Die Gartenlaube (1892)/Heft 28

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1892
Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[873]

Halbheft 28.   1892.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

Jahrgang 1892. Erscheint in Halbheften à 25 Pf. alle 12–14 Tage, in Heften à 50 Pf. alle 3–4 Wochen vom 1. Januar bis 31. Dezember.



Mamsell Unnütz.

Roman von W. Heimburg.
(Schluß.)


Bei der Begräbnißfeierlichkeit erschien Therese noch einmal im Hause ihres Mannes; sie hatte den langen Kreppschleier dicht vor das Gesicht gelegt. Der alte Mann, der sie begleitete, war plötzlich zum Greis geworden, seine sonst so stramme Haltung war gebrochen; er suchte sich die entfernteste Ecke des Hausflurs aus, in dem die Feierlichkeit stattfand. Alle Welt wußte ja, alle Welt urtheilte – sein ehrlicher Name schien ihm in den Schmutz getreten.

„Wenn der Bub’ am Leben geblieben wäre,“ murmelte er, „sie hätte sich noch zurückgefunden, und er hätte ihr vergeben – aber so –“ Und er blickte scheu zu dem kleinen Sarg hinüber, der vor Blumen kaum zu sehen war und an dessen beiden Seiten die Leidtragenden standen – er hüben und sie drüben – das tote Glück zwischen ihnen!

Die alte Räthin hatte sich mit blassem starren Gesicht neben die Schwiegertochter gestellt. Sie wollte die Leute mit Gewalt zu dem Glauben bringen, daß all das Gerede müßig sei – das Gerede von einem großen Skandal, wie ihn die Chronik von Andersheim seit Menschengedenken nicht aufzuweisen hatte. Wenn sie neben der jungen Frau stand, dann konnte es ja niemand glauben, sicher nicht!

Der Prediger sprach von gemeinsamem Schmerze, der die Herzen fester verbinde als alle Lust des Lebens – es klang wie Hohn.

In des Doktors bleichem Gesicht zuckte keine Muskel. Es war ihm alles genommen, der Glaube an Gott und an die Menschen, das Vertrauen und – seines Lebens Wonne!

Der Prediger schloß seine Ansprache; der Sarg ward hinausgetragen,


Spielzeugverkäufer.
Skizze aus dem Berliner Straßenleben von W. Zehme.

[874] und der Zug der Leidtragenden ordnete sich. – Fritz trat zu dem alten schluchzenden Manne. „Komm, Großpapa,“ bat er, „wir gehen zusammen.“

Dann war es mit einem Male still im Hausflur; nur Therese stand noch da, unbeweglich vor dem schwarzen Gestell, das den Sarg getragen, und neben ihr die Räthin.

„Komm mit in meine Stube!“ sagte die alte Frau. Und Therese folgte ihr; sie war wie ohnmächtig. Drinnen setzte sie sich auf die kleine Erhöhung am Fenster und lehnte den Kopf an den Nähtisch, dann griff sie gierig nach dem Glase Wein, das ihr die alte Dame bot.

Als sie getrunken hatte, saß sie stumm, bis der Doktor wiederkam.

Die Mutter trat ihm im Flur entgegen. „Fritz, sie ist noch da drinnen, wollt Ihr Euch nicht versöhnen?“

Er sah die alte Frau an von oben bis unten. „Nein!“ war die kurze Antwort, dann ging er in sein Zimmer.

Die Räthin kehrte zu Therese zurück. „Fritz ist da – willst Du nicht hinübergehen zu ihm?“

Therese erhob sich.

„Du bist die Schuldige, vergiß das nicht, wenn Du vor ihm stehst!“

Aber Therese antwortete nicht. Sie hielt den Schleier unter dem Kinn zusammen und ging hinaus.

Die Räthin lauschte, aber sie hörte keine Thüre gehen. Und als sie den Kopf hinaussteckte, da sah sie eben die schwarze Wollschleppe von Theresens Trauerkleid über die Schwelle des Hauses gleiten. Die Schwiegertochter war gegangen, ohne einen Versuch zur Aussöhnung zu machen.

Voll Verzweiflung lief die Räthin in das Zimmer ihres Sohnes hinüber. Er saß in der Ecke des Sofas, den Kopf in die Linke gestützt, und sah wie abwesend zu ihr empor.

„Du hättest wohl das erste Wort reden können,“ schluchzte sie. „Du weißt, Therese ist ein verzogen Kind. Nun ist sie fort, und Ihr werdet Euch nicht wieder versöhnen.“

Er schüttelte unwillig den Kopf. „Sprich nicht davon,“ sagte er, „bitte, laß mich allein!“

„Ach, Du bist gewiß recht barsch mit ihr gewesen! Gelt, sie hat doch eigentlich noch nichts Böses gethan – der Frieder war eben einmal ihr Schatz; sie wäre gewiß wieder zur Vernunft gekommen –“

„Ich bitte Dich – laß mich!“ stöhnte er.

Da ging sie weinend. Sie hatte zum Guten reden wollen – –

Im Vorzimmer stand Luischen mit einem Briefe. „An den Herrn Doktor,“ sagte sie. Die Mutter kehrte noch einmal um und trug ihm das Schreiben hinein. Fritz erbrach es, als die alte Frau gegangen war. Es war ein Brief von Adami: er stehe zur Verfügung und erwarte weitere Nachricht.

Fritz zuckte die Achseln und lachte kurz auf. Dann versank er wieder in sein Brüten. Die Ehre verlangte es, daß er sich mit dem Verderber seines Glückes schlug – gut, er würde nicht fehlen, Ordnung mußte sein! Aber es war ihm grenzenlos gleichgültig, ob der Mensch, der sein Feind gewesen von Kindesbeinen an, am Leben blieb oder nicht; ob er dies Leben mit der theilte, die sich von ihrem Manne gewandt, oder nicht. Was ging ihn das alles noch an? Nicht eine Spur des leidenschaftlichen Verlangens, den Räuber seines Weibes zu züchtigen, wie es ihn noch gestern durchtobte, rührte sich mehr in ihm. Seit jenem Augenblick, wo die Erdschollen auf den kleinen Sarg rollten, war alles still und tot in ihm, nur der verzehrende Schmerz lebte um den verlorenen Liebling.

Das Dasein lag vor seinen Augen wie eine öde Schneefläche im Dämmerlicht; und auf dieser sollte er wandern, sollte er allein wandern ohne Ziel, ohne Zweck – grauenvoll!

Er stöhnte auf wie ein zum Tode getroffenes Thier, und als draußen die Schelle klang, verriegelte er seine Thür. Was gingen ihn noch die Leute an, die seine Hilfe begehrten? Ihm half ja auch keiner – mochten sie klopfen, klopfen – –

Und endlich neigte sich der Tag, die Dämmerung füllte allmählich die Winkel des Zimmers – er saß noch immer da. Plötzlich schreckte er empor, er hatte so deutlich ein süßes Stimmchen „Papa!“ jauchzen hören.

Ach, der trostlosen Täuschung! Der kleine rothe Mund war verstummt für immer, es gab kein Spiel mehr im Hause, kein helles Jubeln, keinen trauten Wiegengesang. und droben die Stätte des Glückes, der Liebe, des friedlichen Lebens zu Zweien lag leer und verlassen – nur ekler Nachgeschmack war geblieben nach all dem Süßen. O, wäre doch etwas da auf der Welt, an das er sich noch zu halten vermöchte! Aber was hatte er noch? Die Mutter zürnte ihm, daß er nicht „fünfe gerade sein“ ließ, um ein Leben des Scheines weiter zu schleppen – selbst der Hund war Therese nachgelaufen.

Da tastete es draußen an der Thür, dann ein schüchternes Klopfen und eine matte, aber unendlich weiche Stimme: „Fritz, willst Du nicht zu Tisch kommen? Es wäre doch gut, wenn Du etwas essen möchtest.“

„Julia!“ murmelte er, und aufstehend öffnete er die Thür.




Drei Jahre sind vergangen, drei wunderlich stille Jahre. Droben in dem alten Hause sind die Läden geschlossen, und die Sonnenstrahlen, die durch die Ritzen lugen, sehen leere Räume. Auf dem Parkett liegt der Staub. Der Garten ist schattiger geworden, denn die Boskette und die Reben dürfen nicht verschnitten werden – der Doktor Roettger will den Strom nicht mehr sehen; er hat auch noch nie wieder den Garten betreten. Wo früher die Verbindungsthür hinüber zu dem Krautnerschen Grundstück war, breitet ein Pfirsichbaum seine Aeste in Spalierform über das neue Mauerwerk, und hoch sind die Akazien aufgeschossen, die längs der Mauer angepflanzt wurden.

Im Hause ist’s sehr still. Fräulein Riekchen wurde in voriger Woche begraben, ihr Fahrstuhl steht nun oben auf dem Boden neben dem ersten kleinen Gitterbettchen „Bubi’s“, und Julia hat eine Decke darüber gebreitet.

Es ist wieder einmal Mai geworden, ein wonniger, sonniger Maitag. Die Fenster in Tante Riekchens Stube sind weit geöffnet, und Julia steht da und liest die Briefe auseinander, die sie auf Wunsch der alten Dame verbrennen soll. Auch der Brief liegt dort, der eine halbe Stunde vor ihrem Tode eintraf und den Poststempel „Rom“ trägt.

„Liebe Tante,“ schreibt Frieder, „meine Frau ist seit einigen Tagen aus Deutschland zurückgekehrt. Es thut ihr leid, Dich nicht gesehen zu haben, aber wie die Verhältnisse liegen, war es ja unmöglich, Dich zu begrüßen. Herr Krautner ist unversöhnt mit uns aus der Welt gegangen und hat uns unliebsam überrascht durch sein Testament; er hat einen Neffen, von dessen Dasein Therese kaum eine Ahnung besaß, zum Miterben eingesetzt, und zwar so, daß er der Bevorzugte ist. Nun werden wir unser herrliches ungebundenes Leben einschränken müssen. Ein Glück, daß wir keine Kinder haben!

Therese gefällt es nicht besonders in Rom; sie will einen anderen Platz suchen. Die italienischen Städte haben wir so ziemlich alle durchprobiert, nun gehen wir noch nach Florenz, nach Deutschland mag sie nicht wieder zurückkehren.

Es thut mir leid, daß der alte Mann sich so unversöhnlich gezeigt hat; ehrlich gestanden, ich bin außer mir! Gern hätte ich Dir den Abend Deines Lebens durch Ueberweisung einer kleinen Rente verschönert, aber nun ist’s unmöglich. Als Therese nach Eisenach kam – sie war Tag und Nacht gereist – fand sie den Miterben bereits in der Villa vor, die sich der alte Herr am Fuße der Wartburg erbaut hatte. Ein junger bildschöner Mann soll er sein, seines Zeichens Oberförster. Sie scheinen sich leidlich verständigt zu haben, die beiden.

Ich fühle mich sonst unsäglich wohl hier, es ist Heimathluft.

Behüt’ Dich Gott!
Dein treuer Neffe 
Fr. Adami. 

P. S. 0 Ich suchte das Grab meines Vaters, konnte es aber nicht mehr finden. Du siehst, mein Versprechen wollte ich halten.“

Julia legte auch diesen Brief zu den anderen in das bereitstehende Körbchen. Der alten Dame konnte sein Inhalt nicht mehr mitgetheilt werden, Julia ließ er kalt.

Frieder hatte seinen Abschied genommen und Therese geheirathet. Was weiter aus den beiden geworden war, darüber hatte man fast nichts erfahren, denn Tante Riekchen theilte nur wenig mit aus den Briefen, die sie selbst spärlich erhielt. Sie hatte sich nach der Katastrophe damals nicht wieder erholt; sie war stiller und stiller geworden, dann litt ihr Gedächtniß und sie sprach vom Frieder nur noch als von einem Kinde und klagte, daß Fritz und er sich nicht vertragen wollten. Aber für Julia hatte sie [875] eine rührende dankbare Liebe gefaßt. Das schöne stille Mädchen wußte nun, daß sie für Eine nöthig war, daß Eine schon auf ihren Tritt, ihre Stimme lauschte; und unermüdlich schien ihr Streben, der Leidenden zu helfen. Bevor die Kranke für immer entschlief, richtete sie mit jener Klarheit, die noch einmal die scheidende Seele durchleuchtet, die Augen auf das Antlitz ihrer Pflegetochter und ihre Lippen bewegten sich. Julia beugte sich hinunter, und da verstand sie es:

„Hab’ Dank! Gott vergelte Dir Deine Treue!“

Die Hand des weinenden Mädchens in der ihren haltend, schlief Tante Riekchen ein.

Jetzt war auch das vorüber. Julia war frei, frei wie der Vogel, der sich eben da draußen auf dem Zweige des blühenden Apfelbaums wiegte und seinen Gesang erschallen ließ. Nun breitet er die Flügel aus und fliegt davon, hinein in den blauen Himmel, in die lachende blühende Welt.

Auch sie mußte ihre Flügel heben, aber – es würde ein banger, ein zager Flug werden. Hier bleiben konnte sie nicht. Wer wollte sie? Die Räthin dort drüben in ihrer mürrischen Abgeschlossenheit brauchte sie nicht. Und er? Ach, er hatte nur noch Sinn für seine Bücher und seine Kranken! Mit der Regelmäßigkeit einer Uhr ging er früh fort, kehrte er zurück und hielt seine Sprechstunden, und war er damit fertig, dann wartete der Wagen draußen und er machte seine Besuche in der Umgegend, denn er war der gesuchteste Arzt weit und breit geworden seit dem Tod von „Onkel Doktor“ und kaum imstande, seine Praxis zu bewältigen. Die halben Nächte aber verbrachte er am Schreibtisch. Er lebte nur der Pflicht – die Leere des Hauses empfand er nicht mehr, er ging durch die Oede seines Lebens mit sicherem Schritt und unbewegtem Gesicht. Und doch liefen ihm alle Kinder nach, und doch hatten ihn die alten Frauen so gern und sagten, er sei auch ein Arzt für das Herz. Nur hier, hier schienen ihm die Lippen versiegelt, wo die Erinnerung an vergangenes Glück aus allen Winkeln grüßte.

Julia sah traurig umher, ehe sie den alten Schreibtisch wieder verschloß und den Korb nahm, um in der Küche die Briefe den Flammen zu übergeben.

Sie mußte gehen, sie war hier überflüssig!

Gegen Abend kam sie in die Stube zur Frau Räthin. Die alte Dame saß strickend hinter ihren Geraniumtöpfen und schaute auf den stillen Hof. Sie hatte vor einem Weilchen für das Abendessen Spargel gestochen und ruhte nun aus; sie war noch immer flink in der Wirthschaft und ließ sich nichts abnehmen.

„Nach dem Abendbrot will ich auf den Friedhof gehen,“ sagte sie, das Mädchen gewahrend; „falls der Fritz später nach Hause kommt, soll ihm das Luischen frische Spargel kochen. Bist Du fertig mit dem Ordnen der Sachen?“

„Ja, Tante, ganz fertig, und eben wollt’ ich mit Dir sprechen – sieh, Tante Riekchen hat mich zur Erbin ihres kleinen Nachlasses eingesetzt – es war so gut von ihr – –“

„Nun, es war eben ihre Schuldigkeit,“ erklärte die Räthin trocken.

„Aber,“ fuhr Julia fort, „ich muß Dich bitten, Tante, den lieben alten Möbeln hier im Hause ein Plätzchen zu gönnen, denn mitnehmen kann ich sie doch nicht.“

„Mitnehmen? Wohin denn?“

„Mein Gott, Tante, in die Welt hinaus – was soll ich denn hier?“

„Ja freilich, wenn man’s recht überlegt, was sollst Du hier, ’s ist wahr. Na, meinetwegen können sie da stehen bis an der Welt Ende, die Sachen; Platz ist ja genug im Hause. Lieber Gott!“ Sie nahm die eben abgestrickte Nadel und fuhr damit in ihr weißes Haar, und die Brillengläser wurden feucht; sie mußte sie abwischen, ehe sie weiter strickte. „Hab’ nicht gedacht, daß ich ’mal so ein einsam Alter haben würde,“ murmelte sie. „Aber es ist nun so, und recht hast Du, was sollst Du hier! Ich bin noch rüstig. – Na, da wünsch’ ich Dir denn Glück, man kann es Dir auch gönnen. Und noch einmal – was die Sachen anlangt, laß sie nur stehen da drüben, mich geniert’s nicht; und sollt’ der Fritz noch ’mal vernünftig werden, so hat’s ja droben Platz genug für das neue Glück.“

Damit stand sie auf und rief, das Luischen solle das Essen besorgen, denn sie wolle bald gehen. „Wirst doch noch keinen Hunger haben,“ sagte sie zu Julia, „kannst mit Fritz essen, wenn er kommt.“

Und Julia nickte ihr zu und ging hinaus in den Garten, und da saß sie müßig und schaute mit verträumten Augen auf die Sonnenfunken, die rothgolden durch das Geäst des Nußbaumes fielen und auf dem alten Gartentisch tanzten.

Die Räthin kam nach einem Weilchen durch den Mittelweg und schnitt ein paar der eben erblühenden Rosen ab. „Das waren Riekchens Lieblinge,“ sprach sie, auf die halb verwilderten Centifoliensträucher deutend, „ich werd’ ihr die ersten davon mitnehmen.“ Dann wanderte sie hinaus dem Kirchhof zu, und als sie an einer Straßenecke plötzlich den Sohn traf, sagte sie nur: „Ich will zu den Gräbern, Fritz. Iß nur allein zu Nacht! – Ach, und weißt’s schon? Das Julchen will fort, in die Welt hinaus. Nun, wir können sie nicht halten, jetzt, wo das Riekchen tot ist.“

Er stand da und sah die düstere schwarze Gestalt mit den Rosenknospen in der Hand an, sprach aber kein Wort, er nickte ihr nur zerstreut zu und ging weiter durch die belebte Gasse, auf der die Kinder lärmten und die unter den Strahlen der Sonne in goldigen Staub gehüllt schien. Nur noch ein paar Krankenbesuche waren zu machen, aber während er sonst geduldig an den Betten saß, nahm er heute kaum Platz, und seine Mienen drückten Unruhe und Abspannung aus. Er wußte selbst nicht, wie es kam, daß er den kürzesten Weg nach Hause einschlug durch ein Seitengäßchen, das unmittelbar zu dem Strome hinunterführte. Nie mehr war er hier gegangen seit jenem Schreckenstage; heute sah er das blaugrüne herrliche Wasser wie erstaunt an. Die Wellen waren ja längst hinabgeflossen, die ihm das Kind geraubt, in die sich muthig ein junges Leben geworfen, um ihm das Liebste zu retten – konnte er die anderen dafür anklagen, die jetzt krystallrein dahinrauschten und nichts von damals wußten?

Ach, wie weit trug der Blick heute, wie wunderbar weit! Da kam ein Dampfer hergebraust, nun machte er einen großen Bogen und legte seitwärts an der Landungsbrücke an; und dort oben auf dem Verdeck stand eine weibliche Gestalt, groß und schlank, und in ihrer Hand wehte ein weißes Tuch – Abschiedsgrüße? Ihm zitterte plötzlich die Gestalt vor den Augen – wenn es Julia wäre!

Er riß im eiligen Vorwärtsschreiten den Hut vom Kopfe, und das Haar, auf dessen Blond es wie ein leichter Reif schimmerte, streifte die Fliederdolden, die sich so üppig wie nie auf den Garten über den schmalen Pfad neigten. Und als er die Stufen hinaufgehen wollte zu seinem Garten, da lag eine Rosenknospe auf den zerbröckelnden Steinen – die Mutter hatte sie wohl verloren – und er bückte sich und hob sie auf. Ach, Rosenduft! War er denn tot gewesen, jahrelang tot?

Und nun stockte sein Fuß – unter dem Nußbaum saß Julia. Sie blickte zu ihm herüber mit den süßen dunklen Augen, so mild, so schwesterlich geduldig wie all die trübe Zeit her. Und jetzt stand sie auf und kam ihm entgegen.

„Fritz!“ Es war etwas wie Jubel in ihrer Stimme, „Du im Garten? Aber, gelt, es ist ein schöner Abend? Möchtest Du nicht hier draußen essen?“

Er nickte, setzte sich auf die Bank und verfolgte mit wehmüthigen Augen, wie sie den Gang hinaufschritt, rasch und elastisch. Wie würde es sein, wenn dieser Schritt nicht mehr im Hause erklang?

Und auf einmal flog etwas durch die Luft, gerade vor des Mädchens Füße, sie bückte sich und hielt einen bunten Kinderball in der Hand, und gleich darauf tauchte hinter der Mauer des Nachbargartens ein blondes Köpfchen auf und lugte mit sehnsüchtigen Augen herüber. „Fang!“ rief Julia und warf den Ball zurück, und als das Kind lachend der Aufforderung nachkam, da lachte auch sie, und dieser Doppelklang traf des Mannes Herz, daß es aufwachte aus dem langen Schlummer, daß es schwoll vor Sehnsucht nach Glück, nach vollem goldenen Menschenglück.

Nach wenigen Minuten kam Julia zurück mit dem Tischgeräth, sie sah noch lieblicher aus als sonst in der Freude, ihn wieder im Garten zu sehen nach drei langen Jahren.

Er saß da und drehte die Rosenknospe zwischen den Fingern; in seinem Antlitz zuckte und arbeitete es seltsam. Die Speisen die sie ihm bot, rührte er kaum an. Und dann ward es still zwischen ihnen; auch ihr Mund verstummte, sie sah schweigend in die untergehende Sonne.

Plötzlich stand Fritz auf und trat vor Julia hin.

„Julia, die Mutter sagt, Du wollest uns verlassen.“

[876] Sie senkte bejahend den Kopf.

„Warum denn, Julia?“

„Warum? Ich bin so vollständig unnütz hier,“ antwortete sie und lächelte dazu, aber in ihren Augen schimmerten Thränen.

„Unnütz – Du?“ sagte er und faßte ihre Hände. „Ach, Julia, mit dem nämlichen Rechte könntest Du die Sonne am Himmel verlöschen und fragen, was sie denn der Erde nütze.“

Und bewegt bog er sich hernieder und preßte ihre Hände an seine Augen, und als sie verwirrt aufsprang, da zog er sie sanft an sich und schaute ihr bang fragend in das bleiche Antlitz, mit Schrecken die feinen Linien bemerkend, die Gram und Schmerz hineingezeichnet.

„Julia, Du darfst nicht fort – bleib’ bei mir – wenn Du dem blind verbitterten Thoren zu verzeihen vermagst. Julia, was hast Du für mich gethan! Und ich habe nicht einmal gedankt!“

„Sei barmherzig – nur nicht Mitleid für Liebe,“ sagte sie leise.

„Ach!“ Er lachte kurz auf. „Mitleid! Wer von uns beiden ist denn des Mitleids bedürftiger? Von Dir will ich Barmherzigkeit, Mitleid, Geduld – alles – alles. Laß mich nicht allein, Julia, wenn Du nicht willst, daß ich zu Grunde gehe – denn Du allein, Du allein kannst mir den Glauben wiedergeben an Treue und Liebe.“

„Ich?“

„Ja Du, Du allein!“

Sie hob wie träumend den Blick. Drüben jubelten die Kinder beim Ballspiel und draußen rauschte der Rhein und in der Luft wogte der Duft von tausend Blüthen. Endlich der Lenz! Der süße berauschende Lenz!

„Mamsell Unnütz! Mamsell Unnütz!“ lockte der Pirol im Nußbaum.

Da lächelte sie. „Hörst Du es?“ fragte sie leise. „So rief er schon in unserer Jugend.“

„Quäle mich nicht!“ erwiderte er ungeduldig. „Ich weiß es genau in dieser Minute, ich kann ohne Dich nicht leben, Julia. Und Du?“

Da legte sie still die Arme um seinen Hals. Und aus ihren Augen lösten sich zwei klare Tropfen und flossen über die Wangen.

O, welch unnütze Frage! – –

Als die Räthin nach Hause kam und hörte, daß der Herr und Fräulein Julia im Garten gespeist hätten, lenkte sie verwundert ihre Schritte dorthin. Dann stockte ihr Fuß. Unter dem Nußbaum stand – na, sie hätte eher des Himmels Einsturz vermuthet – stand der verbitterte griesgrämige Geselle und hielt das Mädchen, die Mamsell Unnütz, im Arme und küßte sie, und beide schienen die ganze Welt um sich vergessen zu haben.

Sie machte eine kurze Wendung und ging wieder dem Hause zu. „Ja, ja – Wunder und Zeichen geschehen immer noch,“ flüsterte sie. Und in der Stube angelangt, löste sie vor dem Spiegel die schwarzen Bänder ihrer Ausgangshaube, legte sie mit gewohnter Umständlichkeit in die Kommode, stülpte ebenso gelassen die Alltagsmütze auf und band die Schürze vor.

„Na,“ murmelte sie, „bei Licht besehen ist’s die einfachste Lösung. Wäre freilich nicht darauf verfallen – hm. Und wunderbar ist’s doch auch,“ setzte sie hinzu, „wie einem etwas ins Herz hineinwachsen kann, ohne daß man’s merkt. Wie sie da heute sagt, sie will fort, hat mir’s inwendig ordentlich einen Ruck gegeben. Na, da ist’s denn nun doch so gekommen, daß aus der Mamsell Unnütz meine Schwiegertochter wird! Und eines muß wahr bleiben, brav ist sie, sehr brav, und sie hat ihn lieb – und –“

„Mutter, da hast Du eine Tochter!“ unterbricht sie die Stimme des Sohnes. Und sie treten über die Schwelle, Hand in Hand, der Doktor und seine Braut.



Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Aus dem Leben der Sterne.

Von Dr. H. J. Klein.

Nichts im Weltall ist unveränderlich, Entstehen und Vergehen, Leben und Tod sind keineswegs auf die organischen Wesen unserer Erde beschränkt, sondern bilden die Grenzpunkte eines allgemeinen Entwicklungsgesetzes, dem alles unterworfen ist und das selbst über den Sternen des Himmels waltet. Wohl wird unser Gemüth mächtig ergriffen, wenn wir uns erinnern, daß Sonne, Mond und Sterne, welche wir heute sehen, schon in den ältesten Aufzeichnungen der Menschheit erwähnt werden; sie scheinen erhaben über den Wechsel der Zeiten und der Dinge. Seit jenen nebelgrauen Tagen, da zuerst menschliche Füße die Erdscholle betraten, hat sich das Antlitz unseres Planeten wesentlich verändert; Berge sind versunken und Flüsse entstanden, Inseln haben sich abgetrennt von den Festländern und Urwälder sich ausgebreitet, wo vordem Steppe war; Völkerstämme sind aufgetaucht aus unbekanntem Dunkel und wieder hinabgestiegen ins Meer der Vergessenheit. Ungestört von allem aber wandeln die Sterne ihre hohen Bahnen, gestern wie heute und morgen wie vor Myriaden von Jahren. Daher sagt mit Recht der Dichter, daß alles vergeht unter des Himmels Bogen, aber die Wissenschaft setzt hinzu: auch die Sterne des Himmels sind vergängliche Erscheinungen, sie haben ihr besonderes Leben, und dieses Leben hat nur eine zeitliche Dauer. Bloß die Kürze unseres eigenen Daseins läßt uns an Unveränderlichkeit und Bestand glauben, wo in Wirklichkeit nur Wechsel und Entwicklung vorhanden sind. Die heutige Kultur ist wie das erste Aufblitzen eines Strahles der aufgehenden Sonne nach langer und tiefer Nacht. Die Wissenschaft lehrt, daß die normale Dauer des menschlichen Lebens 70 Jahre beträgt; schreiten wir also nur 15 Generationen in die Vergangenheit zurück, so finden wir uns schon mitten in allgemeiner Barbarei; und versuchen wir, darüber nachzudenken, was in der 15. Generation nach uns noch von heutigen menschlichen Einrichtungen Bestand haben wird, so müssen wir sagen: wahrscheinlich nur wenig oder nichts. Diese rasche Vergänglichkeit menschlicher Einrichtungen ist es, welche uns eine Unveränderlichkeit der Himmelskörper vorspiegelt, die gar nicht besteht. Im Dasein der Weltkörper spielen freilich Jahrtausende keine größere Rolle als Minuten in der Lebensdauer eines menschlichen Wesens. Immerhin aber rauscht die Zeit nicht einwirkungslos vorüber an den Sternen, die den nächtlichen Himmel schmücken, auch sie haben ihre Jugend, ihre Blüthe und ihren Verfall.

Wie aber, fragt man, kann der Menschen kurzlebiges Geschlecht urtheilen über Entstehung und Verfall ganzer Welten, über die Entwicklung von Sonnensystemen, deren Dauer diejenige des Erdballes unermeßlich übertrifft? Aus der eigenen Erfahrung über die Reihenfolge nacheinander eingetretener Veränderungen des Sternenhimmels sicherlich nicht; aber der große Mann Friedrich Wilhelm Herschel, welcher zuerst das menschliche Auge für die Tiefen der Himmelsräume geschärft, hat gezeigt, wie man aus den zahlreichen nebeneinander bestehenden Formen der Himmelskörper, besonders der sogenannten Nebelflecke, die allmähliche Entwicklung derselben, das Nacheinander ihrer Bildungen herausfinden kann. „Unter diesem Gesichtspunkt,“ sagt er selbst, „gleicht der Himmel einem üppigen Garten, der eine große Mannigfaltigkeit von Erzeugnissen in blühenden Beeten enthält, und wir können bei dieser Betrachtungsweise den Schwung unserer Erfahrung gleichsam auf eine unermeßliche Dauer ausdehnen. Denn, um das dem Pflanzenreich entlehnte Gleichniß fortzusetzen, ist es nicht einerlei, ob wir fortleben, um nach und nach das Sprossen, Blühen, Belauben, Fruchttragen und Verwelken einer Pflanze anzusehen, oder ob zahlreiche Exemplare eines jeden Zustandes dieser Pflanze gleichzeitig uns vor Augen treten?“

Welches ist nun diejenige Gestalt der Materie im Weltenraum, die wir als die früheste Form der Himmelskörper anzusehen haben? Es ist nach Herschel diejenige der schwachleuchtenden, ausgedehnten Nebel ohne bestimmte Gestaltung. Diese Nebelflecke sind ohne Ausnahme dem bloßen Auge unsichtbar, sie können nur in großen Fernrohren wahrgenommen werden; die Menge dieses nebeligen Stoffes, der durch die Himmelsräume verbreitet ist, erscheint aber so ungeheuer groß, daß schon Herschel äußerte, sie überschreite die Begriffe des Menschen. Dabei ist diese Nebelmasse so äußerst zart und verdünnt, daß die kleinsten Sternchen, die über sie zerstreut stehen, sich in einem Glanze zeigen gegen den selbst der hellste Nebel als düster erscheint. Eine Reihe anderer Nebel zeigt sich heller, gewissermaßen verdichteter, viele darunter haben lichte Stellen, dann wieder trifft man auf Nebel, die offenbar in mehrere Stücke zertheilt sind, auf dreifache, vierfache

[877]

Bleigießen am Sylvesterabend.
Originalzeichnung von René Reinicke.

[878] und vielfache Nebel, ja, wie ein neuerer Astronom sich bezeichnend ausdrückt, auf förmliche Nebelnester.

Wo diese Nebelflecke bestimmte Gestaltung zeigen, sind sie meist rundlich oder länglich eiförmig. Die runden Nebel erscheinen gegen die Mitte hin oft stufenweise heller, gleichsam als wenn in diesem Mittelpunkte der Sitz einer bildenden und verdichtenden Kraft wäre. Auch bei länglichen Nebelflecken zeigt sich Aehnliches, und das Aussehen derselben läßt keinen Zweifel darübcr, daß dort ein Zusammenschluß der Nebelmaterien stattfindet, ja daß sich eine Art von Kern daselbst zu bilden beginnt. Bei mehreren dieser Nebel sieht man um den Kern herum eine zarte Helligkeit, die Herschel mit einer Mähne vergleicht. Diese Nebel haben die Vorstellungen Herschels lange und lebhaft beschäftigt. „Ihr Bau,“ sagt er, „ist verwickelt und geheimnißvoll, .und beim gegenwärtigen Zustande unserer Kenntnisse nmöchte es anmaßend sein, eine Erklärung zu wagen; wir können nur wenige Ansichten fassen, die aber zu Fragen führen. Deutet die Mähne vielleicht darauf hin, daß ein Theil der Nebelmaterien ehe sie in dem Kern sich niederläßt, anfängt, eine Gestalt anzunehmen, in welcher sie diesen Kern in konzentrischer Anordnung umgiebt? Und – wenn wir wagen dürfen, noch weiter zu fragen – wird nicht die Materie bei ihrem Herabsturz gegen den Kern eine Art von Wirbel oder herumschwingender Bewegung hervorrufen? Ja, muß nicht eine solche Wirkung eintreten und sehen wir hier nicht eine natürliche Ursache, die einem Weltkörper gleich bei seiner Bildung eine umwälzende Bewegung ertheilen kann?“

„Mit dem Genius steht die Natur im ewigen Bunde!“ Dieses Dichterwort bestätigt sich auch hier. Herschel hat, man möchte sagen instinktiv, das Richtige getroffen; jene Nebel sind in der That Vorstufen der Bildung von Sonnensystemen. Was der große Mann nur unvollkommen mit seinen leiblichen Augen sehen konnte, das liegt heute, dank den Fortschritten der Optik und der Photographie, klar und unzweifelhaft vor dem Blicke der Gegenwart. In einigen Fällen hat die unermeßlich weit entfernte Nebelmaterie selbst ihr Bild auf die photographische Platte gezeichnet und uns in nicht mißzuverstehender Sprache enthüllt, was der geistige Blick Herschels schon vor einem Jahrhundert erschaute. Jene Mähnen sind nichts anderes als ungeheuere Wirbel von Nebelmaterie, sie gehören einer besonderen Klasse von Nebelflecken, den sogenannten „Spiralnebeln“ an, die zuerst Lord Rosse mit seinem Riesenteleskop erkannte und die in neuester Zeit genauer mit dem noch mächtigeren Riesenfernrohr auf dem Berg Hamilton in Californien gesehen worden sind. Man erkennt in den Abbildungen, welche die Beobachter von diesen außerordentlich merkwürdigen Gebilden gegeben haben, leuchtende Windungen der Nebelmaterie, in einem Falle stellen sie sich dar wie ein schneckenartig gewundenes Tau, das an seinen Endpunkten in dichte runde Knoten ausläuft. Dabei darf man niemals vergessen, daß es sich hierbei um Größenverhältnisse handelt, welche alle menschlichen Begriffe übersteigen, daß die kleinsten Nebelpünktchen in diesen Gebilden unsere ganze Sonne an Volumen weit übertreffen und jene lichteren Schneckenwindungen sich durch Räume erstrecken, gegen welche die Entfernung der Erde von der Sonne verschwindend klein erscheint.

Es handelt sich also hier um Vorgänge, welche mit der Bildung ganzer Weltsysteme in engster Beziehung stehen, um Entwicklungen in den Werkstätten des Alls. Aus den Nebelmassen heraus haben sich die Sonnensysteme, haben sich die Fixsterne und die Planeten gebildet, und zwar in einer Art und Weise, welche zuerst der große französische Mathematiker Laplace kennen gelehrt hat. Nach seiner Hypothese bildete z. B. unsere Sonne in der Urzeit einen ungeheuer ausgedehnten Nebelfleck von hoher Temperatur, der sich von West nach Ost um seine Axe drehte. Infolge der allmählichen Erkaltung mußte sich die Materie dieses Nebelfleckes mehr und mehr zusammenziehen und dadurch endlich, nach bestimmten mechanischen Gesetzen, in der Gegend des Aequators der Nebelmasse ein frei schwebender Ring abgetrennt werden. Da die Erkaltung fortdauerte und mit ihr die Zusammenziehung des umschwingenden Nebels, so mußte sich nach Ablauf einer gewissen Zeit die Ringbildung wiederholen, und alle Ringe drehten sich ununterbrochen von West nach Ost um die centrale Nebelmasse. Die fortdauernde Erhaltung dieser Ringe würde eine gewisse Regelmäßigkeit ihrer Zusammensetzung und Zusammenziehung in allen Theilen erfordern, die sehr wenig wahrscheinlich ist. Daher mußte der Fall eintreten, daß die Ringe auseinander brachen und ihre Materie sich, da sie noch flüssig oder gasförmig war, zu Kugeln ballte. Aus diesen glühendheißen Nebelkugeln entstanden die Planeten. Jede solche Kugel drehte sich von West nach Ost um ihre Axe, und indem sie erkaltete, konnten sich hier alle Vorgänge, die bereits bei der ursprünglichen Nebelmasse eintraten, wiederholen. Es bildeten sich also wiederum Ringe, aus deren Zerfall später die Monde der Planeten entstanden.

Laplace hat, als er seine berühmte Hypothese der Weltenbildung aufstellte, von den Untersuchungen Herschels über die Nebelflecke nichts gewußt, wenigstens erwähnt er diese nicht. Er ging vielmehr von einer anderen Thatsache aus, die er mit großem Scharfsinn verwerthete und die wirklich höchst merkwürdig ist. In unserem Planetensystem bewegen sich nämlich alle Hauptplaneten von West nach Ost um die Sonne, diese selbst dreht sich von West nach Ost um ihre Axe, die Erde dreht sich in der nämlichen Richtung um sich selbst, und das Gleiche gilt vom Mars, Jupiter und Saturn. Außerdem läuft der Mond von West nach Ost um die Erde, die Monde des Jupiter laufen in der gleichen Richtung um ihren Planeten, und das Nämliche gilt von den Monden des Saturn. Diese allen gemeinsame Bewegung von West nach Ost muß einen Grund haben, und Laplace berechnete, daß man 4000 Millionen gegen Eins wetten könne, es handle sich hier nicht um eine Wirkung des Zufalles, sondern um eine verborgene, allgemeine Ursache. Diese suchte er auf und fand sie in der oben geschilderten gemeinsamen Entstehung aller Planeten aus einer ungeheueren Nebelmasse. Es ist etwas Großartiges um den Gedanken an die Art und Weise der Bildung des ganzen Sonnensystems, um die Erforschung von Vorgängen, die sich abspielten, ehe unser Erdball noch vorhanden war, ehe die heutige Sonne ihren ersten Lichtstrahl ausgesandt hatte! Und dem großen Geiste, von dem man mit Recht gesagt hat, daß er mehr als jeder andere verstanden habe, sich wissenschaftlichen Irrthümern zu entziehen, welche die Einbildungskraft so leicht hervorruft, ihm kann man mit Bezug auf die Entstehungsgeschichte des Planetensystems mit vollem Recht die Worte in den Mund legen:

„Ich war dabei, als noch da drunten siedend
Der Abgrund schwoll und strömend Flammen trug,
Als Molochs Hammer, Fels an Felsen schmiedend,
Gebirgestrümmer in die Ferne schlug!“

In der That, mit prophetischem Blicke über Zeit und Raum hinaus dringt der wissenschaftliche Geist vor und enträthselt den Zustand der Dinge zu einer Zeit, die begraben liegt im Schoße tiefster Nacht der Vergangenheit, zu einer Zeit, in welcher der heutige Sternenhimmel nicht vorhanden war und das Dasein der scheinbar ewig den Pol umkreisenden Sternbilder noch im Nebel der Zukunft ruhte.

Sehr richtig sagte Arago über die Laplacesche Theorie der Weltenbildung, sie sei als die einzige anzusehen, welche durch ihre Großartigkeit, ihre Folgerichtigkeit, ihren mathematischen Charakter sich wirklich zur Begründung einer physischen Kosmogonie, einer auf Naturgesetzen aufgebauten Weltbildungslehre, eigne, die einzige, welche in den Ergebnissen der neueren astronomischen Untersuchungen über die Nebelflecke von jeder Größe und Gestalt, die sich am Himmel finden, eine mächtige Stütze erhalte. Letzteres ist heute in einem noch ungleich höheren Grade der Fall, als man selbst vor einem Jahrzehnt ahnen konnte. Wer hätte auch vermuthet, daß es der vervollkommneten Photographie gelingen würde, die Welt der Nebelflecke gewissermaßen zur Erzählung ihrer Geschichte zu bringen, indem sie dieselbe vermochte, mit dem eigenen Lichte ihre Gestalt und ihr Wesen niederzuschreiben? Heute ist dies gelungen, und wir besitzen von einem der größten Nebelflecke photographische Darstellungen, welche die Ringe und Nebelballen der Laplaceschen Theorie dem Beschauer unmittelbar vor Augen führen, von der Natur selbst gezeichnet, unverfälscht, ohne daß die mangelhafte Sicherheit eines Zeichners die Linien auch nur um Haaresbreite verändert hätte. Eine solche photographische Aufnahme eines Nebelfleckes wurde zuerst gewonnen am 29. Dezember 1888 in Liverpool, und zwar von einem Liebhaber der Astronomie und Photographie, Jsaak Roberts mit Namen.

Der Nebelfleck, um den es sich hier handelt, steht am Himmel im Sternbild der Andromeda und ist dem bloßen Auge in klaren Nächten, wenn man den Ort kennt, als schwaches, nebliges Sternchen erkennbar. In mächtigen Ferngläsern sieht man, daß [879] dieser Nebel länglich elliptisch oder spindelförmig ist, nahe der Mitte einen hellen Kern hat und seitlich von einem kleinen rundlichen Nebel begleitet wird. Sterne stehen hin und wieder über den Nebel zerstreut, auch tauchte im August 1885 nahe seinem Mittelpunkt ein gelbliches Sternchen auf, das nach einigen Monaten wieder verschwand und seitdem nicht wieder gesehen worden ist. Beobachter an sehr großen Fernrohren wollten im Innern des Nebels hier und da dunkle Striche wahrgenommen haben, andere konnten dergleichen nicht sehen, kurz, Besonderheiten seines eigentlichen Baues oder seiner Bildung waren nicht bekannt. Da schickte sich am 29. Dezember 1888 der obengenannte Isaak Roberts an, mit einem großen Spiegelteleskope und einer überaus empfindlichen Platte den Nebel photographisch aufzunehmen. Um bei der Lichtschwäche desselben ein genügend deutliches Bild zu erhalten, hat er volle vier Stunden lang exponiert, wobei das Fernrohr ununterbrochen, der Drehung des Himmels entsprechend, nachgeführt werden mußte , damit es das Bild auf der Platte unverrückt festhalte. Diese überaus mühevolle, anstrengende Arbeit wurde von einem ungeahnten Erfolg gekrönt. Auf der Platte erschien ein Bild, welches von allem abwich, was bis dahin das Auge am Fernrohr gesehen hatte. Der Nebel erschien als ein System von Ringen mit einem Kern in der Mitte, genau so, wie die Weltenbildungstheorie von Laplace dies voraussetzt!

Der Andromeda-Nebel.

Niemals hat sich menschlichen Blicken etwas Ueberraschenderes in der Welt der Nebelflecke dargeboten als dieses Bild. Man erblickt in ihm unmittelbar und ohne Zuhilfenahme von Phantasie eine flache Nebelscheibe, schräg gegen unsere Gesichtslinie liegend, im Stadium der Ringbildung mit mehreren Verdichtungen auf einzelnen Ringen, welche wahrscheinlich die Anfänge von Planetenbildungen darstellen. Ja, der kleine, den Hauptnebel begleitende Nebelfleck ist vielleicht nichts anderes als ein bereits abgetrennter Nebelball, der frei den großen centralen Nebel umkreist. Die Laplacesche Weltenbildungstheorie feiert in dieser photographischen Aufnahme des Andromeda-Nebels einen währen Triumph. Es ist, als wenn der Nebel eigens vorhanden wäre, um einen augenfälligen Beweis für ihre Richtigkeit zu geben. – In der obenstehenden Abbildung ist eine möglichst getreue Wiedergabe der Robertsschen Photographie versucht worden. Der Leser sieht deutlich die schräg gegen unsere Gesichtslinie liegenden Ringe und die Lichtknoten darauf. Er sieht außerdem den ganzen Nebelfleck auf allen Seiten umgeben von größeren und kleineren Sternchen, die ohne bestimmte Ordnung gruppiert erscheinen und offenbar keine Beziehung zu dem Nebel selbst haben. Höchst wahrscheinlich steht dieser letztere uns näher als jene Sterne. Wie groß seine Entfernung ist, weiß man nicht, nur so viel ist sicher, daß sie viele tausend Milliarden Meilen beträgt, also so beträchtlich ist, daß wir uns keine sinnliche Vorstellung davon machen können. Von den unzähligen Sternchen aber, welche auf demselben Bilde mit dem Nebel zugleich erscheinen, kannte man früher nur einige wenige, kein Fernrohr hatte sie bis dahin gezeigt, und erst die photographische Platte zog sie aus dem Dunkel ihres bisherigen Daseins vor die Augen der Menschen. Und alle diese Sternchen, die kleinsten nicht ausgenommen, sind leuchtende Sonnen, gleich unserer Sonne, alle sind mächtige Weltkörper, die seit Myriaden Jahren glühen und leuchten zu Zwecken, die wir nicht kennen, Weltkörper, von denen wir nur sagen können, daß sie nicht unsertwegen vorhanden sind. Indem wir uns dieses recht versinnlichen, eröffnet sich vor unserm Geiste eine Vorstellung von dem Weltall und seinen Einrichtungen, die alles übertrifft, was die kühnste Phantasie ersinnen könnte. Gleich Schneeflocken wirbeln Sonnen und Planeten im schrankenlosen All; Raum, Zeit und Materie treten uns in überwältigender Fülle entgegen. Körper von der Größe unserer Sonne spielen im All kaum eine wichtigere Rolle als Tropfen im Ocean, als Sandkörner am Strande des

Meeres. Jedes der Sternchen, die wir auf der Abbildung sehen, hat seine eigene Weltgeschichte, jedes bildet in seiner Heimath eine Welt für sich, von den andern getrennt durch unermeßliche Entfernungen. Jedes ist eine ungeheure Gluthmasse, ähnlich unserer Sonne, und das Spektroskop hat uns offenbart, daß auf allen Sternen des Himmels gewisse einfache Stoffe, wie Wasserstoff, Stickstoff, Natrium, Magnesium, im Zustand glühender Gase vorhanden sind, ähnlich wie dies auch bei der Sonne der Fall ist. Von der kleinen dunklen Erde aus, die, aus Fixsternentfernung gesehen, durch nichts eine Spur ihres Daseins mehr verrathen kann, ist der Mensch, mit Hilfe seiner Vernunft und bewaffnet mit den bewundernswerten Instrumenten der Neuzeit, vorgedrungen bis in jene entlegenen Regionen und hat dort den Werdeprozeß der Welten belauscht, hat in den Sternen die Vorgeschichte seiner eigenen Heimath gelesen und zieht aus den Zuständen der Vergangenheit und Gegenwart begründete Schlüsse auf das, was noch im Schoße der Zukunft schlummert, aber dereinst kommen wird, weil es naturnothwendig kommen muß.

Wie alles, was entsteht, zu Grunde gehen muß, so ist auch den Sternen, die sich aus dem Urnebel gebildet haben und noch bilden werden, keine ewige Dauer ihres Daseins beschieden. Schon die Thatsache, daß die Fixsterne Sonnen sind gleich unserer Sonne und wie diese ununterbrochen Wärme ausstrahlen, beweist, daß jeder Stern mit der Zeit erkalten muß. Aus einer selbstleuchtenden Sonne wird er alsdann zu einem dunkeln erstarrten Körper von so grausenvoll niedriger Temperatur, wie wir sie aus der Erfahrung nicht kennen. Es ist wissenschaftlich festgestellt, daß wenn die Sonne keine Wärme mehr der Erde zusenden würde, die Temperatur an der Oberfläche unseres Weltkörpers so tief unter den Gefrierpunkt sinken würde, daß nicht nur alle uns bekannten Flüssigkeiten erstarren müßten, sondern sogar die atmosphärische Luft ihren gasförmigen Zustand verlassen und als fester Körper die Erde bedecken würde. So viel liegt daran, daß die Gluth einer Sonne ihren Planeten zustrahlt; mit dem Erlöschen dieser Gluth beginnt die Erstarrung des Todes. Die zahllosen leuchtenden Fixsterne im Weltraum sind ebensoviel Quellen der Wärme und damit des Lebens und der Bewegung. Wir dürfen annehmen, daß sich um viele oder gar um die meisten von ihnen dunkle Planeten bewegen, von denen wir freilich nichts Bestimmtes wissen und auch niemats erfahren werden. Unbestreitbar aber bleibt, daß jene Fixsterne, und unter ihnen auch unsere Sonne, einst ihre Wärme eingebüßt haben werden, denn das, was sie an Gluth ununterbrochen ausstrahlen, ist nur der Ueberrest derjenigen Wärme, die aus dem Ballungsprozeß ihrer Nebelmaterie erwuchs. Daher ist Erstarrung, Nacht und Kälte der letzte Ausblick, welcher sich für die Sterne des Himmels eröffnet, Kraftlosigkeit und Tod das Ende ihres kosmischen Lebens. Auch gibt es manche Sterne des Himmels, die Spuren beginnenden Alters zeigen, deren Licht röthlich geworden ist, als Zeichen, daß die höchste Gluth dort längst vorüber und erhebliche Minderung der Wärme eingetreten ist. Im Verlauf zahlloser Jahrtausende werden diese Sterne erloschen sein. Unsere Sonne zeigt in ihrem bläulich-weißen Licht und durch ihre jeden Vergleich mit irdischen Wärmequellen übersteigende Gluth, daß ihr noch ein langes Leben beschieden ist. Doch auch sie kann sich dem allgemeinen Gesetze nicht entziehen, auch sie wird dereinst erlöschen, und für den Erdball wird die Zeit kommen, in der es keinen Tag mehr gibt. Vom Menschengeschlecht wird dann allerdings längst jede Spur verschollen, jegliche Erinnerung an menschliche Leiden und Freuden, an alle Großthaten unseres Geschlechtes wird dahin sein, weil kein sterbliches Wesen hiniedea mehr vorhanden ist, in dessen Bewußtsein sie erklingen könnte. Was in dieser Beziehung für uns noch in nebelgrauer Zukunft liegt, ist an anderen Stellen des Weltraumes, in anderen Sonnensystemen ohne Zweifel schon oftmals [880] eingetreten, da gewiß zahlreiche Sonnen im Laufe der Zeit erloschen sind. Andererseits ist nicht zu bezweifeln, daß neue Bildungen sich vorbereiten, wie in jenem Nebelfleck der Andromeda, wo sich der Weltenstoff zu dereinstigen Sonnen und Planeten zusammenballt. So vollzieht sich auch im Weltall ein fortwährendes Entstehen und Vergehen, Aufblühen und Verwelken im ruhelosen Spiel der kosmischen Kräfte. Wann es sein Ende finden wird, weiß niemand, daß es aber ein solches erreichen muß, ist sicher. Die Wissenschaft verfolgt die Kette der Erscheinungen Glied um Glied, ohne Anfang oder Ende derselben zu erreichen, und nur der Glaube setzt an den Beginn derselben ein göttliches „Werde!“


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Antwortlos.

Plauderei von Oscar Justinus.

In der Schule haben wir gelernt, daß die Menschen in fünf Rassen zerfallen. Andere theilen sie ein in gute und böse, in Heiden und Christen, in Deutsche, Franzosen, Engländer etc., in Konservative und Liberale. Ein Kellner versicherte mich, daß für ihn nur zwei Menschenklassen bestehen: solche, die Trinkgeld zahlen, und solche, die keins zahlen. Auch ich theile sie nur in zwei Unterarten: solche, die einen Brief beantworten, und solche, die ihn nicht beantworten.

Man sollte meinen, daß, wie jede mündliche Frage einer Antwort, so auch jede briefliche Anregung einer Erwiderung werth sei. Wenn uns jemand, bei dem wir uns nach dem Wege erkundigen oder den wir um etwas Feuer bitten, ohne Antwort stehen läßt, so halten wir ihn entweder für taub oder für einen unerzogenen Grobian, dem man aus dem Wege gehen muß. Wollten wir aber denselben Maßstab anlegen an die, welche von einem an sie gerichteten Brief kalt lächelnd keine Notiz nehmen, so müßten wir wohl einen erklecklichen Theil der Menschheit in die Klasse der Schwerhörigen oder Grobiane einordnen, und das geht doch nicht recht an!

Im kaufmännischen Leben gilt im allgemeinen der Grundsatz, daß jeder Brief einer Bestätigung, Beantwortung, Erledigung bedürfe. Erfolgt keine, so hat dies nach dem alten Spruche: „Keine Antwort ist auch eine Antwort“ eine bestimmte Bedeutung. Es heißt einfach „nein“. Höfliche Häuser aber schreiben dies noch ausdrücklich. „Wir sind nicht in der Lage, auf Ihre geneigte Offerte zu reflektieren.“ Oder: „Wir sind mit diesem Artikel auf so lange Zeit hinaus versehen –“ oder „Ich muß Ihnen zu meinem größten Bedauern die Mittheilung machen, daß es mir nicht möglich ist, Ihre Wünsche auf Zahlung eines Betrages in diesem Monat zu erfüllen.“ Und diese bessere kaufmännische Gepflogenheit einer Antwort in jedem Falle sollten wir alle auch in unser Privatleben einführen.

Das Idealland pünktlichen schriftlichen Verkehrs ist England. Dort wird es als ein Zeichen von Unbildung angesehen, nicht zu antworten, und ein Mensch, welcher das thut, gilt als kein Gentleman. Der Engländer antwortet auf jeden, auch auf den fremdesten Bettelbrief. „Dear Sir“, „mein lieber Herr,“ beginnt er dann in seiner weltmännischen Höflichkeit, von welcher wir sehr viel lernen könnten, und daran schließt sich vielleicht mit einer Wendung des Bedauerns die Erklärung, daß er augenblicklich oder dauernd, aus Grundsatz oder anderen Ursachen, nicht in der Lage sei, zu helfen.

Nun kann einer zwar anführen, daß es auf die Art, wie eine Bitte abgewiesen werde, gar nicht ankomme, und der Flehende denkt vielleicht achselzuckend: Aus allem hör’ ich nur das Nein! Thatsächlich ist dem aber doch nicht so. Der Schreiber einer Antwort, welche noch dazu mit „Mein lieber Herr“ anfängt, stellt sich auf dieselbe Stufe mit dem Bittenden und behandelt ihn schonend wie seinesgleichen. Außerdem wird dieser innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden belehrt, was er zu erwarten oder nicht zu erwarten hat. In Deutschland, wo man einen lästigen Brief – und unter diesen Begriff fallen alle Briefe, die von uns etwas haben wollen – meistens ärgerlich beiseite schiebt, um ihn erst nach Wochen, am häufigsten gar nicht zu beantworten, wird in dem seines Bescheides Harrenden ein Gefühl der Bitterkeit erzeugt, als halte man ihn auch nicht eines Wörtchens der Erwiderung werth. Wochenlang schwebt er zwischen Hoffnung und Pein und versäumt in dieser quälenden Ungewißheit vielleicht die Gelegenheit, sich auf andere Weise zu helfen.

Sehr häufig entspringt die Versäumniß der Antwort mangelnder Uebung. Das Schreiben ist vielen Leuten nicht recht geläufig, sie können die Sätze nicht glatt und leicht modeln, und der Brief, welcher eine Antwort erheischt, lastet dem Ungeübten monatelang auf dem Gewissen, ehe er sich dazu entschließt, einen reinen Bogen nebst einem Umschlag zu kaufen und mit der halb eingetrockneten Tinte, mit der rostigen Feder und den steifen Fingern die Antwort zu verfassen. Diese Leute machen oft lieber eine große und kostspielige Reise, um sich über etwas mündlich auszusprechen, was sich mittels einer einfachen Postkarte hätte erledigen lassen. Die Schwerfälligkeit im Schreiben bei dem Volke der Dichter und Denker wird wohl mit der Zeit noch ein wenig schwinden; im übrigen hat sie mit der Zahl der sogenannten „Analphabeten“, d. h. derjenigen, die Lesen und Schreiben gar nicht gelernt haben, nichts zu thun. Ein Engländer macht einmal die Bemerkung, daß es in Deutschland eine Menge Menschen giebt, welche Lesen und Schreiben gelernt, es aber im vorgerückten Alter aus Mangel an Uebung wieder verlernt haben, während ihnen in England eine Anzahl gegenübersteht, die niemals eine Schule besucht haben, als schrift- und lesensunkundig aufgewachsen sind, aber durch das Bedürfniß des Tages oder eigenen Wissenstrieb darauf hingedrängt wurden, die schwarze Kunst als reife Männer oder verheirathete Frauen zu lernen, und sie nun mit den regelrecht Geschulten um die Wette brauchen. Unter den Straßenbildern italienischer und spanischer Städte spielen die öffentlichen Schreiber, welchen der Bauer seine Klageschriften, das Mädchen seine Herzensgeheimnisse anvertraut, eine wichtige Rolle. Ich glaube, auch bei uns würde dieses Handwerk seinen Boden finden. Soll es ja da und dort noch vorkommen, daß die Mutter mit ihrem Sohne beim Militär nur durch die Hand des Schulmeisters verkehrt, der ihr gefällig die Begleitbriefe zu ihren nahrhaften Liebesgaben schreibt! Und die „Briefsteller“, welche für alle eintretenden Verhältnisse mit einem schön stilisierten Briefschema an die Hand gehen, erfreuen sich nicht bloß bei unsern Dragonern und Küchenfeen einer dauerhaften Achtung.

Seitdem der englische Postmeister Rowland Hill die Welt mit dem Gedanken des Pennyportos beschenkte, seitdem die Postkarten erfunden sind und neben den Staats- noch verschiedene Stadt-Postanstalten die Beförderung unserer Mittheilungen von einer Stelle zur andern für wenige Pfennige übernehmen, ist das Korrespondieren so billig geworden, daß die Höhe der Portokosten nie und nirgend mehr als Ausrede für eine Nichtbeantwortung dienen kann. In meiner Jugend, wo noch das dreistufige Porto von einem, zwei und drei Silbergroschen im Vaterlande bestand, wohlgemerkt zu einer Zeit, wo man einen Groschen mit größerer Herzbeklemmung ausgab als heutzutage eine Mark, da hatte die Ausrede noch einigermaßen Sinn. Heute geht sie so wenig mehr an wie die einst übliche, daß der Brief „verloren gegangen sei“. Bei der außerordentlichen Straffheit der postalischen Einrichtungen aller Kulturstaaten – Deutschlands an der Spitze – gehen so gut wie gar keine Briefe mehr verloren, es seien denn diejenigen, welche in den Taschen des Absenders oder des abholenden Boten liegen geblieben, und diejenigen, welche überhaupt gar nicht geschrieben worden sind.

Es ist also ausschließlich die alte Gewohnheit, richtiger der alte Schlendrian, welcher zu einer dieser Entschuldigungen greifen läßt. In Wirklichkeit ist es Trägheit oder, wie man sehr häufig aus dem Munde der Mächtigen dieser Erde, der Herren Redakteure, Theaterdirektoren und Räthe aller Art, hört: Ueberbürdung.

Ich lasse es wohl gelten, daß an solchen Stellen nicht alle Eingänge ihre sofortige Erledigung finden können. Aber zugegeben selbst, daß sich daran nichts ändern läßt, müßte der Einsender wenigstens darüber beruhigt werden, daß sein Schriftstück richtig eingegangen und nach dem Zeitpunkt seines Eintreffens ordnungsmäßig in die Reihe der ihrer Erledigung harrenden Angelegenheiten eingefügt worden ist, so daß also auch

[881]

Seeadler einen Hecht erbeutend.
Originalzeichnung von F. Specht.

[882] ihm sicher einmal der Tag der Entscheidung naht. Es haben einige große Blätter die sehr dankenswerthe Einrichtung getroffen, alle Zusendungen durch eine Zeile oder eine einfache gedruckte Postkarte den Absendern vorläufig zu bestätigen.

Eine ähnliche Einrichtung sollte jede öffentliche Anstalt, ja jeder Privatmann besitzen, welcher einen starken Briefverkehr unterhält und nicht in der Lage ist, wie etwa der größte Theil der Kaufleute, jeden der Eingänge am selben Tage zu erledigen. Was aber die Ueberbürdung anbetrifft, so bedaure ich jeden, der unter einem Zuviel von Arbeit seufzt, und gestehe gern, daß mich der Gedanke an wartende und auf Bescheid harrende Menschen in acht Tagen derartig nervös machen würde, daß ich mein Amt niederlegen müßte. Indes sehe ich nicht recht ein, wieso die Arbeit geringer werden soll, wenn man sie hinausschiebt. Ich glaube vielmehr, daß man nur durch tägliche Aufarbeitung des täglich sich zudrängenden Materials seiner Aufgabe leichter Herr zu werden vermag und daß, was man heute kurz und schnell erledigen könnte, nach Verfluß von Tagen und Wochen eines viel umständlicheren Apparates — und wäre es auch nur des Entschuldigungstheiles in der Antwort — bedarf.

„Bis dat, qui cito dat,“ das gilt auch in unserem Falle. „Wer schnell Antworten giebt, giebt doppelt,“ das möge sich nur jeder vergegenwärtigen, welcher Briefe zu erledigen und harrenden Menschen Bescheid zu ertheilen hat. Ich will es mir gar nicht als Verdienst anrechnen, daß ich, wenn es angeht, am nämlichen, ist dies nicht thunlich, am folgenden Tage, im äußersten Falle — und wenn ich die Nacht dazu nehmen muß — vor Ablauf der Woche antworte. Ist es mir ganz unmöglich, dann tritt die Frau für mich ein, obwohl sie den ziemlich ausgebreiteten Briefwechsel mit der Familie in strenger Pflichterfüllung fast allein auf dem Laufenden hält. Aber es soll niemand auch nur eine Stunde unnöthig warten; nur niemand in Ungewißheit lassen und überall klare Verhältnisse halten! Ich sollte meinen, hierzu müßte jeden schon sein Gewissen drängen. Der Geist des Schreibers eines Antwort erheischenden Briefes sucht mich im Schlafe auf und findet nicht eher Ruhe, als bis die Antwort zur Post gegeben ist.

Man versetze sich doch einmal in die Lage eines solchen Wartenden! Es ging ihm einst vortrefflich. Was er angriff, gedieh. Sein Fabrikgeschäft blühte. Er konnte sich den Luxus gönnen, ein schönes unvermögendes Mädchen zu heirathen. Eine Anzahl blühender Kinderchen vervollständigte sein Glück. Plötzlich wendet sich das Blatt unerwartet — ohne seine Schuld. Eine neue Erfindung verbilligt die Fabrikation. Er vermag sein Anwesen nicht so eilig auf das neue Verfahren umzubauen. Die Nebenbuhler rauben ihm die Kundschaft. Verlust folgt auf Verlust; zu Hause Sorge und Krankheit. Nach kummervollen Jahren kommt es zum Krache. Jetzt ist er drei Jahre außer Thätigkeit, ohne Verdienst, ohne Aussicht. Was er anfängt, mißlingt. Er bemüht sich um Vertretungen: er bekommt nur solche, die Arbeit, aber keinen Lohn bringen. Die leistungsfähigen Häuser schweigen sich beharrlich aus. Endlich ist der Seelenkampf bestanden: er will auf das Hochgefühl der Selbständigkeit verzichten — er will dienen. Wo eine Stellung ausgeschrieben wird, meldet er sich — und hundertmal bekommt er keine Antwort. Er steht am Ausgabeschalter des Anzeigeblattes, um die neu erscheinende Zeitung schnell zu durchfliegen. Er ist schon nicht mehr wählerisch, er würde nehmen, was sich findet. Die wenigen Groschen, welche er durch Verpfändung und Verkauf der letzten entbehrlichen Habe erlangen kann — wie nöthig man sie auch für Brot braucht — das Porto der Meldung muß in erster Linie bezahlt werden. Alles umsonst, nirgends ein Bescheid!

Jetzt strahlt eine Hoffnung. Eine Fabrik, ähnlich wie er sie früher betrieben hat, eine von denen, die seinen Ruin mit verschuldeten, sucht einen zweiten Direktor. Der erste ist, wie sich herausstellt, ein Schulfreund. Der hat zu bestimmen. Unser armer Freund hat von der freien Stelle unter der Hand gehört — hier wird endlich Licht werden. Er schreibt eine Eingabe auf schönstem Papier, mit schönster Schrift, in schönstem Stile, sachlich, aber rührend. Er legt Zeugnisse bei, von seinen Lehrjahren an, vom Militär, über seine Thätigkeit als junger Kaufmann, als einstiger Gemeindeältester seines Städtchens. Es sind das ja alles nur Förmlichkeiten — man kennt ja seine Vergangenheit. Er hat sich gewehrt wie ein Held. Er hat sich nicht so leicht dem feindlichen Geschick ergeben. Einen solchen Mann braucht man, einen Praktiker, der das Leben kennt, der sich die Hörner schon abgestoßen hat, keinen unerfahrenen Theoretiker.

Es vergeht eine Woche, es vergehen zwei, drei. Er fängt an, sich zu wundern. Die Meldung ging als Doppelbrief, er hätte ihn einschreiben lassen sollen. Ja richtig — er hatte eben nur 20 Pfennig im Besitz! Er wird unruhig. Nach vier Wochen bestätigt er seinen Brief — er ist doch hoffentlich richtig an seine Adresse gelangt? Wiederum eine Woche — ohne Antwort! Es sind ja auch seine Originalzeugnisse beigefügt gewesen. Er hatte keine Abschrift genommen, das Papier fehlte. Er schreibt ein drittes Mal — ein vierter Brief wird eingeschrieben. Kleinmuth ergreift ihn, die Noth macht sich immer rückhaltloser geltend. Er vertröstet die Seinigen von Tag zu Tag — die Leute müssen ja antworten, sie müssen ihm doch seine Zeugnisse zurücksenden, den schwarz auf weiß bestätigten guten Leumund, das Einzige, was er noch besitzt! — Seinen Worten hört man an, daß er selbst nicht mehr recht daran glaubt, und der Hauswirth, den er mit der sicheren Aussicht schon über Gebühr hingehalten hat, läßt etwas von falschen Vorspiegelungen fallen. Morgen läuft die letzte Frist ab. Und übermorgen — wird vielleicht das Dekret der Anstellung, welche ihm der schreibunlustige Schulfreund verschafft hat, der verzweifelnden Frau eines Geisteskranken ausgeliefert. Eine einzige Postkarte zur Zeit — drei Worte der Entschuldigung, des Trostes, der Ermuthigung — und eine tüchtige Kraft, ein glückliches Familienleben war gerettet.

Eine Art Briefe wird, wie ich höre — denn ich selbst habe weder solche geschrieben noch empfangen — grundsätzlich nicht beantwortet — gewisse „billets doux“. Der Heldentenor blickt mit einem milden Lächeln von Selbstbefriedigung auf den Regenbogen vielfarbiger Briefchen, die ihm nach der heldenmüthigsten Erklimmung des hohen C der Postbote ins Haus bringt. Sie zeugen von einer hingerissenen Stimmung, und ihr Parfüm spricht von dem schwärmerischen Augenaufschlag ihrer niedlichen Schreiberinnen. Oder ein Backfischchen von fünfzehn Jahren, mit kurzgeschnittenem Haare, schreitet, die Notenmappe vor sich, durch das Gewühl der Straße heim. Sie trägt ihr allerliebstes Näschen hoch, als wäre sie weit erhaben über das allgemeine Treiben um sie her, und ihre blauen Augen sehen gerade vor sich hin, als ob sie die Gymnasiasten nicht bemerkte, die mit den dicken Büchern unterm Arme mit entzücktem Gesichtsausdruck an ihr vorüberschreiten. Aber zu Hause findet sie ein zierliches Briefchen, welches ihr jemand unbemerkt zwischen die Noten geschoben hat. Auf ihrem Gesichtchen kämpft Aerger, Selbstbefriedigung und Schrecken. Wird er seine Drohung wahr machen? Wird er wirklich zur Pistole greifen, wenn sie wieder ohne Gruß an ihm vorübergeht? Das wäre doch jammerschade um den netten Menschen! In ihrer tiefsinnigen Betrachtung hat sie die Mutter nicht bemerkt, die ins Zimmer getreten ist und mit Falkenblick die verbotene Frucht in der Hand des Töchterchens entdeckt hat. Mit dem vernichtenden Richterspruch: „Dummes Gänschen, wirst Du wohl die Kindereien bleiben lassen!“ wandert das Erzeugniß siebzehnjähriger Verliebtheit und Schriftstellerkunst in den Ofen.

Und noch eine Sorte Briefe bleibt oft unbeantwortet — die der Autographensammler. Manche Berühmtheiten halten sie für eine Landplage, die gleich nach den ägyptischen Heuschrecken kommt. Die Sitte steht ja wohl auf einer Linie mit dem Postmarkensammeln. Nicht eine besondere Hinneigung zu dem Dichter, dem Künstler veranlaßt das Gesuch, sondern der Wunsch, den eigenen Besitz an Selbstschriften zu vervollständigen oder Tauschmittel in die Hand zu bekommen. Im ganzen aber fühlt sich doch vielleicht jeder ein bißchen durch solches Ansinnen geschmeichelt, und wer damit groß thut, daß er vor Autographenschreiben zu keinen anderen Arbeiten komme, der steht bei mir in dem Verdacht, daß sich noch nie ein derartiges Gesuch an ihn herangedrängt hat.

Das ganze Leben — es scheint mir im gewissen Sinne ein Frage- und Antwortspiel zu sein, und wenn auch nach dem alten Worte „ein Narr mehr fragt, als zehn Weise beantworten können,“ so entschuldige ich doch keinen, der jemand auf die Erledigung seines Briefes auch nur eine Stunde ohne Noth harren läßt.


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Die Wasserversorgung der Städte.

Von Dr. Friedrich Dornblüth.

Die genaue Beobachtung der Choleraepidemie, welche Hamburg in wirklich erschreckender Weise heimgesucht und von dort nach den verschiedensten Richtungen ihre Sendboten ausgeschickt hat, lehrt uns vielerlei, was für die Erkenntniß und für die künftige Verhütung der Seuche außerordentlich wichtig ist. Für die genauen Kenner mag nicht allzuviel Neues dabei herausgekommen sein. In mancher Beziehung aber sind die Anschauungen gefestigt, die Beweise für den Zusammenhang der Erscheinungen zahlreicher und klarer geworden, und endlich ist die Seuche mit solcher Gewalt aufgetreten, daß dadurch sicher nicht wenig Gedankenarme und Thatenträge aufgerüttelt worden sind, selbst mit Hand anzulegen an die Vertheidigungswerke der Zukunft oder wenigstens deren Errichtung nicht länger durch passiven oder aktiven Widerstand zu hemmen.

Die Hamburger Epidemie zeigt durch ihr explosionsartiges Auftreten, daß eine sehr schnell und in großer Ausdehnung wirkende Ursache ihr zu Grunde gelegen haben muß. Das längst als ganz außergewöhnlich schlecht bekannte Leitungswasser, das den größten Theil der Stadt versorgt und in dessen Gebiet die Krankheit fast ausschließlich gewüthet hat, setzt die Thatsache der Schädlichkeit dieses Wassers außer allen Zweifel; um so mehr als zahlreiche frühere örtliche Epidemien der Cholera und des Unterleibstyphus sich ebenfalls an bestimmte Wasserversorgungsanstalten angeschlossen oder um gewisse Brunnen oder andere Gewässer gruppiert haben.

Der Umstand, daß solche Epidemien oft ganz plötzlich nachließen, nachdem das verdächtige Wasser vom Gebrauche ausgeschlossen war, und noch mehr die Erfahrung, daß spätere Seuchenzüge an solchen Orten vorübergingen, die sich inzwischen mit besserem Wasser versehen hatten, mag nicht immer als entscheidender Beweis angesehen werden, da oft gleichzeitig andere gesundheitliche Verbesserungen, wie z. B. besssere Entwässerung und Reinigung, ausgeführt worden waren. Auch der trotz seiner großen Schwierigkeit mehrfach erbrachte Beweis der Anwesenheit von Kochschen Kommabacillen, die als unmittelbare Ursache der Cholera, oder von Typhusbacillen, die als Ursache des Unterleibstyphus nicht angezweifelt werden können, in den angeschuldigten Wassern mochte noch für ungenügend gehalten werden, da für dm Ortsepidemien auch noch andere Ursachen besonders die unreine Beschaffenheit des Untergrundes, wirksam sind. Aber bei der Elbe und ihren Nebenflüssen konnte doch von einer Verseuchung des Untergrundes nicht die Rede sein! Wenn demnach die Cholera unter den Elbschiffern so besonders mörderisch gewüthet hat, während zugleich in dem Wasser, auf dem ihre Schiffe schwammen, das sie täglich für alle möglichen Bedürfnisse benutzten, Cholerabacillen nachgewiesen wurden, so kann über den Zusammenhang zwischen diesem Wasser und der Krankheit ein Zweifel nicht mehr bestehen.

Die Kommabacillen müssen aber trotz Pettenkofers neuestem Versuch als nächste und eigentliche Ursache der Cholera angesehen werden. Denn wenn dieser berühmte und mit Recht verehrte „Vater der Hygieine“ infolge seines heldenmüthigen Bacillentrunks nur eine Choleradiarrhoe bekommen hat, so ist damit nur die Thatsache wiederholt, daß während jeder Choleraepidemie neben und zwischen den echten Cholerafällen und unter denselben Umständen und Lebensverhältnissen viele Leute nur an Choleradurchfall leiden, aber trotzdem ihrerseits die Cholera verschleppen können. Mag immerhin neben den Kochschen Bacillen noch eine andere Schädlichkeit einwirken müssen, um einen vollen Choleraanfall hervorzurufen, oder mag eine gewisse Widerstandskraft mehr oder weniger schützen, wobei namentlich auch die alte Erfahrung in Betracht kommt, daß Menschen höchst selten, während einer und derselben Epidemie fast niemals, wiederholt von der Cholera befallen werden – ohne Kommabacillen ist doch noch niemals ein Choleraanfall entstanden.

In Hamburg liegt die Sache vollständig klar: einerlei, wie der Cholerakeim zuerst hineingekommen sein mag, mit den Ausleerungen der Kranken mußte er auf dem Wege der allgemeinen Haus- und Abortsentwässerung in die Siele, weiterhin in die Elbe und von dort durch die Fluthwelle in die Sammelbecken der Wasserleitung gelangen.

Diese Sammelbecken, die fälschlich als „Klär“becken bezeichnet werden, da sie doch nur ganz besonders schmutzige Teiche darstellen, gewähren nach den Urtheilen unbefangener Besichtiger die besten Vermehrungsstätten für Zersetzungserzeugnisse organischen Ursprungs, unter denen bei der damals herrschenden großen Hitze auch die Kommabacillen die beste Gelegenheit zur Entwicklung und Vermehrung finden mußten. Aus ihnen wird das Wasser ohne irgend welche Reinigung in die Häuser gepumpt, wo die Bacillen in den Wasserkästen der Hausleitungen nochmals die günstigste Gelegenheit für ihre ungezählte Vermehrung fanden. Es ist genau so, wie ein offenbar höchst sachverständiger englischer Arzt als Berichterstatter der Londoner „Times“ schrieb: „Die Hamburger lassen ihren Unrath unten aus den Häusern heraus, um ihn vermittelst der Wasserleitung oben wieder hineinzupumpen.“

Die schlechte Beschaffenheit des Hamburger Leitungswassers war seit langer Zeit allgemein bekannt und die von dorther drohenden Gefahren sind von Aerzten und Hygieinikern oft und eindringlich gekennzeichnet worden. Auch an thatsächlichen Warnungen hat es nicht gefehlt, denn die Stadt hat von 1831 bis 1873 nicht weniger als vierzehn große Choleraepidemien zu überstehen gehabt! Unter dem Eindruck der letzten wurde die Verbesserung der Wasserversorgung durch große Sandfilter ernstlich geplant – die Ausführung verzögerte sich aber von Jahr zu Jahr, und je weiter die letzte Epidemie in der Zeit und im Gedächtniß der Menschen zurücktrat, desto säumiger scheint das Werk betrieben worden zu sein. Jetzt ist die Cholera wiedergekommen und hat gezeigt, was sie kann. Das Unglück ist hereingebrochen und schwer lastet die Verantwortung auf denjenigen, welche die Versäumniß verschuldet haben! Möge aber nicht in Hamburg allein die Mahnung beherzigt werden, sondern überall, denn es giebt noch gar viele schwerhörige und säumige Ortsverwaltungen innerhalb und außerhalb Deutschlands, denen es an der Einsicht oder an dem guten Willen fehlt, vorhandene Schäden zu bessern und kräftige Vertheidigungswerke gegen den lauernden und heimlich eindringenden Feind aufzuführen! Nicht um Cholera allein handelt es sich dabei, sondern auch um Unterleibstyphus und andere Krankheiten, die wir bei uns dulden und wohl gar großziehen.

Wie aus schlechtem Wasser gutes zu gewinnen ist, hat jetzt eben Altona der ganzen Welt gezeigt. Auch diese Stadt bezieht ihr Trink- und Nutzwasser aus der Elbe, und zwar nahe unterhalb Hamburgs, wo sie mit den gesammten Sielwässern dieser Stadt und allem Schmutzabfall ihres Hafens beladen ist. Zwar wird das Elbwasser vor der Schöpfstelle durch den mächtigen Strom der Süderelbe verdünnt, indessen das Wasser und der Ufersaum zeigen deutlich genug, daß es nichts weniger als rein ist. Aus den Altonaer Wasserwerken aber, wo es durch Sandfilter gegangen ist, fließt es völlig klar, geruchlos und für die sorgfälligste chemische und bakterioskopische Prüfung einwandfrei ab. Um den Beweis voll zu machen, so ist Altona, trotz des ungeheuren Verkehrs mit der Nachbarstadt Hamburg, insofern cholerafrei geblieben, als dort aus den von Hamburg eingeschleppten Cholerafällen keine eigentliche Epidemie entstanden ist.

Eine große Anzahl von anderen Städten hat ebenfalls durch Zuleitung guten Wassers, das entweder aus Gebirgsquellen oder aus dem Grundwasser eines reinen Bodens oder durch Filterwerke gewonnen war, die Gesundheitsverhältnisse unter ihren Bewohnern wesentlich gebessert, was sich theils durch die Verminderung der allgemeinen Sterblichkeit, theils durch das Fernbleiben gewisser Epidemien, die früher ständig geherrscht oder von Zeit zu Zeit ihre verderblichen Besuche gemacht hatten, kundgegeben hat.

Vor diesen künstlichen Zuleitungen hatte das Wasser von Seen, offenen Flußläufen oder innerhalb der Ortschaften gelegenen Brunnen den Bedarf mehr oder weniger reichlich und befriedigend decken müssen; allmählich aber wurde einerseits

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Paulus in Athen.
Nach einem Gemälde von F. Laporta.

[885] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [886] die Wassermenge ungenügend, andererseits die Wasserbeschaffenheit mehr oder weniger schlecht und gesundheitsfeindlich. Bäche und Flüsse waren mit dem Wachsthum der Städte und der Zunahme von Industrien, die ihre Abfälle und Abwässer denselben übergaben, mehr un mehr Verunreinigungen ausgesetzt, die ihr Wasser ungenießbar und zu anderen Zwecken unbrauchbar machten oder auch geradezu Krankheiten übertrugen; die Brunnen aber genügten immer weniger an Wassermenge und zeigten meistens ebenfalls eine zunehmende Verschlechterung. Die gewöhnlichen „Flach“- oder „Kesselbrunnen liefern ja bekanntlich in der Regel nicht reines, aus tieferen Erdschichten kommendes Quell- oder Grundwasser, sondern nur solches, das aus oberflächlichen, den mannigfaltigsten Verunreinigungen ausgesetzten Erdschichten stammt, oft auch unmittelbar durch Schmutzwasser von Straßen, Höfen, Dungstätten u. dergl. m. verdorben wird. Beweise dafür liefert die Beschaffenheit dieses Wassers. Mit den Zeiten wechselnd, enthält es mehr oder weniger organische Zerfallstoffe nebst deren Enderzeugnissen und kleinste Lebewesen pflanzlicher und thierischer Natur, die von den Zerfallstoffen sich nähren; ein stinkender Schlamm sammelt sich auf dem Grunde der Brunnen und muß von Zeit zu Zeit herausgeschöpft werden, damit das Wasser wieder brauchbar werde. Bei Häuserbauten, Straßenpflasterungen, beim Legen von Rohrleitungen etc. kann man sich ja oft genug durch Auge und Nase von dem bösen Zustande dieses Untergrundes überzeugen, dessen Auslaugungen – mit dem hygieinischen Ausdruck „Stadtlauge“ genannt – wir als Pumpenwasser schöpfen.

Auf den Dörfern steht es trotz der weitläufigeren Bauart damit oft noch schlimmer als in den Städten, weil viel mehr Düngerjauche oberflächlich oder von den Seiten her, durch Spalten oder mit dem Grundwasser in die Brunnen eindringen kann. Nicht selten hört man Dorfbewohner ihre Verwunderung darüber äußern, daß sie in der trockenen Zeit des Spätsommers und Vorherbstes so viel von Durchfällen, gastrischen Krankheiten und Unterleibstyphus zu leiden hätten; sie schieben dann meist die Schuld auf den reichlichen Obstgenuß. Aber die Sache erklärt sich sehr einfach dadurch, daß die guten Leute in Regenzeiten stark verdünnte, in trockenen Tagen schwach verdünnte Jauche zu trinken pflegen.

Die Brunnen können gegen solche Verunreinigungen dadurch geschützt werden, daß man sie bis in reines Erdreich einsenkt und ihre Seitenwände durch eine dichte Bauart gegen seitliches Eindringen von Wasser schützt; auch eiserne Röhrenbrunnen, tief genug gebohrt, entsprechen ihrem Zwecke, geben aber nur dann ausreichendes Wasser, wenn sie zufällig eine Wasserader treffen oder in eine stärkere Wasseransammlung auf undurchlässiger Schicht gelangen.

Das Bedürfniß kleiner Ortschaften kann auf solche Art unter günstigen Umständen wohl gedeckt werden; für größere Orte aber werden reichere Wasserzuflüsse verlangt, die man in Berücksichtigung der gewöhnlichen Gewerbe, sowie der allgemeinen Reinlichkeits- und Badebedürfnisse auf täglich 150 Liter für den Kopf der Bevölkerung schätzt. Glücklich die Städte, denen ein nahes Gebirge durch fließende Quellen oder durch Grundwasserströme, die von Berg zu Thal ziehen, reichlich reines Wasser liefert! Die größere Anzahl ihrer Schwestern, besonders in den Ebenen, ist darauf angewiesen, ihren Bedarf aus Flüssen oder Seen zu entnehmen, die vor Verunreinigungen nicht geschützt sind, und muß deshalb für Reinigung des Wassers sorgen, bevor es durch Leitungsröhren in die Häuser vertheilt wird. Auch muß der ganze Wasserbedarf gereinigt werden, weil doppelte Leitungen für Nutz- und Trinkwasser die Sache sehr vertheuern würden, und hauptsächlich, weil auch das Nutzwasser beim Waschen und Geschirrspülen, beim Reinigen der Wohnungen und bei manchen andern Gelegenheiten uns gefährliche Krankheitskeime zuführen kann. Es ist nichts Seltenes, daß aus einer Milchwirthschaft, wo zur Reinigung der Milchgefäße, vielleicht auch zur Verdünnung der Milch ein mit Typhusabgängen verunreinigtes Wasser gebraucht wurde, Typhus unter den Kunden sich verbreitete, und so gut Wäscherinnen durch Waschen von Cholerazeug erkranken, ebenso gut können auch Eßgeschirre, Milch und andere Speisen zu Trägern der Cholerakeime werden.

Endlich ist die Wasserreinigung auch deshalb an einem Orte vollständig durchzuführen, weil es niemals gelingen dürfte, das Nutzwasser überall vom Genuß auszuschließen, und weil Hausfilter verhältnißmäßig theuer sind und durch ihre bald eintretende Verunreinigung nicht nur unwirksam, sondern als Bakterienzuchtanstalten geradezu gefährlich werden, wenn sie nicht sorgfältig überwacht und oft gereinigt werden.

Sandfilter von der Art, wie sie in neuerer Zeit bei fast allen städtischen Wasserversorgungsanstalten eingerichtet sind, liefern im allgemeinen ein befriedigendes und für die Gesundheit der Abnehmer nicht nachtheiliges Wasser. Aber ihre Leistungen sind nicht unbegrenzt: krankmachende Bakterien können vermöge ihrer Kleinheit, theilweise vielleicht auch wegen ihrer Bewegungsfähigkeit durch die Filterschichten gelangen, jenseit derselben sogar sich vermehren, wie von gewohnlichen Wasserbakterien immer eine ganze Menge durch die Filter geht und in deren unteren Schichten sich vermehrt. Je weniger Bakterien in dem zu filtrierenden Wasser vorhanden sind, desto geringer ist die Gefahr, daß solche hindurchdringen. Deshalb ist von vornherein überall nur möglichst reines und wenigstens vor Vermischung mit Fäkalien möglichst geschütztes Wasser zu Leitungszwecken zu verwenden.

Indessen darf diese Aufforderung nicht zu streng aufgestellt werden. Denn im Fluß- und Seewasser vollzieht sich durch Ablagern auf den Boden, durch die Thätigkeit vieler kleinster und größerer Wasserbewohner, Pflanzen und Thiere, durch den im Wasser aufgelösten, der Luft entnommenen Sauerstoff und endlich durch das Sonnenlicht eine Zerstörung toter und lebendiger Verunreinigungen, ein Vorgang, den man als „Selbstreinigung“ der Flüsse bezeichnet. So kommt es, daß Flüsse, welche sämmtliche Abwässer und Kloaken von Städten aufgenommen haben, in einiger Entfernung unterhalb derselben nichts mehr davon erkennen lassen. In kleinen Klärbecken dagegen, in denen die unreinen Stoffe sich absetzen sollen, kann sogar eine reiche Sumpfflora und -fauna erwachsen und eine unermeßliche Vermehrung ihrer Bakterien unschuldiger wie gefährlicher Art eintreten.

Es ist, wie gesagt, natürlich dafür Sorge zu tragen, daß nicht in der Nähe der Schöpfstelle menschliche Ausleerungen in das Wasser gelangen. Ferner müssen die Filter langsam durchströmt werden, damit schädliche Bakterien nicht mechanisch mitgerissen werden, und zwar hat die aus Anlaß der Cholera im Reichsamt des Innern eingesetzte Fachkommission eine Filtrationsgeschwindigkeit (Stromgeschwindigkeit im Filter) von hundert Millimetern in der Stunde als nicht zu überschreitend bezeichnet. Endlich müssen die Sandfilter häufig gereinigt, dann aber nicht eher wieder in Gebrauch genommen werden, als bis auf ihrer Oberfläche sich wieder der Algenfilz gebildet hat, der die Bakterien und ähnliche Wasserbewohner zurückhält.

Um nach allen diesen Richtungen hin die Reinigungsfähigkeit der Filter stets genau beurtheilen zu können, ist eine häufige, unter gefahrdrohenden Umständen eine tägliche Ueberwachung durch bakteriologische Untersuchungen nothwendig. Erscheinen in dem filtrierten Wasser plötzlich größere Mengen oder ungewöhnliche Arten von Bakterien, so ist das Wasser vom Verbrauch auszuschließen und während dessen durch Benutzung eines anderen Filters Abhilfe zu schaffen. Aus diesem Grunde und schon um die gewöhnliche Reinigung ohne Betriebsstörung zu ermöglichen, sind immer mindestens zwei Filter von reichlicher Größe nothwendig.

Die Versorgung der Städte mit tadellosem Wasser kostet freilich Geld, oft recht viel Geld, aber man hält damit nicht nur Krankheiten fern, die neben Geld noch viel Trauer und Leid kosten, durch reichliches und gutes Wasser wird auch allein die Reinlichkeit in Haus und Hof, an Leibern und Kleidern möglich, welche die Gesundheit kräftigt und fördert, die Arbeitsfählgkeit und Arbeitslust steigert, die ganze Freude am Dasein erhöht. Und noch immer gilt das Wort des alten griechischen Dichters: „Wasser aber ist das Beste!


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Stropp der Hund.

Erzählung von Ernst Lenbach.
Mit Zeichnungen von C. Reichert.

Stropp der Hund saß unter der Hecke am Wege, fest auf die kräftigen krummen Vorderbeine gestemmt, und dachte nach. Ueber ihm blühte und duftete der Flieder, der grüne Wegsaum war mit lieblichen blauen, weißrothen und goldenen Blumen übersät. Die Buchfinken, diese leichtsinnigen Junggesellen, flatterten von Baum zu Baum und überboten einander in höchst bedenklichen Einladungen an die Jungfrauen ihres Volkes: „Zi – Zi – Zillichen, wellste met en’t Withshus gohn?“. Oben im Wipfel der Kastanie, entfernt vom Gewühle der Welt, wie es der Künstlerin ziemt, saß die Drossel und übte ihre große Frühlingsarie. Aber all dies rührte Stropp den Hund heute nicht. Kaum daß er dann und wann die runden Augen und das Krokodilmaul zugleich weit aufriß und mit einer hastigen Kopfbewegung nach irgend einem vorwitzigen Brummer schnappte, der es gewagt hatte, seine ernsten Betrachtungen mit einem leichtfertigen Liebesliedchen zu stören.

Von drinnen, aus dem kleinen weißen Häuschen, erklang das Klirren von Tellern und Gläsern, dazwischen langsames, ernstes Sprechen von zwei schon etwas altersschwachen Menschenstimmen. Ab und zu hörte Stropp der Hund seinen eigenen Namen heraus, gar nicht mit jener aufmunternden oder liebkosenden Betonung, wie er ihn sonst zu hören gewohnt war. Alsdann wechselte er unmuthig das Stützbein, legte den langen spitzschnauzigen Kopf mit den zierlich gefransten Schlappohren auf die andere Seite und stieß einen tiefen Seufzer durch die Nase aus. Und jetzt hörte er wieder jenes häßliche Menschenwort, welches für ihn einen so traurigen Klang hatte: „abschaffen“.

Es war klar, daß dieses Wort etwas überaus Unangenehmes bedeuten mußte, unangenehm für Mensch und Thier. In verschiedenen Betonungen hatte es Stropp der Hund bei seinem früheren Herrn kennengelernt. Nach besonders schweren Vergehen bekam er es zu hören, begleitet von einer sehr ausdrucksvollen Handbewegung des Herrn: „Stropp, wenn du das noch einmal thust, so werde ich dich abschaffen!“ Und in den letzten Tagen ihres Beisammenseins, wie traurig hatte es da geklungen, wenn der Herr, auf dem gepackten Koffer sitzend, ihm unter sanftem Streicheln sagte: „Ja, armer Stropp, krummbeiniges Raubthier“ – oder „Fettwanst“ oder „gefräßiger Dackel“ oder wie sonst die zahlreichen Ehrennamen Stropps hießen – „ich muß dich jetzt abschaffen!“ Und dann hatte ihn der Herr eines Tages hierher gebracht zu den beiden alten Leutchen; er hatte ihm noch eine schöne Rede gehalten, die mit den Worten schloß: „Und wenn du walzenförmiger Kobold hier nicht gut thust, dann soll dir die Frau Schmitz dein rechtes Schlappohr abschneiden und knusprig braten!“ Dann war er gegangen, und Stropp hatte ihn nie wieder gesehen, den guten Doktor, der ihn von klein auf erzogen, frei nach Rousseaus „Emil“, ihn zur Perle der Redaktionshunde und zum Kenner jeglicher Sorte von Wurstschalen ausgebildet hatte. Und mit ihm hatte Stropp neben allem andern auch den Einzigen verloren, der über sämmtliche dunkle Stellen in Stropps Stammbaum hinwegsah und ihn hartnäckig für einen Vollblut-Dackel erklärte. O, es war hart! Lange Zeit brauchte das „gefräßige Ungeheuer“, die „wandelnde Ofenpfeife“, der „krummbeinige Don Juan“, bis er es verschmerzte, diese und andere mehr oder minder sinnvolle Bezeichnungen nicht mehr von redaktioneller Seite zu vernehmen. Aber die Zeit lindert alles, und im übrigen hatte Stropp der Hund es auch hier ganz gut gefunden. Eine Milchwirthschaft ist immer ein angenehmer Aufenthalt für einen häuslich denkenden Hund, der sich noch den Sinn für einfache und gesunde Nahrung bewahrt hat. Die neue Herrschaft behandelte ihn vortrefflich und hatte den schönen Vorzug, daß sie bedeutend weniger flink als Stropp war, was in Augenblicken des getrübten Einvernehmens zwischen beiden Parteien große Vortheile für Stropps körperliche Sicherheit bot. Die Lage des Häuschens war entschieden schöner als das etwas gar zu verräucherte Redaktionszimmer drunten in der Universitätsstadt. Es ließ sich herrlich traben und spielen auf der großen grünen Bergwiese, bis hinauf zu der Wallfahrtskirche und abwärts bis zur Landstraße. Der Maulkorbzwang reichte nicht hinauf in die freien Bergeslüfte, und die Wallfahrer und Spaziergänger aus der Stadt waren immerhin oft genug von Hunden begleitet, um Stropps gesellige Vorzüge, namentlich im Verkehr mit Damen, nicht ganz einschlafen zu lassen. Und dann im Winter, wie herrlich war es, die Bauernknaben auf ihren Stoßschlitten den glattgefrorenen Weg hinabsausen zu sehen, sie blitzenden Auges zu erwarten und dann mit fröhlichem Gebell hinterherzujagen, wobei sich eines von Stropps Ohren umklappte und seinem Kopfe etwas von dem kecken Aussehen eines Husarenczakos gab! Ja, er hatte sich recht eingewöhnt – und nun klang seit einigen Tagen wieder dieses häßliche „abschaffen“ in unverkennbarer Verbindung mit seinem Namen um ihn her und zwang seine Hundeseele, unholden Erinnerungen nachzugehen, eben jetzt, wo Frühlingsgefühle auch seine weißgefleckte Brust dehnen und seinem Gemüth einen höheren Schwung geben wollten!

Es war sehr ärgerlich. Auf alle Fälle hieß es jetzt, Augen und Ohren offen halten und sich allgemein von der besten Seite zeigen, um die Menschen, die nun leider einmal das Schicksal der Hunde spinnen und abschneiden, in möglichst guter Stimmung zu halten.

Während Stropp der Hund solchen ernsten Erwägungen nachhing, klang von unten den Weg herauf eintöniges Stimmengemurmel, erst leise und nun immer näher und lauter. Ein Trupp Wallfahrer zog zur Kirche hinauf, die Männer mit ungeheueren baumwollenen Regenschirmen und rothkattunenen Vorrathsbündeln, die Weiber mit Rosenkränzen und Gebetbüchern. Das waren Landleute, da fiel für Stropp jedenfalls nichts ab als höchstens ein Stoß mit dem Regenschirm. So stand er denn auf und wackelte nach mehrmaligem Dehnen und Gähnen ins Haus hinein, wo er in dem kleinen halb offenen Wirthszimmerchen das äußerste Ende einer blankgescheuerten Bank mit Beschlag belegte und wehmüthig den Duft von frischer Milch einsog.

Nicht lange nach ihm betrat eine unvergleichlich schönere Erscheinung das Zimmer, ein überaus hübsches junges Mädchen in feiner Stadtkleidung. Sie setzte sich auf einen der einfachen Holzstühle und bestellte bei der freundlichen grauhaarigen Frau Schmitz ein Glas Milch, worauf sich zwischen beiden das übliche Wettergespräch entspann. Dazu summten einige Fliegen, die Wanduhr ticktackte, und draußen zog langsam entschwindend das Gemurmel der Betenden vorüber.

Ein zweiter Gast erschien, diesmal ein Herr, und zwar ein noch junger Herr, ebenfalls in Stadtkleidung, mit einer Brille auf der Nase. Freundlich wie ein guter Bekannter begrüßte er die Wirthin, mit einer höflichen gemessenen Verbeugung die junge Dame, dann setzte er sich in ziemlicher Entfernung von dieser nieder und begann gleichfalls sich der Milchkur zu befleißigen. Stropp der Hund hatte ihn als halben Stammgast behandelt, das heißt, er hatte beim Eintritt des Herrn vier- bis fünfmal mit dem Schweif auf die Bank geklopft und war dafür mit einem Streicheln und einem „Na, alter Kerl?!“ belohnt worden. So weit versprach die Entwicklung der Dinge alltäglich zu bleiben.

Nun aber verließ Frau Schmitz das Zimmer, um nach ihren Hühnern zu sehen, und damit begannen die Verhältnisse einen spannenderen Charakter anzunehmen. Nämlich der junge Mann stand plötzlich auf, näherte sich nach einem vorsichtigen Rundblick mit bemerkenswerther Hast der jungen Dame, und im nächsten Augenblick sah Stropp der Hund, wie der Herr die Dame im Arme hielt und ungemein lebhaft küßte. Dazwischen redeten sie allerlei Worte, welche Stropp noch gar nicht in seinem Lexikon der Menschensprache besaß.

Stropp überlegte den Fall, während er als Mann von Welt sich den Anschein gab, völlig uninteressiert zu bleiben. Böses wollte der Herr dem Mädchen anscheinend nicht thun, auch schien [888] sie ja ganz zufrieden mit dem, was er that. Ueberdies kannte ihn Stropp bereits als einen netten freundlichen Menschen, der seinen Fuß beim Vorüberwandeln auf die Straße und nicht auf harmlose Hundeschwänze setzte und dem es auf ein Stückchen Zucker nicht ankam. Und endlich erinnerte sich Stropp, auch seinen früheren Herrn schon einmal in ähnlicher Situation mit einem Mädchen gesehen zu haben, wonach sich derselbe auffällig lustig und freigebig gegen das „krummbeinige Wurm“ benommen hatte. Also abwarten und diskret sein!

„Wie lieb von Dir, Ulla, daß Du so pünktlich bist!“ sagte der Herr unter anderem.

„Ach ich – ich hab’ ja Zeit genug,“ erwiderte das Mädchen, „ich muß Dir danken, daß Du so pünktlich den weiten Weg herkommst, wo Du doch so viel in Deinem Museum zu thun hast, Du armer lieber Karl!“

„Und Du bist sicher, daß der Onkel nichts merkt?“

„Wie sollte er? Ich bin einfach spazieren gegangen …“

„Natürlich, und da hab’ ich Dich einfach hier gefunden, Du süßer Frühlingsstrahl, Du!“

Stropp der Hund bemerkte, daß diese Reden keineswegs dicht aufeinander folgten. Vielmehr waren sie stets unterbrochen von allerlei merkwürdigen, anscheinend nicht unfreundlichen Gebärden und Handlungen. „Ungefähr wie draußen die Blumen zwischen dem grünen Klee stehen,“ dachte Stropp, der allmählich in eine poetische Stimmung gerathen war.

„Und Du willst jetzt öfters hierher kommen, Ulla? Gelt, Du thust es?“

„Ich wollte ja gern, aber sieh, Karl, nun kommen immer mehr Leute hierher …“

„Liebster Schatz, wir brauchen uns ja nicht hier zu treffen, dort hinten am Berge liegt der schöne stille Busch –“

„Und wenn uns einer von den Studenten sieht, die dort nach der Dorfschenke durchziehen – wenn der Onkel –“

„Ach, dieser Onkel!“

Nach einer kleinen Weile begann das Mädchen etwas zaghaft, indes sie liebkosend mit den Fingern seiner Rechten spielte:

„Sag’ ’mal, Karl – aber bitte, sei mir nicht böse – willst Du gewiß nicht böse sein?“

„Ulla, ich Dir böse!“

Es dauert immer länger, bis sie wieder zum Reden kommen, dachte Stropp der Hund.

„Sieh’, Karl, könntest Du denn in Eurem wissenschaftlichen Streite dem Onkel nicht ein wenig entgegenkommen – er ist so eigen – ach, nun bist Du doch böse!“

„Nein, Schatz, nicht böse. Du willst ja nur mein Glück. Aber was Du da sagst, das geht nicht. Jene Frage geht nur die Wissenschaft an, da darf die Liebe nicht entscheiden wollen, und wider mein Gewissen kann ich nicht zugeben, daß die Flasche antik ist. Mein Gott, wie kann aber auch Dein Onkel so etwas so persönlich fassen –“

„Ach, Karl, Du weißt nicht, wie eigen er ist. Und doch wieder so gut.“

„Und hat eine so gute Nichte, und die wird ihn zuletzt doch noch erweichen! Wir müssen’s abwarten, Liebchen … Still, man kommt. Also nächstens – in acht Tagen – drüben am Berge den schmalen Weg –“

„Ja, ja, Karl – aber laß, man kommt!“

In der That, „man“ kam, nämlich Frau Schmitz mit sechs frischen Hühnereiern und einer sehr scharfen Bemerkung für Stropp, welchen sie beschuldigte, zwei weitere Eier ausgetrunken zu haben. Das freundliche Dazwischentreten der beiden Gäste verhinderte eine fühlbarere Strafe für den vierbeinigen Eiertrinker. Bald darauf erhob sich die junge Dame, um ihren Spaziergang fortzusetzen. Der junge Herr verneigte sich höflich, sie nickte dankend.

„Kennen Sie die Dame, Herr Doktor?“ fragte Frau Schmitz.

„Oberflächlich,“ war die Antwort. „Es ist doch die Nichte von dem alten Oberst zur Nieden?“

„Jawohl,“ bestätigte Frau Schmitz. „Ein sehr nettes liebes Mädchen.“

„Es scheint so,“ erwiderte der Doktor, der sich anscheinend in vorzüglicher Laune befand. Er drehte an seinem schwarzen Schnurrbart, blinzelte die alte Wirthin schalkhaft an und bemerkte: „Zu so netten Leuten wie Sie, Frau Schmitz, kommen natürlich auch nur nette Leute! Das Hotel Schmitz kommt immer mehr in Flor!“

„Ach, Herr Doktor,“ meinte die Alte seufzend, „Sie haben gut spotten. Uns geht’s schlecht. Lange werden Sie Ihr Glas Milch wohl nicht mehr bei uns trinken können. Sehen Sie, die Wirthschaft trägt sich nicht mehr aus. Drunten in der Vorstadt das neumodische Café, das nimmt uns unser bißchen Verdienst ganz weg. Und dann will der Fiskus schon wieder mehr Pacht, und alles wird theurer. Wir sind um die Erlaubniß eingekommen, einen leichten guten Wein und ein leichtes Bier schenken zu dürfen – es ist ja weit und breit kein Wirthshaus hier oben, und wir hätten es ja bequem durch unseren Sohn, der ist in einer Weinhandlung und könnte uns dann auch hier helfen. Aber das wollen sie uns nicht bewilligen. Da werden wir denn wohl nächstens in die Stadt hinunterziehen. Und der da, der macht uns auch Sorge. Der neue Oberförster sagt, der Hund sehe ganz aus, als ob er wildere. Der arme Kerl, der ist ja zu fett und zu faul, um einen Regenwurm zu jagen, gelt, Ströppchen? Aber in der Stadt können wir ihn nicht halten. Wir müssen den Stropp abschaffen.“

Da war es, und jetzt ganz deutlich! Stropp der Hund zuckte auf; allein er bezwang sich und lauschte mit ängstlicher Spannung.

„Ach, das wäre aber schade,“ bemerkte jetzt der Herr, indem er Stropp mitleidig ansah, „schade für Sie und für den drolligen Kerl da und schade auch um das hübsche Plätzchen hier! Warum will man Ihnen denn die Erlaubniß nicht geben?“

„Ja, die Herren sagen, es liege kein Bedürfniß vor … Sie sagen, wir müßten Beweise …“

„Was, Beweise?“ rief der Doktor, indem er wie elektrisiert aufsprang, „na warten Sie, Frau Schmitz, die schaffen wir Ihnen. Heute abend, wenn Ihr Mann in die Stadt kommt, lassen Sie ihn bei mir ein Heft abholen, da werde ich hinein schreiben lassen, daß eine kleine Wein- und Bierschenke hier oben dem dringenden Wunsche aller Unterzeichneten entspreche. Das legen Sie hier auf. Und dann schicke ich Ihnen die Studenten her – die Mitglieder meiner Verbindung, meine Zuhörer, jegliches durstige Gebein, das ich kenne – und die sämmtlichen Herren von unserem Docententisch an der Spitze, die lasse ich gleich heute unterschreiben. Wir wollen doch sehen, ob hier kein Bedürfniß vorliegt. Und wenn erst ein Dutzend Studenten den Weg hierher gefunden hat, so kommen die anderen auch, die jetzt alle durch den Busch drüben zur Dorfschenke ziehen. Und dann bist Du auch geborgen, Stropp, alter Kerl, gelt?“

Der alte Milchmeier kam jetzt eben recht, um seinen Dank für das freundliche Anerbieten des Herrn Doktors mit dem seiner Frau zu vereinigen. Er war ein stiller, anscheinend etwas zur Beschaulichkeit neigender Mann, der sich auch diesmal willig der Ansicht seiner stärkeren Hälfte fügte.

Am Abend dieses schönen Frühlingstages trug Stropp der Hund folgende Thatsachen in das Buch seines Gedächtnisses ein: Die Alten wollen mich wirklich abschaffen, was ihnen aber natürlich selber sehr leid thut. Der freundliche Herr mit dem schwarzen Schnurrbart und den Gläsern vor den Augen will machen, daß ich hier bleibe. Er ist also ein guter Mensch, künftig als Stammgast erster Klasse und als werthvoller Beschützer zu behandeln. Er unterhält sich sehr vertraulich mit der jungen netten Dame, die auch freundlich gegen mich ist, sie verheimlichen es aber vor den anderen Menschen. Also wollen diese die Freundschaft zwischen beiden abschaffen. Man muß den beiden zu helfen suchen.

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Nota bene: beide sprechen mit Unwillen von jemand, den sie „Onkel“ nennen. Wer ist dies? Wahrscheinlich kein guter Mensch. Mein früherer Herr nannte auch jemand so, der eine rothe Nase hatte, meinen Herrn ausschalt und nach mir schlug. Ob dies derselbe ist? Oder giebt es mehrere Onkel unter den Menschen?

Im allgemeinen war Stropp der Hund von den Erfahrungen dieses Tages nicht unbefriedigt. In ziemlich gehobener Stimmung machte er einen Abendspaziergang nach der Kuppe des Berges und bellte dort noch ein Weilchen den Mond an, welcher groß, roth und rund wie ein richtiger Onkel über dem Gebirge jenseit des Stromes aufstieg und gar nicht aussah, als ob er sich aus irgend welchem Gebell auf Erden auch nur das Geringste machen würde.


Am Fuße des Berges zieht sich ein anmuthiger Pfad längs einem Bächlein hin, zuerst nur umsäumt von Brombeerranken, wilden Rosen und Erlensträuchern, bis er dann weiterhin in den Busch tritt und nach allen Seiten kleine Fußsteige entsendet, die schönsten Wege für solche, die einsam oder zu Zweien dem Kuckuck lauschen und Blumen brechen wollen. „Einst war der Pfad von Wallern voll“, als er noch von den Studenten dazu benutzt wurde, auf dem nächsten Umwege über die Dorfschenke zum Berg hinaufzusteigen. Seit aber die Bitte der beiden Alten droben bewilligt worden und in dem kleinen Häuschen neben den Milchgläsern auch Flaschen und Römer klirrten, hatten die Musensöhne schnell begriffen, daß der gerade Weg der beste sei, und nur selten noch klangen Menschenschritte in das Rauschen und Plaudern des Bächleins, wenn hier und da ein paar Bewohner der Villenvorstadt sich einmal im Walde ergehen wollten. Um so freier und lustiger ließen die kleinen Vögel ihre Stimmen erschallen, die in dem dichten Geranke nisteten und umherschlüpften, das noch unbedrängt geblieben war von dem gleichmachenden Streben neuzeitlicher Forstwirthschaft. Mitten in einem spitzdornigen Gebüsch von Heckenrosen saß Frau Sylvia, die Grasmücke, auf ihrem ziemlich leichtfertig gebauten Neste, in dem vier winzige rothgesprenkelte Eier für die Fortdauer des Geschlechtes bürgten, und lauschte dem Gemahl, der in grauem Federkleid mit schwarzer Kapuze ihr ein verliebtes Ständchen brachte. „Ich weiß nicht,“ sagte die entzückte kleine Frau, „was die Menschen an der Nachtigall so Großes finden; singt sie nicht viel rauher und schriller als mein Mönch?“ Und der verliebte Schwarzkopf hörte es und sang noch einmal so süß und schmelzend, daß die Kleine ordentlich zitterte vor Stolz und Liebe.

Da bog sich auf der anderen Seite des Bächleins ein Strauch zur Seite, eine schwarze Schnauze wand sich schnaufend hindurch, ein langer Leib mit dunklem glänzenden Fell schob sich auf krummen dicken Beinen nach und flog in kühnem Schwunge über die Wasserrinne just vor das Sängerpärchen hin. Die aber kannten ihn schon und ließen sich auch nicht stören, als der plumpe Gast gerade unter ihrem Strauche zur Uebung ein wenig zu graben begann, daß die Erdklümpchen herumflogen und seine Nase bald eine Brille von Erde trug. Sie wußten, daß Stropp der Hund ihnen nichts zuleide that, und seine groben Manieren mußte man eben hinnehmen; sicherte er sie doch auch durch seine bloße Anwesenheit vor dem Besuche von Katzen und Wieseln.

Stropp der Hund hatte seine Gründe dafür, daß er seit einiger Zeit den Schauplatz seines beschaulichen Daseins möglichst viel an diese abgelegene Stelle verlegte. Der wirthschaftliche Aufschwung seiner Herrschaft hatte ihn zwar vor dem Abgeschafftwerden beschützt; aber seine Lage war entschieden ungemüthlicher geworden. Die Herren Studenten, welche jetzt bei Philemon und Baucis einkehrten – diese Namen hatten sie dem würdigen Ehepaare verliehen – wußten anscheinend durchaus nichts von den Rücksichten, die ein philosophisch angelegter Hund beansprucht. Mit ihrem etwas geräuschvollen Wesen störten sie seine verdauungsvollsten Betrachtungen, und es gab Leute unter ihnen, die das reichlich bemessene Nackenfell des armen Kerls als eine willkommene Einladung ansahen, an seinem hin und her schwebenden Körper die Gesetze der Pendelschwingung zu veranschaulichen. Andere versteiften sich darauf, ihm seinen ehrlichen rheinischen Namen abzugewöhnen und ihm unter Anwendung empfindlicher Püffe Geschmack für eine neue Benamsung beizubringen, wobei ihre Wahl zwischen „Cerberus“, „Phylax“, „Nero“, „Apollo“ und ähnlichen klassischen Erinnerungen schwankte. Und wenn er dann der Bedrängniß entrann und ein wenig auf der Bergwiese spazierte, so kam auch ganz unfehlbar der neue Oberförster mit einem durstigen und folglich verdrießlichen Gemüthe daher und veranlaßte Frau Baucis, dem armen Stropp einen Maulkorb anzulegen, der noch dazu aus dem Nachlasse eines Mopses angekauft und seinem jetzigen Inhaber viel zu knapp war.

In der That, die Zeiten waren schlecht geworden, und Stropp der Hund sah oft mit schmerzlicher Miene auf die glitzernden Wellen des Bächleins und erwog bei sich, ob es nicht doch in der Welt noch angenehmere Herren gäbe. Aber woher einen nehmen und nicht stehlen?

Da war der freundliche Herr Doktor mit der Brille und dem schwarzen Schnurrbarte. Stropp mußte wohl zuerst auf ihn verfallen; denn von seinem jetzigen Ruheplatz aus sah er ihn oft genug. Der Herr Doktor schien neuerdings viel Freude an Waldspaziergängen zu haben. Merkwürdigerweise schien ferner die hübsche junge Dame mit den braunen Locken und den braunen Augen dasselbe Vergnügen stets beinahe zur selben Zeit mit dem Herrn Doktor auszuüben. War der Herr langsam an Stropps Ruheposten vorübergeschritten, stets begrüßt von einem freundlichen Knurren und Schweifwedeln, so folgte auch alsbald die junge Dame. Hintereinander, übrigens ohne anscheinend voneinander Notiz zu nehmen, entschwanden sie an der Wegbiegung, dort wo der eigentliche Stadtbusch anfing, den Blicken Stropps und etwaiger sonstiger Spaziergänger. Nach einiger Zeit kehrte dann die Dame von ihrem Erholungsgange zurück, und bald darauf folgte auch der Herr, ohne aber von der vor ihm Herschreitenden bei seiner Kurzsichtigkeit etwas zu gewahren. Das war alles so regelmäßig und sicher wie das Amen in der Kirche.

Heute schien indessen eine Störung im Programm vorzuliegen. Der Herr Doktor kam pünktlich, wurde von Stropp dem Hund freudig begrüßt und dankte mit einem schmeichelnden Klaps und ein paar Worten, die den armen Köter ganz selig stimmten; er war in dieser Hinsicht seit einiger Zeit nicht verwöhnt. Dann sah Stropp, wie der Herr sich in einiger Entfernung aufstellte, scheinbar mit dem Zerlegen einer wilden Rose beschäftigt, und zwischendurch entschieden ungeduldig durch die Brille den Weg hinabspähte. Dann aber verfinsterte sich sein Gesicht plötzlich, und er trat langsam den Rückweg an, und als Stropp der Hund seinen Blicken folgte, sah er die junge Dame herankommen, doch nicht allein. Ein alter Herr, der unangenehm an den Herrn Oberförster erinnerte, schritt [890] an ihrer linken Seite. – Die Sache wurde interessant. Stropp der Hund duckte sich unter den Grasmückenbusch und beobachtete.

Mit höflichem Gruße, den der Alte gemessen, die Dame mit leichtem Nicken erwiderte, schritt der Herr Doktor an den beiden vorüber. Diese nahmen auf einer Rasenbank unfern von Stropps Beobachtungsposten Platz.

„Muß einem gerade der den Spaziergang vergällen, wenn das Zipperlein einem ’mal Ruhe läßt!“ brummte der Alte.

„Aber Onkel,“ erwiderte die junge Dame mit ihrer sanften süßen Stimme, „früher hast Du den Herrn Doktor doch besser leiden mögen. Du fandest ihn ganz erträglich, als er in der Villa hinter uns einzog.“

Aha, der Onkel! dachte Stropp. Ungefähr so habe ich ihn mir auch vorgestellt.

„Ich habe mich eben getäuscht,“ antwortete der Alte mürrisch. „Damals wußte ich ja noch nicht, daß vom ihm jener infame Aufsatz ist, in dem er meine römische Glasflasche, das Kleinod meiner Sammlung, für gefälscht erklärt und mich – mich, den Oberst zur Nieden, unter die Fälscher wirft!“

„Onkel!“ rief Fräulein Ulla, „das hat der Doktor doch nicht gethan. Nur die Flasche, sagt er, sei falsch –“

„Was“, brauste der Alte auf, „und macht er damit nicht mich, der ich sie überall als echt hingestellt habe und noch hinstelle, zum Fälscher und Hehler? Willst Du einen alten Offizier Seiner Majestät über den Ehrenpunkt belehren, Mädchen? Himmeldonnerwetter, es kommt mir beinahe vor –“

„Ums Himmels willen, Onkel, ereifere Dich nicht,“ bat Fräulein Ulla. „Bedenke Deine Gesundheit! Wollen wir weiter gehen?“

Der Alte brummte noch einiges in den Bart, erhob sich schwerfällig, und sie schritten weiter. Dabei gewahrte Fräulein Ulla, was Stropp der Hund schon längst bemerkt hatte, daß der Herr Doktor in einiger Entfernung hinter einem Baume stand und mit ziemlich trübseligem Gesicht herüberguckte. Diese Wahrnehmung schien sie sehr zu erschrecken; denn sie ließ ihr Taschentuch fallen, das sie eben hervorgezogen. Als sie es wieder aufhob, blieb ein kleiner Brief auf dem Boden liegen.

Ganz wie damals bei meinem früheren Herrn und dem Fräulein Susanne, dachte Stropp der Hund. Aber was war denn das?

Nach dem Beispiel seines früheren Herrn mußte doch nun der Herr Doktor behutsam anrücken, das Briefchen aufheben, es mit Staub und allem an die Lippen führen und dann verschwinden! Anstatt dessen blieb das Briefchen liegen, wo es lag, und der kurzsichtige Herr Doktor guckte zum Himmel hinauf, als ob der – nach Stropps Anschauungsweise – voll von Würsten hinge. Anscheinend war er poetisch oder sonstwie verzückt. Und nun machte auch das Paar oben Halt, um umzukehren.

Da mußte eingeschritten werden. Mit einem kühnen Satze schwang sich Stropp der Hund aus seinem Versteck hervor, und im nächsten Augenblick hatte er das Brieflein im Maul und galoppierte auf den Herrn Doktor zu, ließ es aber diesem nicht sogleich, sondern lockte ihn seitab auf einen halbverwachsenen Pfad.

„Da siehst Du, was das für ein Herr ist,“ knurrte der Alte, der sich mit seiner Nichte aufs neue einer Ruhebank zugewandt und den letzten Theil jenes Vorgangs noch gerade mit angesehen hatte. „Hier tollt er mit einem anscheinend seiner ganz würdigen Köter herum und läßt sich von ihm Papier apportieren. Und jetzt prügelt er das arme Vieh wohl noch gar. Höre nur, wie es heult.“

„Das ist nur vor Freude, so heult der Hund immer, wenn er sich freut,“ erwiderte Fräulein Ulla. „Ich kenne das Thier, es ist der Hund oben aus der Milchwirthschaft.“

„So? Du kennst den Hund und er kennt den Hund – ei da kennt ihr Euch wohl auch schon näher? Höre, Ulla –“

„Aber Onkel, sei doch still, man kommt. Sieh, dort naht der Herr Professor, mit dem Du schon längst über Deine neuen Gräberfunde reden wolltest.“

„In der That,“ lächelte der Onkel ganz versöhnt, „ein glückliches Zusammentreffen – Ihr Diener, Herr Professor!“

Der alte Herr bot beiden die Schnupftabakdose an, auch Ulla griff scherzhaft mit den feinen Fingerchen hinein – und im nächsten Augenblick schlugen die Wogen eines Gesprächs über ihr zusammen, in dem zwei fränkische Skelette und ein altes Steinbeil die Hauptrolle spielten.

Abseits aber, zwischen den Erlenbüschen, stand Doktor Sassen und vollzog vor den Augen des fröhlich wedelnden Stropp gewissenhaft das von diesem aufgestellte Programm. Und nachdem er das Briefchen geküßt, gelesen und wieder geküßt, blickte er entzückt um sich und rief: „Wie schön ist die Welt heute, wie lieblich der Vogelsang und der Blüthenduft und all das Leben und all die Liebe! Nein, da wäre es Sünde, jetzt sich in das alte Museum zu vergraben und Urväterhausrath auseinanderzuklauben – komm, Stropp, du kluger Hund, vierbeiniger Liebesbote, willst du mit durch den Wald gehen? – Was bedeutet dieses tiefsinnige Knurren, weiser Stropp? Wurst? Sollst du auch haben, drüben in der Dorfschenke – komm, hopp!“ Und alsbald waren die beiden Leichtsinnigen im Waldesgrün verschwunden. – –

Es versteht sich, daß Stropp der Hund auf seinem Posten unter dem Vogelnest war, als die beiden jungen Leute einige Tage darauf wieder ernsthaft hintereinander herwandelten. Diesmal aber begnügte er sich nicht damit, den Vorüberschreitenden seine Aufwartung zu machen. Leise und bedächtig trottete er ihnen nach, und als Doktor Sassen im lauschigen Waldwinkel abseits vom Wege Ulla umfaßte und küssen wollte, fuhr sie erröthend zurück und rief: „Aber Karl – da, der Hund sieht es ja!“

Karl lachte herzlich und küßte sie doch. „Der darf es sehen“, meinte er und nickte Stropp zu, welcher mit unendlich ernsthaftem Gesicht zwischen dem Gebüsch durch auf das Paar guckte. „Gelt, Stropp, Du verräthst uns nicht, du merkst nur auf, daß uns keiner sonst überrascht und der dumme Doktor kein Briefchen liegen läßt?“

Auch Ulla lachte nun und streichelte Stropp über sein schwarzes Fell. „Aber nun geh’, Stropp, mein kluges Hundchen, geh’, setz’ Dich draußen an den Weg und sieh, daß uns niemand findet! – Ach, Karl, ich war so erschrocken neulich – ich fürchte, der Onkel hat ’was gemerkt! Es ist zu traurig. Erst, als Du neben uns einzogst und er Deinen Namen noch nicht wußte, da gefielst Du ihm so gut –“

„Ja ja, merkwürdig, Ulla! Und daß auch mir eine gewisse kleine Nachbarin gleich so gut gefiel, ehe ich wußte, wie sie hieß –“

„Hätte sie Dir sonst nicht gefallen?“

Eine ganze Weile ging das Gespräch der beiden unter Scherzen und Küssen hin und her, im grüngoldigen Dämmerlicht des Sommerwaldes, unter Vogelliedern und leisem Summen von allerlei winzigem Gethier. Dann wurden sie ernsthaft, er tröstete die Geliebte und sie ihn.

„Vertraue mir, Karl, ich bleibe Dein, Du bist ja mein Ein und Alles. In zwei Jahren kann ich frei verfügen, dann folge ich Dir, so schwer es mir wird, den alten Mann einsam und unversöhnt zu lassen –“

„Und bis dahin, Herz, bin ich gewiß auch so weit, Dir ein eigenes Heim und eine Stellung zu bieten, wie sie Deiner würdig ist. Ich habe gute Aussichten, mein Werk schreitet herrlich voran, seit das süße Deingedenken jederzeit über meiner Arbeit schwebt“, und so fort, all das Herzliche, Tiefernste und Lieblich-Thörichte, das sich zwei junge Menschenkinder zu erzählen haben in jener Zeit des Lebens, von der es im alten deutschen Märchen heißt: „Sie waren in den Brauttagen und hatten jedes die größte Freude am andern.“

Derweil saß Stropp der Hund ernsthaft am Wege und gab acht, ob sich kein Lauscher nahte, und baute auch in seiner verschwiegenen Hundeseele anmuthige Luftschlösser, in denen er sich als vielgeschätzten Hausfreund eines so schönen und thierfreundlichen Paares sah, fern von übermüthigen Studenten und maulkorbeifrigen Leuten in grünen Uniformröcken. Und so ging es einige Zeit.

[891]

Eines Tages aber – den vier rothgesprenkelten Eiern der Frau Sylvia waren bereits vier kleine Vöglein entkrochen, und diese hatten bereits ihr erstes graues Federkleid und hockten stolz wie die Türken dicht nebeneinander auf einem Hagedornzweig – da nahte für den Doktor und Stropp eine höchst unliebsame Ueberraschung.

Warum mußte auch die sonst so kluge Ulla gerade ein Briefchen, das sie für diesen Tag an den Rosenstrauch berief, in ihrem Nähkörbchen liegen lassen? Warum mußte der Onkel gerade dort sein Federmesser suchen und anstatt dessen den Brief finden? Nun war er an Stelle der Nichte erschienen und polterte gegen den Doktor mit einem solchen Zorne los, daß Stropp der Hund den Schweif so eng als möglich anzog und bei sich dachte: „Gott sei Dank, daß dieser Mann wenigstens nicht Oberförster ist!“

Aber Doktor Sassen benahm sich mustergültig.

Seine Ruhe und Beharrlichkeit hielt sämmtlichen Attacken des alten Reiteroffiziers stand, und schließlich zog der Onkel, nicht besiegt, aber auch nicht als Sieger, brummend ab, nachdem ihm der Doktor erklärt hatte: „Ich habe ein in Ihrem Besitz befindliches, von Ihnen als antik hochgeschätztes Kunstwerk nach meiner wissenschaftlichen Ueberzeugung für unecht erklärt, ohne daß ich die Ehre hatte, Sie zu kennen. Sie, Herr Oberst, haben kein Recht, darin eine Beleidigung Ihrer Person zu finden. Ich bin weder Ihrer Person, noch Ihren Verdiensten um die Alterthumswissenschaft zu nahe getreten. Für mich hat diese ganze unglückliche Verwicklung durchaus nichts zu thun mit unseren persönlichen Beziehungen. Wenn Sie auf dem Gegentheil bestehen, so muß ich dies aufs tiefste bedauern. Aber seien Sie überzeugt, daß Ulla und ich darum nicht voneinander lassen werden, selbst wenn wir darauf verzichten müßten, daß Sie Ihre treue Vormundschaft über Ulla mit der Beistimmung zu unserer Verlobung krönen. Daß Sie nichts Ungerechtes oder Hartes gegen Ulla persönlich unternehmen, dafür bürgt mir Ihre Ehre als Offizier und als Vormund. Kann ich Ihre Vorstellung von einem Angriffe meinerseits auf Ihre persönliche Ehre besser widerlegen, als indem ich meine Braut vertrauensvoll unter Ihrem Schutze lasse?“

Auf diese Worte erwiderte der Alte nichts, er sah den Doktor mit einem langen Blicke an, grüßte höflich und zog ab. – –

Die Sonne war schon lange untergegangen, als Doktor Sassen am Abend dieses Tages sein einsames Wohngemach betrat. Den ganzen Nachmittag war er umhergewandert, voll süß-trauriger Empfindungen, Liebes- und Lebenspläne schmiedend und verwerfend. Er hatte es anfangs kaum bemerkt, daß ihm ein Weggenosse folgte, und als er es bemerkte, vermochte er ihn mit allen gütlichen und bösen Mitteln nicht mehr loszuwerden. Was sich Stropp der Hund einmal in seinem harten Schädel vornahm, das war auch nicht so leicht wieder herauszubringen; und er hatte es sich nun einmal vorgenommen, dem Herrn Doktor heute zu folgen. Ach, auch für den armen Stropp war es ein Unglückstag gewesen! Der Morgen hatte ihm bereits von den verschiedensten Seiten Prügel und Schelte eingetragen. Als Eierdieb, als vermeintlicher Wilderer und wegen thätlicher Beleidigung eines verkaterten und somit sehr reizbar gestimmten Studenten war er zur Verantwortung gezogen worden, bis er schließlich einfach weggelaufen war, und nun hatte er auch noch statt des erhofften Zuckerstücks, das Fräulein Ulla ihm nie mitzubringen vergaß, diese niederschlagende Erscheinung des Onkels erleben müssen! In solcher Bedrängniß erachtete er den möglichst engen Anschluß an den Herrn Doktor als die einzige Rettung. Solange er bei diesem war, geschah ihm wenigstens nichts allzu Schlimmes, er hatte so einen schützenden Dämon, in dessen mächtigem Geleit er wieder einmal ein gutes Stück Welt durchschweifen durfte, und schließlich mußte doch der freundliche Herr auch irgendwo ein Zimmer haben und in dem Zimmer vermuthlich auch ein Plätzchen für einen armen verstoßenen Hund. Er wollte sich dem Herrn dafür nach Kräften nützlich und dankbar erweisen, ja er war sogar bereit, den Onkel auf Verlangen gehörig in die Waden zu beißen, vorausgesetzt, daß der Onkel keine hohen Stiefel trug. Einstweilen begnügte er sich damit, seinen Gönner unter aller schuldigen Rücksicht auf dessen gedrückten Gemüthszustand mit allerlei Kapriolen und Kunststückchen zu ergötzen und ihm auf jede Weise seine Ergebenheit zu bezeigen.

So waren sie miteinander umhergezogen, hatten in einem abgelegenen Walddörflein zu Abend gespeist und landeten schließlich in der Wohnung des Doktors. Stropp der Hund fand alsbald einen molligen Fußteppich vor dem Schreibtisch, der ihm ein angenehmes und standesgemäßes Nachtlager verhieß. Der Doktor aber rückte einen Stuhl ans Fenster und blickte sehnsüchtig hinüber nach dem Hause des Obersten.

Nur ein allerdings ziemlich geräumiger Garten, der in der Mitte durch eine niedrige Hecke geschieden war, trennte ihn von der Wohnung der Geliebten. Aus ihren süßen Plaudereien und den Mittheilungen seiner alten Hauswirthin kannte er genau die Vertheilung der Räume in der Villa drüben. Unten waren Küche, Dienerzimmer und vor allem, nach dem Garten hinaus, die umfangreiche Sammlung von römischen und fränkischen Grabfunden untergebracht. Oben rechts im ersten Stock lag die Wohnung des Obersten, dann folgte in der Mitte ein geräumiger, mit Waffen und Bildern ausgeschmückter Saal, und dann links ein seltsam ausgestattetes Gemach, welches den größten Schatz des alten wunderlichen Herrn, die römische Flasche, barg. Auf einem Sockel aus kostbarem Holz war sie dort unter einem Glassturz aufgestellt, umgeben von einem stilvollen Gehänge aus Seidenstoffen. Daneben aber an den Wänden standen hohe Regale, angefüllt mit allem, was über dieses unglückselige Gefäß jemals von Kundigen und Unkundigen, von dem Obersten und – leider! – auch von ihm, dem Doktor Sassen, geschrieben und gedruckt worden war. Greifbar deutlich sah der Doktor vor seinem inneren Auge das zierliche wie aus Spinnweben gefertigte Kunstwerk mit den scheinbar ganz frei über dem Rande schwebenden Menschen- und Thierfigürchen. Ohne Zweifel, es war ein Meisterstück der Glasmacherkunst, aber daß es nicht antik war, darüber waren ja sämmtliche Sachkenner einig, nur der Oberst bestand seit einem Jahrzehnt auf seinem Wahn und war ungerecht genug, diesem Wahn sogar das Glück seiner Nichte aufopfern zu wollen. Ach ja, Ulla! Dort über dem Heiligthum der verhängnißvollen Flasche lag ihr Stübchen friedlich im Dämmerlicht der Sommernacht. Jetzt strahlte ihre Lampe mit sanftem Scheine auf, und es war, als wisse sie, daß dort unten im dunklen Gelehrtenzimmer zwei liebende Augen sich sehnsuchtsvoll zu ihr lenkten – leise, allmählich anschwellend klang eine wunderholde Musik herüber, Ulla sang zum Klavier das Lieblingslied des Geliebten, Webers seelenvolle Melodie „Leise, leise, fromme Weise“. So also suchte sie ihn zu trösten – Karl fühlte, wie ihm die Augen feucht wurden vor Liebe und Rührung.

Die Lampe im Stübchen Ullas war erloschen. Dafür leuchtete jetzt ein Licht in dem Zimmer des Obersten auf und glitt langsam durch dieses, an den Fenstern des [892] Saales vorbei in die Kammer, welche das Kleinod barg. Der Doktor war das schon gewohnt. Er wußte, daß der Alte keinen Abend vorübergehen ließ, ohne seinem vermeintlichen Römerschatz einen Besuch abzustatten, außer wenn ihn die Gicht an sein Lager fesselte. Heute verweilte der Lichtschimmer länger als sonst in jenem Gemach, oft hin und her schweifend; vielleicht, daß der Oberst sich noch in später Stunde dem Studium seiner Sonderbibliothek hingab. Der Doktor folgte dem Scheine, bis ihm die Augen matt wurden und endlich zusanken zu einem ungewollten tiefen Schlummer.

Ein schauerlich mißtöniges Geheul erweckte den Schläfer wieder. Verwirrt fuhr er aus seiner wenig bequemen Lage von dem Stuhle auf. Der Mond war inzwischen aufgegangen und goß einen breiten grünen Lichtstrom ins Gemach. Mitten in dieser grünsilbernen Strahlenbahn stand Stropp der Hund auf dem Schreibtisch, die Nase hoch erhoben, und sang seine ergreifende Weise zum Fenster hinaus. Als er merkte, daß der Doktor erwacht war, sprang er herab, kratzte und zerrte an diesem herum und lief dann wieder zum Fenster hin, um seinen musikalischen Vortrag fortzusetzen. War der Hund toll oder mondsüchtig? „Ruhig, Stropp, oder –!“ Aber was war denn das? Drüben das Licht des Obersten in der Schatzkammer – es brannte noch immer, aber es schien in unruhigem Flackern mit seltsamen röthlichen Spitzen an den Tüllgardinen hinaufzuklettern, eine dicke mißfarbige Wolke quoll durch einen offenen Fensterflügel heraus – Herr im Himmel, es brannte, und dicht darüber schlief Ulla!

Im nächsten Augenblick stand der Doktor im Garten – bei hellem Tage und ohne solchen Anlaß hätte er den Sprung aus dem Fenster vielleicht nicht gewagt. Stropp der Hund sprang ihm getreulich nach, und nun stürmten die beiden daher, über Blumenbeete und Wege, wie es sich eben traf, über die Hecke weg, hin zum Haus des Obersten. Gott sei Dank, da stand die Leiter des Gärtners – angelegt, hinauf und nun ohne Besinnen eine Scheibe am Fenster des Obersten eingeschlagen:

„Herr Oberst, öffnen Sie – es brennt bei Ihnen!“

„Kreuzschockkartätschen, wer bricht denn so grob da herein? Steh’, Lump, oder ich schieße!“

„Aber ums Himmels willen, so hören Sie doch, Herr Oberst – ich bin’s, Doktor Sassen – es brennt bei Ihnen im anderen Flügel!“

Das Fenster flog auf, bleich und verstört schauten sich die beiden Männer an. Wenige Worte der Erklärung, der Doktor stieg ein und beide stürzten zur Thüre hinaus auf den Flur; eine widerliche, athemraubende Rauchluft quoll ihnen entgegen.

„Dort, Herrgott wahrhaftig, es kommt aus der Schatzkammer – meine Nichte – retten Sie sie, helfen Sie mir!“

Aber ehe der Oberst noch weiter reden konnte, war der Doktor an ihm vorüber in den Qualm hinein gestürmt, die Treppe hinauf.

Im Hause wurde es lebendig. Thüren flogen auf, ärgerliche Männerstimmen und entsetzte Weiberrufe mischten sich. Aber Karl hörte nur eine Stimme, vor ihm öffnete sich eine Zimmerthür, eine weiße Gestalt schwankte hervor.

„Hierher, Ulla ich bin’s – Karl!“

„Karl, Du – –“ und hilflos lag sie in seinen Armen. Er umfaßte sie zärtlich und sicher und trug sie hinab, durch den Rauch, der immer dichter und dichter heraufwallte. Er fühlte nicht, wie der ätzende Qualm seine Augen beizte, er kam überhaupt selbst erst einigermaßen zur Besinnung, als er die Geliebte vor sich auf dem Sopha im Zimmer des Obersten erblickte, als sie die Augen aufschlug und ihn noch halb verständnißlos mit seligem Ausruf umhalste.

Allein jetzt war keine Zeit zu Liebeständeleien. Schnell hatte er Ulla der Fürsorge der von unten herbeieilenden Mägde übergeben und stürzte wieder hinaus auf den Flur. Dort rannte ein Mann hart an ihn, es war des Obersten alter Diener.

„Eilen Sie, schicken Sie zum nächsten Feuermelder – lassen Sie die Villen in der Nachbarschaft alarmieren, die Gartenspritzen herbei! Wo ist der Oberst?“

„Zu Befehl, Herr Doktor – da hinten!“

„Wo?“ Aber der Mann war schon verschwunden.

Sassen tappte mühsam den Flur entlang, die Rauchmassen wurden immer stärker, jetzt war er fast an der Thüre zur Schatzkammer angelangt, da blitzten und flackerten unheimlich rothe Flammen durch den Schwaden auf, und neben sich, an die Wand gelehnt, gewahrte er den Obersten:

„Ihre Nichte ist gerettet, Herr Oberst!“

Ganz tonlos klang es zurück:

„Ich weiß – ich danke Ihnen – Sie haben uns noch eben zur rechten Zeit gewarnt. Aber die Flasche – wir haben es dreimal versucht, es geht nicht mehr – sie ist hin.“

Der Alte schien ganz gebrochen. Der Doktor zog ihn mit sich fort, ohne größere Löschmittel war es jetzt in der That unmöglich, dem Feuerherde näherzukommen.

Nun erschien aber auch schon Hilfe. Hastige schwere Männerschritte polterten herauf, Wasserstrahlen zischten in das brennende Zimmer hinein – man konnte vordringen, dem gefährlichen Rauch Abzug verschaffen – nun hörte man auch von draußen das Signal der Feuerwehr – „merkwürdig, das Leitmotiv aus dem ‚Fliegenden Holländer‘, und noch merkwürdiger, daß ich so etwas jetzt merke!“ dachte Karl – und durch all den Lärm [k]lang von den Gärten her vielstimmiges Hundegeheul. Stropp hatte, da er dem Doktor nicht auf der Leiter folgen konnte, wenigstens in seiner Weise sich behilflich erweisen wollen, und mit seinem durchdringenden Gebell – die Natur hatte ihn mit einem sehr weittragenden Tenor begabt – erreichte er auch das Eine, daß seine sämmtlichen Stammesgenossen in der Nachbarschaft aufmerksam wurden und einstimmten.

Uebrigens erwies es sich, daß der Brand noch ziemlich leicht zu löschen war. Die Bücher, Akten und Gehänge in der Schatzkammer brannten langsam und schlecht – der furchtbare Qualm freilich hätte allein eine vielleicht tödliche Gefahr bedeutet, wenn die Entdeckung später erfolgt wäre. So aber beschränkte sich der Schaden fast ganz auf das eine Gemach und einen Theil des anstoßenden Waffensaales. Die kostbare Flasche aber war vernichtet. Mit der Asche des zierlichen Gestells, auf welchem sie ruhte, hatten sich ihre Bestandtheile vermischt, und es war hinfort keine Möglichkeit mehr, die Erörterung über ihre Echtheit oder Unechtheit an ihr selbst weiterzuführen.

Nach einer Stunde angestrengter Arbeit war es gelungen, jede weitere Gefahr zu beseitigen und die Unglücksstätte so ziemlich aufzuräumen. Die kostbare Waffen- und Bildersammlung war zum Glück von dem Brande fast ganz verschont geblieben. Mehr Mühe hatte es den Obersten und den Doktor gekostet, sie vor dem rauhen Walten der hilfreichen Löschmannschaften zu beschützen. Doktor Sassen hatte wacker mitgearbeitet. Er sah jetzt aus wie ein Kohlenbrenner, als er zwischen den herbeigeeilten Nachbarn, den Dienern, Feuerwehrleuten und Mägden hinüberschritt in das Zimmer des Obersten. Da trat ihm Ulla entgegen. Sie hatte sich rasch von ihrem Schrecken erholt und waltete mit hausfraulicher Würde ihres Amtes, indem sie die leibliche Erquickung der wackeren Helfer leitete. Als der Geliebte erschien, schritt sie ihm leuchtenden Auges entgegen und streckte ihm beide Hände hin. „Mein Retter!“ Und ohne daß die Zwei es selber recht wußten, sanken sie sich in die Arme.

Nicht nur der Oberst, auch einige Herren aus den Nachbarvillen waren Zeugen dieses seligen Wiedersehens, und an der halboffenen Thüre steckten einige Mägde und Diener lebhaft wispernd die Köpfe zusammen. Als Ulla dieses Publikums inne wurde, fuhr sie erröthend zurück und stand einen Augenblick in holder Verwirrung da. Doktor Sassen aber bezwang rasch eine leichte Verlegenheit und trat auf den Alten zu. „Herr Oberst,“ begann [893] er – da unterbrach ihn dieser schon mit den Worten:

„Ich bin Ihnen großen Dank schuldig, Herr Doktor, und auch noch – na, auch noch Genugthuung für einige Aeußerungen in unserem letzten Gespräch, glaube ich – also Sie sollen sie haben. – Die Herren,“ wandte er sich sodann an seine Nachbarn, „sind hier, leider unter mißlichen Umständen, Zeugen einer kleinen Familienscene; Sie waren so freundlich, mir in der Gefahr zu Hilfe zu eilen – lassen Sie mich mit meinem Danke die Bitte vereinen, jetzt auf das Brautpaar anzustoßen. Ich habe die Ehre, Ihnen die gestern vollzogene Verlobung meiner Nichte Ulla zur Nieden mit Herrn Doktor Sassen anzuzeigen. Bitte, Ulla, fülle die Gläser! – Nun,“ fügte er leiser hinzu, „sind Sie zufrieden, Herr Doktor?“

Ob der zufrieden war und ob er und Ulla es dem wackeren alten Herrn dankten! Der Oberst hatte in dieser Nacht für den eingebildeten Schatz, den ihm das Feuer geraubt, einen wirklichen Schatz von unbezahlbarer Liebe und Verehrung gewonnen. Und das mochte er auch wohl selber empfinden; denn zwei große Thränen rannen ihm in den eisgrauen Bart, als er nun mit den freundlich glückwünschenden Herren auf das Wohl seiner Kinder anstieß.

„Schmuck wie ein Bräutigam“ sah nun freilich der glückliche Doktor eben nicht aus, und als es zum Scheiden kam – „für wenige Stunden“, flüsterte Ulla selig – war er eitel genug, sich von ihr den Schlüssel zum Gartenpförtchen auszubitten, „um nicht etwa draußen auf der Straße als der Brandstiftung dringend verdächtig abgefaßt zu werden“. An dem kleinen Pförtchen verabschiedete sich Ulla noch einmal zärtlich von ihrem „Retter“, wie sie ihn nannte. „Du,“ antwortete Karl ganz ehrlich, „eigentlich war ich’s aber nicht. Den Brand habe nicht ich entdeckt, sondern Stropp, dem ich ein freies Nachtquartier gewährte. Er ist seinen Leuten davongelaufen. Ich möchte ihn wohl behalten!“

„Ach, der liebe Kerl!“ meinte Ulla, „wo ist er denn aber geblieben, der Stropp?“

Da fuhr es auch schon aus den Büschen heraus, eine rundliche schwarze Masse, und sprang mit tollem Freudengeheul an den beiden empor. Stropp der Hund hatte geduldig abgewartet, bis man sich seiner erinnern würde. Nun hielt er es aber auch an der Zeit, sich zu melden und die Gunst der Verhältnisse auszunutzen. Die beiden waren ja anscheinend wieder vereint, der Onkel, so dachte Stropp, war offenbar „abgeschafft“ – und nun trug er sein Anliegen vor, welches, in die Menschensprache übersetzt, nur lauten konnte: „Bitte, behaltet mich hier bei Euch – ‚ich sei, gewährt mir die Bitte‘ u. s. w.“

Glücklich Liebende sind Sonntagskinder und verstehen auch die Sprache der Thiere. Aus Ullas freundlichen Worten und Karls Scherzen glaubte Stropp der Hund mit Gewißheit herauszuhören, daß seine Bitte vernommen und gewährt sei. Und so trottete er vergnügt und zufrieden hinter seinem neuen Herrn durch den Garten und sprang an der aufgeregten Wirthin, die ihnen das Gartenthürchen öffnete, schon mit dem ganzen Selbstgefühl eines anerkannten Hausbewohners vorüber.

Draußen im Garten begannen die Nachtigallen ihr süßes Morgenlied, im Osten kündete eine sanfte Röthe schon das Nahen des jungen Sommertages, und ein leises Lüftchen bewegte den Vorhang am Fenster des Doktors, als wollte es einen Gruß von der Braut bestellen. Der Doktor aber lag schon in seligen Träumen, und auch Stropp der Hund beschloß nun, nach einem letzten dankbaren Blick auf den künftigen Gebieter,

„Einen langen Schlaf zu thun,
Denn dieser letzten Tage Qual war groß.“

Bedächtig wackelte er zu dem Fußteppich vor dem Schreibtisch seines Gebieters, lockerte das schöne weiche Wollbett noch ein paarmal mit den Vorderpfoten, drehte sich zweimal um sich selbst und rollte sich dann mit einem Seufzer der Befriedigung zusammen, um die wohlverdiente Ruhe eines Feldherrn nach gewonnener Schlacht zu genießen.



Blätter und Blüthen

Eine zeitgemäße Betrachtung. Der Teufelaustreibungs-Prozeß in Wemding hat großes und berechtigtes Aufsehen gemacht. Von allen Seiten wurde hervorgehoben, welch beklagenswerther Aberglaube noch in Niederbayern die Köpfe des Landvolks erfülle, wie geradezu mittelalterlich die Kulturstufe der unteren Volksklassen erscheine. Nur der unteren? Und nur in Niederbayern? … Haben die erleuchtet sein sollenden oberen Klassen der Gesellschaft wirklich das Recht, hierüber die Achseln zu zucken, sie, welche in immer steigender Zahl sich den spiritistischen „Offenbarungen“ zuneigen und sich immer und immer wieder von dem dümmsten Schwindel der im Dunkel fliegenden Gegenstände, von geheimnißvollen Schauertönen und dergleichen berücken lassen? Gleichzeitig mit jener Wemdinger Teufelaustreibung liefen die Meldungen von „völlig unbegreiflichen“ Mediumvorstellungen durch die Blätter, und dieselben Gebildeten, welche über die erstere verächtlich die Achsel zuckten, sie nehmen gläubig die Erzählung von dem Zweiten hin, mit der Erwägung, daß es doch in der That „mehr Dinge zwischen Erd’ und Himmel“ geben möchte …

Da muß man nun doch fragen: Was ist begreiflicher und verzeihlicher, der alte, historische Glaube an Teufel und Hexen, oder diese neumodische, so unsäglich alberne Lehre von der „Materialisierung“?

Gehört ein größerer Unverstand dazu, anzunehmen, man müsse etwas von einer Hexe zu essen bekommen, damit sie Macht über einen erhalte, oder aber dazu, gemüthsruhig mit anzusehen, daß bei allen spiritistischen Offenbarungen irgendwo ein Vorhang, eine spanische Wand, irgend eine Möglichkeit des Verbergens ist, daß die Geister immer „das Dunkel lieben“, in welchem bekanntlich nicht nur gut, sondern auch leicht munkeln ist? Wahrlich, eine große Anzahl unserer „Gebildeten“ hat keine Ursache, auf die „Ungebildeten“ so hoch herunter zu sehen, denn das Licht der Vernunft leuchtet ihnen selbst nur bis zur Eingangsthür des Spiritistenlokals, dort drinnen aber herrscht dasselbe Dunkel – wie in den Köpfen der Hexengläubigen von Wemding!

Vermißten-Liste. Nennen wir zunächst die Namen derer, welche infolge unserer Aufrufe aufgefunden wurden!

Die Tochter des Gärtners Johann Friedrich Jedro theilt uns hocherfreut mit, daß sie mit Hilfe der „Gartenlaube“ ihren Vater wiedergefunden habe.

Der Vater des verschollenen Gotthelf Kempinski benachrichtigt uns dankerfüllten Herzens, daß sein Sohn nunmehr aus San Francisko an ihn geschrieben habe.

Von Sellms ist endlich aus Leadville, Colorado, zur größten Freude seines Vaters tröstliche Kunde eingetroffen.

Weiter haben sich Frau und Tochter des Bereiters Christian Dieckmann infolge unseres Aufrufs gemeldet. Sie wohnen in New-Jersey; Dieckmann selbst ist in einem Bergwerk verunglückt.

Frau Janson spricht uns ihren innigsten Dank aus für die Nachrichten, die wir ihr über ihren Mann bringen konnten.

Ferner hat sich die Nachfrage nach Josef Müller erledigt, welcher in Antwerpen als Kellner angestellt ist.

Herrn Chas. Reynold Hamilton in San Francisko ist es zu danken, daß Julius Heinrich Wolter wieder aufgefunden werden konnte. Er lebt in Los Angeles, Californien.

Auch über das Schicksal Carl Otto Franz Reichenbachs haben wir Näheres in Erfahrung gebracht. Leider konnten wir bis jetzt die Mutter Reichenbachs davon nicht verständigen, da sie aus der uns angegebenen [894] gegebenen Wohnung in Hannover, Geibelstraße Nr. 20, IV, verzogen ist. Unser an sie gerichteter Brief kam als unbestellbar zurück.

Ebenso ist es gelungen, den Aufenthaltsort der verschollenen Ella Appel zu ermitteln. Aber auch dieses freudige Ergebniß unserer Nachforschungen vermochten wir dem Bruder derselben, Herrn Lackierer Louis Appel, noch nicht mitzutheilen, da er in Wehlheiden bei Kassel, von wo er uns schrieb, nicht aufgefunden werden konnte.

Im Anschluß an vorstehende Zeilen fordern wir Frau Reichenbach sowie Herrn Lackierer Louis Appel auf, uns ihre Wohnungen genau angeben zu wollen.

Zugleich mit der Veröffentlichung dieser erfreulichen Erfolge sprechen wir hierdurch allen denen unseren herzlichsten Dank aus, die uns bei Aufsuchen der Verschollenen durch Mittheilungen unterstützt haben, und bitten unsere Leser, auch in Zukunft der Vermißten-Liste, von der wir unten eine Fortsetzung bringen, ihre Aufmerksamkeit schenken zu wollen. Wir hoffen, daß wir auf diese Weise noch so manchen Verlorengeglaubten wieder auffinden werden und in die Arme der Seinen zurückführen können.

(Fortsetzung der Vermißten-Liste aus Halbheft 8 dieses Jahrgangs.)

251) Am 28. April 1881 ging der Seemann Peter Christian Jagemann, geb. am 7. September 1860 zu Altona, mit dem Schiff „Olympia“ von Hamburg als Vollmatrose nach Hongkong und dann von dort mit einem englischen Fahrzeug nach Adelaide, wo er im Dezember 1881 ankam und im Jahre 1882 an der Eisenbahn arbeitete. Der letzte Brief des Vermißten gelangte von Adelaide im Sommer 1883 an den alten Vater Jagemanns.

252) Zu Ostern 1888, schrieb der am 9. September 1863 zu Roßleben geborene Fleischergeselle Wilhelm Karl Hense vom Drachenfels am Rhein das letzte Mal an seine Mutter. Hense hat als Soldat beim 72. Infanterieregiment gestanden.

253) Kellner Peter Huber, geb. zu Nordrach in Baden am 11. Sept. 1835, hat im Jahre 1861 Konstanz verlassen und ist seitdem verschollen.

254) Im Mai 1883 verließen die Stadt Kasan (Rußland), um Erwerb zu suchen, der Fleischer Johann Baumann, geb. am. 18. April 1829 zu Zell in Tirol, und die Söhne desselben, Johann Jakob Ferdinand, geb. am 30. Dez. 1868 zu Twer (Rußland), Zitherspieler, und Ferdinand Otto Hermann, geb. am 7. Aug. 1874 zu Moskau. Im Mai des folgenden Jahres schrieb der älteste der Söhne noch einmal aus Zarizyn an seine Mutter, und das ist bis heute die letzte Nachricht von den drei Verschollenen geblieben.

255) Der Arbeiter August Wilhelm Schröder, geb. am 18. März 1859 zu Schönlanke, Kreis Czarnikau (Posen), ist im Jahre 1882 in die Fremde gegangen und hat seiner numnehr betagten Mutter, die sich in Herzensangst um ihn verzehrt, schon längst kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben. Schröder hielt sich anfänglich in Berlin und der Schweiz auf und soll die Absicht gehabt haben, nach Amerika auszuwandern.

256) Der Bauer Johann Adam Grimm, geb. am 13. November 1827 zu Kochersteinsfeld (Württemberg), wanderte im Jahre 1834 nach Australien aus, von wo er noch 1856 schrieb. Seine Verwandten vermuthen, daß der Verschollene von Australien nach Californien übergesiedelt ist.

257) Robert Bernhard Herklotz, geb. am 21. Oktober 1863 oder 1864 zu Frankenberg in Sachsen, seines Zeichens Schlossergeselle, ging im Juni 1884 von Liverpool aus mit dem holländischen Schooner „Hebe“ nach Rio-Grande do Sul in Brasilien. Nach Angaben des Kapitäns der „Hebe“ hat sich der Verschollene mit zwei Deutschen nach der Colonie Laurentic begeben.

258) Unterm 23. Dezember 1889 hat sich der Brauer Moritz Albert Andreas, geb. am 2. Febr. 1872 zu Erbisdorf (Kr. Dresden), in Görlitz polizeilich abgemeldet, ohne anzugeben, wohin er sich wenden wollte. Vermuthlich hat sich Andreas auf die Wanderschaft begeben.

259) Im Jahre 1881 wanderte nach Amerika aus der Kaufmann Emil Saremba, geb. am 19. Dezember 1859 zu Mehlsack (Regbz. Königsberg i. Pr). Saremba schrieb im Herbste 1881 aus dem Staate Minnesota, verließ denselben aber später, um nach Brasilien oder Australien zu gehen.

260) Der Matrose Maximilian Friedrich Carl Mauckert, geb. am 7. Dezember 1870 zu Berlin, ging im April 1887 von Hamburg aus in See und verließ das Schiff in Demerara (Britisch-Guyana); seitdem ist jede Spur von ihm verloren.

261) Von Schwester und Bruder gesucht wird der Sattler und Tapezierer Leopold Oscar Franz Messow, der am 6. Februar 1835 zu Berlin geboren ist und sich noch im Jahre 1883 in Bromberg aufhielt.

262) Der Uhrmacher Karl Albert Emil Weller, geb. am 25. Juli 1848 zu Regenwalde in Pommern, verließ den 4. Juni 1873 heimlich seine Familie und schrieb zuletzt in der ersten Hälfte des Jahres 1881 von Pernambuco (Brasilien) aus; seitdem ist er verschollen.

263) Von ihrem siechen hilfsbedürftigen Bruder wird sehnlichst um Nachricht gebeten Ottilie Therese Stäude, welche am 9. Juni 1840 in Eythra bei Leipzig geboren ist. Die Gesuchte zog im Jahre 1862 nach Tiflis im Kaukasus und ließ noch 1870 aus Stawropol ebenda von sich hören.

264) Am 28. Februar 1881 verließ der damals 17jährige Mathias Wilhelm in Köln, mit einem Maskenanzug bekleidet, das Haus und ist seitdem verschollen. Signalement Wilhelms: blondes Haar, niedrige Stirn, graublaue Augen, spitze Nase, schmaler Mund, rundes Kinn, ovale Gesichtsbildung, bleiche Gesichtsfarbe und schlanke Gestalt. Die Kleidung bestand aus einer schwarzen Sammetjacke, Kniehose, weißen Strümpfen und Lederpantoffeln, die mit rothen Bändern befestigt waren; mit ebensolchen war auch der spitze Sammethut umschnürt.

265) Im November 1889 ging der Schlossergeselle Franz Carl Gottlieb Lange, geb. am 27. Jan. 1869 zu Breslau, in die Fremde; er schrieb noch im Dezember desselben Jahres von Berlin und Weißensee bei Berlin. Vom 27. Januar bis 27. Februar 1890 hat Lange, der herzleidend ist, Aufnahme im Krankenhaus zu Bautzen gefunden, seitdem aber ist seine tiefbekümmerte Mutter ohne jede Nachricht von ihm geblieben.

266) Ein anderes Mutterherz bangt um den Weber Rudolf Franz, geb. am 24. März 1870 zu Alt-Reichenau, Kr. Bolkenhain (Schlesien), welcher sich noch im August 1890 in Düren (Rheinland) aufgehalten hat. In Odenkirchen, wohin er sich polizeilich abgemeldet hat, ist er nicht aufzufinden gewesen.

267) Im Frühjahr 1877 verzog nach Rußland, um sich in Wilna niederzulassen, Frau Lina Laura Andrepp, geb. am 28. Dezember 1852 zu Burgstädt, mit Gatten und Sohn. Seit dieser Zeit sind die drei verschollen und konnten trotz eifrigster Nachforschungen nicht ermittelt werden.

268) Der Droschkenbesitzer Gottlieb Nowack, geboren im Jahre 1835 zu Cygan bei Bürgsdorf (Preuß.-Schlesien), ist seit Frühjahr 1873 aus seiner Wohnung in Breslau verschwunden, angeblich um nach Galizien zu reisen und dort Pferde einzukaufen.

269) Von seiner alten Mutter gesucht wird der Stuhlbauer Julius Oscar Riedel, geb. im Jahre 1856 zu Neudörfchen bei Mittweida (Sachsen). Im Jahre 1888 hielt sich der Gesuchte in Lübeck auf.

270) Gustav Holstein, geb. im Jahre 1850 zu Gerdauen (Regbz. Königsberg i. Pr.), Maurer und Musiker, diente Anfang der siebziger Jahre als Grenadier in Guben, woher auch das letzte Lebenszeichen stammt.

271) Von seiner Schwester wird schmerzlich vermißt der Bäcker Friedrich Schweisguth, der am 22. Juni 1840 zu Wiesbaden geboren wurde. Nach einem Briefe aus Marseille vom September des Jahres 1866 beabsichtigte er, nach Buenos Ayres zu gehen.

272) Von seinem Vater gesucht wird der Klempner Emil Paßmann, welcher den 28. April 1868 zu Issum bei Düsseldorf geboren wurde. Paßmann hielt sich im Jahre 1888 in Washington auf und soll später in Wilmington, Staat Delaware, gesehen worden sein.

273) Der Seemann Richard Ernst Carl Mahn, geb. zu Rostock i. Mecklbg. am 7. Febr. 1852, gab die letzte Nachricht im Jahre 1869 aus Liverpool. Seine Mutter sehnt sich nach einem Lebenszeichen von ihm.

274) Einer Schwester läßt die Sehnsucht nach ihrem Bruder keine Ruhe, nach dem Zimmermann Robert Linke, der am 2. Febr. 1840 zu Klein-Vorwerk, Regbz. Liegnitz, geboren wurde und noch im April 1875 sich in Berlin aufhielt.

275) Von seiner Frau wird gesucht der Arbeiter Josef Böhm, geb. zu Altheide, Kreis Glatz, am 11. Juli 1863, welcher am 20. Febr. 1887 von Hamburg fortgegangen ist.

276) „Eine tieftrauernde Witwe und Mutter stirbt noch vor Kummer über ihren verlorenen Sohn,“ so beginnt das an uns gerichtete Schreiben mit der Bitte um Nachforschung nach dem Drechsler und Pumpenmacher Christian Friedrich Claus, welcher am 19. März 1857 zu Trebur (Hessen) geboren wurde und seit dem 3. Aug. 1887, an welchem Tage er sich von Hause entfernt hat, verschollen ist.

277) Seit dem Mai des Jahres 1886 ist der Matrose Adolf Louis Jung, geb. am 15. Nov. 1863 zu Königsberg i. Pr., verschollen. Zu jener Zeit kam noch Nachricht von ihm aus Santjago in Chile. Im Jahre 1888 sollte er sich an Bord der englischen Barke „Croydon“ befinden, ein mit dieser Adresse durch die Vermittlung des englischen Konsuls in South-Carolina abgesandter Brief aber kam als unbestellbar zurück.

Paulus in Athen. (Zu dem Bilde S. 884 und 885.) Ein packendes Bild aus der Geschichte der Religionen, diese Scene auf dem Marktplatz zu Athen! Ringsum die Tempel und Bildsäulen der alten Götter, auf hohem Postament ernst und gebietend die Gestalt der Athene, von der die gewaltige Stadt Dasein und Namen herleitet, und mitten in dieser leuchtenden Welt der Schönheit der unerschrockene Mann, der in Worten voll glühender Begeisterung einen neuen Gott verkündigt, den großen „Unbekannten“, dem er beim Gange durch die Straßen einen Altar aufgerichtet gefunden hat. Ein bewegter Kreis von Zuhörern umgiebt den Redner, und ihre Haltung, ihre Züge spiegeln lebendig den Eindruck, den sie empfangen. In müßiger Neugier, in gehaltener Würde lauschen die einen; ein paar Philosophen sind in eifrige Auseinandersetzungen über das Gehörte gerathen und verstreuen achtlos die Papyrusrollen, in denen sie nach einem Für oder Wider suchen; andere aber sind gefesselt, hingerissen – aus ihren Augen bricht jenes schwärmerische Feuer, durch dessen Gluth die neue Lehre siegen sollte.

Bleigießen am Sylvesterabend. (Zu dem Bilde S. 877.) Ja, ja – man kann so ein Orakel wie das Bleigießen am Sylvesterabend auch dann um den „Zukünftigen“ befragen, wenn man über diesen längst nicht mehr im unklaren ist und die Gestalt, auf die das geschmolzene Blei im Wasser deuten soll, leibhaftig hinter einem steht. Und das hat zudem den Vortheil, daß man sich über die Unsicherheit und Vieldeutigkeit, die nun einmal leider auch wißbegierigen Mädchenherzen gegenüber alle Orakel auf sich haben, mit der glücklichen Gegenwart trösten kann. Auch ist am Ende so ein trauliches Viertelstündchen zu Zweien abseits von der lauten Gesellschaft nebenan noch entscheidender für die Zukunft als der ganze Zauberkram. Das denkt wohl auch der Vater der jungen Dame, der in fröhlichster Stimmung zu den beiden tritt, um ihnen Glück zum eben angebrochenen neuen Jahre zu wünschen und, wenigstens durch ein vielsagendes Schmunzeln, Glück auch zum – Einverständniß.

Seeadler und Hecht. (Zu dem Bilde S. 881.) Stille herrscht über der leicht gekräuselten See, leise nur schlägt die Woge an die Planken des Bootes und gemächlich kreisen die Seevögel über der Oberfläche des Wassers, nach einer leichten Beute spähend. Da – „Krau!, Kra – au! Krau!“ ertönt es plötzlich heiser hoch über unserem Haupte, und wie das Brüllen des Löwen in der Wildniß die Thiere erbeben macht, so stiebt hier die Vogelschar auseinander; ein Seeadler ist erschienen, und sein Auftreten bedeutet den Tod des Geschöpfes, das er sich zur Beute ersehen hat. Diesmal aber achtet der Gewaltige nicht auf die gefiederte Schar; in den Tiefen des Wassers hat er sich sein Opfer auserkoren. Mit furchtbarer Wucht stürzt er als Stoßtaucher in die Wellen – ein Augenblick, [895] und er erscheint wieder, feurige Gluth in den braungelben Augensternen, er breitet die mächtigen Schwingen aus und ruht einen Augenblick auf der Welle, in den Fängen einen großen Hecht. Dann schwingt er sich empor in die Lüfte, die Beute zum sicheren Horste zu tragen.

Die Seeküste ist des Seeadlers eigentliche Heimath, aber er kommt auch in das Innere des Landes und läßt sich für kürzere oder längere Zeit an Flüssen oder Seen nieder. Er ist 85 bis 95 cm lang und seine Flugweite beträgt 230 bis 240 cm. Kein Wunder also, daß er so gefürchtet wird. Nur die großen Thiere, wie Pferde und Kühe, sind vor ihm sicher: sonst greift er den Fuchs an und holt den wehrhaften Marder vom Aste weg, er stößt auf die Rehkälber und schlägt den Hasen im vollen Laufe, und es ist durchaus keine Fabel, daß er sich auch an Kindern vergreift. Fischfang treibt er auch im Binnenland; bis in die Tiefe des Wassers verfolgt er die Fische, wobei er als Stoßtaucher arbeitet.

Einen prachtvollen Anblick bietet der auf unserem Bilde mit seiner Beute über der Welle schwebende Seeadler. Mit der Beschreibnng einer anderen ebenso schönen Scene möchten wir aber die Begleitworte zu diesem Bilde schließen.

„Ein Seeadler“, schreibt ein Meister der Naturgeschichte, Lenz, „schwebte Beute suchend über der Havel und entdeckte einen Stör, auf welchen er sogleich herabschoß; allein der kühne Adler hatte seiner Kraft zu viel zugetraut: der Stör war ihm zu schwer, und es war ihm unmöglich, denselben aus dem Wasser emporzuheben: jedoch war auch der Stör nicht stark genug, den Adler in die Tiefe hinahzuziehen. Er schoß wie ein Pfeil auf der Oberfläche des Wassers dahin; auf ihm saß der Adler mit ausgebreiteten Flügeln, so daß beide wie ein Schiff mit Segeln anzusehen waren. Einige Leute bemerkten das schöne Schauspiel, bestiegen einen Nachen und fingen sowohl den Stör wie den Adler, welcher sich so fest in den Fisch eingekrallt hatte, daß er sich nicht befreien konnte.“

Winteridyll.
Zeichnung von M. Röbbecke.

Ein Wort für die Halligen. Zum Schutze der Halligen, jener vom Ocean immer mehr gefährdeten kleinen Inseln an Schleswigs Westküste, ruft ein genauer Kenner von Land und Leuten, Dr. Eugen Träger, in seiner Schrift „Die Halligen der Nordsee“ (Stuttgart, Engelhorn) die Regierung auf. Diese Jnselchen, Ueberbleibsel des früher weit nach Westen reichenden Festlandes, ragen zur Zeit der Fluth kaum meterhoch über den Wasserspiegel empor. Es giebt nur noch elf solcher Eilande, die etwa 500 Bewohner zählen; die größte Insel, Langeneß-Nordmarsch, ist etwa 1000 Hektar, die kleinste, Norder-Oog, 17 Hektar groß; sie alle scheinen dem sicheren Untergang geweiht, wenn nicht noch in letzter Stunde dem Zerstörungswerk des Meeres durch geeignete Befestigungsarbeiten Einhalt geboten wird. Nicht nur nagt Welle auf Welle an diesem preisgegebenen Stück Landes, nicht nur bröckeln die Eismassen Scholle auf Scholle ab; eine hereinbrechende Sturmfluth kann größere Theile der Inseln unter ihren Wogen begraben. Von der Gewalt solcher Sturmfluthen berichtet die Ueberlieferung schreckhafte Kunde. Am 11. Oktober 1634 ertranken über 7000 Menschen und 50000 Stück Vieh; damals wurde die große Insel Nordstrand gänzlich zertrümmert. Am 25. Dezember 1717 wurden auf Hooge 12 Häuser fortgespült und 60 zerstört, auf Nordmarsch 19 weggespült und 48 zerstört. Die letzte große Sturmfluth fand in der Nacht vom 3. zum 4. Februar 1825 statt. Einen gewissen Widerstand leistet das Erdreich der Halligen dadurch, daß seine Thonschichten durch den Kalkgehalt zahlloser eingelagerter Muschelschalen einigermaßen gefestet werden.

Wie aber kann man die Halligen gegen die fortschreitende Zerstörung schützen? Der von Dr. Träger entwickelte Plan schließt sich an die Erfahrungen an, die man an der Festlandsküste Schleswig-Holsteins gemacht hat, wo durch Auffangen des Meeresschlammes Neuland gebildet wird. Die aus dem Binnenlande kommenden Ströme bringen eine Menge sehr fein vertheilten, fruchtbaren thonigen Schlammes mit sich ins Meer, den sogenannten „Schlick“. Er wird von den Wellen wegen seiner Leichtigkeit hinuntergetragen und von den Meeresströmungen durch die Watten mit der Fluth wieder ans Festland herangeschwemmt. Vom Festland aus werden nun Dämme oder „Buhnen“ mehrere Kilometer weit ins Meer gebaut, in deren Winkeln sich der fruchtbare Schlamm ansetzt.

Das geschieht verhältnißmäßig rasch, so daß es nicht allzulange dauert, bis zwischen zwei Buhnen ein Stück neuen Landes geschaffen wird, das dann durch standhafte Winterdämme geschützt werden kann und damit endgültig dem Festland gewonnen ist. In entsprechender Weise kann man die Halligen retten. Eine derselben, die nur 4 Kilometer vom Festland entfernte Hamburger Hallig, ist auch bereits so geschützt worden, indem der verdienstvolle Bauinspektor Matthiesen 1872 die Insel mit dem Festland dnrch einen Faschinendamm verband; an diesem Damm haben sich jetzt schon große Strecken neuen Landes angesetzt, die eine für die Festigung des gewonnenen Bodens mächtige Vegetation von Salicornia herbacea, dem sogenannten Queller, tragen. Damit ist der Weg gezeigt, wie man den Vorstellungen und Eingaben der Bewohner der Halligen seitens der Behörden entgegenkommen kann. Die Frage des Halligenschutzes wird bereits im preußischen Ministerium der öffentlichen Arbeiten erwogen; man beschäftigt sich schon mit der Vermessung des von der Hamburger Hallig gewonnenen Landes. Und so ist’s recht, denn kein Stück deutschen Landes, sei es noch so klein, darf verloren gehen!

Spielzeughändler in Berlin. (Zu dem Bilde S. 873.) Wir schlendern die Friedrichstraße entlang. Es geht langsam vorwärts, denn ein breiter Menschenstrom bewegt sich vor uns, und an allen Straßenkreuzungen staut sich die wandelnde Menge zu Seiten der mit lautem „He!“-Rufe ab- und zujagenden Droschken oder der klingelnden Pferdebahnen. Der ganze Straßenzug ist eine ununterbrochene Folge von glänzend erhellten Schaufenstern, in denen die schönsten Ausstellungen zur Bewunderung und zum Kaufe laden. An den Fenstern der Juweliere, der Mark- und Dreimarkbazare, der Spielwarenhandlnngen drängen sich größere Gruppen; sie bewundern die kostbaren Dinge, die prächtigen Puppen von der Größe sechsjähriger Mädchen in eleganten Toiletten, das Spielzeug für die verwöhnten Kinder der Reichsten. Da erschallen plötzlich hinter uns von dem asphaltierten Straßendamm her, aus einer dichten Gruppe von Neugierigen heraus, die echten unverfälschten Berliner Laute: „Altersversorgungsmaus, ufjefunden in die Pyramiden vont Ejipten!“ Es ist ein Mann mit einem viereckigen, brettartigen, an einem Bande um die Schulter gehängten Kasten, der sein Spielzeug anpreist. Zwischen dem Ausrufer und dem Rande des Bürgersteigs, auf dem sich die neugierigen Zuschauer gestaut haben, läuft irgend etwas auf dem glatten Boden im Kreise herum: eine Maus, die der Händler am Faden hält – die „Altersversorgungsmaus“! Der Witz stammt aus der Zeit der Einführung des Altersversicherungsgesetzes, er zieht noch heute oder ist wenigstens von den Ausrufern noch durch keinen neueren und zeitgemäßeren ersetzt worden. Aber man kann nicht wissen, ob der Berliner Straßenwitz nicht über Nacht ein neues Schlagwort erfindet. Der Maus selbst haben sich inzwischen die verschiedensten anderen krabbelnden Dingerchen zugesellt, ohne jene doch ganz zu verdrängen. Die Mechanik dieser laufenden Mäuse ist die denkbar einfachste. In dem hohlen Blechkörper liegt eine Drahtwelle mit zwei Rädern, auf die Welle ist ein Faden gewickelt, den man herunterschnurren läßt; dadurch läuft die Maus ängstlich im Kreise umher und sieht sehr lebenswahr aus.

Auf derselben einfachen Vorrichtung beruhen auch kompliziertere Gestalten: Krokodile, die beim Laufen auch noch den Schuppenschwanz heben und senken, große Fliegen, die ihre sechs Beine bewegen, als ob sie wirklich daherkrabbelten; trippelnde Damen mit Sonnenschirmen. Sehr lustig war der Dienstmann, der seinen Karren schob und die Beine gar drollig steif eins vors andere setzte. Jede Woche bringt etwas „Neues“, aber dazwischen erhält sich immer noch das graue oder weiße Blechmäuslein, das nur einen Groschen kostet: die „Altersversorgungsmaus“.

„Jahr und Tag.“ Das Recht, namentlich das des Mittelalters, hatte verschiedene Fristen, deren Bedeutung dem heutigen Geschlecht nicht mehr ganz geläufig ist. Wenn wir heute „ein Jahr und ein Tag“ sagen, so verstehen wir darunter ein volles Jahr und einen vollen Tag dazu. Dem war aber nicht immer so. Als die Zahlensymbolik noch blühte, da kannte auch das Recht eigenartige „Zugabe-Zahlen“. Die sechswöchige Frist beruhte auf dreimaliger Wiederholung der vierzehntägigen Frist mit einer Zugabe von drei Tagen; sie dauerte also „dreimal vierzehn Tage [896] und noch drei Tage“. Die Jahresfrist hatte die Formel „Jahr und Tag“ und war so viel wie ein Jahr, sechs Wochen und drei Tage. Die Formel „zehn Jahr und ein Tag“ wurde gedeutet als „zehen jar, sechs Wochen und drei Tage“. „Hundert Jahr und ein Tag“ war dagegen die Formel für die ewige Verbannung. *      

Ilse (Zu unserer farbigen Kunstbeilage.) Ein neues vielversprechendes Talent aus der hochbegabten Künstlerfamilie Kaulbach ist der Maler, der den reizenden Studienkopf „Ilse“ geschaffen hat, Anton Kaulbach, ein jüngerer Bruder und Schüler Friedrich August Kaulbachs. In sammetnen Wellen fließen die dunklen Haare über das frische zarte Kindergesicht, das sinnend, mit halbgesenkten Augenlidern hervorblickt aus seiner üppigen Lockenumrahmung. Es ist mit Freuden zu begrüßen, daß die fortschreitende Technik des mehrfarbigen Drucks es ermöglicht, ein solches Bild auch bei der stärksten Vervielfältigung mit dem Reiz der Farbe zu umkleiden. Wir hoffen, mit diesem Kunstblatt unsern Lesern beim Abschluß des Jahrgangs noch einen willkommenen Genuß bereitet zu haben.



Zweite Quittung über die Beiträge

für die Hamburger Cholera-Waisen.

Es gingen ferner ein: M., Breslan 6 ℳ; Kegelklub „Hurrah“, Chemnitz 40 ℳ; von den Damen des St. Thomas-Stiftes, Braunschweig 14 ℳ; R. Raab, Weißenburg 20 ℳ; Kränzchen „Erika“, Guben 3 ℳ; Wwe. Tug. Plate, Kierspe 5 ℳ; G. Dauberschmidt, Dinkelsbühl 1 ℳ 50; Steinweg, Quedlinburg 2 ℳ; K. E., langjähriger Abonnent, Ohrdruf, 1 ℳ 50; Henny u. Max Neustaedter aus ihrer Sparkasse, Unruhstadt 3 ℳ; M. Penner, Heiligenbeil, 10 ℳ; A. Laskawy, Rh.-Roslau 10 ℳ; Familie H., Wesel 30 ℳ; Stammtisch „Enthaltsamkeit“, Leipzig 30 ℳ; Abendschoppen-Gesellschaft bei Kessel, Ludwigshafen 31 ℳ; G. Geißler, Nieder-Rochlitz 5 ℳ; P. S., Nürnberg 1 ℳ; M. W., W. 1 ℳ; Mitleserin der „Gartenlaube“ Neukraußendorf 40 Pf; Ungenannt, Dresden-N. 2 ℳ; aus Glogau 50 Pf; aus Fischhausen 3 ℳ; M. G., Dresden-Striesen 1 ℳ; A. C., Berlin 1 ℳ; L. M., Tanna 30 ℳ; A. Mallwitz, Belzig 3 ℳ; C. H. aus Rudolstadt, 3 ℳ; „aus Elsdorf von 2 Bettlerinnen zusammengeholt“, einges. durch G. Kopal ℳ 80; gesammelt, Schmiedeberg u. zwar: Frl. Kühn 50 Pf; Frl. Liebig 50 Pf; Frau Stelzer 1 ℳ 50; H. Harnecker 50 Pf; G. Knieriem 1 ℳ; G. Strebelow 1 ℳ; F. Klooß 1 ℳ; M. Burghold 1 ℳ 50; E. H., Darmstadt 5 ℳ; M. R., Schmiedeberg 8 ℳ; J. G. Petzold, Waldheim 5 ℳ; Dr. F., Gernrode 5 ℳ; Kränzchen, Kamenz durch B. Rentsch 8 ℳ; Mädchenklasse Ib der X. Bezirksschule, Dresden 9 ℳ 10; C. B., Berlin 6 ℳ 20; Mlles. F. u. C. Achgelis, Lancy 10 ℳ; landw. Verein zu Röhrsdorf 27 ℳ; Frau B. Helm, Stralsund 12 ℳ; Frau Jda Schwedler, Ebersbach 10 ℳ; arme Witwe, Ebersbach 1 ℳ; ges. bei jüdischen Gemeindemitgliedern, Laasphe 14 ℳ; ges. v. d. Schülern der Volksschule, Eckartsweier 20 ℳ; Frl. G. Kühlwein, Schneittach 12 ℳ 10; „Wenig aber von Herzen“, aus Eschweiler 3 ℳ; G. G., Dresden 10 ℳ; aus Arnsberg 5 ℳ; N. N., Augsburg 5 ℳ; L. C., Idar 4 ℳ; Kinder C. u. L. Meyer, Leipzig 77 ℳ; N. N., Danzig 5 ℳ; Wwe. S., Mülheim 5 ℳ; O. Neitzer, Krefeld 3 ℳ; L. Maurer geb. Stützel, Aalen. mit ihren Schülerinnen 7 ℳ; H. u. E., Iserlohn 10 ℳ; L. Massenetz, Weitmar 20 ℳ; Ungenannt, Leipzig 1 ℳ; A. K., Tilsit 3 ℳ; M. Sommerfeld, Lauenburg 50 Pf; J. Engelhorn, Stuttgart 10 ℳ; Dr. K. Steiner, Stuttgart 50 ℳ; Frau O. N., Friedrichshütte 1 ℳ; Ungenannt, Eisfeld 1ℳ; „Ein Scherflein“, Dresden-A. 1 ℳ; 2 Dienstmädchen, Mülhausen i. E. 1 ℳ; M. J. Kreuzburg i. Ob.-Schl. 3 ℳ; Witwe M. K., Dresden 50 Pf; S. v. Ziemietzky, Zehdenick 3 ℳ; „Ein Scherflein“ aus Frankfurt a. M. 2 ℳ; M. D., Bielefeld 3 ℳ; „Ein Scherflein“ aus Markersdorf 1 ℳ 50; Minna Müller, Lehrerstochter, Roßbach 2 ℳ; L. M., Weimar 30 30 Pf; Porantzki, Ober-Telegr.-Ass., Warmbrunn 3 ℳ; Aug. Herber, Laugenschwalbach 3 ℳ; E. v. d. G. u. B. v. St., Kloster Zehdenick 3 ℳ; Frau E. D., Liebwerd 2 ℳ 01; Abonnentin W., B. 4 ℳ; R., Züllichau 4 ℳ 05; J. Gasch, Meißen 5 ℳ 30; „Ein Sammelscherflein zur Christbescherung“, Pirna 12 ℳ 70; A. u. L. Hoesch, Düren 10 ℳ; Dr. A., Eberswalde 10 ℳ; Frl. Schmiedt u. A. C., Saarbrücken 21 ℳ; N. N., Amsterdam 5 ℳ; M. u. K. Z. aus W. 1 ℳ; A. F. B., Leipzig 5 ℳ; Frau Wagenitz, Mörchingen 3 ℳ; A. Schlemper. Solingen 6 ℳ; E. Halke, Ohlau 7 ℳ; L. J., E. M. u. Frl. E. Rs., Plathe i. P. 16 ℳ; M. P., Zittau 20 ℳ; Trautgundis, Leipzig 1 ℳ; aus Kruschwitz 5 ℳ; aus Bahn 1 ℳ; alte Jungfer, Troppau 5 ℳ; Elisabeth Krolop, Berlin 3 ℳ; Ungenannt, Köthen 1 ℳ 20; H. C., Plauen i. V. 1 ℳ; „Gartenlaube“-Leserin, Neustadt i. Ob. Schl. 1 ℳ; Ella Schmidt, Wien 1 ℳ 70; A. Lippoldt, Wittenberg 3 ℳ; „Gartenlaube“-Leser, Burtenbach 3 ℳ; G. Knoche, Techniker, Lüdenscheid, 3 ℳ; aus der Sparbüchse von Hans u. Fritz Blanck, Stralsund 3 ℳ; E. Z., Berlin 3 ℳ; Winklhofer u. Jaenicke, Chemnitz 5 ℳ; L. Bauer, Auerbach 5 ℳ; Grunwald, Bojanowo 3 ℳ 05; Kränzchen, Stralsund 6 ℳ; aus Pegnitz 9 ℳ (und zwar A. F. 3 ℳ, B. Sch. 2 ℳ, deren Kinder 1 ℳ, Ungenannt 3 ℳ); Frl. A. H., Magdeburg 10 ℳ; aus Weilburg 50 Pf; M. F. Nürnberg 10 ℳ; Frau Dr. Ida Koch, Ebersdorf, 5 ℳ; L. St., Osnabrück 5 ℳ; C. Axmann u. 9jähriges Töchterchen Ella, Wien (5 fl.) 8 ℳ 50; E. J., Warnsdorf 34 ℳ; „Eine Allzeyerin“, Alzey 1 ℳ; Ein dankbares Menschenkind 1 ℳ; J. P., Altenessen 2 ℳ; Geschwister Sperling, Eilenburg 1 ℳ 50; Frau Auguste Schulz, Golßen 50 Pf; J. K., Reichenbach 1 ℳ; Ambrosius u. Frau, Titschken 1 ℳ 40; aus Regensburg 3 ℳ; Emma Lt., Nürnberg 2 ℳ; von 2 Verwaisten, Lutter 2 ℳ; A. W. Mühlhöfer, Markt Redwitz 5 ℳ 10; aus Bendorf 5 ℳ; aus Bayreuth 1 ℳ 50; aus Leipzig 1 ℳ 50; Witwe K. W., München 50 Pf; aus Kreuznach 1 ℳ; Hälfte der Sparkasse von Walter, Dresden 1 ℳ 75; aus Osnabrück 1 ℳ; Leserin der „Gartenlaube“, Möllenhagen 5 ℳ; eine glückliche Mutter, Roßwein 5 ℳ; Gemeinde Vogelsberg i. Th. 3 ℳ; F. D., Bopfingen 2 ℳ 60; Frau J. Schmid, Krimmitschau 3 ℳ; G. Bräuer, Neumarkt 3 ℳ; Sekretär Nippe, Freystadt, N.-Schl., 3 ℳ; Witwe R., Bautzen 3 ℳ; Frau H. Rehling, Bremen 5 ℳ; Frau Marie Dannenberg, Berlin 5 ℳ; M. H., Berlin 6 ℳ; S. Reiß, Bruchsal 5 ℳ 05; Roelcke, Sekretär, Schlawe, 1 ℳ; P. H., Herrnhut 3 ℳ 05; aus der Sparbüchse von Putti u. Fränzchen, Hannover-Linden 2 ℳ 05; R. E., Waldheim 2 ℳ; R. K., Waldheim 2 ℳ; Alma Heyne, Weimar 2 ℳ 05; auf Anregung des Hrn. F. Metz, Frankfurt a. M., anläßlich dessen gütigst zurückgezogenen Strafantrags 10 ℳ; B. Germer, Breitenfeld 10 ℳ; Familie Storck, Gausheim 10 ℳ; C. H., Lößnitz 10 ℳ; Damenkränzchen, Weißenburg 10 ℳ; W. H., Glogau 10 ℳ; R. Lieff, Braunschweig 20 ℳ; Frau R. W., Elberfeld 20 ℳ; Pankratz Pauson, Lichtenfels 20 ℳ; A. B., Schlangenbad 20 ℳ; G. Loy, Fürth 11 ℳ 20; Männerturnverein, Wüste-Waltersdorf 7 ℳ; Damenriege daselbst 16 ℳ; ges. unter befreundeten Damen u. Herren durch Frau E. Karnahl, Köln 17 ℳ; A. G. Petermann, Cotta 16 ℳ; J. Winzen, Hannover 10.05 ℳ; L. C., L. u. P. H., Schwarzenberg 30 ℳ; Marie Diestelkamp, Neuwied, im Auftrage des „Kränzchens“ 34 ℳ 50; ein niederschles. Gymnasiast, Sagan 1 ℳ; L. R., Hof 1 ℳ; aus Döbeln 3 ℳ; Alfred Fleischhauer, Eisenach 1 ℳ; R. Schwabe, Zittau 1 ℳ; Alte Nheinländerin, Hagen i. W. 50 Pf; aus Ohrdruf 1 ℳ; ein Kranker, der nicht viel übrig hat, Chemnitz 1 ℳ 50; aus Vorsfelde 2 ℳ; El. D., Baruth 2 ℳ; M. S., Nürnberg 1 ℳ; durch Jg. Peichl, Wien, von seinen 5 Kindern (1fl.) 1 ℳ 70; aus Guhrau 2 ℳ; Frau M. C., Darmstadt 5 ℳ; N. N., z. Z. Heilbronn 3 ℳ; aus den Sparbüchsen von Th. B. Am., M. Th. J. Fr., H. W. E. M., Niederzelbach 5 ℳ 64; „Aus meiner Sparbüchse“ von Augusta W., München-Siebenbrunn 5 ℳ; Friedensrichter Kaden, Dresden 10 ℳ; von P. P., Roßwein 10 ℳ; Stammtisch Glüsas Weinhandlung, Kreuzburg, 11 ℳ 50; Louise u. S. Simson, Suhl 40 ℳ; Kartklub, Frankenstein 12 ℳ 80; Samuel Zinn u. Co., Lichtenfels 20 ℳ; aus Landeck in Schl. 15 ℳ 50 (und zwar: J. Hoffmann 10 ℳ, Ww. Hoffmann 1 ℳ, Frau Conrad 3 ℳ, Frau Siebert 1 ℳ und Gertr. Kriesten 50 Pf); Gebr. Römer, Hainsberg 100 ℳ; C. Lorentz, Boizenburg 3 ℳ; aus Sulzbach 5 ℳ (u. zwar: B. F. 1 ℳ, L. K. 2 ℳ, G. Sch. 1 ℳ, E. W. 1 ℳ); M. R., Leipzig 20 ℳ; Marg. Gundrum, St. Gallen 1 ℳ 60; Jean H., Frankfurt 20 ℳ; A. Knoblauch, Barby 3 ℳ; Sammlung in der Schule zu Bornheim 7 ℳ 20; Landgerichtsrath Lunz, Hof 3 ℳ; L. G., Merchingen 3 ℳ 40; L. Defoy, Magdeburg 10 ℳ; alte Abonnentin aus L. 1 ℳ; M. P. in T. 1 ℳ; aus Teterow 40 Pf; A. G., Crossen 3 ℳ 70; B., Schönau b. Schluckenau 1 ℳ 40; Anna Z. und elfjährige Nichte, Stralsund 4 ℳ; „Haideblume“, N. 5 ℳ; Familie St., Königstein 5 ℳ; T. T., Würzburg 10 ℳ; „All Heil“! M. R., Fürth 12 ℳ; Frau Zillig, Differsen 6 ℳ; Frau Voet, Utrecht 10 ℳ; Ottilie Bartel, Templin 2 ℳ; R. 24, Altenburg 1 ℳ; K. l., Altenburg 1 ℳ; Hofrath Dr. Pfeiffer, Stuttgart 20 ℳ; Dr. Gerlach, Parchim 5 ℳ; Frau E. Schreiber, Weigersdorf 10 ℳ; aus Zehlendorf b. Berlin 3 ℳ; G. A. R. B., Ruhla 10 ℳ; W. in Berlin 10 ℳ; „Sammlung unter Freunden“ von Frau E. Günther, Berlin 31 ℳ; Lehrer Jüchter, Baadel 11 ℳ; F. Lh., Karlsruhe 50 Pf: Lehrer H. Riede, Pobzig 1 ℳ; aus Karlsruhe in B. 3 ℳ; Elise, Eisfeld 1 ℳ; alte Witwe in Konitz 1 ℳ; E. H.. Magdeburg 50 Pf; E. B., Wien (1 fl.) 1 ℳ 70; A. F. Beythien, St. Petersburg 20 ℳ; ges. im Baubureau f. d. Neubau d. Irrenanstalt in Dziekanka 6 ℳ; O. v. Schütz, emer. Pfarrer, Kleve 5 ℳ; Heinr. König, Hilden 5 ℳ; Kinder der Sonderriether Volksschule durch Hauptlehrer Dinkel 10 ℳ 60; N. N., Gg., Rheinland 15 ℳ; aus Borna 30 Pf; aus der Sparbüchse von Dora, Rudolf u. Walter. Frohburg 3 ℳ; Anna, Fritz u. Georg Kreutzberger, Mondsee 3 ℳ 40; Abonnentin der „Gartenlaube“, Penzlin 10 ℳ; Ungenannt, Naumburg 10 ℳ; Frau S. Pöppig, Gera 10 ℳ; Heidenreich, Oppeln 20 ℳ; M. St., Großalsleben 20 ℳ; Frau G. Meßmann, Lendershausen 3 ℳ; Frau Lehrer Wolf, Lendershausen 1 ℳ 50; Frau R. Schunk, lendershausen 1 ℳ; Frau Gg. E. Schad, Lendershausen 1 ℳ; Fräul. Kathi Gut 50 ℳ; Frau Gg. Rauscher, Hofheim 20 Pf; Gebr. Reuß, Hofheim 3 ℳ; Ertrag einer Dilettanten-Vorstellung im Wirthshause „Petersburg“ in Angeln, einges. durch Th. Jacobsen, Eckeberg, seit 32 Jahren Leser der „Gartenlaube“, 80 ℳ 35; aus Rußland (10 Rubel) 20 ℳ; „Das ganze Deutschland soll es sein“! M. H., Czernowitz (5 fl.) 8 ℳ 50; aus Mannheim 1 ℳ; Anna Bloder, Oberlehrers Gattin, Stainz 3 ℳ 40; Pfennigsammlung i. d. Schulklassen zu Jahnsdorf, durch das Lehrer-Kollegium 26 ℳ 75; Sammlung in 4 Familien daselbst 4 ℳ 35; A. R., Schwerin 5 ℳ; A. W., Leipzig 3 ℳ; Sammlnng unter den Schulkindern in Tawe durch Lehrer Beyrau 3 ℳ 20; Pfeiffer in Urfahr 18 ℳ 69; „Frankenbergerin, die an vielen Thüren klopfte“ 40 ℳ; Samstag-Kegelklub im „König von England“, Frankfurt 71 ℳ; glückliche Mutter, Schmiedeberg 1 ℳ; aus Wegberg 2 ℳ; H. Rothe, Leipzig 5 ℳ; N. N., Ziesar 1 ℳ; aus Frankfurt 5 ℳ; A. Hagen, Leipzig 8 ℳ; alte Abonnentin, Warmbrunn 3 ℳ; G. Krämer, Dachwig 2 ℳ; alter Leser der „Gartenlaube“ seit 1859, A. M., Etzleben 5 ℳ; 3 Geschwister, die noch im glücklichen Besitz ihrer Eltern sind. Mühlhausen 1 ℳ 80; aus Berlin: „Wenig aber herzlich“ 50 Pf; Antonie Greene, Gateshead 1 ℳ 50; Witwe Hartwig, Burg 1 ℳ 20; A M., Hirsau 10 ℳ; eine in Krakau lebende Deutsche, die letzten Sparpfennige ihres toten Lieblings (4 fl.) 6 ℳ 80; T. T., Helsingborg (5 Kr.) 5 ℳ 50; H. K., Tr. 3 ℳ; ges. von den Schülern u. Schülerinnen der 2 Bürgerschulen zu Neustadt 106 ℳ 01; No. 12, Plagwitz 5 ℳ; G. F., cand. theol., Johannisburg, 1 ℳ; Dr. Anton, Arzt, Schreiberhau 3 ℳ; P. K., Barth 3 ℳ; L. u. W. R., W. 5 ℳ; M. L., Krappitz, O. S. 4 ℳ; A. A!bers, Bäckermeister, Hannover 3 ℳ; Leserinnen der „Gartenlaube“, Altenburg 5 ℳ; „Wenig aber herzlich“, Frankfurt 9 ℳ 05; B. H., Augsburg 10 ℳ; Schede, Rittmeister, Saarburg 20 ℳ; Marie Heß, Braunau 3 ℳ 91; Reichenberger Nähschule, durch G. Heise, Maffersdorf 5 ℳ 10; Hilda i. H. (2 fl.) 3 ℳ 40; ges. durch F. Schröder bei einem Kränzchen der K. Eisenbahn-Handwerker, Groß-Glogau 6 ℳ; A. Bothmann, Lokomotivführer a. D., langjähriger Abonnent der „Gartenlaube“, Werden 3 ℳ; ges. von Frau Hübner im Neu-Weissteiner Damenkränzchen 5 ℳ; ges. v. Fräulein Hübner bei den jungen Damen des Altwasser Gesangvereins „Gemischter Chor“ 5 ℳ 35; Beamte der Firma Schäffer u. Rudenberg, Magdeburg-Buckau 20 ℳ 30; Geh. Ob. Reg. Rath Dr. Singelmann, Berlin 10 ℳ; Saatz, Berlin, Karlsbad 10 ℳ; J. F. R., Wasquehal 6 ℳ; 3 Berlinerinnen 2 ℳ; „Wenig mit Liebe“. R., Dresden 50 Pf; aus Frankenthal 1 ℳ; P. P., Gmünd 3 ℳ 50; Scherflein zum Christfest aus Pleß 50 Pf; E. M., Schwedt 50 Pf; aus Schoningen 1 ℳ 50; M., Schlawin 3 ℳ; E. Krutz, Wismar 5 ℳ; Lindner, Dom. Ob. Sohra 10 ℳ; Frau Studienlehrer Schleißinger, Wunsiedel 2 ℳ; Frau Clara Schmidt, Wunsiedel 2 ℳ; Abonnent, Dresden 2 ℳ; L., Kamenz 1 ℳ. (Fortsetzung folgt.)     




Auflösung des Weihnachtsrösselsprungs auf S. 872:

Wieder mit Flügeln, aus Sternen gewoben,
Lenkst du herab dich, o heilige Nacht;
Was durch Jahrhunderte alles zerstoben –
Du noch bewahrst deine leuchtende Pracht!
 
Leerend das Füllhorn beglückender Liebe,
Schwebst von Geschlecht zu Geschlecht du vertraut –
Wo ist die Brust, die verschlossen dir bliebe,
Nicht dich begrüßte mit innigstem Laut!
 Ferdinand von Saar


Auflösung des Arithmo-
griphs auf S. 872:

Was uns bleibt.“

Auflösung des Silbenräthsels auf 5. 872: Brautkranz.

Auflösung der Kombinationsaufgabe auf S. 872:
Man lese der Reihenfolge der Wochentage nach die Anfangsbuchstaben der Operntitel, also:

Montag=F, Dienstag=I, Mittwoch=D, Donnerstag=E, Freitag=L, Sonnabend=I, Sonntag=O,
und man erhält den Namen der berühmten Beethovenschen Oper "Fidelio".

Auflösung des Gegensatzräthsels auf S. 872:
1. männlich, 2. irdisch, 3. naß, 4. nothwendig, 5. anspruchsvoll, 6. verschieden, 7. oberflächlich, 8. niedrig, 9. beliebt, 10. arm, 11. redselig, 12. nah, 13. harmlos, 14. echt, 15. ledig, 16. mündlich.
  Minna von Barnhelm.

Auflösung des Buchstabenräthsels auf S. 872: Harm – Arm.

Auflösung des Scherzräthsels auf S. 872: Die Nase.

Auflösung des Scherzbilderräthsels auf S. 872:
Wer im Trüben fischen will, der kann das Licht nicht vertragen.

Auflösung der Räthselaufgabe auf S. 872: Stiefel.

Auflösung des Räthsels auf S. 872: Levante, Eva.



manicula Hierzu die farbige Kunstbeilage XIII: „Ilse".
  Von Anton Kaulbach.


      Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner.
Verlag von Ernst Keil's Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

[897]
An unsere Leser!

Der vierzigste Jahrgang der „Gartenlaube“ liegt mit diesem Halbheft abgeschlossen vor.

Wohl nicht zum zweiten Male mag es einer Zeitschrift vergönnt sein, sich vierzig Jahre hindurch die Gunst von Hunderttausenden von Lesern in dem Maße zu erhalten, wie es die „Gartenlaube“ vermocht hat, trotz vielfacher Nachahmungen und eines eifrigen Wettbewerbs rings um sie her.

Die Erklärung für diese Thatsache mag darin liegen, daß die „Gartenlaube“ es stets als ihre wichtigste Aufgabe betrachtet hat, die Regungen der deutschen Volksseele zu beobachten und zu verstehen. Sie will entgegenkommen dem tiefwurzelnden Bildungstrieb unseres deutschen Volkes, seinen menschenfreundlichen Bestrebungen zur Linderung der Noth aller, welche hart mit dem Leben ringen, seinen patriotischen Gefühlen für die Größe des deutschen Vaterlandes, für die Ehre des deutschen Namens in Heimath und Fremde, seinem Drang, den Geist in ferne Länder und Zonen schweifen zu lassen, und nicht zum mindesten seinem Bedürfniß, in anmuthigen und herzbewegenden Erzählungen eigenes und fremdes Glück und Leid sich wiederspiegeln zu sehen, zur Kürzung stiller Stunden am häuslichen Herd.

Und alles, was nach unserer Ueberzeugung die Leser seither an die „Gartenlaube“ gefesselt hat, wollen wir ihnen auch im neuen Jahrgang bieten. – Wir werden ihn beginnen mit dem neuesten Werke einer unserer gefeiertsten Gartenlaube-Erzählerinnen, mit dem großen Romane

Freie Bahn! Von E. Werner,

sowie mit einer spannenden Novelle aus dem Seeleben:

Auf Geben und Nehmen. Von Johannes Wilda.

Außerdem haben wir in unserem Vorrath u. a. folgende Romane und Erzählungen:

Hans Arnold, Nicht lügen!
Marie Bernhard, Buon Retiro.
Ernst Eckstein, Die Sklaven.
Ludwig Ganghofer, Die Martinsklause.
A. Godin, Ein Brief.
Karl von Heigel, Der Sänger.
W. Heimburg, Sabinens Freier.
Stefanie Keyser, Herr Albrecht.
A. v. Klinckowstroem, Freiheit.
Ernst Lenbach, Philipp Ardinger.
Emil Roland, Jugendzeit.
Gerhard Walter, Wandlungen.
Ernst Wichert, „Elsa“
Arthur Zapp, Ein Lieutenant a. D.

Eine Reihe hervorragender und bewährter Mitarbeiter unterstützt uns bei unserem Bestreben, durch gediegene gemeinverständliche Aufsätze aus allen Wissensgebieten unsern Lesern Gelegenheit zur eigenen geistigen Ausbildung zu geben. Wir nennen u. a.

Hans Boesch. 0 Carl Brandt. 0 H. Brugsch-Pascha. 0 V. Chiavacci. 0 C. Cranz. 0 Felix Dahn. 0 Friedr. Dornblüth. 0 Ernst Eckstein. 0 Rob. Franceschini. 0 Eugen Friese. 0 Livius Fürst. 0 Ludwig Ganghofer. 0 Rud. v. Gottschall. 0 Ferd. Groß. 0 Julius Grosse. 0 Cornelius Gurlitt. 0 Max Haushofer. 0 L. Heck. 0 Friedr. Helbig. 0 H. Hoffmann-Donner. 0 Woldemar Kaden. 0 E. Heinrich Kisch. 0 H. J. Klein. 0 Rudolf Kleinpaul. 0 Paul Lindenberg. 0 M. Wilh. Meyer. 0 Adolf und Karl Müller. 0 Heinrich Noë. 0 W. H. Riehl. 0 Karl Ruß. 0 Schmidt–Weißenfels. 0 Eduard Schulte. 0 B. Schulze–Smidt. 0 Alex. Tille. 0 Rudolf Virchow. 0 Carl Vogt. 0 Georg Winter.

Daß wir auch auf dem Gebiet der bildlichen Ausstattung uns die größte Sorgfalt in Bezug auf Auswahl und kunstgerechte Herstellung angelegen sein lassen, dafür mögen die letzten Jahrgänge als Zeugen dienen. Wie immer, so werden wir auch künftig bemüht sein, die Vervollkommnungen der so rasch voranschreitenden Illustrationstechnik für unser Blatt nutzbar zu machen.

Und so hoffen wir denn, daß auch der nunmehr beginnende einundvierzigste Jahrgang der „Gartenlaube“ überall willkommen sein werde bei alten und neuen Freunden. Ihnen allen

ein herzliches Glückauf zum Neuen Jahre!

Leipzig, im Dezember 1892. Die Redaktion der „Gartenlaube“. 

[898]

Zur Jahreswende.

Wieder schwankt des Schicksals Wage –
Neue Mühen, neues Glück!
Doch die Reue und die Klage
Und die Last der schweren Tage
Bleib’ im alten Jahr zurück!

Was in Kämpfen und in Sorgen
Wir zu eigen uns gemacht,
Was wir aus dem Sturm geborgen
Retten wir zu schön’rem Morgen
Aus versunk’ner Wetternacht.

Ueber all das Dämmergrauen
Siege freud’ges Sonnenlicht!
Nicht den Sehern laßt uns trauen,
Die nur düst’re Bilder schauen
In gespenst’gem Traumgesicht!

Stehn wir vor dem Ungewissen,
Lebt in uns die sich’re Kraft,
Und der Schleier wird zerrissen,
Denn ein Blitz in Finsternissen
Ist die That, die Großes schafft.

Alles für das Höchste wagen,
Sei die Losung immerdar,
Gutes thun in guten Tagen
Und in bösen nicht verzagen –
Sei gegrüßt, du neues Jahr!

Rudolf v. Gottschall.