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Die Gartenlaube (1893)/Heft 16

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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum: 1893
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[261]

Nr. 16.   1893.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Schwertlilie.

Roman von Sophie Junghans.
(2. Fortsetzung.)
4.

In Birkenfeld hatte sich eine kleine Veränderung vollzogen, die aber doch in dem Städtchen, in dem keine großen Dinge zu geschehen pflegten, von sich reden machte. Es war weiter nichts, als daß das Gelaß mit den schräggeneigten Dielen, der niedrigen Decke und den kleinen Fenstern im Hause des Bäckers Jost Lüttebrand, im Oberstock über seinem Gaden und seiner Mehlkammer gelegen, leer stand, weil Frau von Méninville, die es bewohnt hatte, auf das pfalzgräfliche Schloß gezogen war.

Photographie im Verlage der Photographischen Union in München.
Vorbereitung zur Vorstellung.
Nach einem Gemälde von S. Dahl.

[262] Wie das gekommen war? Ganz einfach so. Einige Tage nach jenem Heimwege der bescheidenen Witwe vom Schlosse, bei welchem sie der Leyenschen Karosse hatte Platz machen müssen, war die Méninville einmal wieder bei der Pfalzgräfin. Diese hielt kleinen Damenzirkel; Frau von Méninville, die im pfalzgräflichen Gemache an ihrem Deckenzipfel gearbeitet halle, wollte sich entfernen, als die andern Damen sich einfanden, wurde aber durch ein paar Worte ihrer Herrin zurückgehalten, wie das jetzt Zuweilen geschah. Die Unterhaltung in diesen Zirkeln war der Pfalzgräfin, die neuerdings nach einem bestimmten Reize des Gesprächs verlangte, zu einförmig ohne die Méninville. Die brachte gleich etwas Belebung hinein; und schon daß die andern Damen sich ärgerten, wenn sie da blieb und von der Fürstin soviel Duldung erfuhr, war ein kleines Amusement mehr.

An jenem Tage nun hatte Frau von Méninville, um der Unterhaltung aufzuhelfen, sich selbst ein wenig preisgegeben, indem sie sehr lächerlich erzählte, wie sie neulich von dem Wagen der Leyens an die Wand gedrückt und gezwungen worden war, auf einen Kothhaufen sich zu retten. Es gehörte der Méninville ganze christliche Selbstverleugnung hierzu, denn einige der Damen enthielten sich nicht, schadenfroh zu lächeln bei der Schilderung. „Ja, ich muß eine drollige Figur abgegeben haben,“ sagte die liebe Frau, selber in besonderer Weise lächelnd. „Die Leyensche Kutsche ist ja wohl eine von den breitesten; es muß die ältere Façon sein, die man früher baute und die sich nur noch in vereinzelten Exemplaren findet. Benutzen Sie nicht auch noch eine solche, aus Liebhaberei, Frau von Biberen – ehrwürdig wie die Arche Noah, wie?“

Frau von Biberen, die rothblonde Dame mit dem feinen, etwas zu früh verblühten Gesicht, war selber scharfzüngig genug. Sie wurde zwar jetzt roth vor Aerger, sagte aber unverweilt: „Die Geräumigkeit meiner Karosse hat mich noch nie gestört; ich weiß nicht, wie sie denen vorkommt, die zu Fuße zu gehen genöthigt sind.“

„Karossen kenne ich, wie Frau von Biberen eben bemerklich machte, allerdings nur noch von außen seit den Jahren meines entbehrungsreichen Witwenstandes,“ erwiderte Frau von Méninville sanft, mit Ergebung die Augen niederschlagend. „Ich kann deshalb dem Herrn nur danken für die angeborene Zufriedenheit eines Gemüthes, das all diesen Prunk wenig entbehrt.“

„Das sind sehr tugendhafte Empfindungen ... Sie sind ... Sie sind eine vortreffliche Frau, liebe Méninville.“ Die Pfalzgräfin war es, welche gesprochen hatte, etwas holprig, wie das eine fürstliche Eigenheit von ihr war.

„Pfalzgräfliche Hoheit überschätzen mich ,“ sagte Frau von Méninville bescheiden. „Ich will mich nicht besser machen, als ich bin. Während ich in meiner Bedrängniß dastand, dicht an die Mauer gedrückt, deren Kalk ich nachher an meinem Mantel mit nach Hause brachte, und auf das Piedestal des Schmutzhaufens erhöht, eine beiqueme Zielscheibe zur Belustigung der jungen Herrschaften im Wagen – der junge Herr hat sich weidlich amüsiert, er wird es bezeugen – da waren Fleisch und Blut doch nicht ohne Verdruß; ich hatte eine recht unfreundliche Regung gegen diese übermüthige Jugend, deren ich mich jetzt selber als einer Thorheit anklage ... Was sagten Sie, Fräulein von Motz? Sie halten Ihre vortreffliche Freundin Polyxene für unfähig, mich ausgelacht zu haben in jener fatalen Lage? Sie kennen die junge Dame genau: sie sah mich gar nicht ... ihre Augen erniedrigten sich nicht so weit, einen Gegenstand wie mich auch nur zu streifen ... ich bin viel zu gering, um von ihr überhaupt bemerkt zu werden.“

Da hatte die gute Motz, das Fräulein mit dem ein wenig lächerlichen dicken Apfelgesicht und der zu kleinen Nase, ihrer Polyxene, der sie treulich anhing, einen schlechten Dienst erwiesen. Sie saß ziemlich weit von der Pfalzgräfin entfernt und hatte sich nicht enthalten können, ihrer Nachbarin jene Bemerkung zuzuraunen, welche die Méninville also doch gehört hatte, obwohl die Worte nur halblaut gesprochen worden waren. Jetzt schwieg Fräulein von Motz betreten. Hatte sie zuweilen, sogar im Beisein der Pfalzgräfin, jene glückliche Dreistigkeit, die man ihr halb aus Mitleid hingehen ließ, weil sie für ein junges Mädchen doch gar so unschön war, so war sie der liebenswürdigen Witwe dennoch nicht gewachsen.

Die Pfalzgräfin sprach jetzt. „Fräulein von Leyen thäte aber sehr wohl, Sie, liebe Méninville, zu beachten,“ sagte sie. „Sie könnte von Ihnen lernen.“ Und nun fuhr sie fort, ihre Sätze kurz abstoßend, wie sie pflegte; „Warum ist die Leyen heute nicht hier? Sie wartet uns sehr wenig auf. Wenn sie einmal ihre Fortune durch den Hof machen will, sollte sie sich mehr dazu halten.“

„Hoheit belieben zu bedenken, daß die Herrenmühle ein entlegener Ort zum Wohnen ist,“ sagte hier die Obersthofmeisterin Frau von Kallenfels, die – das mußte man ihr lassen – recht gern einmal ein gutes Wort für jemand bei der Fürstin einlegte, wenn sie konnte. „Wünschen Pfalzgräfliche Gnaden das Fräulein zu regelmäßigerem Dienste um sich zu haben, so wäre ihr vielleicht das kleine Appartement zuzuweisen, welches Fräulein von Ochsenstein innehatte ...“

Sie kam nicht weiter. „Jetzt keine derartigen Vorschläge, Frau von Kallenfels, wenn ich bitten darf,“ sagte Sabine Eleonore beinahe ungnädig. „man plagt mich stets mit Geschäften – man überrumpelt mich ... Ist mein Hofstaat nicht vollzählig, so hätte ich das längst wissen sollen.“ Sie war mit einem Male ganz roth geworden, sie ärgerte sich augenscheinlich. Die Obersthofmeisterin, die diese Anzeichen kannte, war jetzt des Winkes gewärtig, der auch alsbald erfolgte. „Ich bin etwas ermüdet ...“ Sogleich erhoben sich sämtliche Damen. „A revoir, mes dames!“

Den üblichen Handkuß beim Zurückziehen ließ sie dann wieder huldvoll geschehen. Auch der Obersthofmeisterin, die sie nicht entbehren konnte, zeigte sie zuletzt keine üble Laune mehr; sie war eben froh, den Damenschwarm los zu werden. Frau von Méninville kam natürlich zuletzt an die Reihe der Verabschiedung, ihrem bescheidenen Rang nach, und wollte sich eben tief zum Handkuß neigen, als die Fürstin sagte: „Bleiben Sie, liebe Méninville, noch ein wenig an Ihrer Stickerei; es beschwert mich, daß ich selbige heute meiner vapeurs wegen so wenig gefördert habe.“

Wieder eine unerhörte Gunst, und wie bescheiden wurde dieselbe empfangen! Frau von Méninville war sogleich, wie fortgeweht, in der Ecke des Gemaches, und zum Zeichen, daß sie hier nicht mehr Theilnehmerin an einem Hofzirkel, sondern nur noch die Hand sei, welche die Goldfäden durch das Gewebe aus- und einführe, sank sie an ihrem Platz in sich zusammen und verschwand fast unter den Sammetfalten der Decke, trotzdem die Pfalzgräfin noch stand.

Als die Thür sich hinter den Damen geschlossen hatte, nahm Gräfin Sabine Eleonore ihren Sessel wieder ein und meinte: „Sie haben dort wenig Licht; kommen Sie näher, liebe Méninville.“ Und bald zeigte sich, wo ihre Gedanken noch waren; sie wiederholte eine schon einmal gemachte Bemerkung: „Die Leyen wartet mir nicht so oft auf wie andere Damen! Sie weiß wohl nicht, wie schwer es sein wird, sie einigermaßen standesgemäß durch eine Heirath zu versorgen.“

„Vielleicht glaubt Fräulein von Leyen dazu die Protektion Euerer Hoheit nicht nöthig zu haben,“ sagte hier Frau von Méninville, über ihre Stickerei geneigt. „Sie verläßt sich, und wie manche meinen, nicht ohne Fug, auf ihre Schönheit.“

„Sie ist eine eingebildete Stange!“ rief darauf die kleine Dame mit überraschender Derbheit. „Wir wollen einmal hören, was sie in zehn Jahren sagt. Weit lieber wäre mir es freilich, wir würden sie beizeiten los. Wissen Sie etwas davon, daß sie schon beachtet worden wäre – von einem unserer Kavaliere oder sonst einem Mann von Stande?“

Frau von Méninville schien nachzusinnen. „Schwerlich würde solches, wenn es der Fall wäre, zu meiner Kenntniß kommen,“ sagte sie dann. „Ich lebe in einer zu bescheidenen Sphäre, in deren Dunkel nur die unvergleichliche Gnade Euerer Hoheit zuweilen ein um so helleres Licht wirft. Das einzige Mal freilich, daß ich Fräulein von Leyen durch einen liebenswürdigen Kavalier erwähnen hörte, da geschah es nicht ohne Beifall.“ Die Pfalzgräfin blickte noch ruhig und ahnungslos und daher ausdruckslos vor sich hin; die Méninville fuhr fort: „Entsinnen sich Pfalzgräfliche Gnaden nicht, wie Herr von Nievern neulich rühmte, es habe sich das Fräulein von Leyen der Sache ihres Vetters gegen Euere Hoheit recht wacker angenommen? Mich dünkte, er sprach wärmer von dem Fräulein, als er sonst pflegt.“ Frau von Méninville stickte emsig weiter – es fand sich gerade ein Knötchen in dem Goldfaden, welches ihre besondere Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Als sie endlich wieder aufblickte, sah sie, daß ihre Gabe gewirkt hatte.

„Ganz recht, da ist sie unserem Vortheil auch entgegen gewesen,“ sagte Sabine Eleonore, und man hätte kaum glauben sollen, daß das Puppengesicht eines solchen Ausdruckes von Gehässigkeit fähig wäre, wie es ihn jetzt trug. „Gut, daß Sie mich daran erinnern; ich hatte es vergessen.“

[263] Sie hatte, als kürzlich Herr von Nievern über seine erfolglose Unterhandlung mit dem Vormund des jungen Freiherrn von Leyen Bericht erstattete, nach ihrer Art auf den Kern der Sache wenig acht gehabt. Und Herr von Nievern, gutmüthig, wie er im Grunde war, hatte auch das Seinige dazu beigetragen, daß jene Weigerung von Leyenscher Seite nicht zu tief eindringe in das fürstliche Gemüth und Gedächtniß und da üblen Willen gegen die Waisen erzeuge. Zum Unglück aber hatte er jene Bemerkung über Polyxene wirklich gemacht; leicht hingeworfen, als harmlose Redeblume, die aber, wie sich nun zeigte, von Frau von Méninville mit spitzen Fingern aufgelesen und dem Herbarium ihres Gedächtnisses einverleibt worden war, welchem sie jetzt von ihr entnommen wurde, um, vorher in feinen Giftstaub eingetaucht, unter die fürstliche Nase gehalten zu werden. „Jugend hat keine Tugend,“ sagte die vortreffliche Witwe jetzt entschuldigend. „Das Fräulein ist eben jung und vorwitzig.“ Und nun prüfend, leise lauernd unter den blonden Wimpern hervor: „Ein Aufenthalt am Hofe, in der Nähe Euerer Hoheit, würde ihre Manieren gewiß alsbald verbessern; und diese Verbesserung, zusammen mit jenem – leider allzu flüchtigen – Jugendreiz, den man an ihr rühmt, würde ihr vielleicht die soliden Attentionen eines unserer Kavaliere verschaffen ... es sind ja einige ansehnliche noch unvermählte Herren in den besten Jahren am Hofe ...“ ein leises Zaudern, ob man noch weiter gehen dürfe – ja, bei Sabine Eleonore waren starke Dosen nöthig, also wohlan denn, noch eine! „Den Beifall des Herrn von Nievern scheint sie schon erlangt zu haben ...“

Da, endlich! Die kleine Dame reckte sich steif auf und kollerte wie eine zankende Taube: „Wer sagt, daß ich sie haben will? – Ich möchte sie nicht um mich leiden, und wenn mir eine flandrische Stadt dafür geschenkt würde! Bin ich diesem paupern Adel schuldig, ihn zu erhalten? Mitnichten! Warum geht sie nicht in ein Kloster? Dafür langte ihr bißchen Armuth gerade noch, sich einkaufen zu können.“

„Sie mag wenig Beruf dazu in sich spüren, und der Schritt würde ihr alsdann zur Sünde gereichen, das dürfen Hoheit nicht vergessen,“ erinnerte Frau von Méninville in erbaulichem Tone. „Der Herr will Herzen, die sich ihm freiwillig ergeben. Der Sinn dieser jungen Dame steht nach fast männlicher Lust, wie man hört, nach Jagd und Jägerei.“

Die Pfalzgräfin hörte die letzten Worte nicht mehr. Selten oder nie in ihrem Leben hatte diese matte Natur soviel innere Beängstigung und Verlegenheit empfunden als in den letzten Augenblicken, bis, aus dieser Noth geboren, ein rettender Gedanke kam. Und nun, in angewöhnter schlauer Vorsicht und Zurückhaltung, sprach sie nicht gleich, sondern begann erst nach einer Pause ganz ruhig und vornehm näselnd: „Was ich vorhin schon sagen wollte, liebe Méninville: es ist unpassend, daß eine Person von einigem Stande wie Sie, für die wir noch dazu zu besonderer Rücksicht gewillt sind, so erbärmlich wohnt. Sie sollen nicht wieder durch die Karossen meines Adels, der sich allzu viel einbildet, in den Gassenschmutz gedrängt werden! Sie ziehen hierher aufs Schloß! Das Appartement der Hofdame von Ochsenstein steht leer – gut, daß mich die Obersthofmeisterin darauf brachte ... Sie werden es beziehen ... und Sie werden künftig in einem von meinen Wagen fahren!“

„Unmöglich, Hoheit!“ schrie die fromme Frau, ganz fassungslos erschrocken.

„Warum unmöglich?“ fragte Sabine Eleonore hochmüthig. „Kann ich nicht thun, was ich will?“

Sie war aber doch in einer gewissen Bewegung; ihr Wachsgesicht röthete sich ungleich. Frau von Méninville mochte einsehen, daß es nicht wohlgethan sein würde, ihren Scheinwiderstand allzu ernstlich zu betreiben und der launischen Fürstin Gründe an die Hand zu geben gegen den auffälligen Schritt, die sie vielleicht gar stichhaltig gefunden hätte. So sagte sie denn – was, wie sie wußte, die Pfalzgräfin wenig rühren würde: „Ich befürchte für das Heil meiner Seele bei einer Erhöhung, welche die weltliche Hoffart wieder in mir beleben könnte. Es ist dem durchdringenden Blicke Euerer Hoheit nicht entgangen, wie völlig ich meinen Sinn abzuwenden suche von der Herrlichkeit der Welt, die mich, das bekenne ich, erst in Euerer durchlauchtigsten Person aufs neue unwiderstehlich angezogen hat.“

„Ach, papperlapapp!“ sagte denn auch die fürstliche Dame kurzweg. „Sie werden die christliche Demuth im Dienste um unsere Person schon nicht aus den Augen setzen. Sie bleiben einstweilen ohne besonderen Rang, da ist man ganz ungeniert –“

„– und kann nachträglich soviel an der Sache knausern wie man will,“ fügte Frau von Méninville in Gedanken hinzu. Gleichviel! Sie würde sich verbindlich gemacht haben, eine Weile von der Luft, sicherlich aber mit Vergnügen von Wasser und Brot zu leben, nun, da sie so viel erreicht hatte. Ein ungeheurer Schritt weiter war gethan; sie war ihrem heimlichen Vorbild, der Madame von Maintenon, wieder ein gutes Stück näher gekommen.

„Ich brauche eine ergebene Person in meiner Nähe, die klug ist und keine Prätensionen macht,“ sagte Sabine Eleonore hier mit echt fürstlicher Rücksichtslosigkeit. „Sie sind mir ergeben, denk’ ich, liebe Méninville?“

Statt aller Antwort haschte die Witwe nach der fürstlichen Hand und küßte den seidenem Halbhandschuh mit Inbrunst. Und so kam es, daß das Quartier über dem Laden und der Mehlkammer des Bäckers Lüttebrand drei Tage später leer stand.




5.

In eben diesen Tagen begab sich Fräulein Polyxene von Leyen in glücklicher Unkenntniß alles dessen, was zur Zeit am fürstlich Birkenfeldschen Hofe für und gegen sie verhandelt worden war, eines Nachmittags, da es schon gegen den Abend ging, nach dem Dorfe Keula hinauf. Des adligen Anstandes wegen folgte ihr ein Diener, derselbe Mann, der sie und den Vetter neulich zur Jagd gefahren hatte. Dietlieb trug ein Körblein, in welchem sich, wie er mit Verwunderung festgestellt hatte, ein feines Weißbrot, von der Wirthschafterin auf der Herrenmühle gebacken, und ein kleiner Krug Wein befand. Auch ein paar edle Aepfel von dem Zwergobst, welches der Herr von Gouda an sonnigem Spalier zog, hatte das Fräulein selber zuguterletzt noch herbeigebracht. Sie waren schon beinahe durch die lange aufwärts führende Dorfgasse hindurch, da blieb Polyxene, welche bisher keine Unsicherheit und kein Zögern gezeigt hatte, stehen und ließ den Diener herankommen; nicht ohne ein wenig Scheu, unwillkürlich leise sprechend, fragte sie ihn: „Wo mag der Schindanger des Dorfes sein, Dietlieb?“

„Der Schindanger? Gott behüte uns, Euer Gnaden!“ Er sah sie an, als ob sie nicht ganz bei Verstande sei. „Was soll uns der Schindanger?“ Wollte sie etwa Knöchlein ausgraben, um Mittel zur Erhaltung der Schönheit zusammenzukochen, wie manche thaten? Dazu hätten sie aber doch gegen Mitternacht gehen und Hacke und Spaten mitnehmen müssen!

Sie ließ ihn nicht lange im Unklaren. „An dem verlassenen Anger steht ein Haus, und die darin wohnt, die will ich sehen. Wißt Ihr Bescheid hier im Dorfe? Kennt Ihr das einzelne Haus? Ein gar elend Häuslein soll es sein.“

„Da weiß ich von keinem,“ sagte er kopfschüttelnd. „Hinter dem Galgenfeld in der Schlucht, die nach dem Heidentopf hinaufzieht, stand früher eine Hütte, die muß aber längst zerfallen sein; schon damals hing sie vornüber und die Lehmwände barsten. Ich bin lange nicht hingekommen – man ging nicht gern vorüber. Vor Zeiten habe einer der Freiknechte da gewohnt, erzählen sie; das war, als dort oben noch der Galgen stand, den die Grafschaften Birkenfeld, Hippoltstein und Veldenz gemeinsam unterhielten. Das ist lange her; jetzt wird nur noch zu Heidelberg gehenkt, wenn ich’s recht verstehe.“

Ob Dietlieb mehr wußte, als er sagen wollte? Er war ein kümmerlicher, ängstlicher Gesell. Polyxene fragte ihn nicht weiter, sondern hatte das Antlitz stetig nach der Höhe über dem Dorfe gewandt und verfolgte ihren Weg. Sie kannte die Schlucht, von welcher ihr Begleiter gesprochen, und hatte dort zu Zeiten, oben vom Waldrande aus, mit flüchtigem Verwundern das einer menschlichen Behausung ähnliche braune Genist mit dem elenden Dache über den Rand des Hohlweges hinausragen sehen, sie war jetzt überzeugt, daß das der Ort sei. Dahin aber getraute sie sich allein zu finden. Als sie daher durchs Dorf vollends hindurch waren, blieb sie stehen und streckte die Hand nach dem Körbchen aus. „Was beliebt, Euer Gnaden?“ fragte der Mann, wie ängstlich, und hielt den Korb fest. „Gebt nur her,“ sagte das Fräulein, auf eine Weise, die ihm jeden ferneren gutgemeintem Widerstand kurz abschnitt, „ich brauche Euch nun nicht mehr. Wartet meiner bei der Kirche!“

Zögernd gehorchte Dietlieb; Polycene wandte sich, nachdem sie die weite öde Heidefläche oberhalb des Dorfes erreicht hatte, ohne weiteres Besinnen rechts, dem Eingange jenes schluchtartigen Hohlweges zu. Er war trocken bis auf die schmale Sohle, die feucht und so tief dalag, daß weder Sonne noch Mond hineinschienen. Es [264] war düster und wild hier unten; Bäume und Gesträuch, oben am Rande der Schlucht wachsend, verdunkelten sie noch mehr. Polyxene strebte darin aufwärts, bis die Wände sich weiteten; kahles scholliges Erdreich jetzt, so alles Pflanzenwuchses bar, als hätte hier ein Fluch es versengt. Enttäuscht schickte sie die Augen in die nun wieder frei werdende Weite. Wo war jene Hütte? Da zog eine Unregelmäßigkeit des Bodens ihre Blicke auf sich. Das war etwas wie ein Steinhaufen und – Polyxene sah schärfer hin – kein Zweifel: Menschenhände waren hier im Spiel gewesen, so formlos auch der Klumpen aus der Ferne aussah! Näher kommend, unterschied sie Gemäuer und Lehmwände, die in ihrer Färbung kaum vom Boden rings umher abstachen; allem Anschein nach das Elendeste, Baufälligste und Verwahrloseste, was je noch für eine menschliche Wohnung hatte gelten können. Wie ein in allem Wechsel ausharrender Freund stand ein alter Birnbaum daneben, der einzige Baum weit und breit. Und Baum und Hütte so beieinander hatten etwas Ergreifendes in ihrer Verlassenheit.

Das Fräulein erbangte plötzlich, als sie nun ganz nahe bei der Hütte war. Wie, wenn diese wüstem Gesindel zum Aufenthalte diente anstatt derjenigen, welche sie suchte! Wie öde sah alles hier aus! Doch jetzt bemerkte sie an der Längswand des Hauses ein kleines Fenster. Dasselbe gemahnte an ein offenes freundlich blickendes Auge – als ob etwas drinnen sei, was der elenden Hütte Leben verleihe wie die Seele dem Leibe, Entschlossen öffnete sie den Holzriegel an der Thüre, der zwar außen vorgeschoben, aber auch von innen zu bewegen war.

Ja, sie war am Ziele! Ehe der zaudernde Fuß sie einen Schritt weiter trug, nahm sie rasch in sich auf, was der erste Blick umfaßte. Nun, die wüste Höhle, auf welche das Aeußere der Hütte hinzudeuten schien, war der Raum, den sie hier vor sich hatte, nicht, wenn auch die größte Dürftigkeit ihn bewohnte. Offenbar enthielt das Haus nur dieses eine Gelaß; Tisch und Stuhl standen ordentlich da und ebenso das wenige von schlechtem Kochgeräth, das um die geschwärzte gähnende Feuerstelle seinen Platz hatte. Das Hauptstück des Gemachs war ein hochpfostiges Bett, massiv, wie aus besserer Umgebung hierher verpflanzt. Vorhänge von grobem blaugewürfelten Zeug, die an den Pfosten herabhingen, brachten einen entfernten Anklang von etwas wie Behagen in das Ganze.

Und von dem schlechten Kopfkissen schauten aus einem abgezehrten Gesicht die Augen der Bewohnerin der Hütte der Besucherin ruhig entgegen. Einen Blick nur hatte das Fräulein auf dies Gesicht geworfen, da sah sie sonst nichts mehr. All die unheimliche Oede, welche diesen Fleck umgab, der nackte Mangel, der hier herrschte, die Niedrigkeit und Verlassenheit waren wie ausgelöscht vor dem unerklärlichen Ausdruck, der auf dieser Stirne thronte, aus diesen eingesunkeneu Augen sprach. Keine Verwunderung war in dem Gesicht der bresthaften Frau zu lesen bei dem Besuch, der ihr doch hätte überraschend kommen müssen. Als Polyxene jetzt scheu näher trat, da sagte jene, einen glänzenden Seherblick auf das helle Antlitz vor sich heftend: „Ich horchte und hörte Euren Schritt, der Euch eben am Fenster vorübertrug. Und als Euer Schatten einen Augenblick diesen Raum verdunkelte, da wußte ich, wen Gott mir endlich schickte. Angekündigt seid Ihr mir schon lange, Polyxene von Leyen.“

„Durch den Strieger?“ fuhr es dem Fräulein heraus. „Warum hat er mir denn nicht früher von Euch gesprochen?“

Die Frau betrachtete sie indessen mit einem eigenen Blick stiller prüfender Aufmerksamkeit, „Nein, nicht durch ihn,“ sagte sie jetzt. Und dann, als wäre das, was nun kam, das Einfachste und Natürlichste von der Welt: „Durch ein Gesicht in der Nacht, wie mich deren der Herr zu Zeiten würdigt, seid Ihr mir gezeigt worden, so wie ich Euch jetzt vor mir sehe. Nur Euer Antlitz hatte der Herr vor mir verschleiert; so sehr ich mich bemühte, ich vermochte es nicht klar zu schauen. Jetzt erkeuue ich die Augen, die mich da wie durch einen Schleier anblickten; seltsam, denen Eurer Mutter gleichen sie nicht.“

Da war Polyxene mit einem Male dicht an dem Bette, von dem die Scheu der Edeldame vor der zu nahen Berührung mit der Niedrigkeit sie bisher noch zurückgehalten hatte. „Ihr seid in Diensten meiner lieben theuren Mutter gewesen,“ sagte sie rasch und drückte die flachen Hände gegeneinander vor Inbrunst bei dem Namen. „Ihr werdet mir von ihr erzählen? Thut es, ich bitt’ Euch! Wie nenn’ ich Euch? Wenn Ihr einer Stärkung bedürft – ich habe Wein mitgebracht und Brot ...“

Polyxene von Leyen war nicht gewohnt, Almosen auszutheilen, und fühlte sich fast verlegen dabei. Und als die Frau jetzt sagte: „Vermögt Ihr die Noth eines Armen Euch vorzustellen? Hättet Ihr das gute Herz Eurer Mutter? Dann ist Euch viel auferlegt in diesen Zeiten und Ihr könnt mich fast dauern,“ da wurde sie roth vor Beschämung.

„Euren Wein und Euer Brot brauche ich nicht,“ fuhr die Bewohnerin der Hütte fort, mit einer Stimme und in einem Tone jedoch, welche dieser Zurückweisung jeden Stachel nahmen, „aber Ihr braucht etwas von mir, Was es ist, weiß ich noch nicht – ich warte, daß es der Herr mir offenbaren wird. Aber da er Euch mir ankündigte, gab er mir zugleich das innere Wissen einer Noth, in der Ihr Euch befindet oder in die Ihr kommen würdet.“

Das war eine Sprache, die das Fräulein von Leyen kaum verstand. Ueberhaupt, wie überwältigend seltsam war dies alles! Das kranke Weib da vor ihr redete nicht, wie das rohe und geringe Volk es zu thun pflegte. Ihre Ausdrucksweise war die der bessern Stände, ja es war die derjenigen, welche mit dem gedruckten Worte verkehrten, nur ohne ihre Steifheit und gelehrte Verbrämung. Und sie selber, die dalag wie an das Bett gewachsen, war mit niemand, weder mit Mann noch Weib, die Polyxene je gekannt hatte, zu vergleichen. Das Fräulein hätte kaum zu sagen gewußt, ob jene Frau alt sei. Eine Sieche war sie; ihr dünnes Haar lag fahl und farblos an den eingefallenen Schläfen. Das abgezehrte Gesicht trug den Zug des Leidens, ja den des Todes. Die Hände, gelblich, blutlos, schienen gichtisch verkrümmt. Aber auf der blassen Stirn stand ein anderes Wort als Leiden, da stand: Sieg! Nicht die Mattigkeit des Alters, sondern das Licht einer zeitlosen Jugend wohnte in den Augen unter den scharfen Bogen; eine unbeschreibliche Feierlichkeit lag über der ganzen Gestalt, etwas von jener fast triumphierenden Ergebung, welche die Hände den Fesseln und der Schmach entgegenstreckt und sie trägt, als wären es goldene Ehrenketten.

Während Polyxene noch schweigend stand, der Empfindung dieses Fremdartigen und Neuen ganz hingegeben, betrachtete die Frau sie wieder und murmelte dann mit einem Male: „Gott verzeihe mir, an mich und das Meine habe ich gedacht mehr als an Euch, Kind. Ihr wollt von Eurer Mutter hören, die Euch allzufrüh verließ ... Ihr wißt wenig von ihr?“

„So klein ich war, als sie starb, ich erinnere mich ihrer,“ sagte Polyxene. „Und Ihr habt ihr gedient? Sie war gütig gegen Euch?“ fuhr sie flehentlich fragend fort.

„Sie konnte nicht anders sein als gütig; sie war in dem, der die Güte selber ist und er war in ihr,“ antwortete die Kranke. „Der Heiland hatte sein Bild in ihr schon frühe zu besonderer Herrlichkeit vollendet. So hat die Zeit der irdischen Arbeit auch nicht lange für sie zu währen gebraucht ... sie durfte früh von hinnen gehen, während wir andern unter Mühe und Schweiß zurückblieben.“

Welche Sprache, in der es bei aller Ueberschwänglichkeit der christlichen Empfindung zugleich durchklang wie völlige Gleichstellung von Herrin und Dienerin vor dem Allerhöchsten, vor Gott! Und doch wurde der sonst so wache Stolz des Fräuleins durch das, was sie vernahm, nicht beleidigt. Und wie sie so stand, fielen ihre Augen mit Erstaunen auf einen Gegenstand, der in einer viereckigen kleinen Nische der Wand neben dem Bette lag, zu Händen der Kranken, wenn diese die Arme hätte heben können. Es war ein altes kleines, aber dickleibiges Buch in braunem Ledereinband. Bücher hatten Anziehungskraft für Polyxenen, wo sie sich auch fanden. Die Augen der Kranken, mit jenem klaren, ruhig eindringenden Blick für die Außenwelt begabt, der sich gerade mit der Loslösung des innern Menschen von allen irdischen Wünschen zusammenfindet, hatten wieder auf dem Fräulein geruht und sie sagte jetzt: „Ihr wundert Euch, die Nahrung der Weisen und Gelehrten zu finden in dieser Hütte des Elends. Aber Ihr kennt jenes Buch nicht. Nicht die Klugheit der Klugen will es nähren, sondern die Thorheit der Einfältigen. Es ist ein kostbares Werkzeug Gottes geweseu und hat die Arbeit des Herrn an vielen Seelen gethan. Ja, nehmt und betrachtet es! Ich kann es nicht mehr erreichen mit meinen Händen, wenn es dort liegt –“

„Eure Arme sind gelähmt?“ flüsterte Polyxene, ehe sie über das Bett hinüber nach dem Buche griff, mit einem Schauer von Mitleid und Schrecken.

„Ja, der Herr hat seinem bösen Engel Macht gegeben, mich zu binden mit starken Ketten des Siechthums. Fester und fester werden sie um mich geschnürt, und in der Nacht sitzt der Widersacher gekauert dort in der Ecke; sogar bis auf den Bettrand hier ist er schon gekommen, um sich grinsend an meiner Ohnmacht zu weiden. Gott hat mich so tief gedemüthigt in diesen letzten Zeiten noch, daß ich wähnte, jenem verfallen zu sein und vom Herrn

[265]

Aus dem alten Berlin: Der Blumenmarkt auf dem Dönhoffsplatz.
Originalzeichnung von Hans Herrmann.

[266] verworfen. Das ist vorüber jetzt,“ sprach sie weiter, mit einem stillen Leuchten in den Augen „vorüber für diese Zeitlichkeit, wie Gott mich hat erfahren lassen. Mein Friede ist unaussprechlich, und der böse Feind, da er mich nächtens dem Herrn hat singen hören mit lauter Stimme, ist gewichen. Pfauchend vor Wuth fuhr er durch den Rauchfang. Ich sah ihn nicht, denn mondlose Finsterniß war allenthalben, aber ich hörte ihn. Und schwerlich wird er mir in dieser meiner Leiblichkeit noch einmal kund werden.“

Polyxene hörte dies alles an, erstaunt wohl, aber weit entfernt, diejenige, die so sprach, für eine halbverrückte Thörin zu halten. Davon würde schon der klare Blick jener Augen sie abgehalten haben und die ruhige Sprechweise felsenfester Ueberzeugung, auch wenn nicht über dem ganzen Wesen der Einsamen der Hauch des Ungewöhnlichen, der von seltenen inneren Erfahrungen auszugehen schien, gelegen hätte. Das Fräulein hielt jetzt das alte abgegriffene Buch in Händen; dasselbe sprang auf beim Titelblatt, und sie las die Worte: „Theologia Germanica oder Teutsche Theologie“ in krausen tiefschwarzen Lettern und dann, das Einzige, worauf noch sonst ihr Auge fiel, die Jahreszahl MDXVI. Also ein Buch, das zweihundert Jahre alt war!

Daß Theologie Gottesgelahrtheit heiße, wußte das Fräulein wohl; war man doch, auch als Katholikin, am Hofe der kleinen Pfalzgräflichen Hoheit jetzt mit diesem und mit noch längeren Worten nicht nur, sondern sogar mit allerhand theologischen Spitzfindigkeiten vertraut, seit der Berather des Witwenstandes der Fürstin, der Jesuitenpater Gollermann, ein sehr eifriger Mann, dort die Gewissen regierte. Wenn aber diese kranke Frau ein Buch, welches sich Theologia benannte, las und über alles schätzte, warum war sie dann aus der Gemeinschaft der übrigen Christen schmählich ausgestoßen? Vielleicht, dachte Polyxene in ihrer Einfalt, weil diese Theologia sich die deutsche nannte? Sie ließ einige Seiten des Buches durch ihre schlanken Finger laufen. Der Text war in deutscher, etwas alterthümlicher Sprache abgefaßt. Sie stieß auf Kapitelüberschriften, die in ungefügen Wendungen ebenso ungewohnte Dinge sagten: „Wie wir zum wahren Licht nitt gelangen mögen durch vill fragens und studirens, oder durch des natürlichen Menschen Einsehen und Verstand, sondern indem wir warhafftiglich uns selbsten ganz auffgeben, hassen und verschmähen, uns und alle Ding“ hieß es da. Das klang allerdings ganz anders, als was in der Erbauungsstunde im Schlosse durch die Obersthofmeisterin vorgelesen wurde, aus Büchern, welche der Pater Gollermann verordnete. Aber mehr noch stand Polyxenen bevor. Die Blätter des Buches, als es so mit dem Rücken auf ihrer Hand lag, fielen auseinander, so daß die innere Seite des Einbandes vorn und daneben ein weißes Blatt sichtbar wurde. Und auf diesem las Polyxene mit leisem Aufschrei die abgeblaßten Schriftzüge eines Namens – es war der ihrer Mutter!

„Anne Rochette von Leyen.“ Polyxene hatte die feinen und bestimmten Federzüge kaum erblickt, als sie – mit einer Regung flammenden Unwillens zu allererst – das alte braune Buch gegen die Brust drückte. Etwas, das ihrer sehnsüchtig betrauerten Mutter gehört hatte – wie konnte das irgendwo anders sich befinden als in ihrem Besitz! Einen Schatten des Vorwurfes in den Augen, wendete sie sich wieder an das Buch, wie um Auskunft. Und das stumme Buch sprach weiter zu ihr. Sie sah, daß dem Namen ihrer Mutter noch einige Worte in deren Handschrift folgten. Offenbar aber waren sie später, mit anderer Tinte hinzugefügt. „Anne Rochette von Leyen ihrer getrewen Magdalena, sie Gottes Huld empfehlend“ – so stand hier geschrieben.

„Ihr seid Magdalena?“ fragte Polyxene, scheu und in Ehrfurcht zu der hinüberblickend, die doch nur eine Magd gewesen war.

„So hieß ich, ja,“ sagte jene, als liege die Zeit, da sie einen Namen geführt hatte wie andere Menschen, weit hinter ihr. „Ich war jung damals und in all der Thorheit befangen, die der Herr auch den Seinen zuläßt, damit sie erfahren, daß sie nichts sind, weniger als nichts ohne ihn. Aber ich liebte Euere Mutter, nach meiner irdischen Thorheit freilich zuerst nur ihres adlig holden Wesens halber, von ganzem Herzen. Sie hingegen, bei dem Lichte, das in ihr wohnte, erkannte, daß Gott auch mich möge ausersehen haben. Sie machte mich zu ihrer Kammermagd; da war ich stets um sie in den letzten Wochen ihrer Schwäche, als ihr zarter Körper von der reinigenden Flamme des Siechthums verzehrt wurde.“ Und mit leiserer geheimnißvoller Stimme fuhr sie fort: „Da habe ich Wunder der Gnade geschaut, die der Herr in ihr wirkte, so groß, daß auch die, deren Augen gehalten waren, erstaunen mußten.“ Sie verstummte wieder; Polyxene wartete geduldig. Jedes Wort war ihr werth, das ihre Mutter zum Gegenstand hatte, aber wie viel lieber noch hätte sie andere weit geringere Dinge gehört als diese schwärmerischen Zeugnisse von der Verklärtheit jenes geliebten Schattens schon auf Erden – Dinge, wodurch der Schatten Körper gewonnen hätte! Wie ihre Mutter ausgesehen, gesprochen, sich gekleidet habe; ob sie sich ihres kleinen Mädchens, dieser armen Polyxene, die sie so bald verlassen mußte, auch gefreut? Ob sie Schmerzen gelitten in der Krankheit, wie lange diese gedauert habe, und unendlich vieles mehr. Ja, so ungeistlich war Fräulein Polyxene noch gesinnt: hätte sie jetzt erfahren können, ob etwa ein Husten ihre arme zarte Mutter gequält habe in jenen letzten Wochen und ob diese Hände da vor ihr sie alsdann treulich gestützt hätten, so wäre ihr das viel wichtiger gewesen als alle Wunder der Gnade, von denen sie mit beklemmender Ehrfurcht erfuhr. Und wie würde sie die gelähmten Hände dort dafür verehrt und geliebt haben! Sie merkte aber, sie müsse sich bescheiden. Magdalena war, sogar Polyxenens ungeübtem Blicke blieb dies nicht verborgen, auf der Reise begriffen, von der niemand wiederkehrt. Ihr blieb wohl nur noch kurze Frist; kein Wunder, daß vor ihren Augen zusammenschrumpfte, was irdisch war, und nur das, was sie als bleibend erkannt hatte, noch vorhanden schien.

Nach einem Dinge aber zu fragen, war das Fräulein entschlossen, wenn sie auch davor zurückscheute, wie vor der Berührung einer schmerzenden Stelle. Und so sagte sie denn, mit leicht bebender aber doch klarer Stimme: „Wollet mir eins nicht verhehlen: warum hat meine Mutter dieses Buch nicht meinem Vater hinterlassen?“

Hätte die kranke Frau jetzt erwidert: weil er desselben nicht würdig war, oder ähnliches, so würde sich Polyxene, leicht scheu gemacht, wie sie in ihrem spröden Wesen war, innerlich von ihr abgewendet haben. Aber so sprach auch die Kranke nicht. Sie las mit ihrem schon fast überirdischen Scharfblick vom Gesicht des Fräuleins eine gewisse Furcht und zugleich den sehnsüchtigen Wunsch, sich die beiden lange verstorbenen Eltern einig denken zu dürfen. Und sie sagte: „Eueren Vater nannten alle, die ihn kannten, einen biederen Edelmann, und sie thaten nicht unrecht daran. Euere Mutter ist von hinnen gegangen des fröhlichen Glaubens, es werde ihr selber vergönnt sein, Gottes Werk noch nach der Zeitlichkeit an ihm vollenden zu dürfen. Hier schien sie wenig Macht über ihn zu haben, ob er sie gleich lieb hatte. Bitterlich hat er um sie geweint, als sie starb. Und da er sich einsam fühlte – denn Ihr waret noch ein kleines Kind – suchte er nun erst recht seine alleinige Lust auf der Jagd, der er immer nur allzusehr zugethan gewesen war. Jagen und Zechen ... es mußte scheinen, als bliebe ihm keine Zeit und kein Ohr, des Herrn Stimme zu vernehmen, die da leise spricht. Dieses Buches, hätte er es besessen, hätte er nicht geachtet, oder er hätte sich vielleicht daran geärgert. Ich war noch im Hause nach dem Hinscheiden Euerer Mutter; mir war die Sorge für Leinen und Geräth anvertraut. In meiner Thorheit und dem Stolze meiner Unerfahrenheit – denn des Herrn Arbeit hatte noch kaum an mir begonnen – hielt ich damals Eueren Vater für verloren. Euere Mutter hat es besser gewußt. Und sie gab mir ein Zeichen, das meinen Hochmuth strafte. Mir war im Traume, als sollten wir, Euer Vater und ich, Aepfel zusammen brechen von einem Baume im Garten, für eines großen Königs Tisch. Ich, jung und behende, dachte, das sollte mir leicht werden. Aber so sehr ich mich mühte, keine Frucht konnte ich erreichen. Und dann gewahrte ich, weshalb nicht. Euere Mutter war da zwischen den Zweigen, wie ein Vogel, und den Ast, nach welchem ich griff, den bog sie von mir hinweg und Euerem Vater zu, so daß ihm die goldgelben und rothen Aepfel in die Hand rollten. Und darauf sah ich ein anderes noch. Sie lächelte ihm, der sie anblickte, freundlich und lieblich zu, neigte sich und küßte ihn, aber nicht auf den Mund, was mich wunder nahm; nein, auf das Herz küßte sie ihn. Diesen Traum, den mir der Herr gesandt hatte, bewegte ich hin und her in meinem Sinn und verstand ihn nicht. Zwei Tage darauf brachten sie Eueren Vater tot von der Jagd nach Hause. Ich war im Gemach, als sie ihn entkleideten; ich trug die frischen Laken herbei für das letzte Lager. Mit bitteren Thränen that ich das. Denn der kräftige Mann jammerte mich, und noch viel mehr jammerte mich seine Seele. Dachte ich doch nicht anders, als die müsse ewig verloren sein, da er so rasch dahin gefahren war! Da sah ich in seiner linken Brust die rothe [267] Todeswunde, eine kleine Wunde nur, wie ein blutiger Mund; dahin hatte ihn das Geschoß eines Jagdgenossen aus Versehen getroffen. Und es war dieselbe Stelle, die ich Euere Mutter hatte küssen sehen. Da mit einem Male waren meine Thränen getrocknet. Unaussprechliche Freude erfüllte mich. Ich wußte nun, daß Euere Mutter sich den Gatten von Gott erbeten hatte. Er war gerettet worden vor den Listen des Teufels, der ihn tiefer und tiefer zu verstricken gedachte, und entrückt, um jenseit dieses armen Lebens vollendet zu werden.“

Erschüttert hatte Polyxene zugehört, unwillkürlich die Hände faltend; jetzt rannen langsam große Thränen über ihre Wangen, die sie erst merkte, als sie ihr auf die Hände tropften. Sie war völlig verwaist seit jenem Tage und arm, da das Majorat an die andere Linie übergegangen und sonst kein Besitz dagewesen war. Aber wie hätte sie jetzt daran denken sollen! So waren auch ihre Thränen nicht bitter, sondern erleichternde Thränen der Wehmuth. Unsäglich traurig war ihr, seit sie heranwuchs, der Gedanke gewesen, der Vater, wie er ihr geschildert wurde, könne etwa hart gegen die zarte Mutter gewesen sein. Nun war dieser Schatten einer sanften Lichtfluth gewichen, die wie Abendsonnengold aus dem Jenseits brach, Polyxene wußte nun: der Vater und die Mutter waren irgendwo zusammen; inniger vereint, als sie hier auf Erden gewesen waren.

„Ich danke Euch,“ sagte sie denn auch zunächst zu derjenigen, der sie Wohlthaten zu erweisen gedacht hatte, „Ihr habt mir Gutes gethan, wie es kein Mensch auf Erden außer Euch vermocht hätte, denn niemand wußte diese Dinge als Ihr. Und soll ich dagegen Euch gar nichts erzeigen können? Ist Euch nicht jetzt doch vielleicht ein Trunk gefällig zur Erquickung?“ Und das innig bewegte Herz lehrte sie mit einem Male, was hier noth sein möchte, so ungewohnt sie der Wartung Kranker auch war. „Soll ich den Wein, den ich mitgebracht habe, mit Wasser verdünnen? Er ist vielleicht zu stark für Euch, da Ihr desselben nicht gewohnt seid. Und mögt Ihr ein wenig Brot? Ich habe gutes weißes Brot hier,“ sagte Polyxene, hing den Kopf und begann in ihrem Körbchen zu kramen, mit einem Erröthen, das der Stolzen gar lieblich stand.

„Euer guter Wille wirbt für Euch bei dem Herrn,“ sagte die Kranke tiefsinnig. „Er wirbt für Euch mit meinem Gebet zusammen. Ich hoffe, Ihr seid erwählt. Euch zuliebe würde ich kosten, was Ihr bringt, aber ich vermag es nicht. Ueber meine Lippen ist schon seit langem nichts anderes gegangen als die Milch meiner Ziege, welche Strieger allabendlich für mich melkt. Damit fristet mich Gott auf schier wunderbare Weise. Früher brachte mir der Alte zuweilen Fleischkost, Wild aus dem Forste, und bereitete diese hier. Ich aß arglos davon. Da ich aber merkte, daß er sich in seiner rauhen Art freute, die Herrschaft um das zu schmälern, was wir also genossen, da verschloß Gott meinen Mund dagegen mit einem gewaltigen Ekel. So bewahrte er mich vor der Sünde, mich und auch den alten Mann, der mir treu ist, mit einer Treue, die bei Menschen selten gefunden wird.“

Indessen war die Dämmerung draußen herabgesunken, Bei dem sinkenden Lichte nun schien es Polyxene, als gehe eine Veränderung mit dem siechen Weibe vor. Die Gestalt schien sich steifer, länger auszustrecken, das Gesicht nahm einen noch fremdartigeren gespannten Ausdruck an. Es erschien wie das einer Horchenden. Hörte sie Töne aus einer anderen Welt? Eine leise ängstliche Frage, mit der Polyxene sich zu ihr neigte, wurde offenbar nicht vernommen. Nun aber sprach die Kranke wie mit Anstrengung, als ob ihr etwas Ueberwältigendes den Athem benehme: „Geht jetzt, geht ... verzieht nicht länger ...“

Da klagte Polyxene: „Ich kenne Euch nun und fürchte mich der Sünde, Euch ferner so hilflos allein zu lassen.“

„Ich bin nicht allein –“ die Kranke keuchte die Worte mit leiser Stimme, während ihre Augen starrten und glänzten. Nicht allein, wenn Polyxene ging? Wer war denn da? Dem Fräulein grauste, sie sah sich scheu um; es legte sich auf sie wie der Druck einer unsichtbaren mächtigen Gegenwart, Aber sie kämpfte noch mit ihrer Furcht; erst als die Frau noch einmal heiser und dringlich flüsterte: „Geht – Ihr beraubt mich, wenn Ihr noch verweilt!“ da floh sie wie gejagt von dem zwingenden Blick jener Augen.

Draußen dämmerte es, und unsäglich öde und traurig sah es in der kahlen Schlucht aus, Dennoch zögerte Polyxene vor der Thür. Wenn es der Tod war, der eben drinnen Einkehr gehalten hatte? Sie neigte mit gepreßtem Herzen das Ohr zur Thür des Häuschens. Drinnen hörte sie eine Stimme, und während ein nie gekannter Schauer über ihren Leib lief, lauschte sie, ob es die Stimme der Kranken sei. Jetzt unterschied sie einzelne Worte. Die Frau betete, oder vielmehr: sie sprach mit dem Gottessohn, als sei er leibhaftig bei ihr.

Unschlüssig, wie sie selten war, machte Polyxene einige Schritte um die Hütte herum. Und da – schreckhaft war sie nicht bei wirklichen Dingen, welche die Sinne wahrzunehmen vermochten, sonst wäre sie jetzt entsetzt zurückgefahren – da gewahrte sie eine menschliche Gestalt in nächster Nähe. Sie richtete sich höher auf, ihren Muth zusammennehmend, und spähte scharf in die Dämmerung hinein, wenige Augenblicke nur, dann athmete sie erleichtert auf – der alte Strieger stand vor ihr. Er kam vom Ziegenstall her und hielt ein Gefäß in der Hand. Gleichmüthig grüßte er das Fräulein; was er von Genugthuung empfunden haben mochte über ihren Besuch hier, das hatte er schon meistern können, denn er war seit einiger Zeit in der Nähe, wie allabendlich, und wußte um ihre Gegenwart.

Polyxene dagegen trat hastig auf ihn zu. „O, wie froh bin ich, daß Ihr da seid,“ sagte sie unverhohlen. „Die kranke Frau drinnen – ich verstehe so wenig ... ich glaube, ihr letztes Stündlein ist da. Und doch wollte sie mich nicht mehr bei sich leiden.“

Bei diesen Worten hatte er sich betroffen aufgerichtet, Sie waren in der Nähe des Fensters, Er hob den Kopf und spähte und lauschte hinein. Dann meinte er trocken: „Nein, noch ist es soweit nicht, Hört Ihr nicht, wie sie Zwiesprach mit einem hält. Wir wollen hoffen, daß es einer von den Guten ist! So geht das häufig um diese Stunde ... dann muß auch ich mich so lange draußen verhalten und thue es willig genug.“ Nach einer Weile begann er wieder: „Das dauert manchmal stundenlang. Ihr könnt nicht so lange hier oben verweilen. Es wird Nacht, und da ist es hier draußen nichts für Euresgleichen. Wer hat Euch hergeleitet?“

Das sei der Diener Dietlieb gewesen, der harre ihrer im Dorfe bei der Kirche, gab das Fräulein zur Auskunft.

„So müßt Ihr Euch meine Gesellschaft bis ins Dorf hinunter gefallen lassen,“ entgegnete der Alte. „Kommt, Fräulein! Nein“ – da Polyxene zaudernd stand und nach der Thür der Hütte blickte – „gebt Euch nur zufrieden, heute und morgen stirbt sie noch nicht.“

Sein Blick fiel jetzt auf das Körbchen, das Polyxene noch immer in Händen hielt. Und zugleich besann sich auch das Fräulein auf die verschmähte Labung. „Ich hatte Wein mitgebracht und Brot,“ sagte sie und öffnete ein wenig den Deckel. „Die kranke Frau bedarf dessen nicht; so will ich’s Euch übergeben.“ Und sie hob den kleinen Krug heraus.

„Wein? Ja, den gebt nur her,“ meinte der alte Strieger, ohne sich viel zu zieren. Jetzt hielt er das Krüglein am Henkel, beschaute es mit Beifall, zog den Stöpsel und setzte den Hals an die Lippen zu einem langen langen Zuge. Als er den Krug sinken ließ, athmete er tief und die alten Augen funkelten wie Edelsteine unter den tiefen Höhlen hervor. „Bei Sankt Hubert, das ist ein Jahr Leben für einen Kerl wie mich, Fräulein! Nun, war’s mir nicht zugedacht, so laßt’s Euch deshalb nicht reuen. Euer Großvater hatte einen Saupacker – die ‚Furia‘ hieß er – den wollten sie erschießen, als er zur Hatz nicht mehr taugte. Da sagte der Freiherr Josias: ‚Laßt ihn, der Hund frißt mich nicht arm.‘ Er warf ihm sogar dann und wann einen guten Brocken zu, ’was Weichgekochtes, denn das alte Vieh hatte schier keine Zähne mehr. Dafür hat ihn der Hund, als er, ein weniges bezecht, auf der Heimkehr von Hippoltstein am Heidemoor zu Falle kam – Euer Großvater, meine ich – mit seinem zahnlosen Rachen emporgezerrt, gehalten und geschleift und dann Leute herbeigeholt. Und ohne den Rüden wäre der Freiherr Josias elendiglich im Moore und Moder erstickt und versunken auf Nimmerwiederfinden. Merkt Ihr was, Fräulein? Wer weiß, wozu der alte Strieger noch taugt!“

„Wenn der Wein Euch eine Stärkung ist in Eueren hohen Jahren, so sollt Ihr dessen nicht entbehren; das gedenk’ ich zu verantworten,“ sagte Polyxene, die mit einem Mal am Spenden Freude zu empfinden begann. Sie hatte ihm auch das Brot gereicht – der Aepfel schämte sie sich – und er brummte beifällig, stellte sein Gefäß mit Ziegenmilch und dann den Weinkrug neben die Thür auf die Steine und legte das Brot daneben. Und nun begannen sie miteinander durch die Schlucht hinabzusteigen.

(Fortsetzung folgt.)


[268]

Früehlings-Sunneschei.

(Alemannisch.)


Wohl isch’s oft trüeb und isch oft chalt,
Der Sturmwind hüült, der Rege fallt;
Doch noch der schtrengschte Winterszit
Isch g’wiß der Früehling nimme wit,
Und für e jedes Blüemli chlei
Bringt er e warme Sunneschei!

Und isch din Herz voll Sorg und Angscht,
Und wenn de füßgescht, wenn de bangscht
Und meinsch’, ’s chönn nimme besser cho,
Sei still, der Früehling isch jo noh,
Und für e jedes Herz voll Qual
Bringt er e warme Sunnestrahl.

 F. Vochazer.


Wie ich zu dem Helden von „Sturmfluth“ kam.

Von Friedrich Spielhagen.

Es war nach Tisch an einem Augusttage des Jahres 1874. Wir saßen – eine Gesellschaft von Herren und Damen – kaffeetrinkend in der Veranda des Kurhauses von Heringsdorf. Ein wunderlieblicher Tag: hier und da an dem tiefblauen Himmel ein weißes Wölkchen; hier und da auf der tiefblauen, von einer leichten Brise kaum gefurchten See ein weißes Segel von Vergnügungs- oder Fischerbooten; am fernsten Horizonte ein letzter verschwindender grauer Streifen Rauches aus dem Schlote eines Dampfers, der von Swinemünde nach Schweden ging. Von dem blauen Himmel und dem blauen Meere hoben sich die weißen Säulen, welche das Dach der Veranda trugen, prächtig ab – es gehörte kein großer Aufwand von Phantasie dazu, um sich nach Italien versetzt zu glauben.

Besonders nicht für mich, der ich im Frühling und Frühsommer des vergangenen Jahres Italien und Sicilien bis hinab nach Syrakus durchstreift und erst gestern von meinem Verleger die ersten Exemplare meines „Skizzenbuches“ erhalten hatte, das unter anderem auch die ausführliche Schilderung meines Aufenthaltes im Lande der Citronen und Goldorangen enthält. Eines dieser Exemplare lag, halb versteckt unter Seiden- und Wollsträhnen, in dem Nähkörbchen einer Dame, der gegenüber ich, etwas abseits von der übrigen Gesellschaft, an einem dicht an die Balustrade der Veranda gerückten kleinen Marmortischchen saß. Das Buch war auf durchaus legitime Weise in das Nähkörbchen gekommen. Oder was wäre legitimer, als daß ein Dichter sich beeilt, der schönsten Dame des Kreises, in welchem er sich augenblicklich bewegt, ein Exemplar seines neuesten Buches zu überreichen, selbstverständlich mit Hinzufügung eines handschriftlichen, für die Empfängerin nicht ganz unverbindlichen Sonetts. Zu meiner sporadischen Gelehrsamkeit gehörte die Notiz, daß bei den Phöniziern die Göttin des Liebreizes und der Anmuth „Ana“ hieß. Ich hatte es für geboten erachtet, mit nicht mißzuverstehender Deutlichkeit an diese philologische Thatsache zu erinnern in einem Gedichte, welches „An Anna“ überschrieben war.

Die schöne Frau hatte die kurze Sommernacht drangesetzt, um das „Skizzenbuch“ trotz seines immerhin stattlichen Umfanges von der ersten bis zur letzten Seite zu lesen. Ich sah darin selbstverständlich nur das Interesse, welches sie für die neuere Litteratur im allgemeinen nahm, trotzdem sie jetzt die Güte hatte, mir im besonderen über die Art und Weise, wie ich Dinge und Menschen anschaue, und dergleichen mehr viel Schmeichelhaftes zu sagen.

„Wie glücklich,“ äußerte sie in dem weichen Ton ihrer Stimme, die immer wie lieblichste Musik an mein Ohr klang; „wie glücklich müssen Sie sein! Wir anderen! Nun, wir sehen das alles, fühlen das alles ja auch. Aber mit der Zeit verflattert, verweht es und schwebt nur noch als bleicher Schatten in der Erinnerung. Sie können es bannen durch den Zauber des Wortes für Sie selbst und für die anderen, die nun so an Ihrem Glücke theilnehmen dürfen.“

„Wenn dieses Glück nur nicht so theuer erkauft wäre, gnädige Frau!“

„Wie meinen Sie das?“

„Ich meine, es fährt sich sehr behaglich auf der Eisenbahn in einem Coupé erster Klasse, während der Zug auf den glatten Schienen auf hohen Dämmen, durch tiefe Einschnitte, über kühne Brücken rollt mit all den hübschen Ausblicken nach rechts und links; aber von wie vielen heißen Stirnen mußte der Schweiß in Strömen rinnen, bis dem Fahrgast seine angenehme Situation ermöglicht wurde!“

„Im Gegentheil!“ sagte die schöne Frau eifrig. „Wer in der Welt könnte auf dieser Fahrt eine höhere Lust empfinden als der Meister selbst, der die Bahn gebaut hat!“

„In einem gewissen Sinne fraglos,“ erwiderte ich; „nur ist dabei ein Uebelstand. Es ist nämlich zehn gegen eins zu wetten, daß der betreffende Meister sich bereits wieder mit dem Projekte einer neuen Bahn trägt und er, den Kopf voll von dem Zukunftswerke, nicht Aug’ und Sinn mehr für das alte hat.“

Die schönen braunen Augen hoben sich mit schnellem Aufblick von der Arbeit zu mir.

„Sie haben wieder etwas unter der Feder – natürlich!“

„Unter der Feder? – leider nein! Ich werde aber allerdings schon seit geraumer Zeit von einer Idee zu einem Roman verfolgt, die mich nicht losläßt – ich darf wohl sagen: Tag und Nacht! Denn ich kann nicht in der Nacht erwachen, ohne daß sie sofort vor mir steht – wie – wie einer jener Schemen, die sich an Odysseus herandrängten, als er im Hades das Blut des schwarzen Widders in die Grube fließen ließ.“

„Nun, und –“

„Und denken Sie, dieser Schemen will nicht von dem Blute trinken, und bevor er nicht getrunken hat, kommt kein Wort über seine bleichen Lippen.“

„Wenn ich Sie verstehen soll – und ich möchte Sie gar gern verstehen – müssen Sie sich entschließen, in weniger dunklen Räthseln zu sprechen. Sie sagen, Sie haben die Idee zu einem Roman. Ich denke, das ist die Hauptsache?“

„Im Grunde, ja, und trotzdem eine Klinge, zu der der Griff fehlt und mit der man infolgedessen schlechterdings nichts anfangen [269] kann, wenigstens nichts auf dem Gebiet des Romans. Sie erinnern sich der Anfangsworte von Byrons ‚Don Juan‘?“

„I want a Hero?“

„Das ist genau mein Fall: mir fehlt es an einem – sagen wir: dem Helden.“

„Ich gestehe zu meiner Beschämung, das abermals nicht zu verstehen.“

„Da ist nichts zu schämen, gnädige Frau, so wenig als daß Sie das schmucke Boot da nicht zu steuern verstünden. Es legt eben um und scheint hierher zu wollen. Es wird bei dem Winde noch ein paar Schläge machen müssen.“

„Ich glaube, Sie sind unter anderem auch Seemann?“

„So ein bißchen davon. Ich bin ja an der Küste dieses Meeres groß geworden.“

„Ich weiß; aber bleiben wir bei unserem Thema! Es interessiert mich zu sehr. Was ist das mit dem Helden, den Sie ja, wie ich wohl begreife, zu einem Roman haben müssen und den Sie nicht finden zu können behaupten, was ich nicht begreife. Das scheint mir doch verhältnißmäßig das Allerleichteste.“

„Unter Umständen ja, wenn er mit der Idee, wie es wohl geschehen kann, zusammen geboren und eins mit und untrennbar von ihr ist. Die Sänger der Ilias und der Odyssee sind gewiß nicht um ihre Helden verlegen gewesen. Auch Cervantes, wenn er das abgelebte Ritterthum und die schwulstigen Abenteuerromane verspotten wollte, hat sicher nicht lange nach dem edlen Manchaner zm suchen brauchen, wobei ihm der Ruhm, im Finden und Erfinden dieser Gestalt eine der allergrößten dichterischen Thaten vollbracht zu haben, unbestritten bleiben soll. Um das Stück Welt zu sehen, das diese und andere Dichter schildern wollten, gab es, sozusagen, nur dies eine Fenster. Aber so einfach liegt die Sache nicht immer. Es kommen Fälle, in denen das Weltfragment, welches der Romandichter seinem Leser vorzuführen gedenkt, sehr kompliziert ist, so daß es schwer hält, es von einem Standpunkte zu überblicken; oder um ein anderes Bild zu brauchen: der Strom seiner Dichtung ein an Quellen besonders reiches Gebiet durchläuft, die doch alle in das eine Strombett geleitet sein wollen, wenn ein für die Phantasie überschauliches Ganzes, d. h. ein Dicht- und Kunstwerk, daraus werden soll. Die Bürgschaft aber, daß es ein solches wird, kann einzig und allein der Held übernehmen. Er und er allein sorgt dafür, daß die Phantasie sich nicht ins Grenzenlose verläuft – eine Gefahr, die für keinen Dichter so groß ist wie für den epischen. ‚Melde den Mann mir, Muse, den Vielgewandten‘ – sehr schön! aber: ‚der vielfach umgeirrt, als Troja, die heilige Stadt, er zerstöret; vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt hat‘ – da fängt die Gefahr für den Sänger an: die Gefahr, daß er die Geister, die er rief, nicht wieder los wird und vor all’ den Städten all’ der Menschen, die sein Held gesehen und die er uns nun auch sehen lassen möchte, den Helden aus den Augen verliert, und daß so statt der Odyssee eine Art ‚Voyage du jeune Anacharsis en Grèce‘ zustande kommt – sehr lehrreich zu lesen, aber nur bei Leibe kein Dichtwerk.“

Ein wanderndes Haus in New-York.
Nach einer Augenblicksaufnahme von W. F. G. Geiße in New-York.

„Und davor schützt den Dichter der Held?“

„Ich wiederhole: er einzig und allein. Mit ihm fängt der Roman an, mit ihm endet er. Was vor seinem Auftreten etwa geschieht, ist gewissermaßen nur Präludium; was, nachdem er abgetreten, Nachklang und Nachspiel. Er ist das Centrum, welchem innerhalb der Peripherie alles zustrebt; er ist auch der Radius, welcher den Umfang der Peripherie bestimmt. Wer und was nicht mit dem Helden in irgend einem Zusammenhange steht, gehört nicht in den Roman, und dieser Zusammenhang darf nicht zu entfernt sein, oder der Roman verliert in dem Maße der Entfernung an Uebersichtlichkeit und mit der Uebersichtlichkeit an Schönheit.“

„Und dieser Allerweltsmann von einem Helden fehlt Ihnen für Ihren Roman?“

„Leider.“

„Und Sie können, bis Sie ihn haben, nicht anfangen?“

„Nicht eine Sekunde früher.“

„Ja aber, was ist da zu thun?“

Ich zuckte die Achseln.

„Geduld haben, gnädige Frau, und fromm sein. Den Frommen soll es ja der Herr im Traume schenken. – Sie brechen auf?“

„Mein Fräulein ist krank; ich muß einmal nach meinen Kindern sehen.“

„Und ich hatte mich so auf den obligaten Nachmittagsspaziergang gefreut!“

„Aus dem wird wohl heute nichts werden. Vielleicht eine Abendpromenade am Strande. Inzwischen schlafen Sie vielleicht ein Stündchen. Es ist von wegen des Traumes, wissen Sie – des Traumes vom Helden!“

Die schöne Frau hatte ihre sieben Nähsachen in das Körbchen zusammengepackt, das Körbchen in die Hand genommen und mit einem freundlichen Lächeln zu mir und einem anmuthigen Nicken des Kopfes gegen die übrige Gesellschaft die Halle verlassen.

Die Gesellschaft war inzwischen ziemlich zusammengeschmolzen; von denen, die geblieben, gehörte keiner zu meinen näheren Bekannten; so mochte ich ruhig auf meinem Platze verbleiben. Das Gespräch, das ich mit der schönen Freundin geführt hatte, ging mir weiter durch den Kopf. Welcher Genuß war es doch, mit einer klugen Frau über diese Dinge sich zu unterhalten! Wie hatte sie alles so mühelos verstanden! Wenn ich jetzt einschlief – müde genug war ich – und mir der Himmel im Traum meinen längst ersehnten Helden schenkte – mein Verdienst würde es nicht sein; nur, weil die liebe Heilige für mich armen Sünder gebeten!

Während ich so, wirklich halb träumend, dasaß, war das Fahrzeug, auf das ich vorhin ihre Aufmerksamkeit gelenkt hatte, näher gekommen. Daß es keines der gewöhnlichen Fischerboote von hier oder Ahlbeck war, hatte ich längst gesehen. Es erinnerte mich in seinem Bau und seiner Takelage an den Regierungskutter, auf dem ich mit meinem verstorbenen Vater seiner Zeit so manche schöne Fahrt auf den pommersch-rügenschen Gewässern gemacht hatte. Und jetzt war es so nahe, daß ich durch den Krimstecher, den ich selten auf dem Zimmer ließ, die Flagge erkennen konnte: ein Lotsenbot, und dann vermuthlich das des Kommandeurs. Nun brauchte ich nicht länger mit meiner Müdigkeit zu kämpfen; eifrig beobachtete ich jedes Manöver des Kutters, der sich im Zickzack vollends herankreuzte und jetzt, immer noch in einiger Entfernung vom Ufer, die Segel reffte und den Anker fallen ließ. Dann wurde die Jolle längsseit geholt, ein Mann in Uniform – jedenfalls der Herr Kommandeur – bestieg sie, betrat nach wenigen Minuten die Landungsbrücke und kam, als er den Strand erreicht, geradeswegs auf das Kurhaus zu, begleitet von ein paar Herren, die [270] ihn auf der Landungsbrücke erwartet hatten. Einer dieser Herren war mir bekannt; und er muß es gewesen sein, der mich dann wieder mit dem Lotsenkommandeur Friedrich Müller bekannt machte, nachdem die kleine Gesellschaft auf der Veranda in meiner Nähe sich niedergelassen, ein Glas Wein zu trinken.

Wer „Sturmfluth“ gelesen hat, weiß, daß dies der große, von mir so heiß ersehnte Augenblick war, in welchem mir auf die Fürbitte meiner lieben Heiligen der Held des Romans beschert wurde.

Außer gewissen anderen Eigenschaften, von denen wir alsbald zu sprechen haben werden, befähigte den Mann dazu auch seine Erscheinung, die ich, bereits ehe ich ihm vorgestellt war, mit Vergnügen beobachtet hatte: die Gestalt etwas über Mittelgröße, der man ihre Kraft und Geschmeidigkeit ansah; ein von einem braunen oder dunkelblonden Bart umrahmtes männlich schönes Gesicht, aus dessen offenen Zügen Entschlossenheit und Bravheit, Intelligenz und Herzensgüte sprachen. Besonders imponierte mir der klare feste Blick der großen blauen echten Seemannsaugen.

An Anknüpfungspunkten zu einem lebhaften Gespräch fehlte es uns beiden nicht. Kannte ich doch den Schauplatz seiner Thätigkeit, das Meer zwischen Pommern und Rügen und die Küsten, die es umschließen, so gut! Mehr als einmal war ich in Begleitung meines Vaters, dem, als Regierungs- und Baurath des Bezirkes, auch die königlichen Lotsenstationen unterstanden, in dem Dorfe Thiessow auf der rügenschen Halbinsel Mönchgut gewesen, wo jetzt, wie sein Vorgänger, auch der Lotsenkommandeur Müller residierte. Selbstverständlich hatte ich diesen seinen Vorgänger gut gekannt; mehr noch: der originelle, behaglich rundliche Mann mit der unverwüstlichen Gutmüthigkeit und unerschütterlichen Seelenruhe war für mich das Urbild meines Lotsenkommandeurs in der Novelle „Auf der Düne“ gewesen. Weiter: der Schauplatz besagter Novelle war die winzig kleine Insel Ruhden zwischen Mönchgut und der pommerschen Küste, die man im Scherz meines Vaters Königreich nannte, weil er sie durch geschickte Bauten und zweckmäßige Pflanzungen so wacker und erfolgreich gegen die anstürmenden Fluthen vertheidigte und so dem Staate eine wichtige Lotsenstation erhielt, über welche jetzt Friedrich Müller kommandierte, wie zu meiner Knaben- und Jünglingszeit der gemütliche prächtige W.

Ich hatte dem Kommandeur durch die Anekdoten, die ich von dem liebenswürdigen alten Herrn zu erzählen wußte – der, nebenbei bemerkt, auch meinem Landsmann Heinrich Kruse in seinen köstlichen „Seegeschichten“ wiederholt Modell gestanden hat – manch behagliches Lächeln entlockt; aber bald kam ein ernsteres – ein furchtbar ernstes Thema an die Reihe: die Sturmfluth vom Herbst 1872.

Aus Gründen, die der Leser bereits ahnt, war mir dieses Thema ganz besonders interessant, und ich zweifle keinen Augenblick, daß ich den Kommandeur darauf hingelenkt hatte. Selbstverständlich hatte ich alles gelesen, was die Zeitungen seiner Zeit über das ungeheure Ereigniß gebracht; aber hier durfte ich, ich möchte sagen: aus der Quelle schöpfen. Am 1. November 1872 war Friedrich Müller auf die Lotsenkommandeurstelle in Thiessow berufen worden; ein paar Wochen später kam die Sturmfluth. Der Mann durfte beweisen, daß man sich nicht in der Person vergriffen hatte, als man ihm den verantwortlichen Posten anvertraute. Von dem, was er uns über seine persönliche Betheiligung an den Ereignissen jener Schreckenstage mittheilte, geziemt mir hier zu schweigen. Ich müßte fürchten, nach so langer Zeit nicht mehr sicher in den Einzelheiten zu sein, und erfunden habe ich auf Kosten des bescheidenen Mannes schon gerade genug. Ebenso muß ich auf die Auseinandersetzung der interessanten Theorie verzichten, die er sich von der Entstehung der Sturmfluth gemacht hatte und nun uns, seinen dankbaren Zuhörern, zum besten gab. Der Leser findet sie in dem neunten Kapitel des ersten Buches von „Sturmfluth“, wo ich sie – wie sie mir im Gedächtniß geblieben war – meinen Helden Reinhold Schmidt auf Schloß Golm der um die Abendtafel versammelten Gesellschaft vortragen lasse.

Wie interessant mir der Mann durch das alles schon geworden war! Und doch sollte das Beste, das Entscheidende, das, wofür ich ihm Zeit meines Lebens die innigste Dankbarkeit bewahren werde, noch kommen!

Nun weiß ich nicht: waren die beiden Herren, die bis dahin in unserer Gesellschaft gewesen waren, verschwunden, oder nur für mich verschwunden, weil ich für niemand sonst noch Aug’ und Ohr hatte, als für ihn allein – an dem ich mich fest gesogen wie die Biene an der Honigblume – jedenfalls hat sich die Sachlage in meiner Erinnerung so gestaltet, daß wir einander gegenübersitzen, auf dem kleinen Tische zwischen uns eine Flasche Röderer carte blanche, aus der bald er mir einschenkt, bald ich ihm das Glas fülle; und er erzählt – aber nicht mehr von dem Graus der Sturmfluth, sondern die Geschichte seines Lebens.

Ich frage mich jetzt, wie das möglich gewesen ist nach einer Bekanntschaft von zwei Stunden. Aber es hat Philosophen gegeben, die behaupteten, daß die Zeit, die immer war und immer kommt, gar nicht existiere, außer in der Vorstellung der Menschen, die sich ohne diesen Ariadnefaden in der konfusen Welt vollends verirren würden. Sicher ist sie ein sehr relatives Etwas, wie jeder Liebende bestätigen wird, der die Allgewalt des „Herrschers Augenblick“ empfunden. Mit der Freundschaft ist es nicht anders. Auch sie kann einem allerersten Eindruck ihr Dasein verdanken. Es gehört nur die Berührung zweier Geister dazu, die sich durchaus sympathisch sind. Das findet nicht eben häufig statt, und in die Wahl des Menschen ist es nicht gegeben – es ist ein Geschenk des Zufalls, der uns im Leben soviel böse Streiche spielt und für dies eine Mal ausnahmsweise seine Gebelaune hat.

Nun denn, hier hatte er seine Gebelaune, seine allerbeste, und zwei Männer zusammengeführt, die sich nur in die Augen zu sehen brauchten, um einer den anderen von allen Präliminarien der gewöhnlichen Freundschaft zu entbinden. Wenn ich eine Million gehabt hätte, dem da mir gegenüber hätte ich sie ohne weiteres in Verwahrung gegeben, und wenn er mir nun, wie er es that, die Geschichte seines Lebens erzählte – was war es anderes als ein Beweis der herzlichen Zuneigung, die er für mich gefaßt, und ein Votum unbedingten Vertrauens?

Habe ich dies Vertrauen mißbraucht, als ich die „Sturmfluth“ schrieb? Ich tröste mich mit der Zuversicht, daß Friedrich Müller selbst, wenn er – was sicher der Fall gewesen ist – das Buch gelesen, mich von diesem Vorwurf freigesprochen hat. Sind doch die Thatsachen, wie der Leser sich überzeugen wird, so verwandelt und verschleiert, daß der wahre Zusammenhang nur den Menschen, die ihm im Leben nahe standen, klar sein konnte, für alle übrigen aber undurchdringliches Geheimniß bleiben mußte. Und nach einer Seite hätte ich überhaupt gar keine Diskretion zu üben brauchen: dieser Mann durfte in einem Hause von Glas wohnen.

Dann war unsere Flasche – es mögen auch ihrer zwei gewesen sein – zu Ende; er wollte diesen Abend noch nach Swinemünde; der übrigens günstige Wind hatte stark abgeflaut, würde sich aber, wie er sagte, später wieder aufmachen. Jedenfalls mußte geschieden sein. Ich gab ihm das Geleit bis zum Kopfe der Landungsbrücke. Wir schüttelten uns die Hände. Er stieg in seine Jolle. Ich blickte ihm nach, bis er den Kutter erreicht, der schon die Segel aufgezogen hatte. Er winkte, auf dem Decke stehend, mit der Hand. Der Kutter drehte in den Wind. Er hatte das Steuerruder ergriffen; das große Segel schob sich zwischen mich und ihn. Ich habe ihn nie wiedergesehen. –

Am nächste Vormittag traf ich meine schöne Freundin wieder in der Veranda. Sie saß auf ihrem gewohnten Platze an der Balustrade; das lichtbraune Haar floß ihr, aufgelöst, in pruchtvollen Wellen bis über den Gürtel.

„Aber, mein Gott,“ sagte sie nach der ersten Begrüßung, „was ist Ihnen? Sie sehen blaß aus, ordentlich mit Ringen unter den Augen. Haben Sie so schlecht geschlafen?“

„Ich habe gar nicht geschlafen, gnädige Frau.“

„Aber Sie sollten es doch und von Ihrem Helden träumen!“

„Ich habe von ihm geträumt – mit offenen Augen. Er ist gefunden, gnädige Frau, und der Roman ist fertig!“

Sie sah mich mit ungläubigem Lächeln an.

„Das geht schnell,“ sagte sie.

„Freilich,“ rief ich, „denn

‚Aus den Wolken muß es fallen,
Aus der Götter Schoß das Glück.‘

Haben Sie Zeit und Geduld, mir zuzuhören?“

„Einen Ocean von beiden.“

„Nun denn! Ich sagte Ihnen gestern, daß ich mich schon seit einem Jahre und darüber mit der Idee zu einem Roman trage, den ich nicht beginnen könne, weil mir der Held fehle. Heute, da ich meinen Helden sicher habe, darf ich auch von der [271] Idee sprechen. Sie ist in aller Kürze folgende: ich möchte ein Bild der Verwüstung geben, welche der Milliardenunsegen in ökonomischer und sittlicher Beziehung über Deutschland gebracht hat. Den Verlauf, welchen diese Dinge genommen, habe ich aufs eifrigste studiert aus den Zeitungen und Broschüren, die aber nicht so wichtig waren wie die Mittheilungen meiner Freunde – Finanzleute, Industrielle, Politiker, die mitten in dem Getriebe stehen und auf deren Aussagen und Urtheil ich mich verlassen darf. Als Eduard Lasker, dem ich, wie Sie wissen, sehr nahe stehe, am 12. Mai im Reichstag seine prachtvolle Rede gegen den Gründungsschwindel gehalten hatte, wollte ich ihn zum Helden meines Romans machen, aber ich stand bald wieder davon ab: ein Romanheld darf nicht zu aktiv sein, nicht an der Spitze der Phalanx marschieren; er absorbiert sonst alles Interesse, und für die anderen, die man auch gern auf den Plan bringen möchte und bringen muß, soll man sich in die nöthige epische Breite entfalten können, bleibt nichts oder nicht genug übrig. Auch sah ich, mit Lasker als Helden, keine Möglichkeit, die Sturmfluth vom Herbste 1872 in meinen Plan zu ziehen; und davon konnte ich nicht lassen; das war bei mir zur fixen Idee geworden: der Zusammenkrach des Gründungsschwindels und die verheerende Fluth in einen Zusammenhang zu bringen, trotzdem sie schlechterdings nichts miteinander zu thun haben, ja selbst der Zeit nach mindestens ein halbes Jahr auseinanderliegen. Und durch Laskers Rede, die, wie Sie sich erinnern, eine specifisch pommersch-rügensche Gründung zum Gegenstand hat, bin ich vollends in meinem Vorhaben bestärkt: Pommern-Rügen, der Schauplatz der Sturmfluth, muß auch der Schauplatz meines Romans und ‚Sturmfluth‘ muß sein Titel sein.

Aber soweit, oder ungefähr soweit war ich bereits gestern und würde heute noch nicht weiter sein, wäre, nachdem Sie mich gestern nachmittag verlassen, er nicht gekommen.“

„Wer?“

„Mein Held!“

„Der Herr, mit dem Sie hier, wie ich höre, eine so wenig kurgemäße Sitzung gehabt haben?“

„Derselbe – und der mir die Geschichte seines Lebens in großen Zügen erzählt hat, von der das für mich Wichtige und Entscheidende dies ist:[1] Reinhold Schmidt – Pardon! in Wirklichkeit heißt er Friedrich Müller – hatte als Kauffahrerkapitän in einer preußischen Ostseestadt die Bekanntschaft der Familie eines hochstehenden Offiziers gemacht und eine leidenschaftliche Liebe zu der schönen Tochter des Hauses gefaßt. Indessen stellten sich der Vereinigung des liebenden Paares Hindernisse entgegen, die er mir nicht näher bezeichnet hat. Es mußte vor der Hand geschieden sein. Das war kurz vor dem Jahre 1870. Im Juli dieses Jahres lag Müller mit seinem Schiffe im Hafen von Cardiff, im Begriff, eine lange Fahrt nach einem überseeischen Lande anzutreten. Da erreicht ihn die Nachricht vom Ausbruch des Krieges. Er wartet nicht auf seine Stellungsordre, giebt sein Kommando in die Hände der Reeder zurück, eilt, so schnell er kann, in die Heimath, meldet sich bei seinem Regiment, macht ein halbes Dutzend der Hauptschlachten mit, erkämpft sich das Eiserne Kreuz und den Offiziersrang, schließlich auch die Geliebte, die der Vater jetzt willig den Händen eines Mannes anvertraut, von dessen Tapferkeit er sich während des Feldzugs mit eigenen Augen überzeugt hat.“

„Das ist alles?“ fragte die schöne Frau verwundert.

„Das ist alles!“ rief ich begeistert, „wenigstens alles, was ich brauchte: der feste Punkt, auf dem stehend ich die Welt, an der mir liegt, aus den Angeln hebe. Gestern lächelten Sie ungläubig, als ich Ihnen die Tugenden eines Helden für den Roman aufzählte; jetzt kann ich Sie überzeugen – überzeugen von der Kraft, die der Held ausstrahlt, so mächtig, daß, was gestern im besten Falle Schemen waren, heute Menschen von Fleisch und Blut sind. Und damit ist schon viel zu viel gesagt: sie sind, weil er ist. Weil er ist – lachen Sie nicht! – ist sie da, sein geliebtes Mädchen, dem selbstverständlich die Ehre der Mitregentschaft im Roman zufällt. Das holde Wesen führt mir ihren Vater, den General, zu; außerdem ihren Bruder – er heißt Ottomar, ist Offizier und liebt Ferdinanden, Onkel Schmidts geniale Tochter. Wer Onkel Schmidt ist? Aber, gnädige Frau, Reinhold, mein Held, kann doch nicht allein in der Welt stehen. Einen Vater hat er sich verbeten; der würde seine Selbständigkeit zu sehr drücken; er zieht also einen Onkel vor. Wenn General von Werben – so heißt er – arm ist – denken Sie an die Hindernisse, die sich der Vereinigung der Liebenden in der wahren Geschichte entgegenstellten! – so ist Onkel Schmidt desto reicher; aber noch nicht so reich wie sein Sohn Philipp, Ferdinandens Bruder, in welchem ich die Ehre habe, Ihnen den ersten Gründer in meinem Roman vom Gründungskrach zu präsentieren: den bürgerlichen Gründer. Einen vom Adel – und der dem bürgerlichen an Verwegenheit noch über ist – hätte ich schon erwähnen sollen: er tritt, soviel ich weiß, wenn nicht im ersten, so doch in einem der ersten Kapitel auf. Es ist Graf Golm. Sie kennen den Grafen Golm nicht? Aber, Sie sagten mir doch neulich, Sie hätten Laskers Rede – aber freilich, bei Lasker heißt er anders. Namen thun ja nichts zur Sache, und die Sache ist, daß Graf Golm für die von ihm und Genossen im Interesse ihrer Güter projektierte pommersch-rügensche Eisenbahn die Subvention des Staates haben will und haben muß, soll über die hochgeborene Clique nicht der schmählichste Bankerott hereinbrechen. Der General von Werben ist gegen das Projekt, vor allem gegen die Anlage eines Kriegshafens, in welchem die Bahn auslaufen wird, auf Golmschem Grund und Boden an der Ostküste Rügens, eben der, welche dem ersten Anprall einer Sturmfluth, wenn sie kommt, ausgesetzt ist. Und Reinhold Schmidt ist überzeugt, daß sie kommen wird. Sollte er da nicht gegen das Schwindelprojekt sein und sich dadurch die bittere Feindschaft des Grafen Golm um so sicherer zuziehen, als dieser auch sein Nebenbuhler in der Bewerbung um die Gunst der schönen Generalstochter ist?“

Und so erzählte ich der erstaunten schönen Frau beinahe den ganzen Roman. Nicht, wie er heute dem Leser als Buch vorliegt! Zwischen einem Romanplan, wäre er dem Dichter noch so deutlich, und seiner Ausführung schwebt noch gar viel! Da sind Ströme zu überbrücken, Abgründe auszufüllen, Berge abzutragen, an die man nicht gedacht, von denen man sich nicht hat träumen lassen. Das kostet unsägliche Geduld, erfordert eine nicht zu brechende Energie. Aber Geduld und Energie sind Tugenden, die man sich anerziehen kann und der Romandichter sich anerziehen muß, oder er mag das Metier nur aufgeben. Und die Ausübung dieser Tugenden wird ihm nicht allzu schwer werden, so er nur seinen Helden hat. Dann darf er sich versichert halten, daß er an dessen starker Hand zum Ziele gelangen wird, mag der Weg auch noch so lang und beschwerlich sein.

„Glauben Sie nicht, gnädige Frau?“

„Weshalb sollte ich es nicht glauben, da Sie es mich versichern, der Sie schon soviel Erfahrung in diesen Dingen haben. Und so wünsche ich Ihnen denn von ganzem Herzen Glück und Segen zu Ihrem Werke.“

Der Wunsch der gütigen Freundin ist in Erfüllung gegangen, ich habe an der „Sturmfluth“ viel Freude erlebt, die nur durch eines getrübt ist: daß ich dem Manne, dem ich für das Zustandekommen des Werkes soviel, ich möchte sagen alles, verdanke, im Leben nicht noch einmal habe die Hand drücken dürfen.


[272]

Freie Bahn!

Von E. Werner.

 (15. Fortsetzung.)

Im Hausflur des „Goldenen Lamms“ traf Doktor Hagenbach nochmals mit Runeck und Landsfeld zusammen, die sich von ihren Genossen losgemacht hatten und eben den Wirth fragten, ob er nicht ein besonderes Zimmer für sie habe, da sie etwas besprechen wollten.

Diesmal grüßte Egbert und blieb zögernd stehen, als sei er im Zweifel, ob er den Doktor anreden solle oder nicht. Dabei flog ein fast scheuer Blick nach der Treppe hinüber, wo Landsfeld stand.

„Nun?“ fragte dieser scharf; das Wort klang mehr wie ein Befehl als wie eine Aufforderung.

Das entschied; der junge Ingenieur warf trotzig den Kopf zurück und trat auf den Arzt zu. „Auf ein Wort, Herr Doktor! Wie steht es in Odensberg – im Herrenhaus meine ich?“

Hagenbach hatte den Gruß sehr kühl erwidert und antwortete zurückhaltend: „Wie es in einem Trauerhaus stehen kann, wo der Tod so jäh und plötzlich eingekehrt ist – Sie werden erfahren haben, wie der junge Herr starb.“

„Ja, ich weiß es,“ sagte Egbert mit einer Stimme, der man die unterdrückte Bewegung anhörte. „Wie trägt es Herr Dernburg?“

„Schwerer, als er zeigen will. Doch er ist eine eiserne Natur, die aufrecht bleibt bei jedem Schlage, und er hat auch nicht viel Zeit, seinem Schmerze sich hinzugeben. Die Verhältnisse in und um Odensberg nehmen ihn mehr als je in Anspruch, Sie werden das ja besser wissen als ich, Herr Runeck!“

Der Hieb des Doktors glitt vollständig ab an der düsteren Ruhe Egberts, der gelassen weiter fragte: „Und Maja? Sie hat den Bruder sehr lieb gehabt.“

„Fräulein Maja ist jung. In ihrem Alter weint man sich aus und tröstet sich dann. Dagegen leidet Frau Dernburg so tief unter dem Verlust, wie ich es kaum für möglich hielt.“

„Die junge Witwe?“ fragte Egbert leise.

„Ja, sie war in den ersten Tagen so fassungslos, daß ich ernste Besorgnisse hegte, und auch jetzt noch ist sie wie gebrochen. Ich hätte ihr diese leidenschaftliche Empfindung nicht zugetraut.“

Runecks Lippen zuckten, aber er erwiderte nichts auf die letzte Bemerkung. „Grüßen Sie Fräulein Maja – sie wird vielleicht meinen Gruß noch annehmen,“ sagte er dann rasch. „Leben Sie wohl, Herr Doktor!“

Damit wandte er sich nach der Treppe, wo Landsfeld stehen geblieben war, und begab sich mit diesem hinauf, während Hagenbach seinen Kutscher rief und dann in den Wagen stieg.

Herr Willmann machte noch vom Hausflur aus eine tiefe Verbeugung. Im nächsten Augenblick eilte er, so schnell es ihm seine Leibesfülle erlaubte, den beiden anderen nach. Und er zitterte durchaus nicht, als er vor dem gefürchteten Landsfeld stand, sondern bückte sich gemüthsruhig ebenso tief wie vorhin vor dem Doktor und ersuchte die geehrten Gäste, doch gefälligst in das Herrenstübchen einzutreten, dort seien sie ganz ungestört; er werde dafür sorgen, daß niemand hineinkomme. Ob die Herren sonst noch Wünsche und Befehle hätten, Küche und Keller, ja das ganze Haus stehe den Herren zu Diensten.

„Nein, wir brauchen für jetzt nichts,“ sagte Landsfeld nachlässig. „Sorgen Sie nur dafür, Herr Wirth, daß heute abend nichts mangelt. Der Andrang wird sehr groß werden.“

Der dicke Lammwirth erschöpfte sich in Versicherungen, daß alles aufs beste hergerichtet sei, und dann begab er sich seelenvergnügt in seinen großen Saal, um noch persönlich einige Anordnungen zu treffen. Herr Pankratius Willmann besaß im höchsten Grade die Kunst, zwei Herren zu dienen.

Die beiden Gäste waren inzwischen eingetreten. Egbert hatte sich niedergesetzt und stützte den Kopf in die Hand. Er sah bleich und überwacht aus, in seinem Gesicht stand ein herber bitterer Zug, der ihm sonst fremd gewesen war. Viel Freude schien der neue Wahlkandidat nicht an der Ehre zu haben, die man ihm zu theil werden ließ. Landsfeld schloß die Thür und trat zu Runeck.

„Hast Du nun endlich Zeit für uns?“ fragte er mit Schärfe.

„Ich dächte, die hätte ich immer,“ war die kurze Antwort.

„Es scheint doch nicht so. Du ließest mich wie einen Schuljungen an der Treppe stehen, während Du Dich mit dem Doktor unterhieltest.“

„Du brauchtest ja nicht zuzuhören. Weshalb bist Du nicht vorausgegangen?“

„Weil es mir Spaß machte, zu sehen, wie Du noch immer nicht loskannst von denen, die Dich längst in Acht und Bann gethan haben, indessen Du Dich höchst sentimental nach ihrem Befinden erkundigst!“

„Was geht das Dich an?“ sagte Egbert schroff. „Das ist meine Sache.“

„Nicht so ganz, mein Junge. Du bist unser Wahlkandidat, und da hast Du entschieden und endgültig mit allen Beziehungen im feindlichen Lager zu brechen. Du hast jetzt vor allen Dingen für Deine Popularität zu sorgen und machst Dich mißliebig, ja verdächtig durch solche Geschichten, merke Dir das!“

Runeck zuckte verächtlich die Schultern. „Ich danke Dir für Deinen guten Rath, ich weiß aber selbst, was ich zu thun habe.“

„Ei, ei – Du sprichst in sehr hohem Tone!“ spottete Landsfeld. „Du siehst Dich wohl schon als allmächtigen Führer der Partei, als Hauptperson im Reichstag? Hast überhaupt eine ganz gefährliche Ader vom ‚Herrn‘ in Dir. Darin ähnelst Du merkwürdig dem Alten in Odensberg, wirst es wohl auch von ihm gelernt haben. Aber daß das bei uns nicht geht, mein Junge, das solltest Du nachgerade wissen. Wenn Du so fortfährst, so gebe ich Dir mein Wort darauf, daß Du Dich unmöglich machst.“

Egbert erhob sich plötzlich und trat mit gefurchter Stirn dicht vor Landsfeld hin. „Wozu das alles? Sag’ es lieber gerade heraus, daß Du mir die Stellung mißgönnst, zu der die Partei mich berufen hat. Du hattest Dir Rechnung darauf gemacht und vergiebst es mir nicht, daß ich Dir vorgezogen wurde. Und Du weißt es doch am besten, daß diese Stellung mir aufgedrängt wurde. Ich hätte sie Dir gern überlassen – nur zu gern!“

„Was ich wollte oder erwartete, kommt hier nicht in Betracht,“ antwortete Landsfeld kalt. „Ich habe keine Aussicht, bei einer Wahl durchzudringen, Du hast sie, also muß ich Dir das Feld räumen, und das thue ich ohne Widerspruch. Ich kenne die Disciplin und halte sie – wenn andere das nur auch thäten!“

Runeck schien die letzte Bemerkung nicht zu hören, er war an das Fenster getreten und blickte hinaus. „Wie steht es in Odensberg?“ fragte er abbrechend.

„Gut, wenigstens besser, als wir zu hoffen wagten. Der Alte“ – Landsfeld gebrauchte mit Vorliebe diese Bezeichnung für Dernburg, weil er wußte, daß sie seinen Gefährten verletzte – „der Alte dünkt sich freilich noch unangreifbar in seiner Hochburg, die Augen werden ihm wohl erst am Wahltag aufgehen. Wir haben aber auch tüchtig gearbeitet, und das war hier wahrhaftig nicht leicht. Jetzt ist es an Dir! Von Deiner heutigen Rede hängt viel, vielleicht alles ab. Ein Theil der Odensberger steht noch fest zu Dernburg, die anderen schwanken, und die sollst Du heute packen und zu uns herüberziehen. Du verstehst das ja ausgezeichnet, hast es wenigstens früher verstanden.“

„Ich werde meine Pflicht thun,“ sagte Egbert finster, ohne sich umzuwenden. „Allein ich zweifle an dem Erfolg.“

„Weshalb? Höre, Du scheinst mir flügellahm geworden zu sein, seit wir Dich gegen den Alten in Odensberg ausspielen. Was Du da in den letzten Wochen in Berlin gesprochen hast, war ziemlich matt und langweilig. Sonst sprühtest Du von Feuer und Begeisterung und rissest jeden mit fort, jetzt, wo alles auf dem Spiele steht, bist Du nicht kalt, nicht warm. Hast Du denn an diesem Dernburg einen ebensogroßen Narren gefressen wie er an Dir? Ich glaube, er hat den Tod seines

[273]

Des Wikings Bestattung.
Originalzeichnung von A. Zick.

[274] Sohnes leichter verwunden als Deinen Abfall. Das wird ein rührendes Schauspiel, wenn Ihr Euch jetzt auf Leben und Tod bekämpft.“

„Landsfeld, jetzt ist es genug!“ brauste der junge Ingenieur in höchster Gereiztheit auf. „Ich habe Dich schon einmal ersucht, Dich nicht um meine persönlichen Verhältnisse zu kümmern, jetzt verbiete ich es Dir ein für allemal. Schweig’ davon!“

„Ja, ja, Du drohtest damals in Radefeld, mich zur Thür hinauszuwerfen,“ höhnte Landsfeld, dem Runecks Zorn Spaß zu machen schien. „Aber hier sind wir in einem fremden Hause, da wirst Du das wohl bleiben lassen. Doch zur Sache! Ich wollte Dir nur klar machen, daß Du heute abend alle sentimentalen Rücksichten beiseite lassen mußt, wenn Deine Rede wirken soll. Du weißt, was die Partei von Dir erwartet.“

„Ja – ich weiß es.“

„Nun also, nimm Dich zusammen! Die Odensberger müssen wir haben, denn bei ihnen liegt die Entscheidung. Du mußt daher energisch Front machen gegen Dernburg und gegen alles, was er ins Werk gesetzt hat. Du mußt den Leuten zeigen, daß seine Schulen und Krankenhäuser und Pensionskassen, mit denen er sie kirrt, in unseren Augen gar nichts werth sind, ein Bettelpfennig, den er seinen Arbeitern hinwirft, während er die Millionen einstreicht. Uns glauben die Leute das nicht, Dir werden sie es glauben, denn sie wissen, wozu der Alte Dich erzogen hat. Du solltest der künftige Leiter seiner Werke werden, der Erste nach ihm, und Du hast ihm das vor die Füße geworfen um unserer Sache willen: das ist es, was Dich bei den Odensbergern allmächtig macht, und darum allein haben wir Dich für die Wahl aufgestellt. Mit allgemeinen Redensarten kommst Du da nicht durch – Du mußt dem Gegner zu Leibe gehen und ihn aufs Haupt schlagen.“

Egbert wandte sich langsam um, in seinen Zügen stand eine düstere Entschlossenheit, aus seiner Stimme sprach bitterer Hohn, als er antwortete: „Ja wohl, ich muß – muß! Einen Willen habe ich nicht mehr. – Laß uns zu den anderen gehen!“




In Odensberg war das heitere gesellige Leben verstummt, das den ganzen Sommer hindurch dort geherrscht hatte und dessen Mittelpunkt das junge Brautpaar gewesen war. Die Familie trug noch die erste tiefe Trauer um den, welchen man vor kaum zwei Monaten ins Grab gesenkt hatte, und die Stimmung im Hause war so schwer und trübe wie die nebelerfüllten Herbsttage draußen.

Nur Maja machte eine Ausnahme. Doktor Hagenbach hatte recht: mit siebzehn Jahren weint man sich aus und tröstet sich dann, selbst über den Verlust eines geliebten Bruders; und hier war zudem ein besonderer Tröster ganz in der Nähe. Oskar von Wildenrod war selbstverständlich in Odensberg geblieben, und wenn auch jetzt von einer öffentlichen Verlobung nicht die Rede sein konnte, so hatte doch der Vater seine Einwilligung nunmehr in aller Form gegeben.

Maja war unendlich lieblich in ihrem stillen verschwiegenen Glück und Oskar bewies ihr im Kreise der Familie, wo er sich keinen Zwang aufzuerlegen brauchte, die zärtlichste Aufmerksamkeit und Hingebung. Er schien sehr verändert; der herbe Zug verschwand mehr und mehr aus seinem Gesicht, sein ganzes Wesen milderte sich unter dem Einfluß dieses aufblühenden Glückes, das ihn an das Ziel seiner Wünsche brachte.

Dernburg selbst trug den Schmerz um seinen Sohn, wie er alles Schwere im Leben zu tragen pflegte, gefaßt und schweigsam und suchte seinen Trost in der Arbeit, der er sich mit noch größerem Eifer als sonst hingab. Zwischen ihm und seiner Schwiegertochter hatte der Tod Erichs ein unerwartet inniges Band geknüpft. Denn wenn der Vater auch die Braut seines Sohnes als Tochter empfangen und behandelt hatte, in seinem Innersten war er früher dieser Verbindung stets abgeneigt geblieben; das eitle übermüthige Weltkind hatte dem Manne der strengen Pflicht immer fern gestanden. Die junge Witwe aber mit ihrem anfangs so verzweiflungsvoll ausbrechenden Schmerze und der stillen verschlossenen Schwermuth, die dann folgte, fand seine ganze väterliche Liebe. Von dem Augenblick an, da er sie am Sterbebette Erichs in seine Arme geschlossen hatte, nahm sie auch einen Platz in seinem Herzen ein.

Er ahnte freilich nicht, daß dieser leidenschaftliche Schmerz Cäciliens nur Reue war, Reue über jene Stunde, in welcher sie lieber in den Tod hatte flüchten wollen als in die Arme ihres Gatten, der in eben jenen Minuten sterbend zusammenbrach. Sie wußte das Schlimmste freilich nicht: daß gerade ihre unseligen Worte ihm den Tod gegeben. Oskar hatte sich das Schweigen des Dieners gesichert, der Erich hatte hinausgehen und eintreten sehen, und sonst wußte niemand darum. Aber die junge Frau ahnte etwas von dem Zusammenhang und flüchtete zu dem Vater, weil sie ein geheimes Grauen vor ihrem Bruder nicht zu überwinden vermochte.

Im übrigen konnte sich Dernburg jetzt nur wenig seiner Familie widmen, denn neben der gewohnten Arbeitslast, die er nach wie vor auf seine Schultern nahm, forderten die bevorstehenden Wahlen seine Zeit und seine Kräfte im höchsten Maße. In seiner Partei galt es als selbstverständlich, daß ihm das Mandat für den Reichstag, das er so lange ausgeübt hatte, auch diesmal wieder zufallen werde, aber man kam bald zu der Einsicht, daß der Sieg diesmal erst erstritten werden müsse, daß die Gegner mit Hochdruck arbeiteten. Da galt es, nach allen Richtungen hin thätig zu sein, und dabei fand Dernburg eine ganz unerwartete Stütze an Oskar von Wildenrod. Dieser hatte sich unglaublich rasch mit den politischen Verhältnissen vertraut gemacht, und sein scharfer Blick, sein sicheres treffendes Urtheil erregten die Bewunderung der anderen, die seit Jahren mitten in diesen Verhältnissen standen. Der Freiherr war überall, wo es nothwendig schien, er nahm an allen Versammlungen und Sitzungen theil und trat mit einem wahren Feuereifer für die Sache ein. Der einstige Diplomat segelte wieder im vollen Fahrwasser der Politik, und es war kein Wunder, daß sein Einfluß auf Dernburg, dem er fast nicht von der Seite wich, mit jedem Tage größer wurde.

Endlich war der Tag gekommen, wo der letzte entscheidende Kampf an der Wahlurne selbst ausgefochten werden sollte. Im Direktionsgebäude der Odensberger Werke herrschte schon seit den Morgenstunden eine ungewöhnliche Thätigkeit. Die unteren Räume enthielten den Sitzungssaal, wo sonst die größeren Vorträge und Berathungen stattfanden; hier hatten sich heute sämtliche Oberbeamten eingefunden, hier trafen die telegraphischen Nachrichten aus der Stadt und die Boten aus den Landbezirken ein, die wenigstens annähernd den Stand der Wahlbewegung verkündeten. Das sonst so friedliche Sitzungszimmer sah aus wie ein Feldlager, dessen Mittelpunkt der Direktor bildete; und unaufhörlich gingen die Botschaften nach dem Herrenhaus hinüber.

Es war in den Nachmittagsstunden, als Doktor Hagenbach eintrat und von den anwesenden Herren mit Vorwürfen wegen seines Ausbleibens empfangen wurde.

„Wo haben Sie denn eigentlich gesteckt, Doktor?“ rief ihm der Direktor ärgerlich entgegen. „Wir sitzen hier allesamt in Sorge und Aufregung, und Sie machen in aller Gemüthlichkeit Ihre Krankenbesuche und lassen sich gar nicht sehen!“

„Ich kann den Leuten doch nicht verbieten, am Wahltag krank zu sein und zu sterben,“ sagte Hagenbach ernst. „Ich mußte nach Eckardstein, schon heute vormittag, und da ließ man mich nicht eher fort, als bis alles vorüber war.“

So sehr die Herren auch heute von anderen Dingen in Anspruch genommen waren, diese Nachricht erregte doch allgemeine Aufmerksamkeit. „Ist der Graf tot?“ fragte der Direktor überrascht.

„Er starb vor zwei Stunden.“

„Das ist für den Grafen Viktor ein jäher Glückswechsel,“ bemerkte der Oberingenieur. „Gestern noch ein armer abhängiger Lieutenant und heute Besitzer der großen Eckardsteinschen Herrschaft. Graf Konrad soll nicht eben freundlich gegen seinen jüngeren Bruder gewesen sein.“

„Nein; trotzdem hat sich dieser aber in der ganzen letzten Zeit aufs liebevollste gezeigt. – Und nun, meine Herren, bin ich wohl genügend entschuldigt wegen meines Ausbleibens, nothwendig war ich hier ja nicht. Wie steht es eigentlich? Hoffentlich gut.“

„So besonders gut gerade nicht,“ meinte der Oberingenieur. „Die Nachrichten aus den Landbezirken sind befriedigend, aber in der Stadt haben offenbar die Sozialdemokraten das Heft in der Hand.“

[275] „Nun, darauf mußten wir von vornherein gefaßt sein,“ fiel Winning, der Leiter des technischen Bureaus, ein. „Den Ausschlag giebt Odensberg und damit sichern wir uns die Majorität.“

„Wenn wir unbedingt darauf rechnen können – ja,“ sagte der Direktor. „Aber ich fürchte –“

„Was fürchten Sie?“ fragte Hagenbach betroffen, als jener abbrach.

„Daß wir falsch gerechnet haben. Runecks Anhang unter den Leuten scheint größer zu sein, als wir voraussetzten – die Anzeichen davon traten freilich erst in letzter Stunde zu Tage.“

„Runeck ist ein ausgezeichneter Redner,“ sagte Winning ernst, „und seine große Wahlrede neulich im ‚Goldenen Lamm‘ hat die ganze Zuhörerschaft mit fortgerissen. Allerdings, auf seiner sonstigen Höhe stand sie nicht. Sonst sprach er kalt, mit eiserner Ruhe, aber jedes Wort war ein wuchtiger Keulenschlag, diesmal stürmte er dahin wie ein toll gewordenes Pferd, ohne Maß und Ziel.“

„Er wird Angst um sein Mandat gehabt haben,“ spottete der Oberingenieur. „Doch da kommt Helm, vielleicht bringt er etwas Wichtiges.“

Es war einer der jüngeren Beamten, der jetzt eintrat und ein eben eingetroffenes Telegramm überreichte. Der Direktor öffnete und las es und reichte es dann schweigend dem Doktor Hagenbach, der neben ihm stand. Dieser warf einen Blick hinein und schüttelte den Kopf. „Das ist sehr unangenehm! Also in der Stadt ist nach Schätzung unserer Vertrauensmänner der Sieg der Sozialisten so gut wie entschieden! Lesen Sie, meine Herren!“

Das Telegramm machte die Runde, während der Direktor an das Telephon trat, welches das Sitzungszimmer mit dem Herrenhause verband, um dem Chef vorläufige Nachricht zu geben.

„Jetzt ist die Entscheidung einzig und allein auf Odensberg gestellt,“ sagte der Oberingenieur. „Es war jedenfalls unklug, den Schreier, den Fallner, gerade jetzt zu entlassen, unmittelbar vor den Wahlen. Das hat böses Blut gemacht und kostet uns vielleicht Hunderte von Stimmen. Aber Herr Dernburg war ja unbeugsam!“

„Sollte er sich vielleicht gefallen lassen, daß dieser Mensch in seiner Werkstatt ganz offen gegen ihn predigte und hetzte?“ fiel Winning ein. „Dergleichen ist überhaupt nie in Odensberg geduldet worden und jetzt wäre es vollends ein Beispiel von unverzeihlicher Schwäche gewesen.“

„Ich fürchte aber, daß es sich hier nur um ein Wahlmanöver gehandelt hat,“ beharrte der andere. „Fallner wußte ganz genau, was ihm bevorstand, mußte es wissen, allein er gehörte zu den Neueingetretenen, die noch nicht viel verlieren, wenn sie gehen, deshalb gab er sich zu der Geschichte her. Er sollte entlassen werden, die Sache sollte böses Blut unter den Leuten machen, darauf war es abgesehen. Ich habe das dem Herrn auch vorgestellt – vergebens. ‚Ich dulde keine Auflehnung und keine Hetzereien auf meinem Gebiet – dem Manne wird sofort gekündigt!‘ das war seine einzige Antwort, und damit gab er unseren Gegnern die Waffe in die Hand.“

Winning schwieg, ärgerlich darüber, daß er keine Widerlegung fand. Der Direktor aber, der jetzt vom Telephon zurückkam und die letzten Worte gehört hatte, sagte bedeutsam: „Wenn die Sache nur mit dem Verlust an Stimmen zu Ende ist! Mir wurde schon gestern berichtet, daß die Arbeiter von allen Seiten bearbeitet werden, für Fallner einzutreten und sein Bleiben zu fordern. Thun sie das wirklich, dann haben wir den Kampf.“

„Sie werden es aber nicht thun, denn sie kennen den Herrn,“ mischte sich Doktor Hagenbach ein. „Der läßt sich nichts abzwingen, und wenn er seine sämtlichen Werke schließen müßte. Unsere Odensberger wären ja geradezu toll, wenn sie es darauf ankommen ließen!“

„Und wenn es das Tollste wäre, was fragt Landsfeld und sein Anhang danach,“ rief der Oberingenieur. „Die wollen den Kampf, gleichviel um welchen Preis und mit welchen Opfern. Ich bleibe dabei, es war ein Fehler, den Fallner zu entlassen. Leider ist er noch hier und tritt erst übermorgen aus der Arbeit. Wer weiß, was uns noch daraus erwächst! Wenn die Wahl verloren geht und infolgedessen die Leidenschaften wachsen, können wir eine böse Ueberraschung erleben.“

„Unsinn! Sie sehen Gespenster!“ schalt Winning; der Direktor aber sagte ernst: „Ich wollte, der Tag wäre vorbei!“

Drüben im Herrenhause harrte man mit der gleichen gespannten Erwartung auf den Ausfall der Wahl, und im Arbeitszimmer des Hausherrn ging es fast ebenso lebhaft zu als im Direktionsgebäude. Dernburg freilich nahm die eintreffenden Berichte, das Gehen und Kommen seiner Beamten, die von Zeit zu Zeit mündlich Meldung erstatteten, mit der gewohnten Ruhe hin. Für ihn handelte es sich ja nicht um eine Frage des Ehrgeizes, er brachte seinem Mandat Zeit zum Opfer und Kräfte, die er seinem Berufe entzog und deren Versagen er jetzt, bei beginnendem Alter, doch bisweilen fühlte. Einem Gesinnungsgenossen hätte er daher willig den Platz geräumt, aber so, wie die Sache lag, knüpfte sich an seinen Namen der Sieg seiner Partei, und zudem war es Odensberg, das seine Wahl entschied, da war diese Wahl eine Ehrensache für ihn.

Dernburg befand sich eben allein mit seiner Schwiegertochter. Die junge Frau, die ernst und bleich in ihrer Witwentrauer am Fenster lehnte, war ihrem Schwiegervater in der letzten Zeit immer vertrauter geworden. Ihr gestattete er bisweilen einen Einblick in sein sonst so streng verschlossenes Innere; sie wußte auch allein, was seine Stirn heute so schwer und düster furchte. Es war nicht die Besorgniß vor einer Niederlage, die er überhaupt nicht für möglich hielt, die Bitterkeit dieses Kampfes lag für ihn darin, daß der Gegner Egbert Runeck hieß.

„Oskar ist in einer Aufregung, als gelte es seine eigene Wahl,“ sagte Dernburg, nachdem er die ihm überbrachten Depeschen nochmals durchlesen hatte.

„Auch mich überrascht es, daß mein Bruder so ganz in der Politik aufgeht,“ entgegnete Cäcilie, mit einem leisen Kopfschütteln. „Er hat sich sonst wenig darum gekümmert.“

„Weil er jahrelang seinem Vaterland fern geblieben ist! Es war unverantwortlich, daß er seine Kräfte so lange brach liegen ließ. Ich sehe jetzt erst, was er leisten kann, wenn ihm das Feld einer großen Thätigkeit gegeben ist.“

„O, ich glaube, Oskar kann unendlich viel, wenn er ernstlich will, und er will in Odensberg ein neues Leben anfangen, er hat es mir versprochen.“

Die Worte klangen eigenthümlich, fast wie eine Entschuldigung, aber Dernburg achtete nicht darauf. „Dazu wünsche ich ihm und mir Glück,“ sagte er ernst. „Ich gestehe es Dir offen, Cäcilie, ich hegte bisher immer noch ein gewisses Vorurtheil gegen Deinen Bruder, jetzt ist es gefallen. Er ist mir in diesen letzten Wochen die treueste zuverlässigste Stütze gewesen – das werde ich ihm danken.“

Die junge Frau antwortete nicht, sie blickte hinaus in den trüben nebelerfüllten Oktobertag, der sich jetzt seinem Ende zuneigte. Es dämmerte bereits; der Diener brachte die Lampe und mit ihm traten Wildenrod und Maja in das Zimmer. Der Freiherr sah erregt und finster aus; Dernburg wandte sich rasch zu ihm.

„Nun, wie steht es, Oskar? Was bringen Sie? Nichts Gutes, das sagt mir schon Ihr Gesicht! Sind neue Nachrichten gekommen?“

„Ja, aus der Stadt. Unsere Befürchtungen haben sich bestätigt, die Sozialisten haben dort die Mehrheit.“

„Also doch!“ rief Dernburg heftig. „Es ist das erste Mal, daß sie das durchsetzen. Nun, wir werden ihnen mit Hilfe der Odensberger Stimmen die Siegesfreude schon dämpfen!“

Cäciliens Blick suchte mit bangem Ausdruck den des Bruders und seine Züge verriethen ihr, daß er diese Zuversicht nicht theile. Es lag auch ein gewisses Zögern in seiner Stimme, als er antwortete: „Odensberg hat allerdings das entscheidende Wort und wird es hoffentlich für uns sprechen. Trotzdem müssen wir mit jeder Möglichkeit rechnen –“

„Aber doch nicht mit der Möglichkeit, daß meine Arbeiterschaft mich im Stiche läßt?“ fiel Dernburg ein. „Dergleichen traue ich den Leuten ein für allemal nicht zu. Fassen Sie sich in Geduld, Oskar, man merkt Ihnen an Ihrer fieberhaften Unruhe den Neuling an. Die Wahl muß übrigens gleich zu Ende sein.“

Er erhob sich, aber die Art, wie er im Zimmer auf und ab schritt und immer wieder nach der Uhr blickte, verrieth, daß er doch keineswegs so kaltblütig war, als es den Anschein haben sollte.

(Fortsetzung folgt.)

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BLÄTTER UND BLÜTHEN.


Der Blumenmarkt am Dönhoffsplatz in Berlin. (Zu dem Bilde S. 265.) Es ist eine Erinnerung an den seit Eröffnung der Markthallen eingegangenen Blumenmarkt auf dem Dönhoffsplatz in Berlin, was unser Bild von Hans Herrmann bietet. Die ganze Nordseite des großen Platzes längs der belebten Leipziger Straße war früher den Gärtnern und Blumenhändlern eingeräumt, die hier ihre anmuthig gruppierte Ware feilboten. Zu den Füßen der Statue des Ministers Freiherrn von Stein saßen die Verkäufer und Verkäuferinnen, und zur Rosenzeit erfüllte oft ein wundervoller Duft diesen Theil des Marktes. Von den großen Palmgewächsen und Blattpflanzen aller Art bis herab zu dem bescheidenen Stiefmütterchen konnte man hier seine Wahl treffen, und Blumenmädchen mit Körben am Arme boten dem Vorübergehenden ihre zierlichen Maiglöckchen-, ihre sanftduftenden Veilchen- oder Rosensträußchen zum Kaufe dar.

Ein überaus buntes Durcheinander herrschte dann in dieser ohnehin so sehr belebten Gegend. Namentlich im Frühling, an schönen sonnigen Tagen, wenn der erste Blumenflor auf den Markt gebracht wurde, ging es ungemein geschäftig zu. Aber auch im Winter war der Blumenmarkt am Dönhoffsplatz stark besucht und der Handel, namentlich in Kamelien für die Balltoiletten der Damen, ein ergiebiger.

Jetzt bergen die Markthallen, was früher das Auge am Dönhoffsplatz erfreute. Auch hier duften Hyacinthen und Rosen und prangen in ihrer Farbenpracht. Aber des Himmels Sonne, die alles in weit schönerem Lichte erscheinen läßt, sie schaut nicht mehr herab auf Knospen und Blüthen!

Civilisation.
Nach der Natur aufgenommen von Carl Wolff.

Civilisation. (Mit Abbildung.) Ja, „die Kultur, die alle Welt beleckt, hat auf den Teufel sich erstreckt“ möchte man mit Mephisto sagen beim Anblick der vier Samoanischen Schönen, die im lauschigen Bambusgebüsch der behaglichen Unterhaltung des Kartenspiels – und zwar mit den uns Europäern wohlbekannten sogenannten „französischen“ Karten – sich hingeben. Ein Freund unseres Blattes hat die vier übrigens gar nicht unhübschen Damen bei ihrem höchst civilisierten Zeitvertreib belauscht und sie für die „Gartenlaube“ photographisch aufgenommen. Leider hat er die Gelegenheit versäumt, sie zu fragen, was sie spielen, ob „Whist“ oder „L’hombre“ oder „Skat“ oder „Schafkopf“; aus dem Inhalt ihrer Karten dies nachträglich zu kombinieren, dürfte schwer halten. Jedenfalls legt die dem Beschauer gegenübersitzende Dame ihr Spiel eben mit äußerst zuversichtlicher Miene auf den „Tisch“, so als ob sie, ins Samoanische übersetzt, eben die kühlen Worte gesprochen hätte: „Alles hoch – gebt Euch keine Mühe!“

Ein wanderndes Haus. (Zu dem Bilde S. 269.) Bei unsern amerikanischen Vettern hat das Haus den Charakter der Unveränderlichkeit längst abgestreift. Selbst ganze Backsteinhäuser entgehen dort dem Schicksal nicht, auf die Wanderschaft geschickt zu werden, wenn sie an ihrem alten Standorte dem wachsenden Verkehr hinderlich sind. Eine solche Wanderschaft hat vor einiger Zeit in New-York ein Backsteinhaus antreten müssen, das von einer Pferdebahngesellschaft zur Erweiterung des Bahnbetriebes erworben und auf den Abbruch verkauft war. Der Käufer, der das Haus bis dahin als Miether bewohnt hatte, faßte den Entschluß, dasselbe ganz so, wie es stand, zu verschieben, und er hat diesen Plan auch glücklich durchgeführt. Bezeichnend für die amerikanischen Verhältnisse ist es, daß der neue Platz, auf dem das Haus jetzt stehst auch nur gepachtet ist.

Um die Beförderung des Hauses zu bewerkstelligen, mußte dasselbe zunächst durch eine Anzahl schwerer Balken unterfangen werden. Diese wurden durch eine mehrfache Kreuzlage kräftiger Balken verbunden, so daß eine Art Schlitten entstand, der von 30 Hebewinden hoch gehoben und dann auf Balken, die als Gleitschienen dienten, niedergelassen wurde. Die Gleitschienen waren mehrfach vorhanden, so daß sie nach Zurücklegung eines Stück Weges hinten weggenommen und vorn wieder angeschoben werden konnten. Um die Reibung zu verringern, wurden die Gleitschienen gut eingefettet, und dann ging’s auf die Wanderschaft: zunächst etliche 90 Meter bis zum nächsten Kreuzungspunkt der Straßen, dann um die Ecke noch weitere 180 Meter.

Das Gewicht des ganzen Hauses schätzte man auf 4000 Centner. Die Verschiebung wurde durch zwei Pferde bewirkt, welche mit Hilfe einiger Erdwinden und vier dreifacher Flaschenzüge das Gebäude in 31 Tagen bis zum neuen Aufstellungsort brachten. Hierzu mag noch bemerkt werden, daß die Arbeit sowohl durch ungünstige Witterung als auch durch polizeiliche Anordnungen vielfach unterbrochen wurde.

Die Kosten der Ueberführung sollen insgesamt 2000 Mark betragen haben. Beschäftigt waren bei der Arbeit fünf Personen von denen eine die Leitung hatte.

Das Allerschönste aber ist: während der ganzen Dauer der Verschiebung diente das Haus mehreren Familien unausgesetzt als Wohnstätte.

Des Wikings Bestattung. (Zu dem Bilde S. 273) Baldur, der weiße Lichtgott, ward getötet von Hödur, dem blinden Asen, den Loki aufgereizt. Und als die Götter sich erholt von ihrem jähen Schrecken, da nahmen sie Baldurs Leiche und brachten sie zur See.

In dem Mythus von der Leichenfeier Baldurs, den uns die „Jüngere Edda“ aufbewahrt hat, spiegelt sich die uralte nordische Sitte, die großen Helden da zu begraben, wo ihrer Thaten Schauplatz war – draußen auf der wogenden See, die sie so oft durchschnitten hatten auf verwegenem Raubzug. Und so sehen wir auch auf unserem Bilde den toten Wiking aufgebahrt auf seinem treuen Schiffe, umgeben von den Waffen, mit denen er seine Siege erfochten. Aufgezogen ist das drachengeschmückte Segel, gebläht vom Nachtwind, der des Holzstoßes Gluthen hell entfacht, und kraftvolle Arme schieben den Kiel hinaus ins Meer – zu seiner letzten Fahrt. Am Strande aber, da stehen die Skalden und singen des Toten Ruhm – und die Mannen lauschen und starren hinaus auf das schaurig schöne Schauspiel, bis der mächtige lodernde Rumpf versinkt im Meere und der letzte Funke verglommen ist.

Das Gehör. (Zu unserer Kunstbeilage.) Wir geben heute eine Fortsetzung der Rößlerschen Allegorien auf die fünf Sinne, und zwar diesmal „Das Gehör“. Die schöne Frauengestalt, welche den Mittelgrund des Bildes einnimmt, lauscht verzückt auf die Töne welche das zarte geflügelte Wesen über ihrem Haupte seiner Mandoline entlockt und auch der andere Amor zu Füßen der Frau legt sein Händchen ans Ohr und horcht begierig auf die süßen Klänge.


manicula 0Hierzu Kunstbeilage V:0 Das Gehör.0 Von R. Rößler.

Inhalt: Schwertlilie. Roman von Sophie Junghans (2. Fortsetzung). S. 261. – Vorbereitung zur Vorstellung. Bild. S. 261. – Aus dem alten Berlin: Der Blumenmarkt auf dem Dönhoffsplatz. Bild. S. 265. – Früehlings-Sunneschei. Gedicht von F. Bochazer. Mit Bild. S. 268. – Wie ich zu dem Helden von „Sturmfluth“ kam. Von Friedrich Spielhagen. S. 268. – Freie Bahn! Roman von E. Werner (15. Fortsetzung). S. 272. – Des Wikings Bestattung. Bild. S. 273. – Blätter und Blüthen: Der Blumenmarkt am Dönhoffsplatz in Berlin. S. 276. (Zu dem Bilde S. 265.) – Civilisation. Mit Abbildung. S. 276. – Ein wanderndes Haus. S. 276. (Zu dem Bilde S. 269.) – Des Wikings Bestattung. S. 276. (Zu dem Bilde S. 273.) – Das Gehör. S. 276. (Zu unserer Kunstbeilage.)


Herausgegeben unter verantwortlicher Redaktion von Adolf Kröner. Verlag von Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig. Druck von A. Wiede in Leipzig.

  1. Wenn der folgende kurze Bericht mit einem längeren, welcher vor einigen Monaten unter dem Titel „Ein Held in Leben und Dichtung“ seinen Weg durch die Zeitungen gemacht hat, ziemlich wörtlich übereinstimmt, so braucht man mich nicht des Plagiats zu beschuldigen. Jener Zeitungsartikel hat zum Verfasser einen meiner jüngeren litterarischen Freunde, welcher mich gebeten hatte, ihm meine Beziehungen zu Friedrich Müller, der am Neujahrstag dieses Jahres zu Swinemünde gestorben war, mitzutheilen behufs eines Nekrologes, mit dem er den Dahingeschiedenen zu ehren gedachte. Er hat von meiner ihm gern ertheilten Erlaubniß, sich des Inhalts meines Briefes nach Gutdünken bedienen zu dürfen, den entsprechenden Gebrauch gemacht, und ich habe ihn nur um Entschuldigung zu bitten, wenn ich zum Zwecke dieses für die „Gartenlaube“ bestimmten Aufsatzes das ihm Anvertraute nachträglich doch auch wieder für mich verwerthen muß. Ueberdies enthält seine Darstellung verschiedene Berichtigungen der meinigen, wie ich ihm auch für die Mittheilung mancher Daten aus dem Leben Friedrich Müllers, die mir entfallen oder unbekannt geblieben waren, zu Dank verpflichtet bin; so: daß er 1835 in Luckau als Sohn eines königlichen Forstmeisters geboren wurde, das Gymnasium seiner Vaterstadt besuchte und als Einjähriger bei den Lübbener Jägern seiner Wehrpflicht genügte, bevor er sich dem Seemannsberufe widmete. Weiter: daß unser Kronprinz selbst es gewesen ist, der ihm nach der Schlacht von Wörth das Eiserne Kreuz überreichte; daß ihm für seine bei der Bergung der Mannschaft einer Bark am 5. Dezember 1875 bewiesene Aufopferung die Rettungsmedaille am Bande verliehen wurde; schließlich, daß seine Versetzung von Thiessow nach Swinemünde am 1. Januar 1885 erfolgte, an welchem Orte er denn auch gestorben ist.