, daß sie eigen sei wie keine zweite. Aber wenn man gute Ware habe, mache es einem just Freude, sie an solche zu verkaufen, die auch ’was davon verständen.
Frau Meermann blieb ungerührt. „Recht klein für uns. Was wollen Sie denn dafür haben?“ Dabei wendete sie die Gans mit einer unnachahmlichen Gebärde der Verachtung nach allen Seiten, denn sie sah, daß sie wirklich gut war, und was sie kaufen wollte, lobte sie nie.
Die Händlerin fand das in der Ordnung und schlug ein hübsches Stück am Preise vor, um der anderen die Freude zu lassen, herunterzufeilschen. Nachdem sich beide dann eine Weile in Ausrufungen und Versicherungen überboten hatten, kam der Handel zu gegenseitiger Zufriedenheit zustande. Nur wußte Frau Meermann ihren Kauf nicht fortzuschaffen, da sie schon schwer beladen war. Während sie über diese Schwierigkeit mit der Hökerin rathschlagte, trat ein altes zitteriges Mütterchen zu ihr heran mit einem mageren Marktkörblein, in dem ein Stückchen Wurst und eine Rübe einander traurige Gesellschaft leisteten.
„Wenn Sie mir die Gans zu tragen geben wollen, liebe Frau, ich thu’s billiger als ein Dienstmann.“ Es war Anton Rövers Mutter.
Frau Meermann besah die Frau von oben bis unten. „Zwei Groschen will ich Ihnen geben, aber nicht einen Pfennig mehr.“
„Ist recht,“ sagte das Mütterchen und nahm die Gans.
Weil sie aber doch schon einmal bezahlen mußte, hing Frau Meermantt ihr auch den Marktkorb an den Arm und gab ihr das Netz in die Hand. „So wird’s wohl gehen.“
„Ist recht,“ wiederholte Frau Röver geduldig, „ich hab’ schon schwerer getragen.“ Und so wanderten sie nebeneinander hin, die eine groß und stattlich, hochaufgerichtet im Bewußtsein ihres Glücks, die andere gebeugt vom Alter, gebeugt vom Leid, keuchend unter der schweren Last, die sie trug.
„’s ist meinem Sohne zu Ehren daß die Gans da gebraten wird,“ sagte Frau Meermann, mittheilsam in ihrer Freude. „Er ist Kaufmann, mein Julius, bei Wilson und Kompagnie auf dem Markt, wenn Sie das Geschäft kennen. Von Neujahr ab will sein Prinzipal ihm dreitausend Mark Gehalt zahlen und einen Gewinnantheil bekommt er obenein und ist doch erst sechsundzwanzig Jahre alt! Ich hab’ eine rechte Freude an meinem Sohn das ist wahr, drum muß ich auch drauf aus sein, ihm Freude zu machen.“
Frau Röver nickte und seufzte. „Ja, wenn man kann.“
„Sie haben wohl keine Kinder?“
„Doch – einen lieben guten Sohn.“
„Er sorgt aber nicht für Sie, Ihr Sohn – wie?“
„Er hat kein Glück. Was kann man dabei thun!“
„Meine liebe Frau,“ entgegnete Frau Meermann streng, „dabei kann man sehr viel thun. Nehmen Sie mir’s nicht übel, aber Sie begehen ein Unrecht, wenn Sie Ihren Sohn in solcher Ansicht bestärken. Ich hab’ all mein Lebtag gefunden, daß ‚kein Glück haben‘ meist nur eine Beschönigung ist für Schlaffheit, Untauglichkeit oder bösen Willen. Jeder ist seines Glückes Schmied, sagt das Sprichwort, und wie man’s treibt, so geht’s.“
„Ich wollt’, es wär’, wie Sie sagen,“ antwortete Frau Röver gelassen. „Uns könnt’s gewiß recht sein, denn wenn jedem würde, was ihm gehört, dann müßt’ für meinen Anton noch einmal ein Extraglück gebacken werden. Hab’ nur allweil noch nichts davon verspüren können.“
Inzwischen waren die beiden am Hause der Frau Meermann angekommen. Die Achseln zuckend über die mütterliche Verblendung der Alten, zahlte sie die bedungenen zwei Groschen und schleppte ihre Schätze die Treppe hinauf. Oben stand Grete.
„Sind Rövers denn so heruntergekommen, daß die Frau jetzt Packträgerdienste thut?“ fragte sie.
„War das dem Röver seine Mutter? Schau einmal! Da hab’ ich ja, ohne es zu wissen, den Nagel auf den Kopf getroffen. Na, die wird sich hoffentlich meine Worte hinter die Ohren schreiben!“
Zur selben Zeit wanderte Röver, neue Arbeit unterm Arm, von dem Rechtsanwalt heim, der ihn beschäftigte; er wählte die menschenleersten Gassen. Sein Rock war abgeschabt, sein Hut von Wind und Regen entfärbt. Starr sah er im Gehen vor sich nieder – die Gesichter der Begegnenden waren ihm zuwider, da er in jedem Mißachtung zu lesen glaubte, in seiner Verbitterung dünkte ihm eine Tarnkappe der wünschenswertheste Besitz. Und hinter ihm watschelte Waldmann, den vormals keck in die Luft gekringelten Schwanz wehmüthig eingezogen, betrübt über die Trauer seines Herrn und die täglich knapper werdenden Mahlzeiten.
Vom anderen Ende der Straße her, dem ehemaligen Freunde gerade entgegen, kam Julius Meermann, Kopf und Hut im Nacken mit dem Spazierstöckchen fuchtelnd, eine Blume im Knopfloch; und auch er war zerstreut, so daß die beiden plötzlich aufeinanderprallten und zum ersten Male seit ihrer Begegnung im Gerichtssaal sich wieder Aug’ in Auge gegenüberstanden. In tödlicher Verlegenheit starrte Julius den anderen an – er suchte vergebens nach Worten. Endlich faßte er sich.
„Guten Morgen, Röver. Freue mich außerordentlich, daß ich endlich einmal wieder das Vergnügen habe, Sie zu sehen.“
Röver nahm die Hand nicht. „Ich wohne noch in derselben Wohnung wie früher,“ sagte er finster.
„Freilich, freilich! Ich hätte Sie aufsuchen sollen,“ gab Julius erröthend zu. „Aber die vielen Geschäfte! Auf Ehre, ich habe nicht aufgehört, den lebhaftesten Antheil an Ihrem Schicksal zu nehmen. Wie ist’s Ihnen seither ergangen?“
„Schlecht.“
„Schlecht? Wirklich? Das thut mir leid. Wenn ich Ihnen vielleicht mit irgend etwas aushelfen kann –“ und Julius griff eilig in die Tasche.
Aber Röver legte seine Hand schwer wie Eisen auf Meermanns Arm und sah ihm mit flammendem Blick ins Gesicht. Der Verdacht, der in den langen öden Stunden seiner Untersuchungshaft allmählich in ihm aufgedämmert war, der seitdem mit unabweisbarer Gewalt immer wieder sich ihm aufgedrängt hatte, brach plötzlich mit elementarer Macht hervor.
„Behalten Sie Ihr Geld!“ rief er wild. „Ich will Ihr Geld nicht! – Meinen ehrlichen Namen – geben Sie mir meinen ehrlichen Namen wieder!“
„Ich –“ das Wort erstarb Julius auf den Lippen, erbleichend fuhr er zurück. Wäre Röver nicht davongestürmt wie ein Rasender, er würde im verstörten Gesicht seines Gegners die Bestätigung all seiner Vermuthungen haben lesen können. Aber er sah nicht hinter sich.
Als er die Straße hinuntergerannt war und eben langsamer in eine belebtere einbog, legte sich eine Hand auf seinen Arm.
„Herr Röver, auf ein Wort! Wollen Sie ein Glas mit mir trinken?“
Röver blickte auf und fuhr zusammen. Der Sprecher war der Kommissar Lenz, jener Geheimpolizist, der an dem verhängnißvollen Tage seine Verhaftung geleitet hatte. „Was wollen Sie von mir?“ fragte er unsicher.
„Ich habe mit Ihnen zu reden.“
„So muß ich wohl hören,“ erwiderte Anton resigniert. Kein Zweifel, dies Zusammentreffen bedeutete ein neues Unglück – aber er war schon zu gebrochen, um noch Furcht zu empfinden oder an Auflehnung zu denken.
„Wenn’s Ihnen beliebt,“ sagte der Polizeibeamte und deutete auf eine Gastwirthschaft in der Nähe. „Ich habe noch kein Frühstück eingenommen, vielleicht sind Sie in gleichem Falle, und wenn’s Ihnen nichts verschlägt, könnten wir das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.“
„Ich pflege um diese Zeit nicht zu frühstücken, und meine Zeit ist gemessen.“
Der Kommissar schob den Zögernden ohne Umstände über die Schwelle. „Machen Sie keine Schwierigkeiten und kommen Sie mit! Sie werden finden, daß mein Vorschlag die Zeit aufwiegt, die Sie dabei zusetzen. – Kellner! Zwei Beefsteaks
[760][761] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [762] und zwei Glas Bier! – Setzen Sie sich – so! Eine Cigarre gefällig? Nicht? Wie Sie wollen! Und nun zu unserer Angelegenheit! Sehen Sie, ich pflege, theils von Berufswegen, theils aus Neigung, alle diejenigen im Auge zu behalten, mit denen amtlich in Berührung zu kommen ich Gelegenheit hatte.“
Röver zuckte abermals zusammen.
„Ich habe auch Sie nicht aus den Augen verloren und – auch einen anderen nicht ... aber da ist das Beefsteak! Greifen Sie zu, es ist ganz passabel!“
„Wenn Sie zur Sache kommen wollten ...“
„Ich bin mitten drin. Ich habe Sie also beobachtet, habe gesehen, daß es Ihnen miserabel geht, daß Sie aber arbeiten können und wollen, daß Sie ausdauernd, genügsam, nüchtern sind und selbst durch Außergewöhnliches nicht aus Ihrer Bahn geworfen werden. Das ist viel, ist die eine Hälfte von den Eigenschaften, welche zu dem Beruf, den ich Ihnen vorschlagen möchte, erforderlich sind; die anderen können erworben werden, und Sie mit Ihrer Ausdauer werden sie erwerben. Also kurz und gut. ich biete Ihnen eine Anstellung bei der Polizei unter meiner besonderen Leitung. Wollen Sie sie annehmen?“
Röver öffnete die Augen weit, und ein leises Roth stieg in seine Wangen. Er theilte vollauf die verbreitete Abneigung gegen einen derartigen Beruf. „Nein!“ sagte er mit Ueberzeugung.
„Schön,“ erwiderte der Polizist, „das habe ich erwartet. Allein deshalb brauchen Sie Ihr Frühstück nicht kalt werden zu lassen. – Sie haben vermuthlich eine kaufmännische Stellung in Aussicht?“
„Das freilich nicht –“
„Oder hoffen doch, über kurz oder lang eine solche zu erhalten?“
„Niemals, niemals wieder!“
„Wollen Sie dann bis an Ihr Lebensende Abschriften fertigen, den Bogen zu fünf Pfennig?“
Röver hatte keine Antwort auf diese Frage. Er stemmte die Faust auf den Tisch und sah starr vor sich nieder. Waldmann jedoch, dem der Duft gebratenen Fleisches gar verlockend in die Nase stieg, begann leise winselnd an seines Herrn Knie zu kratzen und wollte sich nicht zufrieden geben. Da schnitt Anton mit wehmüthigem Lächeln die erste Schnitte von dem Beefsteak ab und gab sie ihm.
„Verzeihen Sie, Herr Kommissar! Er hat lange kein Fleisch zwischen den Zähnen gehabt, der arme Schelm. Sie haben es selbst gesagt, daß es mir miserabel geht. Es ist wohl eine Narrheit, sich in meiner Lage einen Hund zu halten. Wenn ich’s über mich vermöchte – ich hätte ihn längst abgeschafft.“
„Thun Sie sich keinen Zwang an,“ sagte der Beamte freundlich, schob die Reste seiner eigenen Mahlzeit auf dem Teller zusammen und setzte sie dem Hunde vor. „Der hübsche Kerl muß auch sein Recht haben. Wenn Sie einer der Unseren sein wollten – weder Ihnen noch dem Waldmann da würde in Zukunft ein guter Bissen fehlen. Wir bezahlen unsere Leute ausgiebig nach dem Grundsatz: Hungrige Katze fängt schlecht. Warum wollen Sie eigentlich nicht? Aus Stolz? Ist es eine Schande, die menschliche Gesellschaft von Spitzbuben und Halunken zu befreien? Oder meinen Sie, daß es entehrender sei, Uebelthäter ausfindig zu machen, als sie abzuurtheilen, wie es die Richter, zu bewachen, wie es die Gefängnißbeamten thun, und das sind doch alles höchst ehrenwerthe und angesehene Leute?“
„Ich bin nicht stolz,“ sagte Röver leise, „ich würde jede Stellung annehmen – nur ... ich mag keinen so unglücklich machen, wie ich’s geworden bin.“
„Hm, das läßt sich hören. Die Justiz ist nicht allwissend; ungerechte Urtheile kommen vor, und manchmal läßt sich, wie in Ihrem Falle, eine Strafsache uberhaupt zu keinem reinen Austrag bringen. Aber das liegt doch an der Unvollkommenheit menschlicher Einsicht. Wenn man alles genau erforschen könnte, dann wäre ein Ausgang, wie ihn die Anklage gegen Sie genommen hat, unmöglich. Doch auch dieser steht ja nicht unabänderlich fest. Gericht und Publikum lassen sich gern eines Besseren überführen. Gerade wenn Sie in unseren Beruf eintreten, werden Sie reichlich Mittel und Gelegenheit finden, Ihre eigene Sache zu revidieren, und, wer weiß, ob nicht mit günstigem Erfolg.“
„Sie meinen –?“ Anton horchte hoch auf. Zum ersten Male wieder stieg die Hoffnung groß und glänzend vor ihm auf. „Das – das könnte sein – Sie halten einen günstigen Erfolg für möglich? Also glauben Sie, Sie wenigstens nicht an meine Schuld? Täuschen Sie mich nicht, Herr Kommissar ... Sie würden so gewiß nicht sprechen, wenn Sie nicht irgend eine Vermuthung hegten, einen Verdacht gegen einen anderen – dieser andere – aus Barmherzigkeit – nennen Sie mir seinen Namen!“
„Mein junger Freund, gemach! Ich habe eine Spur, das will ich Ihnen nicht verhehlen, und ich verfolge sie, aber ich zeige meine Karten nicht, am wenigsten einem Laien. Nur soviel kann ich Ihnen sagen: nach meiner Kenntniß von den Gepflogenheiten der Verbrecher, nach meinen früheren und heutigen Beobachtungen halte ich persönlich es für ausgeschlossen, daß wir in Ihnen einen Betrüger zu sehen haben ... Jubeln Sie nicht zu früh – meine persönliche Ueberzeugung nützt Ihnen leider gar nichts!“
„Dennoch danke ich Ihnen, danke Ihnen mehr, als ich auszudrücken vermag,“ sprach Röver, und seine düsteren Augen glänzten. Wie eine Vision zogen vor seinem Blicke die Bilder einer behaglichen Existenz vorüber, wie er sie künftig seiner alten Mutter verschaffen konnte, wenn er das Anerbieten des Mannes annahm – dazu die Gewißheit, täglich mit einem Menschen verkehren zu dürfen, der ihn nicht für einen Dieb hielt; die Hoffnung, durch die vereinten Nachforschungen die Wahrheit ans Licht zu bringen, seinen unbescholtenen Namen zurückzugewinnen . . . Er athmete tief auf. „Sie glauben an mich, Herr Kommissar, Sie bieten mir die Aussicht auf eine bessere Zukunft – nun wohl, wenn Sie’s mit mir versuchen wollen – ich bin der Ihre!“
Ein herzlicher Händedruck besiegelte den Bund. –
Als Frau Röver keuchend von ihrem Packträgerdienst heimkehrte, sah sie verwundert das heitere Gesicht ihres Sohnes. „Koch’ uns heute etwas Gutes, Mutter, die Zeit des Hungerns ist vorbei!“ rief er ihr entgegen.
„Gott sei Dank – Du bast eine Stelle gefunden?“
„Ja.“
„Bei einem Kaufmanne?“
„Bei der Polizei.“
Die alte Frau fuhr merklich zurück.
„Du wirst satt zu essen haben,“ sagte Anton beruhigend, „und ich thue nichts Unrechtes. Warum willst Du Dich also nicht freuen?“
So trat Anton denn sein neues Amt an und lebte seine Tage hin in einer Art nicht unangenehmer Betäubung. Er kleidete sich anständig, litt keinen Mangel, sah die Mutter halbwegs und Waldmann völlig zufrieden und gab sich Mühe, weder voraus noch zurück zu denken. Seinen Beruf füllte er aus, wenn er sich auch nicht besonders auszeichnete. Denn die Schlauheit des Fallenstellers, der Spürsinn des Jägers, die Freude an der Ueberlistung blieben ihm immer fremd. Aber das launenhafte Glück, das häufig dem Anfänger lächelt, während es den Meister hartnäckig flieht, half ihm einen und den anderen guten Fang thun. Auch benutzte sein Chef, der ihm herzlich wohl wollte, seine außergewöhnlichen Sprachkenntnisse und verwendete ihn, was seinem Schützling mehr zusagte, zeitweilig im Bureaudienst.
Durch dieses verhältnißmäßig sorglose Leben körperlich gekräftigt, durch das Vertrauen, das wenigstens ein Mensch, und ein Menschenkenner obendrein, in seinen Charakter setzte, allmählich wieder in seiner eigenen Meinung gehoben, begann Röver mit freierem Gemüth die Umstände zu überdenken, aus denen sein Unglück entsprüngen war, planmäßig den Verdacht zu prüfen, der erst ohne Ueberlegung und ohne entscheidenden Grund in seinem Innern aufgestiegen war. Und je länger und ruhiger er erwog und prüfte, um so mehr verstärkte sich seine Vermuthung. Freilich, räthselhaft blieb noch immer für ihn, was einen jungen Menschen in so glücklichen geregelten Lebensumständen wie Julius Meermann getrieben haben konnte, die Hand nach fremdem Eigenthum auszustrecken. Geregelt? Je nun, hatte Meermann nicht eine höchst unbegreifliche Vorliebe für den verkommenen und jetzt spurlos verschwundenen Fritz Habermann an den Tag gelegt? Und wer war ihm denn neulich in später Nacht entgegengetaumelt, als er ein verrufenes Gäßchen abpatrouillierte? War der todblasse Gesell mit den tiefliegenden starren Augen, der beschmutzten Kleidung wirklich der hübsche geschniegelte Konfektionschef von Wilson und Kompagnie, der Löwe unter seinen Kollegen? Es galt also, das Treiben des leichtsinnigen Menschen zu überwachen. Und nun verfolgte Röver den ehemaligen Freund beinahe Nacht für Nacht auf seinen Schleichwegen. Ja, die dunklen häßlichen Gäßchen im Innern der Stadt waren wohl ein Sieb, in dem dreitausend Mark spurlos versickern konnten! Nur eines verwirrte ihn immer noch: woher kam einem Kaufmann eine solch taschenspielerartige Fertigkeit der Hände, daß ihm der kurze [763] Augenblick des Gesprächs am Telephon für den unglückseligen Tausch genügen konnte? Da sah er Meermann einst in einer Kneipe mit staunenswerther Meisterschaft Kartenkunststücke zum besten geben. Nun schwand sein letzter Zweifel. Der Bruder Gretchens, die ihn um dieser selben That willen so grausam gekränkt hatte – er war der Dieb, war jetzt seiner gerechten Rache verfallen!
Zitternd vor Aufregung suchte Röver seinen Chef auf.
„Herr Kommissar! Den Urheber der Unterschlagung – ich – ich weiß ihn.“
„Das wird uns wenig nützen. Den Mann hatte ich längst, aber die Beweise?“
Ernüchtert senkte Röver den Kopf. „Wir werden sie niemals finden!“
„Im Gegentheil, er selbst wird sie uns entgegenbringen. Die Dinge gehen gut. Nur kaltes Blut, offene Augen und – Geduld!“
So faßte sich Anton denn in Geduld; er bändigte seinen Haß gegen den Elenden, die wilde Empörung über sein Schicksal und lebte sein altes Leben weiter.
Manchmal, wenn er heimkehrte, fragte die Mutter: „Nichts Neues, Toni?“
„Immer das Alte,“ antwortete er dann und bemühte sich, es möglichst unbefangen zu sagen. „Ist auch am besten so! Wir können’s wohl aushalten, Mutter.“
Dazu schüttelte die Alte den Kopf und seufzte. „Freilich, man sollte sich daran gewöhnen.“
Aber sie gewöhnte sich nicht, weder an den ihr unheimlichen Beruf des Sohnes noch an die Mißachtung, die stündlich aus den Blicken der Nachbarinnen zu ihr sprach; am wenigsten an die klaglose, stumme, aber unüberwindliche Trauer, die über das ganze Wesen ihres Sohnes ausgebreitet war. (Schluß folgt.)
Die Weimarischen Festtage.
„Gott grüß Euch, Brüder, sämmtliche Oner und Aner!
Ich bin Weltbewohner – bin Weimaraner –
Wohin willst Du Dich wenden?
Nach Weimar-Jena, der großen Stadt,
Die an beiden Enden viel Gutes hat –“
Also sang der Altmeister Goethe vor mehr als drei Menschenaltern, aber daß auch heut’ noch die Ilmstadt als Mittelpunkt geistigen Gebens ihren alten klassischen Nimbus bewahrt hat, dafür gab die Jubelfeier der Goldenen Hochzeit des großherzoglichen Fürstenpaars Carl Alexander und Sophie vollwichtiges Zeugniß. Ein Jahrhundert ist im Kulturleben der Menschheit keine große Spanne, trotzdem ist dies Festhalten an alten Ueberlieferungen in unserer raschlebigen Zeit ein bedeutsames Zeichen. Und neben die unvergänglichen Spuren, welche die klassische Epoche hinterlassen hat, haben sich diesmal Kundgebungen deutscher Treue und Liebe gestellt, welche unmittelbar aus dem Herzen des Volks ihre Blüthen trieben. Goldene Hochzeiten sind im Laufe der Jahrhunderte im Hause Wettin mehrfach gefeiert worden, aber wohl keine mit so reichem Glanze, mit so überströmender Herzlichkeit und Wärme, gleichsam wie ein Familienfest des ganzen Volks, und wenn ein Gedicht der Weimarer Zeitung vom 8. Oktober begann:
„Heil Euch – ein halb Jahrhundert schwand,
Seit Ihr den Lebensbund geschlossen.
Geläut hinwogt durch Stadt und Land,
Ein Jubelstrom hat sich ergossen.
Das sind erhabene Weihestunden,
Wenn Goldner Hochzeit Myrthe blüht.
Was Euch beglückt, wird mitempfunden
Zugleich im tiefsten Volksgemüth“ –
so waren das keine Phrasen, sondern der ungeschwächte Ausdruck der Wahrheit.
Den Beginn der festlichen Zeit machte am 1. Oktober die Aufführung des „Bernhard von Weimar“ von Wildenbruch. Ich glaube nicht, daß der Berliner Dramatiker dies Stück für diese Gelegenheit neu geschrieben hat, sonst wäre die Wahl des Stoffs eine sonderbare; denn was hat ein Held des Dreißigjährigen Kriegs mit der Goldenen Hochzeit des Fürstenpaares in unserem Jahrhundert zu thun? Aber wenn es die Absicht war, überhaupt die Dynastie durch einen Helden des Hauses zu feiern, so war die vorhandene, aber hier noch unbekannte Neuheit ganz willkommen. Bekanntlich haben sich schon mehrere Dramatiker an diesem Stoffe versucht, aber keiner hat dessen Klippen ganz überwinden können. Nur widerwillig folgen die Sympathien einem deutschen Fürsten, der bewußt oder unbewußt mit dem Erbfeind paktiert.
[764] Auch Wildenbruchs Stück ist bei allen Vorzügen nervenerregender Scenen und geschickter Steigerung nicht viel glücklicher gewesen. Man fand, daß die schwankende Charakterzeichnung wenig geeignet sei, für den Helden zu erwärmen, aber man zollte der in jeder Beziehung vortrefflichen Aufführung alle Anerkennung.
Nach dieser Eröffnungsfeier folgte in den nächsten Tagen das Eintreffen der zahlreichen hohen Gäste und Fürstlichkeiten. Weimar als klassischer Wallfahrtsort ist an den dauernden Fremdenstrom gewöhnt, aber einen so glänzenden Kranz von gekrönten Häuptern hat es wohl noch nie beherbergt. So ziemlich alle deutschen und Deutschland befreundeten Staaten waren vertreten, und die weitverzweigten Linien des Hauses Wettin waren selten so vollzählig versammelt wie diesmal. Die anmuthige Ilmstadt hatte mit Fahnen, Masten, Laubguirlanden und Blumengewinden ihr prächtigstes Gewand angelegt und entfaltete unter Mitwirkung der nahen Städte Erfurt, Apolda, Jena etc. ein wahrhaft großstädtisches Leben.
Das eigentliche Fest begann am Mittwoch den 5. Oktober mit dem Empfang der 30 bis 40 Abordnungen, für welche drei volle Tage angesetzt waren. Es würde des zehnfachen Raumes und eines besonderen Herolds bedürfen, um allen diesen interessanten Gruppen, welche Spenden und Adressen aller Art überbrachten, gerecht zu werden. Möge es vergönnt sein, hier nur der glänzendsten und der menschlich rührendsten zu gedenken!
In erster Linie stand die Abordnung des Landtags, welche den Betrag von 400 000 Mark – Ersparnisse an den im Laufe der Zeit von den Kammern bewilligten Summen – als Geschenk zu freier Verwendung überbrachte. Daran schloß sich am selben Tage zunächst die Ueberreichnng einer Landessammlung in der Höhe von 140 000 Mark zum Zwecke eines Stiftungsfonds für Gemeindepflege. Am zweiten Tage folgte eine weitere Spende von 27 300 Mark seitens der Goethe-Gesellschaft und der Freunde Weimars als Beitrag zum Bau eines neuen Goethe- und Schiller-Archivs. Eine vierte Gabe von 27 000 Gulden stammt von einem niederländischen Landeskomitee als Ergebniß der Beisteuer von 30 000 Holländern.
Weitaus die rührendste Deputation aber war die Gruppe von Ehejubilaren aus dem Großherzogthum, die unter Führung der Witwe des Staatsministers Stichling erschien – etwa zehn bis zwölf Personen, greise Ehepaare, Witwen und Witwer vom Lande, die ihre Glückwünsche überbrachten. Ich sah diese greisen Ebenbilder von Baucis und Philemon freudestrahlend an mir vorüberziehen; die Frauen waren mit goldenem Kranze, die Greise mit goldenem Sträußlein entlassen worden, und zwar zum Festmahl, das ihnen im Auftrag des Fürstenpaares im Gasthaus zum „Erbprinzen“ gegeben wurde.
Reichlich drei Tage hatten, wie bemerkt, die Abordnungen beansprucht. An den Abenden war selbst das Theater ausgefallen, nur am Vorabend des eigentlichen Hochzeitstages, am Freitag den 7. Oktober, hatte der Hof eine Serenade sämmtlicher neun Musikvereine, Liedertafeln etc. von Weimar unter der Leitung des Kapellmeisters Lassen angenommen. Der Haupttag selbst wurde mit einem Festkonzert nebst Festrede des Oberbürgermeisters auf dem Rathhaus eingeleitet. Die kirchliche Feier fand in der Hofkapelle statt. Unsere Leser werden keine Einzelbeschreibung des Zuges erwarten, der sich unter Vorantritt des Großen Dienstes durch die lange Flucht der Dichterzimmer bewegte, doch war das eindrucksvolle Gesammtbild dieses Gefolges von Fürsten, Herzögen, Königen bis zum Kaiser in dieser Umgebung von eigenartigem Zauber. Dem Jubelpaar schritten seine Kinder nebst sämmtlichen Enkeln voran. Die Großherzogin trug ein Kleid aus schwerem Goldbrokat, der Kaiser erschien in der Galauniform der Garde du Corps. Die Schloßkapelle selbst bot den Anblick eines Hains. Der Altar war mit hohen Blattpflanzen umgeben, selbst die Knieschemel für das Hochzeitspaar waren mit rothen und gelben Rosen umwunden. Der kirchlichen Feier folgte eine feierliche Defiliercour, die Hoftafel mit ihren offiziellen Trinksprüchen etc. In der Stadt aber, die sich mit einbrechender Dunkelheit zur Beleuchtung rüstete, wuchs allmählich die Menschenmenge fast zu bedrohlichen Mauern. Doch glücklicherweise entbehrte sie aller großstädtischen Radauelemente – es ging alles ohne Störung in musterhafter Ordnung, so daß die Festvorstellung im Hoftheater pünktlich um acht Uhr beginnen konnte.
Die Grundzüge wie die besondere Vertheilung der dramatischen Aufgaben für diesen Abend dürfen als das eigenste, sorgfältig vorbereitete Werk des hohen Jubelpaares betrachtet werden. Außer dem Prolog waren nach vorhandenen Bildern acht Scenen aus der Geschichte der Häuser Wettin und Oranien erwählt – lebende Bilder, deren dichterische Einleitung mehreren Verfassern zugetheilt worden war. Der Gesammteindruck dieser Bilder war ein überwältigender, zumal der Musik eine außerordentliche ausgiebige Mitwirkung eingeräumt war.
Die festliche Beleuchtung der Stadt erstreckte sich allerdings mehr auf die ausgedehnte via triumphalis des historischen Festzuges, der am letzten Tage die eigentliche Krone der Festwoche bildete. – Um die Großartigkeit, Vielseitigkeit und Vollendung desselben genügend zu würdigen, bedürfte es eines besonderen Berichtes. Nach monatelangen Vorbereitungen ward durch das Zusammenwirken der Kunstschule mit den Komitees aller Städte des Großherzogthums etwas erreicht, was an Farbenpracht, Gestaltenfülle und Einheitlichkeit den Vergleich mit dem Dresdener Wettinerfest nicht zu scheuen brauchte, ja in mancher Hinsicht jenes übertraf, namentlich in glücklicher Mischung des ernsten historischen Stils mit volksthümlichem Humor und ausgelassenen Genrescenen.
Der Zug, dessen Länge drei Kilometer betrug – waren es doch 60 Wagen, über 300 Pferde und 2000 bis 3000 Personen – wurde eingeleitet von 24 blasenden Postillonen und zerfiel in sechs große Hauptgruppen, die alle selbständig von besonderen Ausschüssen ausgestaltet waren: Die Wartburgzeit – die Reformation – der Dreißigjährige Krieg – die Blüthezeit der Niederlande – Carl Augusts Epoche – die Neuzeit.
Unser nebenstehendes Bild giebt eine Ansicht des Denkmals von Schiller und Goethe am Abend der Beleuchtung, das größere auf S. 749[WS 1] bringt eine Ansicht des Städtewagens, des letzten im Festzug. Voran schreitet eine Gruppe Jungfrauen mit Palmenzweigen, auf dem Wagen selbst unter einer stattlichen Feste befinden sich sechzehn Jungfrauen als Vertreterinnen von sechzehn Städten, die Bürgermeister derselben umgeben in Person den Wagen. Von ganz eigenartigem Reize waren ferner der Blumenwagen mit einer sich schaukelnden Elfe, der Glockenwagen Apoldas mit mächtigem dröhnenden Geläut, der Wartburgwagen – weiter der Wagen der klassischen Epoche, begleitet von einer Schwadron Pappenheimer und den sämmtlichen Hauptgestalten Goethes und Schillers. Der Letztere war übrigens persönlich mehrfach vertreten. Wäre ein Ausländer Zeuge gewesen, so würde er in seinem Bericht vielleicht sagen: „Die Deutschen haben zwei Nationalheilige, die sie bei jeder Gelegenheit wiederbringen, der eine ist Friedrich Schiller, der andere – Gambrinus,“ denn auch dieser, auf einem hohen Faß reitend, war mehrfach vertreten. Er würde aber auch weiter sagen können: „Im deutschen Volke ist seit zwanzig Jahren die Freude am eigenen Sein, an seiner eigenen Geschichte in sinnvoller, reicher Darstellung gewachsen. Die Nation geht einer neuen Entwicklung des Volkslebens entgegen!“ J.
[765]
Von Bernhard v. Graberg. Mit Zeichnungen von O. Gerlach.
Die großen Erfindungen und Entdeckungen unseres Jahrhunderts haben selbstverständlich auch auf die Führung der Kriege einen bedeutenden Einfluß ausüben müssen. Dampf und Elektricität haben allen neueren Feldzügen ein ganz anderes Gepräge verliehen: die Schnelligkeit der Kriegsbereitschaft und die Truppenansammlung an den feindlichen Grenzen, die großartigen Nachschübe an Proviant, Munition und Ersatz waren allein das Werk der Eisenbahnen. Sie ermöglichten es, mit großen Heeren eine schnelle Entscheidung herbeizuführen, – sie verkürzten also naturgemäß auch die Dauer der Kriege. Die Anstrengungen der Großstaaten, alle waffenfähigen Männer zu Soldaten zu machen, wären ein Hirngespinst, wenn die vielen Schienenwege nicht auch gestatten würden, die Heeresmassen durch Zufuhren aus dem eigenen Lande zu ernähren, sie auszurüsten und zu ergänzen. Die Grenze für die Stärke der fechtenden Heere lag zu allen Zeiten in der Möglichkeit ihrer Ernährung und Erhaltung; auch Friedrich der Große und Napoleon durften die Truppenmassen nicht über die durch den voraussichtlichen Kriegsschauplatz gegebenen Verhältnisse hinaus steigern, und als der französische Kaiser 1812 im Kriege gegen Rußland sein Riesenheer nach Moskau führte, ohne durch genügende rückwärtige Verbindungen für einen gesicherten Unterhalt desselben gesorgt zu haben, ereilte ihn für diesen Fehler die fürchterlichste Strafe.
Freilich konnten auch in den großen Kriegen im vorigen und zu Anfang dieses Jahrhunderts durch Aufstellung mehrerer Heere, welche in verschiedenen Gegenden nach einem gemeinsamen Plane zu operieren hatten, größere Streitkräfte gegen den Feind zur Verwendung gebracht werden. Aber ihnen fehlte der elektrische Funke des Telegraphen, welcher die getrennten Theile zu Gliedern eines Körpers macht und mit welchem unser Moltke 1870/71 so meisterlich zu rechnen verstanden hat. Vorhergehende Verabredungen mußten für alle Kriegsfälle getroffen werden, wie für den Feldzug 1813 die sogenannte Trachenberger Uebereinkunft; eine verlorene Schlacht brachte aber alles ins Stocken. So bedurfte es der hohen Feldherrnkunst eines Gneisenau, um die infolge der Schlacht bei Dresden nach Böhmen zurückgegangene Hauptarmee zum erneuten Vordringen zu bewegen und zwei Monate später bei Leipzig das gemeinsame Schlagen der getrennten Heere zu ermöglichen. Und ebenso bewies der Krieg von 1814, in welchem das Genie Napoleons seine letzten Triumphe feierte, die ungemeine Schwierigkeit der Leitung räumlich weit getrennter Heere. Drei Monate brauchten die den Franzosen um das Dreifache überlegenen Verbündeten, um vom Rhein bis zur feindlichen Hauptstadt zu gelangen. Vergleichen wir damit die Kriege der Neuzeit, so waren deutscherseits die größten Heeresmassen 1870/71 in Frankreich vereint; in den fünf, oft Hunderte von Kilometern voneinander getrennt fechtenden Armeen wirkte aber nur ein Gedanke, welcher, aus dem Haupte des großen Strategen entsprungen, ihnen durch den elektrischen Draht eingehaucht wurde.
In künftigen Kriegen wird daher die Feldtelegraphie die wichtigste und vornehmste Anwendung der Elektricität für militärische Zwecke sein; sie auf den höchsten Grad der Vervollkommnung zu bringen, ist die Aufgabe jeder Kriegsverwaltung. Auch bei uns ist diesem so wichtigen Zweige des Nachrichtenwesens eine ganz besondere Aufmerksamkeit zugewendet worden; in Bezug auf das Material sind wir mit der Zeit fortgeschritten. Aber das wird bei den großen Anforderungen der Gegenwart allein nicht mehr genügen. Jeder andere zu militärischer Verwendung berufene Heerestheil geht vollständig vorbereitet in den Kampf, nur die Feldtelegraphie ist nicht in der Lage, sich durch unausgesetzte Friedensübungen vollkommen kriegsfertig auszubilden, weil für sie ein Friedensstamm nicht vorhanden ist. Erst bei der Mobilmachung wird das Personal für die Feldtelegraphie aus Ingenieuroffizieren, Mannschaften der Pionierbataillone und aus Beamten der Staatstelegraphen-Verwaltung zusammengesetzt. Nach den im letzten Feldzug gesammelten Erfahrungen und im Hinblick auf die Einrichtungen unserer muthmaßlichen Gegner ist auch bei uns die Errichtung eines Feldtelegraphencorps schon im Frieden eine dringende Forderung; dann erst werden die Telegraphenabtheilungen im Felde ihre schwierige Aufgabe voll zu lösen imstande sein.
Mit Beginn eines Krieges müssen sofort die äußersten von Truppen besetzten Punkte telegraphisch mit den nächsten deutschen Stationen verbunden werden, damit die Heeresleitung jederzeit genau über alle Vorgänge an der Grenze unterrichtet werden kann. Nach beendetem Aufmarsch der Armee beginnt dann die Hauptaufgabe der Feldtelegraphie, die vormarschierenden Corps und Heerestheile stets in Verbindung unter sich und mit dem Hauptquartier zu erhalten. Dieser Dienst fällt den Etappen-Telegraphenabtheilungen zu, welche den sofortigen Anschluß der gemäß der Vorwärtsbewegung der Truppen errichteten Feldstationen an die heimathlichen oder die bereits eroberten Staats-Telegraphenlinien des Feindes herzustellen haben. Außer dem strategischen Dienste der schnellen Befehlsbeförderung soll der Etappentelegraph das Mittel sein, sowohl in richtiger Weise alle Anordnungen für die Verpflegung der Armee zu treffen als auch den rechtzeitigen Munitionsersatz zu veranlassen und für die schnelle Rückbeförderung der Verwundeten und Gefangenen zu sorgen.
Während die Etappen-Telegraphenabtheilungen den einzelnen Oberkommandos zugetheilt sind, gehört zu jedem Corps für dessen inneren Telegraphendienst eine Feld-Telegraphenabtheilung. Diese hat die vormarschierenden Truppen mit den höheren Stäben in Verbindung zu erhalten, d. h. ihre flüchtigen Leitungen möglichst mit der Marschgeschwindigkeit der Truppen – das sind etwa [766] vier Kilometer in der Stunde – einzubauen, gleichzeitig aber die überflüssig gewordenen Linien wieder abzubrechen und das Geräth auf ihre Fahrzeuge zu verladen. In der Erfüllung dieser Aufgaben werden sich bei einem künftigen Kriege die großen Fortschritte zeigen, welche die Feldtelegraphie in den letzten zwanzig Jahren gemacht hat. Ihr Material befähigt sie jetzt, allen taktischen Bewegungen der Heerestheile zu folgen, ihre Fahrzeuge sind leicht und so konstruiert, daß das Legen der Leitungen schnell und sicher stattfinden kann, während die Wagen selbst als Stationen dienen.
Einen Bestandteil der Feldtelegraphie bilden die Vorpostentelephone, welche sofort nach Aufstellung der dem Feinde am nächsten stehenden Vorposten diese mit ihren Unterstützungstruppen zu verbinden haben. Von hier aus werden dann alle Meldungen über Stellung und Bewegungen des Feindes durch die Leitung des Feldtelegraphen weitergegeben. Der außerordentliche Vortheil, den die Telephone vor den Telegraphenapparaten voraushaben, besteht einmal darin, daß sie unmittelbar das gesprochene Wort selbst auf weite Entfernungen übermitteln, dann aber in ihrer ungemein leichten Handhabung. Man wird daher ohne Säumen alle weit vorgeschobenen Posten durch solche Apparate nach rückwärts verbinden. Selbstverständlich ist dies ganz besonders der Fall bei dem Standort des Fesselballons, dessen Beobachtungen sofort weiterhin telegraphisch dem Hauptquartier des Armeekorps mitgetheilt werden müssen.
Unsere großen Festungen sind bereits im Frieden sämmtlich mit einem Telegraphennetz versehen, welches alle vorgeschobenen Werke mit dem Mittelpunkt der Vertheidigung, der Kommandantur, und unter sich verbindet. Die Leitungskabel liegen unterirdisch und so tief, daß sie gegen zufällig einschlagende Geschosse und gegen Zerstörunngsversuche des Feindes soweit als möglich geschützt sind. Außerdem sind in allen Forts und in der Hauptbefestigung Vorrichtungen für elektrische Signalapparate vorhanden, welche ähnlich wie die Signalscheiben der Eisenbahnen mit farbigem Lichte Zeichen geben und für den Fall, daß die Kabel zerstört würden, eine Verständigung zwischen den einzelnen Festungswerken und selbst nach außen hin ermöglichen.
Auch in dieser Eigenschaft als Lichtquelle hat die Eleltricität einen ausgedehnten Gebrauch für militärische Zwecke gefunden. Gerade im Festungskampf wird das elektrische Licht eine große Rolle spielen. Schon bei Beginn des Krieges sollen die an den bedrohten Grenzen liegenden Festungen vertheidigungsfähig gemacht und gegen den gewaltsamen Angriff gerüstet sein; es werden also zwischen dem drohenden Auftauchen der Wolken am politischen Himmel und der Entladung des Gewitters – der Kriegserklärnug – nur wenige Tage bleiben, um diese umfassenden Arbeiten vorzunehmen, bevor der Feind heranrückt. In solchen Fällen ist das elektrische Bogenlicht, für welches die Werke jeder großen Festung eingerichtet sind, von unschätzbarem Werthe, da es die Armierungsarbeiten auch in der Nacht fortzusetzen erlaubt. Ein überraschendes Auftreten des Feindes wird durch die großen elektrischen Scheinwerfer von den Forts aus sehr erschwert, ja fast zur Unmöglichkeit gemacht werden. Hat der Feind eine Festung eingeschlossen und will er den Angriff beginnen, so wird eine wachsame Besatzung durch diese Scheinwerfer die nächtliche Aushebung der ersten Laufgräben und den Batteriebau, ebenso die Wiederherstellung der zusammengeschossenen Angriffsbatterien, wozu bisher die Nacht die Möglichkeit bot, wirksam verhindern können, während kräftige Ausfälle des Vertheidigers durch sein Licht unterstützt werden. Freilich wird die Besatzung die Wirkung der feindlichen Scheinwerfer – denn auch der Angreifer stellt natürlich solche auf – ebenfalls bitter empfinden, immerhin wird sie aber, weil sie stärkere Maschinen und Reflektoren zu verwenden imstande ist, dem Feinde in dieser Hinsicht überlegen sein.
Die Apparate zur Lichterzeugung in Festungen sind starke Dynamomaschinen mit Dampfmotoren, für deren Unterbringung bombensichere Gewölbe auf allen Fronten vorbereitet sind. Die elektrische Lampe mit Reflektor wird an einem möglichst hohen Punkte der Umwallung aufgerichtet; ihre Entfernung von der Lichtmaschine kann unter Umständen bis zu 1000 Metern betragen. Als Scheinwerfer gelangen jetzt parabolisch geschliffene Glasspiegel zur Anwendung, die in Bezug auf Ausnutzung der Leuchtkraft einer elektrischen Lampe wirklich Erstaunliches leisten; vermag man doch mit diesem Parabolspiegel und den heutigen so vollkommenen Lampen und Kohlen auf 12 Kilometer weit zu leuchten.
Ein weiteres Ziel ist die Verwendung des elektrischen Lichts auch im freien Felde. In dieser Richtung sind seit dem Kriege 1870/71 sowohl bei uns wie bei den Franzosen vielfache Versuche gemacht worden, welche seit etwa fünf Jahren in der Einführung von Beleuchtungswagen – vorläufig bei den Belagerungsparks und in den großen Festungen – ein greifbares Ergebniß aufzuweisen haben. Ein solcher Wagen trägt auf einem eisernen Gestell einen Dampfkessel mit allem Zubehör, damit verbunden eine Dampfmaschine für eine Leistung von mindestens 14 Pferdekräften und, unmittelbar mit der Dampfmaschine gekuppelt, eine Dynamomaschine zur Herstellung des Lichts. Im Wagengestell befindet sich der Werkzeugkasten, das Kohlen- und das Wasserreservoir; das ganze vollständig ausgerüstete Fahrzeug wiegt etwa 75 Centner. Zu jedem Beleuchtungswagen gehören zwei große und ein kleiner Scheinwerfer mit Metallspiegel, welche auf besonders dazu gebauten Wagen untergebracht sind. In den Festungen sollen sie den sogenannten „ambulanten“, den beweglichen Dienst versehen. Es ist [767] zweifellos, daß das elektrische Licht auch im Feldkrieg eine große Rolle zu spielen bestimmt ist, und es dürfte daher nur eine Frage der Zeit sein, daß derartige Fahrzeuge mit verbesserter Bauart, namentlich in Betreff ihrer Leichtigkeit, den Telegraphenparks einverleibt werden. In erster Linie werden die Pioniere von dem großen Vortheil einer elektrischen Beleuchtung Gebrauch machen, zum nächtlichen Brückenschlagen, zur Wiederherstellung zerstörter Eisenbahnen und Straßen und zu ähnlichen Arbeiten. Aber noch einen großen Vortheil bietet das elektrische Licht: es ermöglicht gründliches Absuchen der Schlachtfelder am Abend und in der Nacht nach einem Gefecht, und so mancher Schwerverwundete, welcher sonst hilflos und allen Unbilden der Witterung ausgesetzt bis zum Anbruch des Tages liegen bleiben müßte, wird noch glücklich geborgen und gerettet werden können.
Die elektrischen Zündapparate haben sich in allen neueren Kriegen als nothwendig und zuverlässig bewährt. Im Feldkrieg beschränkt sich ihre Anwendung naturgemäß auf das Zünden von Minen zur nachhaltigen Zerstörung von Eisenbahnlinien, ferner zum Sprengen von Brücken, Wegübergängen u. dergl., wenn es den Rückzug zu decken und die Verfolgung des Feindes zu erschweren, eine Vertheidigungsstellung zu verstärken gilt – seltener gebraucht man sie zum Entzünden sogenannter Fladderminen bei Annäherung des angreifenden Feindes. Die weit vorgeschobenen Kavallerieabtheilungen, welche durch Unterbrechung der Schienenwege und Telegraphenverbindungen des Feindes dessen Mobilmachung und Aufmarsch zu erschweren haben, führen Dynamitpatronen als Sprengmittel und entzünden diese mittels der Zündschnur, während sie die Telegraphenleitungen durch Umwicklung der Kabel mit feinen, schwer sichtbaren Silberdrähten unbrauchbar machen. Dieses letztere Mittel hat den wesentlichen Vortheil, daß man die Linie nöthigenfalls durch Abnahme dieser Drähte rasch für den eigenen Gebrauch wieder in Betrieb setzen kann. Bei allen größeren Sprengungen erfolgt die Zündung durch galvanische Batterien; diese ermöglichen es, mehrere Zünder in einem einzigen Stromkreis und auch auf größere Entfernung zu zünden, sind leicht beweglich und werden von den Pionierbataillonen auf deref Ausrüstungswagen ins Feld mitgeführt. Im Festungskrieg spielen sie infolge ihrer Zuverlässigkeit eine hervorragende Rolle.
Wir wollen zum Schlusse noch erwähnen, daß auch die Benutzung der Brieftaubenpost für militärische Zwecke die Anwendung des elektrischen Stromes nothwendig macht. Da man den Brieftauben nur ein sehr geringes Gewicht anhängen darf, um sie in ihrem Fluge nicht zu behindern und vorzeitig zu ermüden, so galt es, ein Mittel zu finden, um auf einem kleinen Raume möglichst viel Depeschen unterbringen zu können. Zu diesem Behufe werden die abzusendenden Schriftsätze auf eine große Papierfläche mit gewöhnlicher Schrift geschrieben und dann in sehr verkleinertem Maßstab mittels eines hierfür eingerichteten Apparats photographiert. Die Abzüge dieser Aufnahme werden auf ein dünnes, durchsichtiges Kollodiumhäutchen übertragen, welches dann zusammengerollt und in einem Federkiel verwahrt der Brieftaube mitgegeben wird. Zum Lesen einer solchen Depesche bedient man sich des sogenannten Sonnenmikroskops, welches die Schriftzüge wieder in stark vergrößertem Bilde auf eine weiße Fläche wirft und auf diese Weise vielen Personen zugleich sichtbar macht. Damit man hierbei von Tageszeiten und Witterungsverhältnissetn unabhängig ist, muß das elektrische Licht die Beleuchtung des mikroskopischen Sehfeldes übernehmen.
Die Anwendung der Luftschiffahrt im Kriege ist fast hundert Jahre alt; denn schon im Jahre 1793 wurden im Parke von Meudon [768] bei Paris – der bis heute der Uebungsplatz der französischen Aeronauten geblieben ist – durch den Ingenieurkapitän Coutelle mit dem erst zehn Jahre vorher erfundenen Luftballon Versuche gemacht, um seine Brauchbarkeit für das Rekognoscieren feindlicher Stellungen zu erproben. Man benutzte hierzu einen neun Meter im Durchmesser haltenden, mit Wasserstoff gefüllten Ballon, welcher durch starke Seile am Erdboden befestigt war und eine Gondel mit zwei Personen trug. Die Verständigung mit den unten gebliebenen Personen erfolgte durch verabredete Zeichen mit bunten Flaggen. Die Ergebnisse fielen so glücklich aus, daß alsbald eine Compagnie sogenannter „Aerostiers“ gebildet und der Armee Jourdans zugetheilt wurde, bei deren Unternehmungen dieser erste „Ballon captif“ oder „Fesselballon“ denn auch gute Dienste gethan haben soll. Während der Schlacht bei Fleurus am 26. Juni 1794 befand sich Coutelle mit einem General in der Gondel, und er erzählt in seinem Bericht, daß der Oberfeldherr von ihm über jede Bewegung der Oesterreicher rechtzeitig in Kenntniß gesetzt worden sei. Aber bei der Expedition nach Aegypten ging das gesammte Ballonmaterial durch Kaperung des Transportschiffes verloren, und dieses Mißgeschick war nicht geeignet, Napoleons Interesse für die Sache zu wecken; so schlief sie nach und nach wieder ein. Auch die 1802 aufs neue angestellten Versuche verliefen ergebnißlos, und nicht besser ging es später in Oberitalien, bei der Potomacarmee, in Paraguay und an anderen Orten. Erst die jüngste Belagerung von Paris brachte den Ballon als Kriegshilfsmittel wieder zu Ehren. Von den Ballons, welche zwischen dem 28. September 1870 und dem 22. Januar 1871 Paris verließen, wurden 91 Passagiere (darunter Gambetta), 363 Tauben und 2½ Millionen Briefe mitgenommen und meistens auch wohlbehalten abgeliefert. Nur fünf Ballons geriethen in die Hände der deutschen Truppen. Dagegen scheiterten alle Versuche, Luftschiffer von außen nach Paris hinein gelangen zu lassen.
Diese letztgenannte schlimme Erfahrung hatte zur Folge, daß man den schon zwanzig Jahre vorher von dem Luftschiffer Giffard angeregten Gedanken eines lenkbaren Luftschiffes wieder aufnahm und den Marine-Ingenieur Dupuy de Lome mit dem Baue eines solchen betraute. Die Belagerung von Paris hatte aber auch bei einem deutschen Ingenieur die Idee erzeugt, ein lenkbares Luftschiff herzustellen. Im Dezember 1870 führte der in Mainz geborene Paul Hänlein in seiner Vaterstadt ein kleines Modell vor, bei welchem er eine mit Leuchtgas aus dem Ballon selbst gespeiste Gaskraftmaschine als treibende Kraft verwandte. Leider scheiterte die weitere Ausführung an einer Menge widriger Umstände, hauptsächlich am Geldmangel; es war aber jedenfalls ein Deutscher, welcher die in vielen Stücken noch bei den heutigen Konstruktionen übliche Form des Luftschiffs erfunden und zuerst angewendet hat (vergl. „Gartenlaube“ 1882 S. 217). Das Modell, welches 1881 Tissandier vorführte und das soviel von sich reden machte, war in wesentlichen Theilen dem Hänleinschen Luftschiff nachgebildet. Dupuy de Lome’s Arbeit aber, die im Jahre 1872 vollendet wurde, fiel so unglücklich aus, daß man vorläufig von weiteren, sehr kostspieligen Versuchen Abstand nahm. Erst auf Gambettas Betreiben, der den Ballons eine dankbare Zuneigung bewahrt hatte, entschloß sich die Regierung, trotz mancher Unfälle und schlechter Erfahrungen, die Verwendung der Aeronautik im Kriege aufs neue ins Auge zu fassen.
Für die Pariser Ausstellung des Jahres 1878 hatte Henry Giffard einen Fesselballon hergestellt, in einer Größe, wie sie bisher noch nicht dagewesen war; bald darauf rief das bereits erwähnte Tissandiersche Modell eines lenkbaren Luftschiffs, bei welchem die Gaskraftmaschine Hänleins durch einen elektrischen Treibapparat ersetzt war, das größte Aufsehen hervor. Beide Konstruktionen trugen dazu bei, das Interesse für den Kriegsgebrauch der Luftschiffahrt bei allen Militärstaaten wieder zu beleben. Besonders war Tissandier von wesentlichem Einfluß auf die Arbeiten des französischen Geniehauptmanns Renard; diese wurden jedoch gänzlich geheim gehalten und drei Jahre, scheinbar ohne Erfolg, fortgesetzt. Um so großartiger war die Wirkung, als am 9. August 1884 Renard, dem inzwischen der Pompierhauptmann Krebs beigegeben worden war, ein lenkbares Luftschiff „La France“ dem Kriegsminister vorzuführen vermochte. Er hob sich mit demselben etwa 400 Meter über den Erdboden, beschrieb in weiten Bogen eine 8 und kehrte ohne Schwierigkeiten nach seinem Auffahrtsorte zurück. Sein Luftschiff bestand aus einem etwa 50 Meter langen Ballon in Cigarrenform von 8 Metern im größten Durchmesser und einem Raumgehalt von 1860 Kubikmetern. Seine Hülle war aus den feinsten Seidenfäden gewoben, die sehr schmale Gondel 33 Meter lang, ihr Gestell aus Bambusrohr, ebenfalls mit Seidenzeug überzogen. Durch eine Flügelschraube von acht Metern Durchmesser wurde das Schiff vorwärtsgetrieben; diese war am Vordertheil der Gondel angebracht und drehte sich um einen eisernen Hohlcylinder, welcher mit dem elektrischen Motor einer Dynamomaschine verbunden war; am hinteren Ende befand sich das Steuer. Der bei den ersten Versuchen angewandte Motor wog kaum 100 Kilogramm, man hatte indessen mit ihm infolge seiner leichten Bauart allerlei Unfälle und sah sich genöthigt, eine kräftigere Maschine von neun Pferdekräften anzubringen. Obgleich die jetzt im Gebrauch befindliche Maschine, die etwa 600 Kilogramm wiegt, 3600 Umdrehungen der Schraube in einer Minute ermöglicht, beträgt die bisher erreichte Geschwindigkeit doch nur 6,4 Meter in der Sekunde; das ist noch zu wenig, um das Schiff zu jeder Jahreszeit und bei jeder Witterung verwendbar erscheinen zu lassen. Aber trotz dieses Mangels ist der lenkbare Ballon in Frankreich zur Einführung gelangt, und das große Anwesen der französischen Militär-Luftschifferabtheilung zu Meudon hat jetzt die Aufgabe, möglichst vollkommene Ballons zu bauen, eingehende Versuche mit gefesselten, frei schwebenden und lenkbaren Ballons anzustellen und den erforderlichen Bedarf an erfahrenen Militär-Luftschiffern heranzuschulen. Die ausgebildeten Leute werden in Abtheilungen zusammengestellt und mit je einem freischwebenden Ballon je einer Festung des Landes zugetheilt, um für den Fall einer Belagerung [769] in Verbindung mit den Brieftauben den Nachrichtendienst zu übernehmen.
In allen Großstaaten sind diese Fortschritte unserer Nachbarn mit großer Aufmerksamkeit verfolgt worden, und man hat nicht verfehlt, sie sich bei den eigenen Bemühungen zu Nutze zu machen. Deutschland besitzt schon seit Jahren eine Luftschifferabtheilung, welche auf ihrem großen Uebungsplatz bei Berlin nicht allein ein tüchtiges Personal heranzubilden, sondern auch fortgesetzt in ausgedehntem Maße neue Versuche anzustellen hat. Selbstverständlich werden die letzteren sehr vorsichtig betrieben und die erreichten Verbesserungen in das tiefste Geheimniß gehüllt.
Soviel ist sicher: in einem künftigen Kriege werden voraussichtlich alle Mächte Fesselballons mit ins Feld führen, um sie zur Erkundung feindlicher Stellungen und Truppenbewegungen zu verwenden. Die für diesen Zweck erforderlichen Ballonparks sind schon im Frieden ausgerüstet. Ein solcher Park besteht aus einem bedeckten Wagen zur Aufnahme der zusammengelegten Ballonhülle, der Taue, der Gondel und des sonstigen Zubehörs, aus einer fahrbaren Dampfwinde für das Stahldraht-Tau von 600 Metern Länge, an welchem der Ballon befestigt wird, und aus einer Anzahl Fahrzeuge zur Beförderung der Stahlcylinder, welche den Bedarf an komprimiertem Wasserstoffgas enthalten. Man ist nämlich in allen Staaten dazu übergegangen, dies Gas als das leichteste fertig ins Feld mitzunehmen. In England werden zu diesem Zwecke Stahlcylinder hergestellt, die einen Druck bis zu 250 Atmosphären aushalten und in die das Wasserstoffgas [770] mit besonderen Pumpen hineingepreßt wird. Die gebräuchlichste Art dieser Cylinder faßt bei gewöhnlichem Luftdruck (= 1 Atmosphäre) ungefähr 30 Liter, bei 100 Atmosphären Druck also 3000 Liter oder 3 Kubikmeter. Die Engländer sowohl wie die Italiener haben bei ihren Feldzügen in Afrika dieses Verfahren angewendet; die Stahlcylinder wurden im eigenen Lande gefüllt, zu Schiff über die See und dann auf dem Rücken von Kamelen oder Mauleseln ins Innere des Landes gebracht. Vermöge dieser Einrichtung kann man einen Ballon von 300 Kubikmetern Gas in längstens einer halben Stunde füllen. Bisher hatte man auf besonders erbauten Wagen das Gas erst an Ort und Stelle fabriziert; dazu mußte man sehr viel Rohmaterial (verdünnte Schwefelsäure und Zink) mitschleppen und brauchte sehr viel Wasser, das nicht immer bequem zu haben war.
Zu den Ueberzügen der Ballons wird im allgemeinen chinesische Seide benutzt, welche sehr geschmeidig und haltbar ist. Die Engländer verwenden auch sogenannte „Goldschlägerhaut“. Es sind dies ganz feine Häutchen, die man von dem Blinddarm des Rindes abzieht; sie werden besonders zubereitet, hierauf in mehreren Lagen derartig übereinandergeklebt, daß der Rand einer Haut stets auf die Mitte der darunter liegenden kommt. Da man für eine Ballonhülle diese Häutchen in achtfacher Lage verwendet, so braucht man für einen Ballon von 300 Kubikmetern Inhalt ungefähr 35- bis 40000 Stück derselben. Diese Goldschlägerballons haben im Vergleich zu den aus Baumwolle oder Seide hergestellten und durch Firniß gasdicht gemachten den großen Vorzug der Leichtigkeit; sie sind aber dafür nicht sehr dauerhaft, bekommen sehr leicht Risse durch Anstoßen an Bäume etc., was ihre Verwendbarkeit stark beeinträchtigt.
Die Größe eines Ballons ist bedingt durch den Anspruch an seine Tragfähigkeit. 1 Kubikmeter Wasserstoffgas trägt durchschnittlich 1 Kilogramm, 300 Kubikmeter tragen also 300 Kilogramm. Man rechnet nun auf das Gewicht eines solchen Ballons, des Netzes und Ventiles, der Gondel und der Ausrüstung etwa 100 Kilogramm, auf das Gewicht des Drahtseilkabels 50 Kilogramm, auf das des Luftschiffers 75 Kilogramm; es sind also immer noch 75 Kilogramm zum Auftrieb vorhanden, was vollständig genügt. Nach Berichten über die französischen Manöver haben die Ballons thatsächlich gute Dienste geleistet, namentlich nachdem eine Fernsprechverbindung zwischen dem Ballon und der Erde hergestellt war. Durch technische Vervollkommnungen ist man dahin gelangt, das Luftschiff in einer halben Stunde zum Aufsteigen bereit machen zu können. Ferner ist der Ballonpark so eingerichtet, daß man den Ballon mit großer Leichtigkeit fortbewegen kann, auch in gefülltem und schwebendem Zustande. Während eines Gefechts bei den französischen Manövern wurde Bar le duc mit einem schwebenden Ballon durchfahren, ohne daß dabei die geringsten Unordnungen vorkamen, und General Gallifet blieb einmal zweieinhalb Stunden im Fesselballon, von dem aus er durch Telephon alle Bewegungen leitete. Endlich wird hervorgehoben, daß der Ballon auch bei Nacht durch Leuchtsignale seine vielseitige Verwendbarkeit bewiesen hat.
In belagerten Festungen, wo bereits im Frieden alle Vorbereitungen getroffen werden können, wird der Fesselballon von größtem Vortheil sein, da er dem Belagerten eine Uebersicht über sämmtliche Angriffsarbeiten des Feindes ermöglicht. Immerhin wird auch der Fesselballon trotz aller Verbesserungen im Felde wie im Festungskrieg vom Wetter abhängig bleiben. Der Wind, welcher die Gondel in schaukelnde Bewegung versetzt, erschwert die Beobachtung der feindlichen Stellung oder die Aufnahme derselben durch photographische Apparate bedeutend, Nebel macht sie überhaupt unmöglich. Es sind in unserem Klima nur wenige Monate, welche einer Rekognoscierung aus dem Fesselballon günstig sind; das lehrt uns die Kriegsgeschichte. Man denke nur an den sprichwörtlich gewordenen „Nebel von Chlum“ am 3. Juli 1866! Immerhin wird aber der Ballon zur Anwendung kommen können, und daher muß jedes Heer, will es nicht dem Feinde einen Vortheil über sich einräumen, solche luftige Gesellen ins Feld mitschleppen. Daneben aber wird eine schneidige Kavallerie, zu allen Jahreszeiten verwendbar, für eine Armee das beste Fühlhorn bleiben.
Man denke sich ferner eine bei der heutigen Feuerwaffe rasch entschiedene Schlacht mit unglücklichem Ausgang! Wo bleibt der theure Ballon, der erst heruntergeholt werden muß, um von seiner Verbindung gelöst und an die Transporttaue befestigt werden zu können? Wo bleibt die schwere Dampfmaschine mit dem tief im Boden verankerten Rade? – –
Das sind so Bilder aus dem Kriege der Zukunft, wie sie die Phantasie vor unserem geistigen Auge heraufbeschwören kann. Möge uns die praktische Probe auf ihre Wahrheit noch recht ferne liegen! Muß dieser Krieg der Zukunft überhaupt kommen? Viele verneinen’s, und es sind edle Menschen, die diesen Glauben in sich und anderen nähren. Aber andere bejahen es, und auch sie berufen sich dabei auf ideale Gründe. Ihnen ist der Krieg wie unsrem Moltke ein nothwendiges Mittel zur Erziehung des Menschengeschlechts; erst kürzlich hat der preußische General von Boguslawski diesen Gedanken aufs neue mit Eifer verfochten. Wie dem auch sei: möge der Krieg uns noch lange erspart bleiben! Schon der Gedanke an seine Möglichkeit übt ja eine erziehliche Wirkung: er mahnt uns, ein kräftiges männliches Geschlecht heranzuziehen, und unverwandt regt er mächtig an die Geister der Erfinder!
Für Hamburg und Altona. Allerorten regt sich immer noch mächtig die Liebesthätigkeit für die von der Seuche so schwer heimgesuchten Städte. Zur Linderung der großen Noth, welche über die unglückliche Bevölkerung von Hamburg und Altona hereingebrochen ist, soll nun auch ein litterarisch-künstlerisches Unternehmen dienen, zu dessen Herausgabe sich eine Anzahl Hamburger Männer entschlossen hat. Es soll ein Album erscheinen mit Beiträgen der hervorragendsten Schriftsteller und Künstler Deutschlands, dessen ganzer Reinertrag den Nothleidenden zufließen soll. Die Beiträge, die an Herrn M. Deutschländer, Hamburg, Hohe Bleichen 16, einzusenden sind, sollen sich durchaus nicht vorwiegend auf das Unglück beziehen, das die beiden Städte betroffen hat, das Buch soll vielmehr einen von Nebenrücksichten unabhängigen ästhetischen Werth erhalten. Die Verlagsanstalt und Druckerei A.-G. (vormals J. F. Richter) in Hamburg hat den Druck und Verlag übernommen.
Wir zweifeln nicht, daß die Vertreter deutscher Kunst und deutschen Schriftthums die ihnen hier sich bietende Gelegenheit gern ergreifen werden, ihr Können in den Dienst eines so menschenfreundlichen Werkes zu stellen.
Die Albertinerinnen in Leipzig. Bei den heutigen Bestrebungen, der Frauenwelt neue Berufe zu eröffnen, wird fast zu sehr außer Augen gelassen, daß ein altehrwürdiger, der weiblichen Natur aufs genaueste entsprechender Beruf noch lange nicht genügend ausgefüllt ist, die Krankenpflege im Privatdienst. Die religiösen Genossenschaften, Diakonissen und Barmherzige Schwestern reichen bei weitem nicht aus für das Bedürfniß der stets wachsenden Bevölkerungen, deshalb traten schon länger Privatvereine ihnen zur Seite, deren Thätigkeit am Krankenbett, nach den gleichen Grundsätzen ausgeübt, die gleichen segensreichen Wirkungen hat. Unter ihnen steht in erster Reihe der Albert-Verein in Sachsen, welcher seinen Pflegeschwestern die beiden für Frauen der gebildeten Stände nothwendigen Erfordernisse gewährt: eine gründliche Schulung für die Krankenpflege und einen festen Anhalt, um zeitweilig von ihrem anstrengenden Beruf ausruhen und sich erholen zu können, das heißt, einen Ort, der ihnen die Heimath ersetzt. Erst wenn dies der Fall ist, erhält die berufsmäßige Krankenpflege Werth und Bedeutung sowohl für die Ausübenden als für das Publikum.
Wer es einmal mit angesehen und erlebt hat, wie in den Zeiten der Familienangst und Aufregung die „Schwester“ als guter Engel ins Krankenzimmer eintritt, wie unter ihrem ruhigen Einfluß der Kranke sich auch beruhigt, mit welcher Dankbarkeit er an ihr hängt, sobald sein Bewußtsein wieder klar wird, der weiß es, daß diesem anscheinend so schweren Beruf ein ganz ungewöhnlicher innerer Lohn gegeben ist. Der äußere reicht für die einfache Lebensführung aus. Unsre Zeit hat neben manchen recht unerfreulichen Schatten doch die große Lichtseite einer stets mehr überhand nehmenden Erkenntniß von der Verpflichtung des Einzelnen, für das Allgemeine zu wirken. Möchten das viele von den alleinstehenden Mädchen bedenken und den Entschluß fassen, ihre Kraft und Leistungsfähigkeit einer so edeln Sache zu widmen, um dafür eine Befriedigung zu ernten, wie sie ein verkümmertes Stillleben nie gewähren kann!
Ausführliches über das Institut der Albertinerinnen erfährt man im Asyl des Albert-Zweig-Vereins zu Leipzig, Eberhardstraße Nr. 7. III. Wir wünschen, daß diese Zeilen die Anregung zu recht lebhafter Nachfrage geben mögen! Bn.
[771]
August Essenwein †. Mit Bildniß. Auf dem mittelalterlichen Friedhof zu St. Johannis, wo schon eine Reihe bedeutender Männer der deutschen Kunst und Wissenschaft die letzte Ruhestätte gefunden hat, begrub die Stadt Nürnberg am 16. Oktober einen ihrer besten Bürger, den Geheimerath August v. Essenwein, der über ein Vierteljahrhundert an der Spitze des Germanischen Museums stand und dieser Anstalt erst ihre Größe, ihre Bedeutung für das ganze deutsche Vaterland gab.
Als Essenwein, von Hause aus Architekt, nach einer mehrjährigen Wirksamkeit zu Wien und an der technischen Hochschule zu Graz 1866 als Leiter des Germanischen Museums nach Nürnberg berufen wurde, lag schon eine reiche Arbeit auf dem Gebiet der deutschen Kunstgeschichte hinter ihm, namentlich war er einer der ersten gewesen, der durch Sammlung und Veröffentlichung mustergültiger Vorbilder aus der Blüthezeit des deutschen Handwerks das Wiedererwachen unseres Kunstgewerbes fördern half. Es war keine leichte Aufgabe, die er jetzt übernahm. Die Anstalt war überall noch in höchst bescheidenen Anfängen und litt unter einer Schuldenlast von mehreren hunderttausend Mark, dazu setzte der ausbrechende Krieg jeder umfassenden Agitation zu ihren Gunsten ein Ziel. Aber die Thatkraft des neuen Direktors überwand alle Schwierigkeiten, vollends seitdem auch Deutschlands politische Lage sich zum besten gewandt hatte; er wußte, auf der von Freiherrn v. Aufseß geschaffenen Grundlage weiterbauend, die Opferwilligkeit unseres ganzen Volkes, den Sinn für die Denkmäler der deutschen Vergangenheit in weitgehendem Maße für die Zwecke des Museums wachzurufen und so eine archäologische Anstalt zu schaffen, die als die erste Deutschlands bezeichnet werden darf.
Und nicht nur, daß Essenwein auf diese Weise des „Deutschen Reiches Generalkonservator“ wurde, der ein unendliches Material für die Geschichte unserer Kultur zur Belehrung der Laien, zum Studium für Künstler und Gelehrte zusammentrug – er wußte das Gesammelte auch harmonisch zu ordnen, vielfach in neuen Räumen, die er unter Benutzung architektonisch werthvoller Ueberreste von da und dort unter eigener Leitung nach eigenen Plänen errichten ließ. Nebenher fand er noch Zeit, ausgezeichnete Entwürfe für die stilgerechte Erneuerung hervorragender kirchlicher Bauten zu liefern, sowie eine Reihe kunsthistorischer Werke zu verfassen und mit stets gleicher Freundlichkeit aus dem reichen Borne seines Wissens heraus den Tausenden zu rathen, die sich an ihn wandten.
Allein auch seine staunenswerthe Arbeitskraft war auf die Dauer den geistigen und körperlichen Anstrengungen, die an ihn herantraten, nicht gewachsen. Obwohl schon längere Zeit leidend und der Ruhe dringend bedürftig, wollte er doch noch den Verhandlungen beiwohnen, welche die Erfüllung seines sehnlichsten Wunsches, die Sicherstellung der Zukunft des Germanischen Museums, zum Ziele hatten, aber kurz vor Beginn dieser Verhandlungen erlag er am 13. Oktober, noch nicht ganz 61 Jahre an – er war am 2. November 1831 zu Karlsruhe geboren – unerwartet schnell seinem Leiden. Er hat sich in dem Museum, das wesentlich als seine Schöpfung betrachtet werden darf, ein dauerndes Denkmal gesetzt. H. B.
Ophelia. (Zu dem Bilde S. 760 und 761) Eine der lieblichsten Mädchengestalten Shakespeares ist Ophelia im „Hamlet“. Sie hat etwas Zartes, duftig Verschleiertes, und dieser Schleier, der über ihrem Seelenleben liegt, hat sogar zu verschiedenen Auffassungen desselben Anlaß gegeben. Namentlich über ihr Verhältniß zu Hamlet gehen die Ansichten auseinander, da auch die große Scene zwischen dem Dänenprinzen und ihr, am Anfang des dritten Aktes, darüber keine Klarheit bringt, weil der Prinz mit genialem Humor Tollheit heuchelt und an den Grenzen derselben sich bewegt. Auch über den Wahnsinn der Ophelia finden sich nur Andeutungen. Als ihr Hamlet den berühmten Rath ertheilt: „Geh’ in ein Kloster, Ophelia!“ da jammert sie über die Geistesstörung des Prinzen:
„O welch ein edler Geist ist hier zerstört!“
und als sie wieder auftritt, da ist ihr eigener Geist vollkommen zerrüttet. Was dazwischen liegt, muß der Leser, der Zuschauer aus den Anhaltspunkten in ihren irren Reden ergänzen.
Das Bild von J. Hamza zeigt uns die Scene im vierten Akt des Shakespeareschen Trauerspiels, den Augenblick, in dem das arme Mädchen, phantastisch mit Kräutern und Blumen geschmückt, vor der Königin erscheint und ihr Blumen überreicht, Vergißmeinnicht und Rosmarin. Geisterhaft blaß erscheint die Wahnsinnige, aber der Maler läßt uns doch die Worte des Laërtes verstehen:
„Schwermuth und Trauer, Leid, die Hölle selbst
Macht sie zur Anmuth und zur Artigkeit.“
Der hitzköpfige Bruder Laërtes steht im Hintergrunde, voll tiefen Schmerzes; er ist eben mit bewaffnetem Gefolge in das Königsschloß eingedrungen, um von dem König Rechenschaft zu fordern wegen der Ermordung des Vaters, und auch jetzt ruht sein scharf beobachtender Blick auf dem Herrscher, der zusammengeknickt und düster brütend im Vordergrunde sitzt. Die Königin faltet, erschüttert durch den schmerzlichen Vorgang, die Hände, sie hat nichts Gebieterisches, eher etwas sinnlich Weichliches in ihrem ganzen Wesen, wodurch ja auch die Schuld ihrer Vergangenheit erklärlich gemacht wird. Jedenfalls hat der Maler die Charakterköpfe der Shakespeareschen Dichtung treffend wiedergegeben.G.
Etymologische Enthüllungen. „Was ist ein Name?“ fragt geringschätzig Shakespeares Julia, und: „Name ist Schall und Rauch!“ tönt es gleicherweise aus dem Munde von Goethes Faust zurück. Auch Lessing, dem das Wort entstammt: „Ach, Namen sind nur Töne!“, schlägt ihre Bedeutung offenbar gering an. Und Uhland giebt mit der ihn als Schwaben wie als deutschen Volkstribunen gleich sehr kennzeichnenden kurzen Bündigkeit die Erklärung ab: „Namen sind uns Dunst!“ Jean Paul wiederum, dessen Familienname Richter muthmaßlich zuweilen im Sinne des „nomen et omen“ als Zielscheibe des Witzes gedient haben mag, bekennt in seinen „Palinginesien“ unumwunden: „Ich war, gleichsam ahnend, von jeher allen Geschlechtsnamen, die etwas bedeuten, feind.“ Anders hat freilich über diesen Gegenstand das Volk der alten Griechen geurtheilt. Ihm dünken Namen unter Umständen als hochbedeutsame Merkmale der Person und Anspielungen darauf als keineswegs müssige Erfindungen. Und unter den Neueren spricht sich der Philosoph Hegel geradezu dahin aus: „Im Namen ist’s, daß wir denken.“
Freilich, wenn wir an der Hand der Sprachforschung den Ruhmestempel der Geschichte durchwandeln, fühlen wir uns oft weniger zur Bewunderung als vielmehr zum Lachen gereizt. Mit schalkhaftem Griffe pflegt da unsere Führerin die Maske gewisser „berühmter Namen“ zu lüften, und was sich dann zeigt, wirkt verblüffend. Wie durch einen Zauberschlag verschwindet plötzlich die gefeierte Kulturgröße, um einem meist sehr alltäglichen, mitunter geradezu fragwürdigen Geschöpfe Platz zu machen. So erscheint beispielsweise statt des erhabenen Corneille eine gemeine Krähe, statt des schwärmerischen Tasso ein lichtscheuer Dachs, statt des weisen Bacon gar ein stumpfsinniges Mutterschwein!
An den Wänden der großen Galerie des Louvre hat sich nicht Poussin sondern ein Küchlein verewigt, und die Hebung der deutschen Poesie aus dem Zerfall des Dreißigjährigen Krieges haben wir nicht zuletzt einem Affen (Opitz, slawisch) zu verdanken. Ein Kaninchen (Kohlhaas) wird wegen Landfriedensbruch verfolgt, ein Bär (Orsini) geht dem Kaiser Napoleon III. zu Leibe und ein Bock (Kossuth) versucht die Kraft seiner Hörner am Königsstuhl des heiligen Stephan. Ein friedlicher Enterich (Drake) überbringt den Hungernden unseres Erdtheiles die Kartoffel, eine geschwätzige Elster (Pyat) fliegt den Sturmvögeln der Kommunisten voran. Zur Zeit der napoleonischen Kriege hört das ganze sächsische Heer auf den Schrei eines Hahns (Lecocq). In einem Töpflein (Euler, von ollarius, lat.) vollzieht sich die Lösung wichtiger, selbst von Newton unbeantwortet gelassener Fragen über das Weltsystem. Frankreichs Traum, England den Welthandel zu entreißen, begräbt schonungslos eine Grube (Pitt), während die idealste Verkörperung Hebes einem Weinkeller (Canova) entsteigt. Der thönerne Ruhm manches Dichterlinges unserer Tage geht an den kritischen Kanten eines Eckstein jämmerlich in Brüche. Hingegen gruppiert sich das neue englische Ministerium um einen Fröhlichstein (Gladstone). Die ptolemäische Weltordnung muß sich durch einen Hutmacher (Kopernikus, litth. Kepurnikas) eine völlige Umkrempelung gefallen lassen, und unsere Kunde von der polynesischen Welt erfährt durch einen Koch (Cook) wesentliche Erweiterung. In Frankreich schwingt sich ein Schlächter (Boucher) zum „Maler der Grazien“ auf und in Italien ein Töpfer (Vasari) zum Plutarch der Künstler! Während das Rom des Alterthums sein „pater patriae!“ einem Erbsenhändler (Cicero) zujauchzt, betraut das Spanien der Neuzeit mit seiner Herrschergewalt einen Binsenverkäufer (Espartero). Ebenso unbegreiflich erscheint, daß sich ein Kurzbein (Gambetta) zum Sprunge auf den Präsidentenstuhl der französischen Republik gerüstet hat. Dagegen überrascht es minder, zu hören, daß die flammenden Träume des „Contrat social“ einem Rothkopf (Rousseau) entsprungen sind. Auch daß wir manche der vorstehenden Namensableitungen aus einem Weingefäß (Pott) geschöpft haben, wird schließlich jeder am Platze finden, dem das alte in vino veritas noch als beweiskräftig gilt.E. U.
Ein Ofen für zwei Zimmer. Die Hausfrauen kommen oft in die Lage, daß sie zwei Zimmer durch einen Ofen heizen müssen. Wenn der Ofen nicht gerade in die Wand eingemauert ist, daß er die Wärme in beide Zimmer ausstrahlt, dann ist der Erfolg zumeist ein sehr unzulänglicher; die Thür zwischen den beiden Zimmern steht immer offen, aber das ofenlose Zimmer bleibt kalt, während das, in welchem der Ofen steht, überheizt ist. Es ist aber sehr leicht, diesem Uebelstand abzuhelfen und eine bessere Vertheilung der Wärme in beiden Zimmern herbeizuführen. Es sind nur in der Wand, welche die beiden Räume verbindet, zwei Oeffnungen anzubringen, eine unmittelbar an der Decke und eine zweite unmittelbar am Fußboden. Dann dringt die warme Luft durch die obere Oeffnung in das ofenlose Zimmer ein, während die kalte durch die untere Oeffnung dem Ofen in dem anderen Zimmer zuströmt. Durch Anbringen einfacher Klappen an den Oeffnungen kann man den Wärmeaustausch zwischen den beiden Räumen nach Belieben regeln. Dieses einfache Hilfsmittel, das sich stets ausgezeichnet bewährt, ist leider zu wenig bekannt. *
Uhlands Werke in neuen Ausgaben. Neben Schiller und Goethe ist Uhland noch heute der volksthümlichste unserer Dichter. Die ungekünstelte Innigkeit und die poetische Tiefe seiner Empfindung, die ihn Lieder voll schlichter Größe finden ließen, dieses Leben und Aufgehen in der Natur, die ihm doch sofort wieder zum Spiegel des eigenen Inneren wird, die Kraft seiner Balladen, der edle Mannesstolz seiner „Vaterländischen Gedichte“ – das alles hat dem deutschen Volke das Herz [772] abgewonnen und Uhland zu seinem Liebling gemacht. Um nun den Schriften des Dichters, entsprechend solcher Werthschätzung, die allgemeinste Verbreitung zu geben, hat der Verlag der J. G. Cotta’schen Buchhandlung Nachfolger nicht weniger als sieben neue billige Ausgaben der Werke veranstaltet. Die erste davon – die „Gesammelten Werke“ in sechs Bänden – bringt neben den Gedichten und Dramen zugleich eine Auswahl aus den wissenschaftlichen Forschungen vor allem über deutsche Litteratur- und Sagengeschichte; drei weitere Ausgaben bieten in verschiedenem Format und zu verschiedenem Preise (bis herab zu einer Mark) die „Gedichte und Dramen“ gesondert, und endlich liegen die „Gedichte“ allein ebenfalls in dreifacher Gestalt vor. Es kann also jeder Geschmack und Wunsch hier seine Rechnung finden, vollends da aus der reichen Auswahl jeder Band auch einzeln zu haben ist, und so darf man hoffen, daß durch diese neuen Darbietungen, die sich zugleich durch hübsche Ausstattung empfehlen, die Kenntniß und Verehrung Uhlands in immer weitere Kreise getragen werde.
Homonym.
Ich bin des Mannes Eigenthum,
Nicht immer das der Seelen,
Der Hausfrau aber darf ich nie
Bei „großer Wäsche“ fehlen.
Logogriph.
Mit L es ohne Unterlaß
Durch Bayerns schöne Gauen fließt;
Hast du’s mit P, so weiß ich, daß
Du nicht Fortunas Gunst genießt.
Von K. Buhle.
Die Vorhand meldete, da Mittelhand und Hinterhand gepaßt haben, mit diesen Karten:
Ramsch. Wie die Vorhand so hatten auch Mittelhand und Hinterhand je 40 Augen in ihren Karten und als das Spiel zu Ende war, hatte jeder der drei Mitspieler auch wiederum 40 Augen in seinen Stichen hereinbekommen.
Wie waren die Karten vertheilt und wie war der Gang des Spiels?
Metamorphosen.
Alte .... ... ... Liebe ............. rostet ... ... .. nicht.
Durch Metamorphose (d. i. Aenderung, Hinzufügung oder Auslassung je eines Buchstaben ohne Umstellung der übrigen) ist mittels neun Zwischenstufen „Alte“ in „Liebe,“ dann mittels dreizehn Zwischenstufen „Liebe“ in „rostet“ und endlich mittels acht Zwischenstufen „rostet“ in „nicht“ zu verwandeln. Beispiel: Linde, Binde, Bande, Band, Bad, Bach, Buch, Buche.
Verschiebräthsel.
Landau, Labe, Gasse, Herr, Eichel, See, Lima, Gent, Eigner, Oka, Belgrad. – Durch Verschieben (nicht Umstellen) der Buchstaben sind aus vorstehenden 11 Wörtern 12 neue zu bilden. Die Endbuchstaben der letzteren ergeben den Titel einer deutschen Oper.
Auflösung der Schachaufgabe Nr. 8 auf S. 740:
2. L f 4 – e 3 † beliebig
3. T c 5 – e 5, D a 7 – e 7 matt.
A. 1. . . . . . . . D b 4 – c 5 :
2. c 2 – c 3 † beliebig
3. D a 7 – a 2, f 7 : matt.
B. 1. . . . . . . . d 2 – d 1 S
2. T c 5 – c 4 † † K d 4 beliebig.
3. L g 6 – f 7 : matt.
C. 1. . . . . . . . d 2 – d 1 D
2. c 2 – c 3 † D b 4 – c 3 :
3. b 2 – c 3 : matt.
D. 1. . . . . . . . D b 4 – b 2 :
2. T c 5 – c 6 †† K d 4 – d 5
3. D a 7 – c 5 matt.
Andere Gegenzüge von Schwarz kann Weiß meist sowohl mit 2. T c 5 – c 4 †† als auch mit 2. c 2 – c 3 † beantworten.
Auflösung des Anagramms auf S. 740:
1. Madras, Treue; 2. Sumatra, Eder; 3. Raumer, Stade; 4. Reseda, Murat; 5. Reuter, Adams; 6. Steuer, Drama.
Auflösung des Versteckräthsels auf S. 740:
1. Schwaben noch, 2. fiel Ottokar, 3. Laura lediglich, 4. des Thermometers, 5. Courcelles, 6. Noch am letzten, 7. Sonntagslied Das, 8. Romano war.
Auflösung des neuen Hieroglyphenräthsels auf S. 740:
Setzt man an Stelle der in der Mitte des Steines den Text bildenden Zeichen die Anfangsbuchstaben jener Hieroglyphenbilder, welche die gleichen Zeichen tragen, und statt der kleinen Pünktchen die richtigen Vokale, so erhält man den Text:
Der stirbt im Wasser nicht, der gelebt in Wein.
(Spruch von Chamisso.)
In dem unterzeichneten Verlage ist soeben vollständig erschienen und durch die meisten Buchhandlungen zu beziehen:
Das Buch vom gesunden und vom kranken Menschen.
Von Professor Dr. Carl Ernst Bock.
Fünfzehnte, neu umgearbeitete Auflage. Herausgeben von Dr. Max von Zimmermann.
In diesem berühmten Buche, welches für alle Zeiten ein unübertreffliches Muster klarer, leichtfaßlicher und im besten Sinne des Wortes volksthümlicher Darstellung bleiben wird, ist dem größeren Publikum ein Werk geboten, worin es eingehend über den Bau des menschlichen Körpers, die Verrichtungen seiner einzelnen Organe, sowie über den Gesundheits- und Krankheitszustand derselben unterrichtet und über eine vernünftige naturgemäße Pflege des Körpers im gesunden und kranken Zustande belehrt wird.
Die neue fünfzehnte Auflage ist von dem durch seine populär-medicinischen Arbeiten bekannten Herausgeber Dr. med. von Zimmermann, einem Schüler Bock’s, wiederum auf das Sorgfältigste durchgesehen und den Fortschritten der stetig und rastlos sich entwickelnden Wissenschaft entsprechend mit zahlreichen Zusätzen, Berichtigungen und Ergänzungen versehen worden.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Ist die Seitenangabe der Wochenausgabe. Im Halbheft hier: S. 763.