Die Gartenlaube (1893)/Heft 17
[277]
Nr. 17. | 1893. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Schwertlilie.
(3. Fortsetzung.)
Durch ein Wort hier und da – über Weg und Steg und dergleichen – zeigte der alle Strieger, daß er gesprächig aufgelegt sei. Da sagte Polyxene nach einer Weile: „Jene Frau in der Hütte hat die Treue gerühmt, die ihr von Euch erwiesen wird. Ist sie Euch denn blutsverwandt? Oder was bindet Euch sonst an sie?“
„Da ist nicht viel zu sagen,“ antwortete der Alte. „Nach Euerer Eltern Tod heirathete die Magdalena einen Teppichwirker aus Flandern und zog fort mit ihm – auch ein Betbruder von der besonderen Art, die den Pfaffen nicht behagt, weil sie selber die Nase in allerhand alte Schriften steckt. Nach Jahr und Tag kam sie als Witwe zurück nach Birkenfeld. Den Mann hatten sie ihr zu Tode gebracht mit Inquirieren nach seinem Glauben oder Nichtglauben. Eine garstige Geschichte; er hatte in einem feuchten Loche gesessen, in das nicht Sonne noch Mond schien, bis sie dahinter kämen, wie es mit seinem Credo bestellt sei; unterdessen ist er am Bluthusten draufgegangen. Ob nun die Magdalena das der Klerisei nachtrug oder was sonst – sie ging nicht zur Beichte und nicht zur Messe, betrieb vielmehr ein wunderliches Spintisieren und Beten und Schriftenlesen in ihren vier Wänden. Nicht lange, so waren die geistlichen Herren auch hier hinter ihr her … seht Euch vor, es ist ein schlechtes Gehen hier … denn die wollen nun einmal nicht, daß einer einen Weg zum Himmel gleichsam nebenher findet, wo sie nicht ihre Schlagbäume stehen haben. Wie dem armen Weibe von ihnen zugesetzt worden ist –“ er blieb mit einem Male stehen und warf den einen Arm mit geballter Faust gegen den Abendhimmel empor, und so unvermittelt kam die heftige Gebärde, daß Polyxene zusammenfuhr. Aber gleich stampfte er auch wieder ruhig weiter, als wäre nichts geschehen. „Sie kam damals auch unter Klausur in das Karmeliterkloster nach Nievenport; von dort hat sie die Gicht mitgebracht, an der sie jetzt lahm liegt.“
„Warum aber verfuhr man so strenge mit ihr?“ sagte Polyxene leise.
„Das mögt Ihr wohl fragen. Sie war ja still genug und sah niemand bei sich als die geistlichen Herren selber. Ja, die kamen. Einer von ihnen hing an ihrer Fährte wie ein übereifriger Hund, der mehr thut, als sein Herr will – es giebt solche Bestien; ich habe auch wohl schon so einen gehabt. Es war der Pater Klausinger; er kam von Philippsburg. Wer ihn dorten kennt“ – hier lachte der alte Waldmensch bösartig – „der weiß, daß er seitdem hinkt. Er kam eines dunklen Abends vor Magdalenens Thür schwer zu Fall über einen Holzklotz, den, wie sie sagten, der Teufel selber dem frommen Manne da zwischen die Beine geworfen habe. Das rechte Bocksbein brach ihm wie ein dürrer Stecken,“ wieder lachte der schlimme Alte in sich hinein, „und seitdem lahmt er. Aber sie ließen doch nicht ab von ihr, wie man denken kann. Und sie, sie blieb unter all dem Quälen, wie sie gewesen war. Nichts that sie
[278] ihnen zu Gefallen. Das könne sie nicht vor ihrem Gewissen, war ihre Rede. Ihr bißchen Habe zerging; ihre alten Schriften, an denen ihr Herz hing und die schon ihrem Manne den Kopf verdreht hatten, die verbrannten sie ihr, und wie gern hätten sie die Frau selber auf den Holzstoß gesetzt, nur daß davon unser Herr Pfalzgraf in seinen Landen nichts wissen wollte.“
„Und verstoßen wurde sie aus der christlichen Gemeinschaft? So sagtet Ihr, als Ihr mir zuerst von ihr sprachet!“ rief Polyxene unter leisem Schauder.
„Ja, das war das Ende vom Liede,“ meinte der Alte, noch ziemlich gleichmüthig. „Seitdem hat sie vor ihnen wenigstens Ruhe gehabt, und das gemeine Volk, das danach wie eine wilde Meute auf sie losgelassen war, wurde es endlich auch müde, mit Steinen nach ihr zu werfen, wenn sie sich je einmal zeigte. Damals war einer, den fuchste es, daß die Klerisei auch an dem armen Weibe ihren Willen haben und sie aus dem Leben sollte hinaushetzeu dürfen, wie sie es mit dem Manne gemacht haben, und der flickte die Hundehütte da oben, des Freiknechts ehemaliges Gelaß, ein wenig zurecht und brachte die Frau an einem dunklen Abend hinauf, sie und das Wenige, das ihr vom Hausrath noch geblieben war. Es borgte ihm ein anderer, von dem er mancherlei wußte, ein Kerl aus Keula, Karren und Gaul dazu. Die große alte Bettstatt ging nicht durch die Thür – sie mußte auseinander, und da kam aus einer verborgenen Lade noch ein Buch zum Vorschein, das hatten die schwarzen Herren nicht gefunden. Mit dem Buche zusammen haust sie nun dort, Sommer und Winter, ich weiß nicht, wie viele, und diesen Winter, der jetzt kommt, wird sie schwerlich mehr erleben. Der, von dem ich gesagt habe, versorgt sie, seit sie sich wenig mehr rühren kann, so gut er vermag ... und es schiert ihn nicht, ob ihm die im Himmel oder die an dem anderen Orte einmal dafür Dank wissen werden ... So, Fräulein, dort drüben harrt Euer Geleitsmann; schlotterbeinig trabt er vor der Kirche hin und her, daran erkenn’ ich den Dietlieb von weitem. Mich braucht Ihr nun nicht mehr.“
Da trat das Fräulein unversehens rasch an ihn, der schon kehrt machen wollte, heran. „Ihr seid es, Strieger, dem die Frau ihr armes Leben dankt. Und gottlos ist sie nicht ... und Ihr, Ihr seid gut ...“ Es war wie eine überwältigende Offenbarung über Polyxenen gekommen, was gegenüber dem gedankenlos aus dem Meßbuch murmelnden oder spitzfindige Predigten anhörenden Kirchenglauben diese werkthätige Menschlichkeit sei.
Strieger lachte nur grimmig. „Das hat mir noch keiner gesagt, so alt ich geworden bin. Sie schlagen ja allenthalben das Kreuz vor dem Strieger; jetzt nun gar, wo er ein alter wüster Waldbär ist – aber früher ist’s auch nicht viel anders gewesen. Da“ – er wies mit dem Kopfe über die Schulter nach der Hütte zu – „die Mutter von ihr, die sollte mich heirathen; wir waren einig, da machten sie ihr Angst vor mir. Ich war ein Schütz, wie es wenige gab, und nun sollte ich mein Glück im Treffen dem Schwarzen verdanken. Als ich merkte, daß sie sich vor mir zu fürchten begann, da wurd’ ich wild.“ Ueher das schrundige Greisengesicht lief es auch jetzt wie der Widerschein einer fressenden Glut. „Sie war ein Ding zum Zerbrechen – ich zerbrach sie beinahe vor Jammer und Wuth, daß sie nichts mehr von mir wissen wollte ... könnt Ihr es ihr verdenken, wenn sie noch rechtzeitig einen andern nahm? Den hätt’ ich über den Haufen geschossen, beim Teufel, ich hätt’ es gethan – wenn es ihnen nicht von Anfang an schlecht gegangen wäre ...“ Er brach plötzlich ab und wandte sich nun wirklich zum Gehen. „Das ist lange her. Ich muß jetzt fort und Ihr erst recht, wenn Ihr vor Nacht in der Herrenmühle sein wollt, wohin Ihr gehört.“
Diesmal hielt Polyxene den Alten nicht noch einmal auf. Sie entfernten sich rasch voneinander, er aufwärts in die öde Schlucht, sie nach dem Dorfe zu, dessen ärmliche kleine Kirche, von einer niedrigen zerfallenden Mauer umfriedigt, von eingesunkenen Grabhügeln umgeben, gerade unter ihr lag. Dort, auf einem kahlen Platze zwischen Kirchenthür und Kirchhofspforte, bewegte sich mit der Regelmäßigkeit eines Uhrpendels eine schwarze Gestalt hin und her. Es war der Pfarrer des Ortes, wandelnd und sein Brevier betend. Polyxene wußte nichts weiter von ihm, kaum daß sie ihn von Angesicht kannte; doch sie wollte, als ihr Pfad sie jetzt außen in seiner Nähe vorbeiführte, ihren Gruß anbringen, in der ihr anerzogenen Ehrfurcht vor dem geistlichen Gewand. Aber es gelang ihr nicht. Er mußte sie bemerkt haben, wenn er nicht taub und blind war. Doch er hob nicht einmal sein großes hartes Gesicht von dem Buche.
Aus dem Schatten der Kirchhofsmauer kam jetzt Dietlieb hastig hervor. Er sah verstört aus, was aber das Fräulein erst beachtete, als sie auch schon die Ursache merkte. Hinter beiden, die jetzt rasch den Heimweg durch das Dorf hinab begannen, sammelten sich Gruppen der Dorfbewohner, Kinder und Weiber. Polyxene hatte auf einzelne drohende Rufe hinter sich bisher gar nicht acht gehabt, erst ein Stein, der dicht an ihr vorbeiflog, machte sie aufmerksam. Nur erstaunt, nichts weiter, und aus ihrem Sinnen über das Erlebte aufgestört, wandte sie sich um. Da sah sie den zerlumpten Haufen und sah freche Gebärden und hörte Hohn- und Schimpfreden. Anstatt aber rascher zu gehen, blieb sie nun stehen, ihrem stolzen Muthe folgend, und wandte das Gesicht ruhig dem ihr unverständlichen Schauspiele zu. „Kommt, kommt,“ raunte da der Diener, näher an sie herantretend, als er sonst wagte. „Sie haben gemerkt, daß Ihr bei der Verfluchten gewesen seid. Trifft Euch jetzt ein Stein, so habt Ihr den Schaden, was auch der Herr Oberst nachher thun mag, um solche dreiste Unbill an ihnen heimzusuchen.“
„Wie, sie wagen es? Und jener Armen wegen, die zum Heiland betete, als ich sie verließ?“ rief Polyxene, glühend vor Unwillen. Und sie machte ein paar Schritte auf den elenden Haufen zu. Da wichen sie zurück; was stand hielt, waren ein paar Weiber. Polyxene betrachtete diese stumpf glotzenden, von Schmutz und Elend zernagten Gesichter, und die Lust verging ihr, die Entfernung zwischen sich und jenen zu verringern. Sie wandte sich langsam wieder um und verfolgte in stolzer Haltung ihren Weg.
Hinter ihr schoß der Haufe noch einmal zusammen; es flogen noch ein paar Steine, aber mit mattem Schwung, mehr zum Schimpf als zum Schaden geworfen. Und Polyxene bezähmte ihre zornige Aufwallung darüber; sie sah ein, daß aus weiterem Zögern in der Nähe des Gesindels nichts Gutes für sie erwachsen konnte. Nur eines wunderte sie flüchtig. Als sie sich zu dem schimpfenden Haufen umgewendet hatte, da hatte sie hart an der niedrigen Kirchhofsmauer den Pfarrer stehen sehen, und jetzt hielt er den breiten Kopf nicht mehr über das Brevier gebückt, sondern schaute steinern auf das wüste Treiben, ohne demselben durch Wort oder Gebärde Einhalt zu thun.
Der fürstlich birkenfeldsche Hof hielt, was seit dem Tode des Pfalzgrafen Karl Christian vor fünf Jahren niemals wieder geschehen war, ein großes Treibjagen ab. Frau Sabine Eleonore hatte für dasselbe die Theilnahme des ganzen Hofstaates und große Gala vorgeschrieben. Man wunderte sich, daß sie, die zu Lebzeiten ihres Gemahls für seinen Lieblingszeitvertreib nie Neigung gespürt hatte, jetzt mit einem Male diesem fürstlichen Vergnügen ihre Gunst zuwandte – oder man wunderte sich vielleicht auch nicht.
Zu Pferde zu steigen, hatte sie sich übrigens auch heute nicht entschließen können. Das „échauffement“ dieser Uebung war ihr verhaßt; Erhitzung verdirbt den Teint, wie jeder weiß, verträgt sich aber im besonderen nicht mit demjenigen, welchem die Toilettenkunst ein wenig nachgeholfen hat. Was sie aber nicht konnte oder nicht wollte, sollten andere auch nicht, nämlich zu Pferde ihre Reize oder ihre Reitkunst zur Schau tragen und von den gleichfalls berittenen Kavalieren sich über beides Schmeicheleien sagen lassen. Und so fehlte denn dem fürstlichen Jagdzuge diesmal der Schmuck der Amazonen, der ihn sonst geziert hatte, was hauptsächlich Frau von Bieberen, die ausgezeichnet zu Pferde saß, bedauerte. Sie machte sich auf ihre Weise Luft, indem sie zu einem der Herren achselzuckend und mit den Blicken nach der fürstlichen Karosse deutend bemerkte: „Ja, wir werden älter, mein Herr von Volz, und finden es auch gerathener, unser Roth und Weiß, das beides so dauerhaft nicht mehr ist wie vor Zeiten, den möglichen Unbilden der Witterung nicht muthwillig preiszugeben,“ worauf er, mit scherzhaft übertriebenem Ausdruck des Entsetzens über so viel Kühnheit, den Finger auf die Lippen legte.
Die fürstliche Karosse, der hervorstechende Mittelpunkt des ganzen Zuges, war ein gewaltig großes Gehäuse, dessen Seiten und Vorderwände fast ganz aus Glasfenstern bestanden. Man hatte diese Fenster für heute zum Theil herausgehoben; allen Zuschauern weithin sichtbar, saß da bolzengerade aufrecht die kleine Hoheit. wie [279] gewöhnlich stets vor sich hinausblickend, auf dem Kopfe einen dreistutzigen Männerhut, der jedoch die breiten Puffen und Locken ihrer umständlichen Frisur bei weitem nicht bedeckte.
Sie so zu sehell, war männiglich gewohnt; wer aber war die so himmelweit von ihr verschiedene Person neben ihr? Etwas wie ein grauer Sack war da an ihrer Seite, einem solchen um so ähnlicher, als es oben faltig spitz zulief. Wo diese Falten sich vorn auseinander thaten, da schaute ein mattgefärbtes blondes Antlitz mit wenig Augenbrauen und Wimpern und einer aufgesetzten Miene äußerster Demuth hervor, das Antlitz der Frau von Méninville. Und wenn irgend etwas den übrigen Hofstaat mit der unerhörten Gunst, welche die Wltwe auch heute wieder genoß, zu versöhnen vermochte, so mußte es sicherlich der frommen Frau christliche Bescheidenheit sein. Ja, unerhört war diese neue Bevorzugung, sie allein im fürstlichen Wagen sitzen zu lassen, in welchem zunächst doch der Platz der Oberathofmeisterin und der älteren Ehrenfräulein gewesen wäre! Diese folgten in der nächsten Karosse; die jüngeren Damen noch mit etwas erregten oder betretenen Mienen, denn kurz vor der Abfahrt erst war unter einem nichtigen Vorwande von der Pfalzgräfin das Unterbringen dieser Damen im zweiten Wagen verfügt worden. Sie selbst hatte sich dabei offenbar ein wenig gefürchtet vor der Obersthofmeisterin und hatte stotternd und unsicherer gesprochen als sonst, so daß Frau von Kallenfels geradezu im Vortheil gegen die Pfalzgräfliche Hoheit gewesen war. Denn ihr kaltes abfälliges Befremden über eine solche Neuerung offen zur Schau zu tragen, daran hätte kein Respekt in der Welt diese Dame verhindern können. Sie that es und sie that sogar noch mehr. „Meine Pflicht gebietet mir, Euere Hoheit darauf aufmerksam zu machen,“ sagte sie eintönig und durch die Nase redend wie gewöhnlich, „daß Frau von Méninville durch ihren Rang von dem Vorzuge, sich neben Pfalzgräflicher Hoheit öffentlich zu zeigen, nach allem Gebrauch und Herkommen ausgeschlossen ist.“ Darauf hatte die Pfalzgräfin etwas gestottert wie: man müsse sehen, wie dem abzuhelfen sei, und sich eiligst herumgedreht. Bei der Verbannung der Obersthofmeisterin mit ihren Damen in die zweite Karosse war es aber geblieben.
Daß die Méninville, die vorher sehr wohl gewußt hatte, welche Rolle ihr heute zugedacht war, trotzdem in ihrer abscheulichen witwenhaften Kleidung geblieben, war ein Zug ihrer Klugheit. Sie hatte kein Recht, zu erwarten, daß sie an einem Jagdzug theilnehmen werde, bewahre! Und himmelweit entfernt von ihr war die Anmaßung, sich je in der weltlichen Hoftracht zeigen zu wollen! Es gehörte übrigens wirklich Selbstverleugnung für eine Frau dazu, sich so zu entstellen, wie sie es that – durch die Beguinenhaube, welche ihr helles feines Haar verbarg, und vor allem durch den grauen nonnenschleierartigen Sack, der, vom Scheitel faltig herabfallend, aus ihrer ganzen Gestalt ein unförmiges Bündel machte. Ja, sie sah abscheulich aus und wußte es, aber sie wußte auch noch etwas anderes. Sie wußte, daß jemand, der nicht umhin gekonnt hatte, aufmerksam auf ihr kluges Verständniß zu werden, zwischen durch wohl auch gedacht hatte: „Ich möchte sie wirklich einmal ohne diese verwünschte Vermummung sehen. Sie scheint nicht übel gewachsen. Ihr Haar, von dem sich zuweilen ein Löckchen unter der abscheulichen Haube hervorstiehlt, dies röthliche Blond ist durchaus nicht häßlich! Und parbleu, nicht häßlich ist auch die schmale Hand, mit welcher sie diese rothe Locke so außerordentlich sorgfältig wieder unter die Haube streicht!“ Ja, ja, die fromme Witwe verstand sich auf das sündige Geschlecht der Männer, sie sah auch, wo sie gar nichts zu sehen schien, und hatte alle diese Dinge in kurzen Aufblicken, flüchtig wie Blitze, aus des Herrn von Nievern heitern und meist ein wenig spöttisch auf sie schauenden Augen gelesen.
Als Oberjägermeister hielt sich Herr von Nievern, vorzüglich beritten, heute fast unausgesetzt am Wagenschlage der Frau Pfalzgräfin. Er ritt so nahe, daß er einmal, den Dreispitz vom Kopfe reißend und diesen hübschen Kopf tief neigend, um Entschuldigung zu bitten hätte, weil eine Schaumflocke von der Stange seines Rappen in den Wagen geflogen war, als das edle Thier ungeduldig den Kopf zurückwarf. Der Fürstin Sabine Eleonore gefiel dies sehr gut; sie nahm den Diensteifer des stattlichen Kavaliers hin als etwas, was sowohl ihrem Stande wie ihrer Person galt und gar nicht anders sein könne.
Wagen und Pferde, Reiter, Treiber, Piqueurs und die Meuten, das alles zog dahin auf breitem Wege, der durch
mageres Weideland zu dem bewaldeten Gelände führte, auf welchem das Treiben stattfinden sollte. Weithin schallte das helle Getöse, Gerassel, Getrappel, Hörnersignale und Rufe, Peitschenknall und das vieltönige Gebell der Rüden.
Zum Sammelplatz war eine große Waldblöße bestimmt. Hier befand sich am Rande des Gehölzes ein vorn offenes Blockhaus; anstatt der Vorderwand besaß dasselbe nur eine Art Geländer mit Vorrichtungen zum Stützen der Gewehre; von hier aus hatte der hochselige Pfalzgraf Karl Christian mit den Damen des Hofes auf das vorbeigetriebene Wild zu schießen gepflegt. Der Holzbau war sauber imstande; Nievern war am Tage zuvor hinausgeritten und hatte sich persönlich davon überzeugt – stand doch die ganze heutige Hofjagd unter seinem Zeichen! Wie hatten die Damen sich bedeutungsvoll angesehen und sich leise zugenickt, als zuerst vom Entschlusse der Pfalzgräfin, den lange vernachlässigten Zeitvertreib wieder zu begünstigen, etwas laut geworden war!
Sauber also, aber etwas urwüchsig nach Jägerbrauch war die aus Holz mit der Borke gezimmerte Halle. Ob die Pfalzgräfin etwas anderes erwartet hatte? Einen Schmuck von Teppichen oder Behängen? Ueber dem Giebel wehte ein Wimpel mit dem pfalzgräflich-birkenfeldschen Wappen; das war alles. Ihr Fuß hätte, wie jeder andere gemeine auch, die roh gehobelten Bretter der Stufen und des Fußbodens betreten müssen. Sie betrachtete vom Wagen aus abgünstig den fürstlichen Schießstand und befahl dann mit einem Male, man solle etwas weiter fahren und die Karosse längs des Waldrandes halten lassen; sie werde vom Wagenfenster aus schießen.
„Vom Wagen aus? Und die Pferde?“ Es sei zu befürchten, daß die Pferde ihrer Hoheit scheu würden, gab der Oberjägermeister zu bedenken.
„Die Pferde muß man halten; man stelle einen Mann neben jedes Pferd,“ verfügte die Dame. „Es muß gehen; Ihr bringt mich nicht dazu, jene Kirchweihbude zu besteigen; wir sind solcher Mühseligkeit nicht mehr gewöhnt.“
Herr von Nievern traf nunmehr ohne ein weiteres Wort über die Sache neue Anordnungen; er sah aber aus, als ob er denke: hole der Teufel die Weiberlaunen! Noch einmal mußte die Hoheit befragt werden: die Damen des Hofstaates? Sollten die auch von den am Waldrand aufgepflanzten Karossen aus schießen, oder war es ihnen gestattet, den verschmähten Stand zu benutzen? Sabine Eleonore zögerte, endllch aber fand sie einen Ausweg. Denn so sehr ihr auch die Arbeit des Denkens im allgemeinen zuwider war, um ihren Eigenwillen durchzusetzen, fehlte es ihr keineswegs ganz an Erfindung. „Man lasse den Wimpel herab,“ befahl sie. „Ehe er herunter ist, soll niemand von ihnen die Halle betreten. Nachher mögen sie sich dort aufstellen.“ Und so geschah es. Der umfangreiche Prachtwagen mit den zwei Paaren langgespannter Schimmel war inzwischen längs des Waldrandes, mit der Seitenwand nach dem offenen Platze zu, aufgefahren worden. Und in demselben stehend, konnte die Fürstin allerdings die Fläche, über welche das zusammengetriebene Wild seinen Weg nehmen würde, ebensogut beherrschen wie von dem Blockhause aus. Die Büchsenspanner, welche ihr die leichten Gewehre luden und reichten, waren zur Stelle; dicht am Schlage stand zudem der Oberjägermeister, um gleichsam die Honneurs der Hirsche und des kleinen Wildes zu machen, welches die Ehre haben würde, heute der Pfalzgräflichen Hoheit als Zielscheibe zu dienen, Trotz dieses seines bevorzugten Postens sah aber der stattliche Kavalier ein wenig verdrießlich aus. Zu keiner Zeit war er bisher ganz in diesem Hofleben, welches er führte, aufgegangen. Er nahm dasselbe leicht ironisch, bis auf die Jägerei und was darin seines Amtes war. Das versah er tüchtig, den persönlichen Dienst bei Frau Sabine Eleonore aber immer mit einer kleinen Beimischung von heimlichem Uebermuth, als ob er im Grunde damit spiele. Heute nun war ihm der stete Anspruch an sein Gewärtigsein lästig; die Langeweile neben der Pfalzgräfin wäre ohne die Méninville gar nicht zu ertragen gewesen, und zu dem allen hatte ihn die Laune der Hoheit eben aufs äußerste verdrossen. Und er legte dem Ausdruck seiner Mienen keinen großen Zwang auf, denn eine Leserin in den Gesichtern ihrer Umgebung war Sabine Eleonore nicht; und selbst wenn es anders gewesen wäre: was war ihm Birkenfeld, was war ihm der pfalzgräfliche Hof? – Ein Edelmann mit seinen persönlichen Vorzügen konnte
[280][281] WS: Das Bild wurde auf der vorherigen Seite zusammengesetzt. [282] der schmeichelhaftesten Aufnahme in der Sphäre viel größerer fürstlicher Gestirne sicher sein.
Zwei andere Augen als die der Pfalzgräfin waren es, welche dem Oberjägermeister das alles vom Gesicht ablasen. Und Frau von Méninville, denn von dieser trefflichen Dame ist die Rede, hielt für die ihr sehr deutliche üble Laune des Kavaliers ein Mittel bereit, wenn seine hübschen Augen sich nur einmal wieder ihr zuwenden würden. Das war nicht ganz leicht, jetzt wo die Pfalzgräfin breit vor ihr stand. Als es aber endlich doch einmal wieder geschehen war, da blickte er auch gleich noch einmal hin, betroffen, wie von einem Räthsel gereizt. Es war, als habe dies kluge Weib mit einem Male einen Schleier fallen lassen, mit dem sie sogar vor ihm bisher beharrlich ihr wahres Antlitz verhüllt hatte – so unverhohlen brach herausfordernder Spott, über die Fürstin, über ihn, über ihrer beider lächerliche Abhängigkeit von der Puppe da, auf ihrem Gesicht hervor. Er gab ihr den Blick voll zurück, und nun war etwas wie eine magnetische Verbindung zwischen ihnen hergestellt. Sie thaten nicht mehr und nicht weniger, als daß sie sich fortan über die kleine Pfalzgräfliche Hoheit, die zwischen ihnen stand, lustig machten. Aber vorsichtig erfolgten diese Mittheilungen, lediglich von Blick zu Blick. Dem Himmel sei Dank – das war doch eine Unterhaltung für den jungen Oberjägermeister, neben der sehr mäßigen, welche die Treibjagd am heutigen Tage abwarf!
Das Treiben hatte begonnen und verlief planmäßig. An Wild war kein Mangel, und das Erlegen desselben wäre so ziemlich aller Aufregung für die bequem aufgestellte Jagdgesellschaft bar gewesen, wenn die Pfalzgräfin nicht so schlecht geschossen hätte. Dadurch aber, daß sie selten traf und dann meist etwas anderes als das, worauf sie mit lauer Absicht gezielt hatte, kam etwas Leben in die Sache. Denn ihren Fehlschüssen mußten auf geschickte Weise bessere Treffer untergeschoben werden, zu welchem Ende einer von der Jägerei hinter der Karosse, also seitwärts von der Fürstin, seinen Stand hatte. Dieser, ein nie fehlender Schütz, brachte zur Strecke, was Serenissima erlegt haben sollte. Man wies ihr dann ihren angeblichen Schuß vor; das durch denselben geehrte verendete Stück Wild wurde bezeichnet und mit Laub geschmückt, und sie war überzeugt von ihrer Kunst, mit einer Einfalt, welche die zu ihrer Täuschung verschworene Gesellschaft eigentlich hätte beschämen müssen. Diese kleine Komödie, die der ganze Hof mitspielte, gewährte den Herren und Damen immerhin einige Unterhaltung.
Endlich nahte die Jagd ihrem Schlusse, was niemand besser wußte als Herr von Nievern und seine Leute von der fürstlichen Jägerei, da sie den Wildbestand der umliegenden pfalzgräflichen Forsten genau kannten. Da erscholl noch einmal das Hallo der Treiber; Herr von Nievern blickte gespannt hinüber nach dem Waldrande, von wo das Geschrei angehoben hatte und sich nun fortpflanzte, und zwar mit frischer Kraft, als ob etwas ganz besonderes den Kerlen da drüben die Lungen schwellte. Den Teufel auch, was war das? Was brach da aus dem Holze hervor, so daß man das Krachen durch das übrige Getöse hindurch bis hierher hörte? Ein Kapitalhirsch, ein Sechzehnender mindestens, und ein Thier von ungewöhnlicher Größe und Schönheit, aber – offenbar angeschossen, denn er schweißte stark, was dem Herrn von Nievern sein scharfes Jägerauge aus der Entfernung verrieth.
Der Oberjägermeister fuhr herum zu dem Jäger, der ihm zunächst war. „Was ist das, Tobel – wo hat der Hirsch gestanden?“ fragte er hastig. „Kennt Ihr ihn? Oder –“
Der Mann, vorsichtig jedes Wort vermeidend, nickte nur. Es ist, wie Ihr annehmt, hieß das; der Prachtkerl hat aus der angrenzenden Wildbahn herübergewechselt und geht uns nichts an. Frage und Antwort nahmen nur wenige Sekunden ein. Jetzt waren wieder aller Augen auf das edle Thier gerichtet; die ganze Hofgesellschaft hatte sich neu belebt; Spannung lag auf allen Mienen, den meisten klopfte das Herz dem Augenblick entgegen, da das herrliche Geschöpf, der Gekrönte der Wälder, zusammenbrechen würde.
Auf dem Stande der Kavaliere und Damen hob sich trotzdem kein Büchsenlauf; man wußte ja, wem hier, wo es sich offenbar um die Hauptbeute des heutigen Tages handelte, der Schuß zukam. Serenissima gab denn auch den ihrigen ab, der ein seltsames unmittelbares Echo zu haben schien, denn es klang gerade, als wenn zwei Schüsse hart nacheinander fielen. Der Hirsch hob sich hoch auf den Hinterläufen, warf den Kopf mit dem Prachtgeweih zurück und stürzte zusammen. Er war aufs Blatt getroffen, aber nicht von der kleinen Hoheit, und verendete alsbald. Nachdem sie ihre Büchse abgegeben hatte, geruhte die Pfalzgräfin sich zu Frau von Méninville herumzuwenden, um von dieser Glückwünsche zu ihrem vortrefflichen Schusse entgegenzunehmen. Die Dame ließ es daran nicht fehlen. „Wie Hoheit in allem excellieren,“ rief sie mit Begeisterung, „das reißt mich zu immer neuem Anstaunen hin!“
„Nun, das Schießen ist so schwer nicht,“ sagte Frau Sabine Eleonore mit selbstgefälliger Herablassung. „Sie würden es zwar wohl nicht fertig bringen, liebe Méninville. Bei uns aber liegt dergleichen im Blute, ohne daß man sich allzu große Mühe zu geben braucht.“ Und von Herrn von Nievern gestützt, verließ sie nun endlich den Wagen und begab sich in Begleitung ihres ganzen Hofstaates an den Platz, wo die Jagdbeute zusammengetragen war und wo jetzt das Halali geblasen wurde. Die langen Reihen der Hasen wurden wenig beachtet. Aber auch an Hochwild hatte eine ganz stattliche Anzahl diesem Tage den schuldigen Tribut des Lebens gebracht. Die Köpfchen mit der blanken Nase und den jetzt klebrigen erloschenen Augen mit Laub und Fichtenreisern bekränzt, lag da ein Vierteldutzend Stück Rehwild und vor allem der majestätische Sechzehnder, durch jene Zierde als Beute der hochfürstlichen Hand ausgesondert und bezeichnet! Sabine Eleonore stand davor, steif und mit leerem Gesicht, und sah das angeblich von ihr erlegte Wild an, etwa als wären es ebensoviel Nüsse, die sie geknackt hätte – mit leichtem Fingerdruck; mehr war ja auch hier nicht nöthig gewesen – und wer den nicht eben verschlungenen Gängen ihrer innersten Gedanken zu folgen vermocht hätte, der würde wahrgenommen haben, daß sie das erlegte Gethier als wirklich und wahrhaftig durch ihre Hand geehrt und deshalb auch schon wieder, als etwas Besseres denn die übrige Beute, mit einer Art Respekt betrachtete.
Was nur Herr von Nievern an dem noch zuguterletzt geschossenen Hirsch so besonderes hatte? Eben stand er wieder davor, diesmal mit einem ältlichen Förster, und die beiden tauschten, viel unbekümmerter um hochfürstliche Gegenwart, als es sich ziemte, halblaute Worte über das Thier aus, das von den Treibern auf eine Bahre von frischgrünem Tannicht wie auf ein Paradebett gelegt worden war. Eben strich die derbe Hand des Försters wie suchend an seiner gewölbten Flanke entlang und zog sich dann rasch zurück, nachdem sie, auf eine Sekunde nur, eine Stelle freigelegt hatte, wo das Haar des Thieres, voll röthlichem „Schweiß“ leicht gefärbt, zusammenklebte. Jetzt ruhte auch die hübsche vornehm kräftige Hand des Oberjägermeisters auf jener Stelle; die Männer bückten sich tief nieder über das Wild und tauschten ein paar leise Worte. Mit einem Male fuhren sie in die Höhe; noch eine andere Hand hatte sich auf die Flanke des Hirsches gelegt, eine Hand in vertragenem Wildlederhandschuh, die, obwohl nicht gerade klein an sich, doch viel kleiner als die Männerhand des Oberjägermeisters war. Die Männer starrten empor; da stand sie, ihnen gegenüber auf der anderen Seite des Hirsches, die Eigenthümerin der Hand. Herr von Nievern riß den Hut herunter, als wäre es die Pfalzgräfin, und es war doch nur ein junges schlankes Geschöpf in einen verschossenen Jagdrock, welches jetzt, ihm leise zunickend, sagte: „Ganz recht, da sitzt er – mein Schuß, Herr von Nievern.“
Und das alles in hochfürstlicher Gegenwart! Aber der kleine Vorgang hatte sich so rasch abgespielt, daß ihn wenige gewahrten; zudem war hier auf der Jagd die Etikette nicht so streng. Fräulein Polyxene von Leyen, die keine Einladnug zur Hofjagd erhalten hatte – was nicht unbemerkt geblieben war – und der man deswegen ihre wenig hoffähige Kleidung zugute halten mußte, mochte mit ihrem jungen Vetter auf einem Pirschgang auf eigene Hand begriffen gewesen sein, der sie zufällig in die Nähe dieses Platzes geführt hatte; die beiden Verwandten traten jetzt vor, um die Pfalzgräfin in schuldiger Ehrfurcht zu begrüßen. Sie thaten dies mit vollständiger Korrektheit, als junge Leute, welche in der Luft des Hofes herangewachsen waren. Lutz, der hübsche Bursch, war allerliebst anzusehen, als er, den Hut zur Seite haltend, mit gesetzter Miene sich tief vor der steifen Puppe verneigte. Die Fürstin wurde auch unwillkürlich ein wenig freundlich dabei; mit abgünstiger Kälte aber nahm sie den respektvollen Gruß des jungen Fräuleins entgegen.
Polyxene merkte davon nichts. Sie war mit dem beschäftigt, was sie hier zu sagen hatte, für sich und für Lutz, oder eigentlich nur für letzteren. Ganz angenehm war die Sache nicht, aber in ihrer arglosen Weise fürchtete sie sich auch nicht davor; sie gedachte [283] jetzt, ihre Zeit abzuwarten. Wenn nur Herr von Nievern nicht gewesen wäre! Er mußte doch eine Art Gegner von ihr sein, sonst hätte er ihr wohl ein wenig geholfen, ihr und dem Vetter die Sache erleichtert. Denn er und der alte Förster da, revierkundig wie sie waren, wußten gut genug, um was es sich handelte. Statt sich aber einzumischen, stand wenigstens der Oberjägermeister stockstill da, einen eigenen Zug gespannter Erwartung auf dem Gesicht, und verwandte während der nun folgenden Scene keinen Blick von ihr, als seien diese Leyens nur gerade gut genug, um ihm zum Schauspiel zu dienen, wie Polyxene jetzt bald bitterlich zürnend dachte.
Frau von Méninville hatte der Pfalzgräfin mit einem kleinen Lächeln etwas zugeflüstert, worauf die fürstliche Dame, dem ganzen Hofstaat vernehmlich, sagte: „Haben Sie uns durch Ihr Erscheinen eine Lektion geben wollen, Fräulein von Leyen, dafür, daß wir Sie zur Jagd nicht hatten laden lassen? Lieber Himmel, Sie sind einmal vergessen worden. Dergleichen kann vorkommen.“
Alles spitzte die Ohren. Eine so wegwerfende Sprache – das klang nach unverhohlener Ungnade! Fräulein Polyxene selber war offenbar mehr verwundert darüber als niedergeschmettert. Sie stand ruhig der Fürstin gegenüber – der Hirsch lag zwischen ihnen – und sagte: „Verzeihen Pfalzgräfliche Hoheit, wenn ich ungebeten vor dero Angesicht trete. Es geschieht ganz zufällig ... wir hatten kein Arg daran, Ludwig und ich, daß wir diesem Platze so nahe waren.“ Und da die Fürstin hierauf kalten Antlitzes schwieg und mit ihr natürlich die ganze große Versammlung, so fuhr das Fräulein, auf das aller Augen gerichtet waren, wie bittend und entschuldigend fort: „Der Jagdeifer ist schuld daran: wir folgten einem angeschossenen Hirsche ...“
„Das heißt, Ihr pirschtet in unserem Gehege,“ rief da die kleine Pfalzgräfin höhnisch. Der ganze Hof stand erstarrt; es war unerhört, die Dame so zornig aus sich herafusgehen zu sehen. „Seht Euch in Zukunft besser vor, ich bitte! Man hat uns berichtet, daß unser Wildstand durch Euere unwillkommene Nachbarschaft geschädigt wird!“
Jetzt stand auch Polyxene starr vor Staunen und Scham. Redete denn niemand für sie und widerlegte diese thörichte Unwahrheit? Wirklich niemand? Nein. Einer wollte reden, augenscheinlich, das war aber nur der junge Lutz. Der Knabe hatte sich an seine schwesterliche Verwandte herangedrängt und seine Hand in die ihrige geschoben und der Druck seiner Finger sagte: sprich doch, oder ich spreche! Mit sprühenden Blauaugen sah er zu der mit einem Male so bösartigen fürstlichen Figur hinüber. Aber noch hielt ihn Polyxenens Gebärde, die er wohl verstand, gebieterisch zurück. Das Fräulein hatte indessen mit einer Besonnenheit, die jeder Unparteiische im stillen an dem jungen Geschöpf bewunderte, die Antwort unterdrückt, die ihr zuerst auf die Lippen wollte. Aber was nun kam, war auch nicht viel besser. „Verzeihung, gnädigste Frau,“ sagte sie gehalten, „ich glaube, die fürstliche Wildbahn könnte schlimmere Nachbarn haben als die Leyens.“
„So?“ meinte die Pfalzgräfin feindlich. Sie war aus dem Konzept gebracht, aber in ihrer Gewohnheit, so unvernünftig sein zu dürfen, wie es ihr beliebte, kümmerte sie sich nie viel darum, wenn sie den Faden irgend eines Gedankens verlor. So fragte sie mit einem Male, mit einem mißtrauischen Blicke: „Wo ist denn der Hirsch geblieben, den Ihr angeschossen haben wollt?“
Ein sekundenlanges Zögern, ein Warten Polyxenens vielleicht auf die Einmischung des Rechts- und Billigkeitsgefühls von befugter Seite her, und dann, da wieder niemand anders sprach, ihre Stimme: „Hier!“
Es gab eine unwillkürliche allgemeine Bewegung in der Hofgesellschaft, als das Fräulein die Hand, wie vorhin schon einmal, auf den als fürstliche Ehrenbeute so ausdrücklich bekränzten Sechzehnender legte. Jetzt verstand die Méninville mit einem Male das sonderbare Behaben des Oberjägermeisters vorhin, als der Hirsch gefallen war. Scharfsinnig, wie sie war, begriff sie, daß er und der Förster gleich gemerkt hatten, welche Bewandtniß es mit dem Thiere habe. Sehr viel aber fehlte daran, daß auch Frau Sabine Eleonore den Sachverhalt begriffen hätte oder nur hätte begreifen wollen. „Erklärt mir, Herr von Nievern,“ begann sie und drehte den Kopf steif wie auf einem hölzernen Zapfen zu dem Oberjägermeister. „Was bedeutet diese ganze Komödie, die das Fräulein von Leyen da aufzuführen beliebt?“
Jetzt mußte sich Herr von Nievern aus seiner so lange beibehaltenen beobachtenden Stellung der Scene gegenüber herausbegeben; er trat aber nur einen Schritt vor und machte mit ehrerbietiger Bewegung die Herrin darauf aufmerksam, daß ein anderer an seiner Statt zu reden wünsche – der junge Ludwig von Leyen. Die Verwandten mochten sich durch einige rasche Worte indessen verständigt haben. Der Knabe verließ Polyxenens Seite, näherte sich der fürstlichen Dome und bat, sie treuherzig ansehend, die Frau Pfalzgräfin möge den Hirsch, der heute erst aus Leyenschem Gehege ausgebrochen und in die Treiberlinie gerathen sei, allergnädigst zum Geschenk annehmen.
Der hübsche Junge war roth geworden, während er sprach, und das stand ihm gut. Jedermann fühlte, daß es eine vornehme Anmuth in der Denkweise war, welche den jungen Verwandten gerade diesen Ausweg wies. Nievern strich halb lächelnd sein Bärtchen und nickte beifällig. Auch die kleine Hoheit sah nicht ohne Wohlgefallen auf den Knaben, der in wenigen Jahren ein schöner Jüngling sein würde. Da veranlaßte sie eine leise Bewegung hinter ihr, sich zu ihrem getreuen Schatten, der Frau von Méninville, umzudrehen „Ein recht artiger Einfall, wie?“ sagte sie zu dieser.
„Klug zum Verwundern,“ gab die Méninville halblaut zurück und fügte dann einige noch leisere Worte hinzu. „Ha, das wäre!“ sagte die Pfalzgräfin. Und nun, das Kinn des leeren Gesichts wieder hochmüthig emporreckend wie vorher, sprach sie, dem Knaben zur Antwort, dabei aber feindselig nach dem Fräulein hinüberblickend: „Ehe man ein Geschenk annimmt, mein lieber Junker von Leyen, muß man erst wissen, ob es ein Geschenk ist! Wir wären närrisch, wenn wir uns beschenken ließen mit dem, was eigentlich unser war.“
Auf Lutzens offenem Knabengesicht war noch kaum ein Verständniß der schmählichen Unterstellung zu lesen, da war schon Polyxene neben ihm. „Komm, lieber Vetter,“ sagte sie, seine Hand fassend, mit leicht bebender Stimme, „es ziemt sich nicht für uns, länger zu bleiben an einem Orte, wo man uns beschimpft – Dich beschimpft, mein armer Junge.“ Die Thränen waren ihr nahe; sie wendete sich ab, den Knaben, der kaum wußte, wie ihm geschah, sanft mit sich ziehend. Von ihrer Umgebung sah und hörte sie nichts; alles schwamm ihr ineinander in der bittern Pein dieser Demüthigung, die so unvermuthet und unbegreiflich sie überfiel. Wie in einem Traume klang ihr daher die kräftige, tief gefärbte Stimme neben ihr, die sie jetzt aufhielt: „So sollt Ihr nicht gehen, Fräulein – hört erst, was noch jemand zu sagen hat.“
Herr von Nievern war es. Er faßte sogar leicht ihre Hand, indem er sie nöthigte, sich noch einmal dem großen, vor ihren brennenden Augen nur undeutlichen Halbkreise zuzuwenden, den die Pfalzgräfin und ihr Hofstaat bildete.
Der Frau Sabine Eleonore war es in diesem Augenblicke nicht wohl zu Muthe. Ihr unsicherer Blick wich ihres Oberjägermeisters männlichem Antlitz aus, auf welchem jetzt ein leicht spöttischer Zug sichtbar wurde, den sie wohl kannte und vor dem sie sich geradezu fürchtete. „Gestatten mir Pfalzgräfliche Hoheit, zu versichern, daß der Junker sich nicht irrt, wie Hoheit anzunehmen scheinen,“ sagte er „Der Hirsch gehört in das Leyensche Revier: Förster Brandt hier kennt ihn. Es wären also diesmal nicht Pfalzgräfliche Gnaden, sondern Pfalzgräflicher Gnaden Waldnachbarn der geschädigte Theil gewesen, wenn nicht der Junker, von dem wir in diesem Falle alle etwas lernen können“ – und mit gewinnender Freundlichkeit neigte der statttiche Mann das Haupt gegen den Knaben – „aus seinem Nachtheil den Vortheil gezogen hätte, Eurer Hoheit eine Huldigung zu Füßen zu legen. Ich hätte gewünscht, sein guter Wille wäre ihm besser gelohnt worden.“
Es schien, als wollte nach diesen starken Worten die höchst ungnädige fürstliche Laune sich gegen den Oberjägermeister kehren. Die kleine Dame sah auch ihn böse an – was aber nur versteckte Furcht vor ihm war – und sagte, mit einer besonderen Logik: „Wenn Ihr uns jetzt auch schulmeistern wollt, Herr von Nievern, so möcht’ ich wissen, warum Ihr vorhin geschwiegen habt. Es wäre Eures Amtes gewesen, gleich zu melden, daß der Hirsch nicht aus unserer Wildbahn war!“
Herr von Nievern neigte nur stumm das Haupt, nachdem sie gesprochen hatte, hob dann aber seinerseits noch einmal an: „Gewiß werden Pfalzgräfliche Hoheit, nachdem das Uebersehen von dero Dienern nunmehr nachgeholt worden ist, gerne Ihrem [284] Herzen folgen und den Junker durch huldvolle Annahme des Wildes erfreuen, welches er zu verschenken das beste Recht hatte.“
Die eigensinnige kleine Dame zögerte sekundenlang, dann aber beugte sich ihr unsicherer Wille unter den kräftigern des Mannes. „Wenn es sich so verhält, wie der Oberjägermeister sagt,“ wendete sie sich wieder zu Lutz, „dann nehmen wir den Hirsch von Euch zum Geschenk an, Junker von Leyen, und bleiben Euch dafür in Gnaden gewogen.“
„Ich danke der Frau Pfalzgräfin,“ sagte des Knaben helle Stimme, und die Dame betrachtete ihn noch einmal nicht ohne Wohlgefallen. „Kein Wunder, daß der Junker Lutz einen Fürsprecher an dem Herrn von Nievern findet,“ meinte sie alsdann, zur Méninville gewendet, „es ist ein feines junges Blut, dem man nicht lange gram sein kann.“
Was Frau von Méninville hierüber dachte, behielt sie für sich; ihre Gefühle in betreff des Junkers eigneten sich zur Mittheilung nicht. Er hatte sie eine Vogelscheuche genannt und über sie gelacht – dergleichen vergaß Frau von Méninville nicht. Sie haßte den Knaben dafür mit ihrem gesunden nachhaltigen Hasse; gesund, insofern der Haß bei ihr eine schier unzerstörbare Lebensdauer hatte. „Ein vielversprechendes Kind; es wird dem Hofe Euerer Gnaden dermaleinst zur Zierde gereichen,“ bemerkte sie, der Fürstin anscheinend beipflichtend. „Möge er sich alsdann die Kavaliertugenden des Herrn von Nievern zum Muster nehmen, nicht aber den Eifer, welchen der Herr Oberjägermeister für Damen zeigt, denen die Sonne Euerer Huld zeitweilig durch Gewölk verborgen ist.“
Frau Sabine Eleonore war schon gewohnt, von ihrer Vertrauten gesprächsweise allerlei Aufschlüsse zu erhalten, die ihrem hochmüthig langsamen Begriffsvermögen durch eigene Anschauung so leicht nicht geworden wären. Sie folgte jetzt der Richtung, welche die Blicke der frommen Witwe genommen hatten. Da sah sie den Oberjägermeister vor dem Fräulein von Leyen stehen, den Hut in der herabhängenden Hand, nicht viel anders, als er eben noch vor ihr gestanden hatte. Es war, als suchte er etwas wie eine Rechtfertigung bei dem Mädchen. Und sie, schlank in ihrem schmucklosen Jagdkleide, schien ihn noch nicht einmal günstig anzuhören! Es lag etwas in dem Anblick, ins rechte Licht gerückt, wie er es war durch die Worte der Méninville, was Sabine Eleonore um alle fürstliche Fassung brachte. „Fragt doch das Fräulein, mein Herr Oberjägermeister,“ rief sie schrill hinüber, „wie lange sie noch in unserer Gegenwart zu verweilen gedenkt, trotzdem wir ihrer werthen Person für heute nicht begehrt hatten!“
Mit einer Art von ungläubigem Entsetzen, als könne sie nicht
recht gehört haben, starrte Polyxene groß zu der Pfalzgräfin
hinüber. Was konnte sie nur verbrochen, womit diese beispiellose
Feindseligkeit der Fürstin auf sich gezogen haben? Sie stand
hilflos, regungslos, wie am Pranger. Da bot sich ihr ein Arm,
und wie im Dunkeln tastend legte sie den ihrigen hinein. Sie
wäre jedem gefolgt, der ihr jetzt diese Stütze angetragen hätte;
sie wußte anfangs kaum oder hatte nicht acht darauf, wem sie
dieselbe dankte. Als sie dann nach einigen Schritten merkte,
daß es der Herr von Nievern war, wunderte oder berührte sie
das weiter nicht. Und doch war, was er that, hier ein fast
Ungeheuerliches. Er verrichtete diese Handlung des Protestes gegen
fürstliche Weiberlaunen aber auf die einfachste Weise. Artig und
ritterlich geleitete er das Fräulein von dem Platze fort, einem
dem Hochwald vorgelagerten kleinen Gehölze zu, von dem aus sie
jedenfalls vorhin den pfalzgräflichen Jagdstand erreicht hatte. Lutz
folgte ihnen. Daß die Augen des ganzen Hofes auf sie gerichtet
waren, schien den Oberjägermeister nicht im geringsten zu kümmern.
Von seitwärts herab streifte sein scharfer Blick Polyxenens erblaßtes
Gesicht. Das Fräulein heuchelte keine trotzende Gleichgültigkeit;
sie sah verstört aus, aber ihre bebenden Lippen schwiegen und
hatten einen Zug stolzer Geduld angenommen. Und halblaut,
obwohl jetzt niemand in der Nähe war, der hören konnte –
niemand außer Lutz – sprach Nievern: „Ihr müßt mir gestatten,
Euch zu geleiten, Fräulein, um Euch zu beweisen, daß nicht allen
am Hofe der Frau Pfalzgräfin, durch den Stich der heißen Sonne
oder was weiß ich, heute der Kopf verrückt ist.“
„Ihr handelt wie ein Edelmann, Herr von Nievern,“ sagte Polyxene mit bebendem Munde, „obwohl Ihr unser Freund nicht seid.“
„Nicht?“ fragte er nur und sah wieder von der Seite auf sie nieder. Sie antwortete nicht, hatte vielleicht gar nicht auf das Wort gehört. Bald darauf blieb sie stehen, neben einem mit Brombeergerank umsponnenen uralten Markstein, von dem aus eine schmale Pfadspur auf der Waldwiese in das nahe Gehölz führte. „Hier fängt Leyensches Gebiet an,“ sagte sie einfach; das sollte heißen: hier brauche ich keinen Schutz mehr.
Auch er schien so zu denken. Er gab ihren Arm frei, verneigte sich tief vor ihr, grüßte auch den jungen Ludwig freundlich und sagte: „Nehmt Euch, werthes Fräulein und lieber Junker, die heute erfahrene Kränkung nicht allzu tief zu Herzen. Mich dünkt, ich sah heute schon, wie alle ehrlichen Gemüther am Hofe auf Euerer Seite waren. Die Frau Pfalzgräfin wird sich wieder anders besinnen, und dann soll sie Euch, dafür stehe ich, volle Genugthuung leisten.“
Polyxene hatte dem freundlichen Zuspruch, wie es schien, nicht ungern gelauscht. Bei den allerletzten Worten aber und dem Geständniß seines Einflusses auf die Fürstin, das Herr von Nievern damit ablegte, richtete sie sich mit kalter Miene wieder höher auf und trat von ihm fort. Ehe sie entgegnen konnte, rief Lutz: „Das sag’ ich Euch schon jetzt, Herr von Nievern, der Pfalzgräfin dien’ ich nicht, wenn ich groß bin! Nein, da geh’ ich lieber fort, zu den Holländern, wo der Oheim war, oder gar nach Spanien, Sagt selbst: einer zankenden Frau zu Willen zu sein, ist das eine Ehre für einen Edelmann?“
Herr von Nievern lachte bloß leichthin zu diesen Worten. Sein Geleit des Fräuleins hatte alles in allem nur wenige Minuten gedauert, aber doch war es jetzt hohe Zeit, daß er ein Ende machte. Es schien fast, als werde Polyxene ihn gar nicht noch einmal ansehen. Auch hier also kleinliche Unart, wie sie diese verwöhnten Weiber trieben! Nein, er hatte ihr unrecht gethan, und wie sehr! Sie neigte sich jetzt abschiednehmend vor ihm, mit lieblicher Würde, als müsse alles, was sie heute gekränkt hatte, in diesem Augenblick zurücktreten vor dem Dank gegen ihn. Da kam es über ihn, daß er rasch noch einmal dicht an sie herantrat und fast bewegt sagte: „Und nun verzeiht Ihr mir, Fräulein?“
Seltsam, daß sie sofort wußte, was er meinte. „Daß Ihr heute so lange, wahrlich allzu lange schwieget, Herr von Nievern?“ fragte sie, Und dann, mit einem ergreifenden Blicke: „Warum, o, warum thatet Ihr das?“
„Ja, warum?“ Das war alles, was Herr von Nievern antwortete, sie ansehend wie in einer plötzlichen, bei ihm seltenen Erregung. Und dann wandte er sich rasch ab und verließ sie.
Aus den Dolomiten.
Wenn von Dolomiten die Rede ist, so denkt fast jedermann unwillkürlich an das berühmte Ampezzaner Gebiet; dorthin wälzt sich alljährlich, begünstigt durch den bequemen Zutritt mittels der Pusterthalbahn, der Hauptstrom des Fremdenverkehrs, während er vorerst nur schwache Arme nach den südlicher gelegenen Gegenden, nach der an großartiger Schönheit keineswegs ärmeren Pala- oder Primörgruppe, entsendet. Allerdings führt der Weg zu diesen Paradiesen für alle, die ihn nicht im eigens gemieteten Landauer, oder mit dem Bergstock in der Faust, den Rucksack auf dem Rücken, zu Fuß zu durchwandern aufgelegt oder befähigt sind, durch das Fegfeuer einer vielstündigen Postfahrt, die man entweder von Neumarkt, der dritten Station der von Bozen nach Trient führenden Eisenbahnlinie, oder von Trient selbst aus antritt. Der letztere durch das Val Sugana führende Weg ist der umständlichere und steht auch an landschaftlicher Schönheit hinter jenem zurück, der von Neumarkt seinen Ausgang nimmt. Auf gut gehaltener Straße führt dieser durch das Fleimser und Travignolothal über Cavalese und das geognostisch interessante Predazzo nach Paneveggio und dem im Mittelpunkt dieser herrlichen Gebirgswelt gelegenen San Martino di Castrozza, er wird daher auch von den aus dem Norden kommenden Reisenden zumeist eingeschlagen. Schon während man sich, durch das Thal des Travignolo ansteigend, dem in ernster Waldabgeschiedenheit trotz seines eben 1m Entstehen begriffenen Bergforts friedlich daliegenden Paneveggio nähert, wird man sich mit Vergnügen eines Vorzugs bewußt, der diese Gegend vor vielen anderen Tirols auszeichnet, ja in dieser Höhe geradezu als ein Unikum zu bezeichnen ist. Ein herrlicher, von der Axt des Holzfällers noch wenig berührter Hochwald begleitet uns auf unserem Wege längs des rauschenden Wildbachs und scheint an Fülle und Kraft noch zu wachsen, wenn wir über den Rollepaß hinüber ins Thal des Cismone, das Val di Primiero oder Primörthal, wandern. Als Wegweiser dienen uns die in einsamer Größe gespensterhaft, thurmartig über den Tannenwipfeln aufragenden Häupter des Cimone della Pala (3186 m) und der Cima di Vezzana (3191 m), die ersten Vorboten jener gewaltigen wildzerrissenen Gebirgskette, die wir von der Paßhöhe aus in ihrer überwältigenden Gesamtheit überschauen. Und an den bewaldeten Fuß dieser Riesen fast zärtlich angeschmiegt, liegt in dem sich erweiternden Thal, in das von Süden der Monte Pavione mit seiner pyramidenartig abgestumpften Spitze hereingrüßt, zwischen üppig blühenden Matten, unter einem Himmel voll südlicher Bläue jene kleine Häusergruppe, von einem bescheidenen Kirchthurm überragt, die den stolzen Namen San Martino di Castrozza führt.
Der Hauptreiz der Lage dieses gleich Paneveggio und dem westlich vom Etschthal gelegenen Madonna di Campiglio aus einem ehemaligen geistlichen Hospiz hervorgegangenen Luftkurorts besteht eben in dem Gegensatz, den die großartigen Formen jener unwirthlichen, von Schlünden und Klüften durchfressenen Gebirgswelt mit den lachenden blühenden Triften im Thal bilden, sein hygieinischer Werth in der durch das italienische Klima gemilderten Hochluft.
„Es ragt der hohe Elborus,
So weit der Himmel reicht,
Der Frühling blüht an seinem Fuß,
Sein Haupt ist schneegebleicht.“
Dieses Bild des Dichters der Mirza-Schaffylieder, es ließe sich auch auf die Pala di San Martino und ihre wilden Genossen, Rosetta, Cimon di Ball, den Saß Maor und wie sie sonst heißen, anwenden, wenn diese vielgezackten Felszinnen nicht zu spitz und steil aufragten, um dem Schnee, der sich in die Falten ihres Mantels verkriecht, irgend einen Haftpunkt auf ihrem Haupt darzubieten. In den Frühling aber, der an ihrem Fuß und zwar immer noch, in der recht stattlichen Meereshöhe von nahezu 1500 Metern blüht, weht schon ein Hauch aus dem Lande der Citronen herein, das dort jenseit des Pavione, von dessen Gipfel man die Wogen der Adria schimmern sieht, seine seligen Gefilde ausbreitet. Um übrigens italienisches Volksleben so echt, wie man es etwa im Apennin und in den Abruzzen findet, kennenzulernen, braucht man sich gar nicht einmal aus dem Machtbereich des Doppeladlers hinauszubegeben, es genügt ein Gang öder eine Fährt nach dem nur einige Stunden entfernten Primiero, dem Hauptort des nach ihm benannten Thals. An herrlichen Spaziergängen, an schattigen Ruheplätzen in Wald und Wiese, die man fast ohne Steigung erreichen kann, ist die nächste Umgebung von San Martino reich, wie es auch den Ausgangspunkt für die kühnsten Kletterpartien in den Dolomiten bildet. Denn so wild und unnahbar sie auch in das Thal hernieder dräuen, die düsteren Riesen der Pala, es ist keiner unter ihnen, den nicht des Menschen Fuß schon betreten hätte, und einige von ihnen haben sich sogar die Taufe auf die Namen ihrer Ueberwinder gefallen lassen müssen.
In neuerer Zeit hat niemand so viel zur Verherrlichung dieses Theils der Dolomiten beigetragen als der deutsche Hauptmann Theodor Wundt. Ausgerüstet mit allen körperlichen und seelischen Eigenschaften, deren der Freund gefährlicher Bergtouren bedarf, außerdem aber auch mit einem photographischen Apparat, hat er die Wände, Zacken und Schründe der Pala-Gruppe nach allen Seiten durchwandert, ihre grausigen und ihre lieblichen Schönheiten mit dem Auge des Künstlers, des Naturfreundes und des Sportsman gesucht und genossen und schließlich seine Eindrücke und Erfahrungen in einer glänzenden Schilderung zusammengefaßt, für welche zwei Besteigungen des Cimone della Pala, dieses „Matterhorns der Dolomiten“, den Mittelpunkt abgaben. Es liegt uns durchaus fern, dem so vielfach zu Auswüchsen und Verirrungen neigenden Bergsport das Wort zu reden. Aber was wir hier in dem Werke von Wundt (erschienen bei Greiner und Pfeister in Stuttgart) sehen und lesen, muß auch dem grundsätzlichen Gegner trotz aller Einwendungen, die er zu machen hätte, ein Wort der Bewunderung abnöthigen.
Der Cimone della Pala galt lange als unersteiglich, bis es im Jahre 1870 dem kühnen Engländer Whitwell gelang, vom Travignolothal aus, also von Norden her, die Spitze zu erreichen. Aber der Anstieg auf dieser Seite blieb wegen der starken Verwitterung des Gesteins immer ein großes Wagniß, das verhältnißmäßig nur selten, darunter allerdings einmal auch von einer Dame, unternommen wurde. Anders gestaltete sich die Sache, als im Jahre 1889 Dr. Darmstädter einen schon früher vergeblich gesuchten Weg von der Südostseite her fand; er war an sich schwieriger als der alte, verlangte mehr Kletterarbeit, war aber wegen der Festigkeit des Gesteins und der Sicherheit vor Steinschlägen dennoch gefahrloser als jener. An der [286] bedenklichsten Stelle hat neuerdings die „Società degli Alpinisti Tridentini“ zur Erleichterung ein Drahtseil anbringen lassen, so daß jetzt der Berg in einem Jahre häufiger erstiegen wird als während der gesamten neunzehnjährigen Benutzung der früheren Route.
Wer das Bild „Einstieg zum Drahtseil“ betrachtet, den erfaßt beinahe ein Schwindel. Doch versichert Wundt, die Sache erscheine hier wohl etwas schwieriger, als sie in Wirklichkeit sei.
Bei einer genaueren Betrachtung der Felswand zeigen sich nämlich da und dort wagrechte Stellen, auf welchen fester Fuß gefaßt werden könne, und auch für die Hände seien genügend Griffe vorhanden. Dazu komme, daß das fest verankerte Drahtseil än sich schon einen absolut sicheren Halt gewähre, welcher durch das von dem vorausgehenden Führer gehandhabte Manillaseil noch erhöht werde.
Der Mann, welcher sich mit der Linken am Drahtseil hält, ist Michele Bettega, der berühmteste unter den Führern von San Martlno. Mit der Rechten hat er das Seil gefaßt, dessen anderes Ende ein zweiter Führer, Giuseppe Zecchini, um einen Felsvorsprung geschlungen hat. Diese schwanke Brücke unterstützt den Mann in der Mitte, elnen italienischen Professor, der eben einen etwas weiten Schritt von rechts nach links zu machen hat.
Und noch eine andere kritische Stelle verräth uns die photographische Platte auf dem Bilde „Bettega am Cimone dena Pala“. Sie zeigt uns den vorauskletternden Führer, der immer die schwerste Arbeit hat, in seiner ganzen Meisterschaft.
„Michele steht hier,“ schreiht Wundt, „an einem vorspringenden Felsblocke, welcher erklettert werden muß, um auf den weiter oben befindlichen Vorsprung zu gelangen. Er sucht erst mit der linken Hand einen sicheren Halt, um dann mit der rechten nachzugreifen. Dann kommt ein Schwung mit beiden Armem und er ist in der dunkeln Nische gerade über ihm.“ Für den, der das nicht selbst erfahren, bleibt solche Leistung fast eine unvollziehbare Vorstellung, und wie erlöst ruht Auge und Sinn auf dem letzten Bilde (S. 292), welches uns die verwegenen Kletterer in luftiger Rast auf dem Gipfel vorführt. Ein fast noch größeres Räthsel als jene Kunstleistung des Führers bildet für den Beschauer die Frage, wie der Photograph zu dieser und zu den anderen Aufnahmen gelangen konnte. Ist es schon keine Kleinigkeit, den schweren photographischen Apparat auf solcher Klettertour mit sich zu schleppen, welche riesigen Schwierigkeiten muß es erst gehabt hahen, den richtigen Standpunkt für ihn zu gewinnen, ihn aufzustellen und all die vielen Handgriffe an ihm vorzunehmen, welche eine Aufnahme, wenn sie gelingen soll, nun einmal erfordert! Der Verfasser des Buches giebt uns darüber keinen Aufschluß, wie er es vermocht hat, so gleichsam zwischen Himmel und Erde seine Kunst noch auszuüben. Aber die Thatsache, daß seine Bilder vorhanden sind, und zwar so schön und scharf als man nur wünschen kann, sie beweist, daß er das Wagstück glücklich vollbracht hat.
Für diejenigen, welche es ablehnen, sich auf derartige Hochfahrten einzulassen, winkt ein Ersatz im Botanisieren oder im „Grasen“, wie der Bergfex wohl geringschätzig sich auszudrücken liebt. In der That ist an Pflanzen und Blumen kein Mangel in der Umgebung von San Martino. Eine Flora, wie man sie in solch üppiger Fülle, solch leuchtender Farbengluth nur in dieser Höhe und unter diesem südlichen Himmelsstrich findet, schmückt die Flur, den Wald und die Felsen. Die Alpenrose, zu der man sich in andern Theilen des Gebirgs erst mühevoll kletternd den Weg bahnen muß, drängt sich hier mit ihren purpurnen Blüthen bis dicht an die Wohnungen der Menschen heran, die Feuerlilie, der Frauenschuh und tausend andere mehr oder weniger seltene Blumen, deren lateinische Namen nur der in der Kurgesellschaft selten fehlende gelehrte Botaniker bestimmen kann, bieten sich der pflückenden Hand zum herrlich duftenden Strauß.
Wie schon gesagt, ist San Martino kirchlichen Ursprungs. Schon zu Anfang dieses Jahrtausends als Kloster erbaut, diente es gleichzeitig als Hospiz und wurde im sechzehnten Jahrhundert in ein Kirchenbenefiz unter dem Patronate der Grafen von Welsperg umgewandelt, welche noch heute dieses Ehrenamt inne haben. Der Name „Castrozza“ soll von dem lateinischen „castrum“ herrühren, indem das Hospiz den üher den Rollepaß Wandernden gewissermaßen als Lager- und Etappenplatz diente. Eine Wirthschaft befand sich in dem Klostergebände seit jeher, der eigentliche Aufschwung des Platzes als Touristen-Standquartier und Sommerfrische schreibt sich aber erst aus dem Jahre 1878 her, in welchem die neue Straße vollendet und dadurch eine bequemere Verbindung mit der Eisenbahn hergestellt wurde; diese aber liegt doch wieder zu meit ab, als daß die Idylle dieses Erdenwinkels durch die unruhigeren Elemente des Fremdenverkehrs gestört würde.
Der Ort San Martino umfaßt außer der Kirche und dem Pfarrhaus nur noch wenige Gebäude. Zur Rechten liegt das altehrwürdige Kloster mit seinen wetterfesten Mauern, die auch eine Wirthschaft einschließen; daran stößt die Wohnung des Pfarrers, mit dem Postbureau zu ebener Erde, und weiter ein großes Hotel, das mit seinen in jüngster Zeit vollendeten umfangreichen Neubauten über hundert Personen beherbergen kann. Unmittelbar vor diesen Gebäuden befindet sich eine breite Terrasse, auf welcher sich den Sommer über stets ein reges Leben abspielt, ein beständiges Kommen und Gehen, zu Wagen und zu Fuß.
Unter dem Schatten eines Zeltdaches sitzen die Gäste des Hauses,
spielen Kegel oder trinken Bier, hier sammeln sich auch die Führer, um
die Besteigungen zu besprechen. Zwei dieser wackeren Männer, die unsere
Gruppe auf S. 284 vereinigt, Bettega und Zecchini, haben wir schon
kennengelernt; die beiden andern sind Antonio Tavernaro und der erst
fünfundzwanzigjährige Zagonel Bortolo. Auf all das fröhliche Gewimmel
schauen in ernster, ewig unveränderlicher Ruhe und Hoheit die
Bergriesen der Pala herab; phantastische Schatten zeichnen sich ab auf den
zerrlssenen steinernen Wänden, die bald im vollen Sonnenglanz erstrahlen,
bald, von wirren Nebelfetzen umlagert, ein tolles Versteckspiel treiben. Ja,
die Nebel slnd ein häufiger Gast in diesen Höhen – denn nicht allzu weit
draußen breltet sich der blaue Spiegel der Adria, und seine feinen
Wasserdämpfe schlingen sich gern als wallende wogende Schleier um die Zacken
der nachbarllchen Gebirge. C. H.
Alle Rechte vorbehalten.
Die Geschichte des Panzers und – Panzergeschichten.
Vor drei Jahren war es. Da sollte das neueste deutsche kleinkalibrige Gewehr an die Truppen zur Ausgabe gelangen. In den Zeitungen las man spaltenlange Berichte über die Durchschlagskraft der kleinen Geschosse und über die Schußwunden in künftigen Kriegen. Es wurde auf Grund eingehendster Versuche mitgetheilt, daß das neueste Geschoß selbst in 2000 Metern Entfernung den Menschen durchschießt und im Körper nicht stecken bleibt, auf die Entfernung von 400 Metern aber drei bis vier und auf die von 100 Metern sogar vier bis fünf hintereinander stehende Soldaten durchbohren kann. Es wurde hervorgehoben, daß es gegen alle Holzarten eine fünf- bis sechsmal größere Durchschlagskraft als die alten großkalibrigen Geschosse besitze und bei Nahschüssen Tannenholz in der Dicke von 1 Meter 10 Centimetern durchschlage, ja durch Eisenplatten von 12 Millimetern Stärke sich den Weg bahne. Mit dem Infanteriegewehr der Neuzeit in der Hand kann der Soldat selbst die Lokomotive lahm legen, indem er die eiserne Wand ihres Dampfkessels durchschießt.
Da – mit einem Male eine überraschende Wendung! Es giebt Schutz und Wehr gegen das kleinkalibrige Geschoß! In der zweiten Hälfte des März jagten einander Zeitungsberichte über einen neuen Panzer, eine „kugelsichere Uniform“, die ihren glücklichen Träger vor diesem mörderischen Geschosse schützen sollte. Eine wunderbare Uniform, die mehr leistet als 12 Millimeter dicke Eisenplatten! Ein wunderbarer Stoff muß das sein, der, während er nur 6 Pfund wiegt, Brust und Leib des Kriegers kugelfest macht! Wir fühlen uns beinahe in alte, längst vergangene Zeiten versetzt, da unsre Vorfahren an gefeite Brünnen glaubten! Wir leben zwar im neunzehnten Jahrhundert, aber gerade dieses Jahrhundert macht die Menschen gläubig für Erfindungen aller Art; denn in ihm hat der Genius der Menschheit die staunenden Völker mit ungeahnten Wundern überrascht. Gegen die Glanzleistungen des Dampfes und der Elektrizität wäre eine Uniform, an welcher das kleinkalibrige Geschoß ohnmächtig zurückprallte oder in der es abgemattet stecken bliebe, doch nur eine Kleinigkeit. In der Technik ist alles möglich – diesen paradoxen Satz mußten sich so viele zweifelnde Weise entgegenhalten lassen.
Zur Zeit aber ist die kugelsichere Uniform ein Geheimniß, und allen denjenigen, die ans Glauben nicht gewöhnt sind, ist das Zweifeln erlaubt; denn das eine nur steht fest, daß ein Herr Schneidermeister Dowe in Mannheim der Erfinder des neuen Panzerstoffes sei. Sonst begegnet man in den zahlreichen Zeitungsartikeln Widersprüchen. Doch wird uns von einem durchaus berufenen und glaubwürdigen Augenzeugen über die letzten Schießversuche in Mannheim mitgetheilt, daß vier auf je 250 und 500 Meter Entfernung abgefeuerte Geschosse des Infanteriegewehrs 88 in der Panzermasse stecken blieben. Der Erfinder hat die Masse, sorgfältig in Tuch oder Leinen eingenäht, auf den Schießplatz gebracht; über die Größe, Dicke und das Gewicht des Panzerstückes, auf welches geschossen wurde, fehlen nähere Angaben; dagegen soll Dowe behaupten, ein vollendeter Panzer würde 5 bis 6 Pfund wiegen, 1½ Centimeter stark sein und 12 bis 15 Mark kosten. Es handelt sich aber dabei um einen Panzer, der lediglich Brust und Leib des Soldaten decken würde.
Der rasch und laut ausposaunte Ruhm des Mannheimer Erfinders weckte ein lautes Echo in der Welt. Es meldeten sich andere, die mit der Versicherung auftraten, daß sie schon früher dieselbe oder annähernd dieselbe Erfindung gemacht hätten. Wir glauben es ihnen gern, Panzer, die gegen Geschosse von geringerer Durschlagskraft schützen, sind oft schon dagewesen und auch Panzer gegen das neue Geschoß sind wohl möglich; entscheidend ist nur die Dicke und Schwere des Stoffes, die bis jetzt noch immer zu wünschen übrig ließen. Wir wollen aber unsere Leser nicht länger mit diesen modernen Panzergeschichten unterhalten; wenn wir überhaupt über dieses Thema schreiben, so geschieht es darum, weil in weiten Kreisen des Volkes die wahre Geschichte des Panzers nicht genügend bekannt zu sein scheint, da man den Gedanken einer Bepanzerung der Truppen, Einführung von Schilden u. s. w. nicht kurzer Hand zurückwies, sondern lebhaft erörterte. Die Rüstungen, die an den Wänden der Gemächer alter Burgen hängen oder in Museen aufgestellt sind, führen eine beredte Sprache, wenn man auf sie zu hören versteht; der Ruhm des Panzers ist dahingeschwunden; er ist tot und kann nicht wieder auferstehen.
Das Abendland ist die eigentliche Heimath des Panzers; hier wuchsen im Laufe der Zeiten die eisernen Rittergestalten empor, hier erfüllten sie die Welt mit dem Ruhm ihrer Thaten und hier sanken sie in den Staub.
Aus dickem Leder bestand der Panzer ursprünglich; nach und nach begann man das Lederkoller mit Schuppen von Erz und mit Ringen zu belegen, dann verband man die Ringe zu einem selbstständigen Geflecht, und so entstand die „Brünne“, welche die Helden des Mittelalters trugen. Sie war verhältnißmäßig bequem, schmiegte sich dem Körper an und ließ dem Krieger ein großes Maß von Beweglichkeit. Das waren die Eisengewänder, von denen die alten Dichter sangen:
„Da schliefen die Recken in stählernen Röcken.“
Anfangs bedeckte die Brünne nur den Rumpf und Oberarm; dann wurde sie vergrößert, und so entstand aus ihr die Halsberge; man ging noch weiter und flocht die Eisenringe zu Hosen zusammen, die wie unsere modernen „angeschuht“ oder „angeschüttet“ wurden, oder auch offen waren und an der hinteren Seite des Beines mit Riemen zusammengebunden wurden:
„Die frouven im do bunden
Die isenhosen an diu bein.“
Unter diesem Maschenpanzer wurde ein Leder- oder Tuchwams getragen, das mit Watte oder Werg gefüttert war. Den Kopf des gepanzerten Kriegers deckte seit jeher der Helm oder der Eisenhut[.]
In dieser Rüstung war der Ritter wohl gegen Pfeile, Bolzen und Schwerthiebe gesichert. Das fanden die Gegner bald heraus, und in der Bewaffnung trat schon frühzeitig im Mittelalter eine Verschiebung ein. Die Schlagwaffen, Keule, Axt, Schlaggeißel, Morgenstern, Streitaxt, traten immer mehr in den Vordergrund, und vor ihren wuchtigen Schlägen schützte der Maschenpanzer nur ungenügend. Die berittenen Panzerhaufen geriethen nach und nach in eine schlimme Lage, das schlagfertige Fußvolk gewann allmählich die Oberhand. Da mußte der Panzer eine neue Wandlung durchmachen.
Der am meisten gefährdete Theil des Panzerritters war die Schulter; die wuchtigen Streiche, die mit den Schlagwaffen nach dem helmbedeckten Kopfe geführt wurden, prallten wohl meistens an diesem ab, sie glitten jedoch auf die Schulter und verursachten Schulterbrüche. Da versuchte man, die Schultern durch eiserne Platten, die sogenannten Schulterflügel, die eine Verlängerung des Helmes darstellten, zu schützen. Dann ging man weiter und befestigte Eisenplatten und Eisenschienen an verschiedenen Stellen des Maschenpanzers, bis zuletzt der Ringpanzer durch den Plattenpanzer ersetzt wurde und der Ritter ganz und gar in Eisen stak. Aber auch in dieser schwersten Rüstung konnte er gegen das Fußvolk nicht aufkommen, das jetzt an den Feuerwaffen ein neues Mittel zum Angriff erhielt. Man irrt aber, wenn man annimmt, daß die Feuerwaffen allein den Untergang des gepanzerten Ritterthums herbeigeführt hätten. In den Kriegen Karls des Kühnen von Burgund gegen die Schweizer vollzog sich die große kriegsgeschichtliche Wendung, die dem Fußvolk in den Heeren Europas die entscheidende Stellung sicherte. Und da darf man nicht vergessen, daß die Schweizer ihre größten Siege noch mit ihren alten Schlag- und Stichwaffen errangen. Unter den 30
000 Mann, die eidgenössischerseits an der Schlacht bei Murten theilnahmen, befanden sich 11 000 „Spieße“, 16 000 mit Hellebarden, Morgensternen und ähnlichen Schlagwaffen Ausgerüstete und nur 3000 Schützen, die zum größten Theile noch mit der Armbrust bewaffnet waren. Und dieses Heer versetzte dem gepanzerten Ritterthum den Todesstoß.Damit ging auch eine der angesehensten Industrien zu Grunde, die der Waffenschmiede, die so leistungsfähig geworden war, daß nach der Schlacht bei Macalo 1427 Mailand allein in wenigen Tagen Rüstungen für 4000 Reiter und 2000 Fußknechte zu liefern vermochte. Auch Deutschland hatte seine ausgezeichneten „Sarwürker“. oder „Sarwetter“, Wirker und Weber von Kettenpanzern, seine Platenäre, Helmschmiede, Harnischmacher und Sporer, von denen die Augsburger und Nürnberger einen Weltruf genossen; aber alle diese ausgezeichneten Meister vermochten nicht durch neue Erfindungen den Niedergang des Panzers aufzuhalten. Anfangs behielt man noch einzelne Theile der Rüstung bei; als aber mit [288] den Fortschritten der Industrie die Durchschlagskraft der Handfeuerwaffen eine größere wurde, sank als letzter Ueberrest auch der Küraß zu einem ornamentalen Ausrüstungsstück herab.
Aber es war nicht die zunehmende Durchschlagskraft der Geschosse allein, welche die Ritter zwang, ihre Panzer abzulegen. Wie man die ursprünglichste Schutzwaffe, den Schild, ablegte und durch den Panzer ersetzte, um dem Kämpfenden eine größere Freiheit der Bewegung zu sichern so trennte man sich auch aus demselben Grunde von dem Panzer. Die Kriegsgeschichte lehrt, daß der Angriff, die Offensive die Grundbedingung des Sieges ist, und nach dieser Richtung hin hat sich bis jetzt das Heer- und Kriegswesen Europas entwickelt. Panzer, selbst wenn sie nur sechs Pfund wiegen sollten, würden die Fußtruppen wesentlich belasten und deren Bewegungsfähigkeit wesentlich vermindern Die so schwer bewehrte Truppe würde dem leichter beweglichen Feinde erliegen. Was heute annehmbar wäre, das sind Panzer, die bei größter Leichtigkeit auch die kleinkalibrigen Geschosse fernhalten würden, aber sie sind eben nicht vorhanden. Die wahre Geschichte des Panzers hat für die Kulturmenschheit ihren Abschluß erreicht, was wir von Zeit zu Zeit hören, das sind aufgebauschte Panzergeschichten.
Panzergeschichten – und zwar mitunter solche recht ergötzlicher Art – sind in Hülle und Fülle auch aus der guten alten Zeit bekannt. Wir haben gesehen, daß selbst die Rüstungen schwerster Art nicht immer das Leben des Kriegers zu schützen vermochten. Da fand man andere Mittel, welche das Kriegerherz zu wappnen geeignet waren; man schöpfte aus dem unergründlichen Born des menschlichen Aberglaubens.
Durch das Bild der Muttergottes und fromme Sprüche suchte man den Schwertklingen wunderbare Kräfte zu verschaffen, und zu allen Zeiten gab es Geheimmittel und Amulette, die den Krieger unverletzlich machen, seinen Waffen Ueberlegenheit über andere verschaffen sollten. Ein im Jahre 1676 erschienenes Büchlein „Neu reformirt- und vermehrter Helden-Schatz“ war bemüht, den Soldaten alle die abergläubischen Mittel bekannt zu geben, durch welche Waffen fest und allen anderen überlegen gemacht werden sollten. Wir lassen einige derselben folgen, bemerken aber, daß der Verfasser unseres Büchleins ausdrücklich vor „Abgöttischen Wundsegen und andern unchristlichen Teuffelischen Zauberischen Mitteln“ warnt, „wie man denn,“ meint er, „gute Nachricht hat, daß solche vielmals gebraucht werden“. Vor diesem räth er, „hüte sich ein jedweder wie vor dem Teuffel selbst“.
Die Waffentüchtigkeit und Gewandtheit Kaiser Maximilians I., des „letzten Ritters“, wird dem „Aqua magnanimitatis“ zugeschrieben, das der ritterliche Fürst anwandte. Dieses wunderbare Wasser wurde durch Destillieren von Ameisen mit Honig und Branntwein unter Zusatz von Zimmetrinde gewonnen. „Man kann auch Eberwurzelöl darzu thun, und wann man es gebrauchen muß, so schmieret man die Hände und Rappier und trinket zehn oder zwölf Tropfen. Und wann er hernach mit zehen oder mehr Personen zu thun hätte, so vermögen sie ganz nichts wider diesen auszurichten, denn es benimmt dem Gegentheil (dem Widersacher) alle seine Kraft.“
Und von einer Waffensalbe berichtet unser Büchlein, die aus Schmeer von einem Eber, Bärenschmalz von einem Männchen, gedörrten Regenwürmern, Moos von Menschenschädeln und anderen schönen Ingredienzien gefertigt wurde. Sie sollte der Waffe Kraft nicht nur zum Wundenschlagen, sondern auch zum Heilen der Wunden, die sie geschlagen, verleihen. Die Waffe selbst wurde zu letzterem Zweck ganz in der Weise behandelt, wie es bei dem Verwundeten nothwendig gewesen wäre: sie wurde gesalbt und verbunden. Damit die Heilung rascher vorwärts schreite, mußte sich derjenige, der den Verband besorgte, so halten, als wäre er der Verwundete selbst. „Und wisse, so Du die Waffen in die Kälte oder den Wind henkest, so machst Du den Patienten Schmerzen.“
Unstreitig war es aber besser, keine Wunden zu erhalten, und auch hierfür weiß unser Büchlein guten Rath; man brauchte sich nur „fest“ zu machen. Es konnte dies auf zweierlei Weise geschehen. Nach dem ersten Rezepte sollte man zu Weihnachten nachts um 12 Uhr in kleine Küchlein, die aus Mehl und Wasser gemacht waren, ein Zettelchen von Jungfrauenpergament stecken, auf dem die Buchstaben I. N. R. I. geschrieben standen, Diese Küchlein sollte man dann heimlich auf einen Altar legen, drei Messen, je eine am Ostertag, am Himmelfahrtstag und am Pfingsttag, darüber lesen lassen und eines am Morgen des Tages zu sich nehmen, an dem man sich mit dem Feinde schlagen mußte. Vor und nach dem Genusse des Küchleins mußte man einige fromme lateinische Sprüche dazu sprechen. „So bistu alles sicher vier und zwanzig Stunden, das wiederhole so oft Dir es geliebet.“
Das zweite Mittel ist wesentlich einfacher. Man sollte sich den Schädel eines Gehängten oder „Geradbrechten“, auf dem Moos gewachsen, suchen; den anderen Tag sollte man den Schädel so legen, daß man sich Moos davon nehmen könnte; am Freitag vor Sonnenaufgang sollte man ihn wieder aufsuchen und folgende Worte sprechen: „Ich N. N. Bitte heute zu dieser Frist – Dich meinen Herren Jesum Christ, der reinen Magd Mariae Sohn – Du wollest mir beystahn auff diesem Plan – und mir helfen binden aller meiner Feinde Händ – und wollest mir helfen zerreißen – ihr Stachel und all ihr Eisen – Jesu Mariae Sohn – hilf mir von diesem Plan; in Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes; Amen.“ Sodann hatte man das Moos abzuschaben, in ein Tüchlein zu binden und es in das Wams einnähen zu lassen. „Trag es also bei Dir, so kann man Dich weder mit schiessen, hauen oder stechen verwunden.“ Andere glaubten, daß der Spruch nicht nothwendig sei und daß man sich durch Verschlucken einer Portion des Mooses in der Größe einer Erbse fest machen könne – allerdings nur vier Stunden lang!
Auf die Mittheilung der vielen Hunderte anderer Rezepte, welche auf den 576 Seiten des Büchleins gesammelt sind, müssen wir natürlich verzichten. Auch der Verfasser, Joh. Staricius, Musikus, gekrönter Poet und öffentlicher Notar, der sich in Nürnberg auch mit Chemie befaßte, hat sich eine Beschränkung auferlegt und lange nicht alles mitgetheilt, was er wußte; und zwar that er dies, was uns freut berichten zu können, aus Patriotismus. Er schreibt: „Hier köndte ich Dir, Du vielgeehrter tugendliebender Kriegsmann, noch viel schöner, verborgener, geheimer Kunststück eröffnen zu Deinem Heyl, meinem Ruhm und dem geliebten Vaterland zu Trost. Weilen aber durch dergleichen Publikation dem Feind sobald gratificirt und dem gemeinen Vaterland geschadet, als dem Freund gefrommet und gemeinem Wohlstand gedienet werden könnte, als lasse ich es bei dem gemeinen Aphorismo vor dismal auch bewenden.“
Ruhelos durchwanderte Dernburg das Gemach. Da fiel sein
Blick auf Maja, die fast mit Scheu ins Zimmer getreten war
und sich sofort zu ihrer Schwägerin Cäcilie gesellt hatte, und er
blieb stehen. „Meine arme Kleine ist heute ganz verschüchtert,“
sagte er mitleidig, „Ja, die böse Politik! Die nimmt uns
Männer so in Anspruch, daß wir für nichts anderes mehr Sinn
haben. Komm zu mir, Maja!“
Maja eilte zu dem Vater und schmiegte sich an ihn. Ihre Stimme klang sehr zaghaft, als sie erwiderte: „Ach, Papa, ich verstehe so wenig von politischen Dingen. Ich schäme mich bisweilen recht sehr darüber.“
Dernburg lächelte und strich zärtlich über das lichte Haar seines Lieblings. „Du sollst Dein junges Köpfchen auch nicht damit anstrengen, mein Kind. Das kannst Du getrost Oskar und mir überlassen.“
„Ich werde es aber doch wohl lernen müssen,“ sagte Maja mit einem schweren Seufzer. „Cäcilie hat es ja auch gelernt. O, Papa, ich bin eifersüchtig auf Cilly. Die hast Du jetzt ganz allein ins Herz geschlossen, mit ihr besprichst Du alles, während ich immer als kleines dummes Ding beiseite geschoben werde.“
„Wie abscheulich von mir!“ entgegnete Dernburg scherzend indem er einen zärtlichen Blick zu seiner Schwiegertochter hinüber warf. Diese lächelte, aber es war ein trauriges freudloses Lächeln.
„Ich begreife wirklich nicht, weshalb Ihr alle in solcher Unruhe und Aufregung seid,“ fuhr das junge Mädchen schmollend fort. „Der Papa wird ja doch gewählt wie immer!“
[289]
[290] „Ich denke, ja!“ sagte Dernburg mit ruhiger Zuversicht.
„Nun, dann ist die Sache in Ordnung und wir brauchen uns nicht weiter darum zu grämen,“ erklärte Maja, indem sie unmuthig ihr weises Köpfchen schüttelte. „Freilich, dieser böse Egbert macht dem Papa viel zu schaffen, alle Welt spricht von ihm und –“
„Schweig davon, Maja!“ unterbrach sie der Vater schroff und finster. „Der Name des Herrn Ingenieurs Runeck wird mir im Wahlkampf täglich aufgedrängt, in meiner Familie aber wünsche ich ihn nicht zu hören, seine Beziehungen zu uns sind ein für allemal zu Ende!“
Das Mädchen verstummte, eingeschüchtert durch den ungewohnten Ton, und es trat ein längeres Schweigen ein. Die Zeit verrann, aber die erwarteten Nachrichten blieben noch immer aus. Endlich trat der Diener ein und sagte dem Freiherrn leise einige Worte, dieser erhob sich rasch und ging hinaus. In dem matt erleuchteten Vorzimmer fand er den Direktor und Winning, die ihn hier erwarteten.
„Sie wollen mich sprechen, meine Herren?“ fragte Wildenrod hastig. „Was bringen Sie?“
„Leider Unangenehmes, Herr Baron,“ begann der Direktor zögernd, „sehr Unangenehmes! Herr Dernburg wird sich auf eine schwere Enttäuschung gefaßt machen müssen.“
„Was soll das heißen? Haben Sie die erwarteten Nachrichten?“
„Runeck ist gewählt!“ sagte der Direktor leise. „Dreiviertel der Odensberger Stimmen waren für ihn.“
Der Freiherr erbleichte und seine Hand ballte sich krampfhaft. „Unglaublich! Unerhört!“ stieß er hervor. „Und die Landbezirke? Unsere Gruben und Hütten? Haben Sie schon Nachrichten von dort?“
„Nein, aber sie können am Hauptergebniß nichts mehr ändern. Runeck hat in der Stadt und in Odensberg gesiegt, das genügt, um ihm die Mehrheit zu sichern. – Hier sind die Zahlen verzeichnet.“
Wildenrod nahm stumm das Papier aus den Händen des Beamten und las die Notizen durch; sie stimmten – die Wahl war endgültig entschieden, gegen Dernburg und seine Partei.
„Wir wagten nicht, diese Nachricht dem Herrn zu überbringen,“ meinte Winning, „er ist so gar nicht darauf vorbereitet.“
„Ich werde es ihm mittheilen,“ sagte der Freiherr, indem er das Papier zusammenfaltete und zu sich steckte. „Aber noch eins, meine Herren! Es ist immerhin möglich, daß beim Bekanntwerden dieses Ausganges Kundgebungen versucht werden, die in diesem Falle eine unmittelbare Beleidigung für den Chef sind. Die siegestrunkene Bande,“ hier brach seine ganze Gereiztheit durch die mühsam erzwungene Fassung, „ist zu allem fähig, man muß darauf gefaßt sein. Jeder Versuch zu Demonstrationen wird mit der größten Strenge unterdrückt, gleichviel, was daraus entstehe. Ich mache Sie dafür verantwortlich, Herr Direktor, daß nichts dergleichen geschieht. Wir haben jetzt keine Rücksichten mehr zu nehmen und werden das fühlen lassen.“ Er grüßte kurz und ging.
Die beiden Beamten sahen einander an, endlich sagte der Direktor gedämpft: „Ja, wer ist denn nun eigentlich unser Chef, Herr Dernburg oder Baron Wildenrod?“
„Der Baron, wie es scheint,“ antwortete Winning gereizt. „Er ertheilt Befehle in aller Form, und zwar Befehle, welche die schwersten Folgen haben können. Diese Kundgebungen werden kommen, dafür wissen Fallner und Genossen schon zu sorgen.“ –
Es war keine beneidenswerthe Aufgabe, die Wildenrod übernommen hatte. Als er wieder in Dernburgs Zimmer trat, empfing ihn dieser mit der ungeduldigen Frage: „Was gab es denn da draußen? Man soll uns doch jetzt nicht mit anderen Dingen behelligen; wir haben wahrlich keine Zeit dazu. Uebrigens begreife ich nicht, was das hartnäckige Schweigen da drüben bedeutet. Die Nachrichten könnten schon da sein –“
„Die Nachrichten sind bereits eingetroffen, wie ich eben hörte,“ entgegnete Wildenrod.
„So? Weshalb unterbleibt dann die Meldung?“
„Der Direktor und Winning wollten sie Ihnen nicht persönlich überbringen. Sie kamen zu mir –“
Dernburg stutzte; zum ersten Male flog ein unheilvoller Gedanke durch seine Seele. „Zu Ihnen? Warum nicht zu mir? Was fällt den Herren ein!“
„Man wollte es mir überlassen, Ihnen die betreffende Eröffnung zu machen,“ sagte der Freiherr mit verhaltener Erregung. „Die Beamten wagten es nicht, Ihnen damit zu nahen.“
Dernburg wechselte die Farbe, aber er richtete sich hoch und fest auf. „Ist es schon so weit, daß man Komödie mit mir spielen muß? Heraus mit der Sprache!“
„Runeck hat in der Stadt gesiegt –“ begann Wildenrod zögernd.
„Das weiß ich! Weiter!“
„Und auch in Odensberg.“
„In Odensberg?“ wiederholte Dernburg und sah den Sprecher an, als verstehe er die Worte nicht. „Meine Arbeiter –“
„Haben zum größten Theil für Ihren Gegner gestimmt. Runeck ist gewählt!“
Ein halb unterdrückter Ausruf klang durch das Zimmer, er kam von den Lippen Cäciliens. Maja blickte angstvoll auf den Vater; soviel begriff sie doch, daß diese Nachricht ein furchtbarer Schlag für ihn war. Dernburg sprach nicht und regte sich nicht. Es trat ein unheimliches Schweigen ein. Endlich streckte er die Hand nach dem Papier aus, das Wildenrod hervorgezogen hatte. „Sie haben das Wahlergebniß?“
„Ja, hier ist es.“
Dernburg trat an den Tisch, um zu lesen, immer noch mit derselben starren Ruhe, aber man sah jetzt, wo er im vollen Scheine der Lampe stand, daß er totenbleich war. Regungslos sah er auf die Zahlen nieder, die ihre wortlose unerbittliche Sprache redeten. „Ganz recht,“ sagte er endlich kalt. „Drei Viertel der Stimmen sind für ihn, und mich haben sie verworfen!“
„Es ist ein förmlicher Verrath, eine Fahnenflucht ohnegleichen,“ fiel Wildenrod ein. „Freilich, wenn monatelang gewühlt und gehetzt wird … dahin hat Ihre Großmuth, Ihr unbedingtes Vertrauen geführt! Sie kannten die Ansichten, die Verbindungen dieses Menschen und ließen ihn trotzdem Fuß fassen in Odensberg. Er hat das klug benutzt, um sich seine Wähler zu sichern. Jetzt brauchte er nur zu winken und sie liefen in hellen Haufen zu ihm hinüber. Sie gaben ihm Sohnesrechte – heute stattet er Ihnen den Dank dafür ab!“
„Oskar, um Gotteswillen, hör’ auf!“ bat Cäcilie leise. Sie fühlte, daß jedes dieser Worte wie Gift in die Seele des Mannes fiel, dessen Herz ebenso tödlich verwundet war wie sein Stolz.
Aber Oskar kannte keine Rücksicht gegen den verhaßten Gegner, er fuhr mit steigender Heftigkeit fort: „Runeck wird triumphieren und er hat alle Ursache dazu. Das ist ein glänzender Sieg, den er erfochten hat, und gegen wen erfochten! Daß er Sie überwand, das allein macht ihn schon zum berühmten Manne. Und in dieser Stunde erfährt Odensberg den Ausgang der Wahl – man wird ihn feiern, den Erwählten, wird ihn bejubeln, daß der Jubel bis zum Herrenhaus herüberdringt und Sie werden das mit anhören müssen –“
„Das werde ich nicht!“ erklärte Dernburg heftig, einen Schritt zurücktretend, „Die Leute haben ihr Wahlrecht gebraucht – gut, ich werde mein Hausrecht brauchen und mich vor Beleidigungen zu schützen wissen. Jede etwaige Kundgebung infolge dieser Wahl wird unterdrückt. Der Direktor soll die nöthigen Maßregeln treffen, sagen Sie ihm das, Oskar!“
„Das ist bereits geschehen. Ich sah den Befehl voraus und gab die nöthigen Weisungen. Ich glaubte das in diesem Falle verantworten zu können.“
Bei jeder anderen Gelegenheit hätte Dernburg ein derartiges Eingreifen sehr unangenehm empfunden; jetzt sah er darin nur eine Fürsorge und dachte nicht an eine Rüge. „Es ist gut,“ versetzte er kurz. „Vertreten Sie mich für heute, Oskar, ich kann jetzt niemand sehen – und nun geht und laßt mich allein!“
„Papa, laß mich wenigstens bei Dir bleiben,“ flehte Maja in rührender Bitte; aber in dieser Stunde war ihr Vater nicht einmal für ihre Zärtlichkeit empfänglich, er schob sie sanft zurück.
„Nein, mein Kind, auch Du nicht! Oskar, nehmen Sie Maja mit – ich will allein sein!“
Oskar flüsterte seiner Braut einige Worte zu und führte sie aus dem Zimmer. Die Thür schloß sich hinter ihnen, und jetzt, wo Dernburg sich allein glaubte, verließ ihn die mühsam behauptete Fassung. Er drückte die geballten Hände an die Schläfen, ein Stöhnen entrang sich seiner Brust. Er fühlte in diesem Augenblick nicht die Demüthigung der Niederlage, es war etwas Edleres als gekränkter Ehrgeiz in diesem Schmerze. Verlassen von seinen Arbeitern, deren Dank er sich durch eine dreißigjährige väterliche Fürsorge verdient zu haben glaubte! Aufgegeben, um eines anderen willen, den er geliebt hatte wie seinen eigenen Sohn, und der ihm nun so dankte! Unter diesem Schlage brach auch seine eiserne Kraft zusammen.
[291] Da fühlte er, wie zwei Arme sich um seinen Hals legten, und auffahrend gewahrte er die Witwe seines Sohnes, deren blasses thränenüberströmtes Antlitz ihn anblickte mit einem Ausdruck, wie er ihn noch nie darin gesehen.
„Was soll das, Cäcilie?“ fragte er rauh. „Habe ich Dir nicht gesagt, daß ich allein sein will? Die anderen sind gegangen –“
„Aber ich gehe nicht,“ sagte Cäcilie mit bebender Stimme. „Stoße mich nicht zurück, Vater! Du hast mich in Deine Arme und an Dein Herz genommen in der schwersten Stunde meines Lebens, jetzt naht Dir diese Stunde und jetzt theile ich sie mit Dir!“
Da brach die starre Bitterkeit des furchtbar erregten Mannes, er wiederholte nicht den rauhen Befehl. Stumm zog er die junge Frau an seine Brust, und als er sich zu ihr niederbeugte, fiel eine glühende Thräne auf ihre Stirn. Sie zuckte leise und schmerzvoll zusammen – sie wußte es, wem diese Thräne galt.
Eckardstein hatte einen neuen Herrn. Seit acht Tagen ruhte
Graf Konrad in der Familiengruft und sein jüngerer Bruder
hatte das Majorat angetreten. Der junge Offizier, der bisher
immer nur in seiner Garnison gelebt hatte und mit Ausnahme
jenes kurzen Besuches im Frühjahr den väterlichen Gütern fern
geblieben war, sah sich nun plötzlich vor eine ganz neue Aufgabe
und in völlig neue Verhältnisse gestellt. Da war es ein Glück,
daß ihm sein Oheim und ehemaliger Vormund zur Seite stand,
der selbst Gutsherr war und jetzt seinen Aufenthalt verlängerte,
um den Neffen mit Rath und That zu unterstützen.
Dem trüben Nebelwetter der letzten Woche war ein klarer milder Herbsttag gefolgt. Der Sonnenschein lag hell auf den ausgedehnten Forsten, die sich zwischen Odensberg und Eckardstein hinzogen und größtentheils zu der letzteren Herrschaft gehörten.
Auf einem der Waldwege schritten Graf Viktor und Herr von Stetten dahin. Sie hatten die Forstbestände besichtigt und waren nun auf der Rückkehr nach dem Schlosse begriffen.
„Ich würde Dir rathen, den Abschied zu nehmen und Dich ganz Deinem Eckardstein zu widmen,“ sagte Stetten. „Weshalb willst Du die Güter fremden Händen überlassen?“
„Ich bin zum Soldaten erzogen,“ wandte Viktor ein, „und verstehe sehr wenig von der Landwirthschaft.“
„Das lernt sich mit einigem guten Willen, und wie mir scheint, hängst Du gar nicht so sehr am bunten Rock, um den Verzicht darauf als ein Opfer zu empfinden. Warum gehorchen wollen, wenn man Herr sein kann auf eigenem Grund und Boden? Oder hast Du sonst etwas gegen Eckardstein?“
„Ich? Nicht im geringsten!“
„Dein letzter Besuch im Frühjahr mag Dir freilich peinliche Erinnerungen hinterlassen haben,“ warf Herr von Stetten hin. „Es sind damals wohl bittere Scenen vorgefallen?“
„Onkel, ich bitte Dich!“ fiel der junge Graf abwehrend ein.
„Nun, ich weiß, es war in erster Linie Konrads Schuld, das zeigte mir die Art, wie er sich auf dem Sterbebett mit Dir aussöhnte. Aber eben deshalb sollte die Erinnerung doch keinen Stachel mehr für Dich haben.“
„Das ist es auch nicht! Aber ich bin fremd geworden in Eckardstein und denke vorläufig nicht daran, hierzubleiben. Einstweilen lasse ich die Güter verwalten – später wird sich ja alles finden.“ Die Worte klangen gepreßt. Der neue Majoratsherr sah ernst und niedergeschlagen aus und zeigte keine Spur mehr von dem einstigen lebensfrohen Uebermuth. Der Oheim sah ihn forschend an, äußerte aber nichts, sondern ließ den Gegenstand fallen.
„Es ist doch seltsam, daß niemand von den Odensbergern zum Begräbniß erschienen ist,“ hob er nach einem kurzen Schweigen wieder an. „Bei der Art Eueres früheren Verkehrs wäre eine persönliche Betheiligung doch wohl Pflicht gewesen, statt dessen kam nur ein höflich kühles Beileidschreiben.“
„Dernburg wird es jetzt mit den Höflichkeitspflichten nicht so genau nehmen,“ sagte Viktor ausweichend. „Er hat so viel andere Dinge im Kopfe. Die letzten Vorfälle in Odensberg waren doch sehr unangenehmer Natur.“
„Allerdings, und die Sache scheint noch nicht zu Ende zu sein. Doktor Hagenbach, den ich gestern sprach, hegt ernste Besorgnisse; bei der Unbeugsamkeit Dernburgs sei auf einen Ausgleich nicht zu hoffen. Er muß ein Eisenkopf sein.“
„In diesem Falle ist er es mit Recht. Die Kundgebungen, die am Abend des Wahltages in Odensberg statt fanden, mußten für ihn tief beleidigend sein. Sollte er es dulden, daß seine eigenen Arbeiter seine Niederlage bejubelten und seinen Gegner in allen Tonarten feierten? Dazu gehört mehr als Langmuth.“
„Man hätte einige der ärgsten Schreier entlassen und den übrigen verzeihen sollen. Statt dessen wurde gleich Hunderten gekündigt. Jeder, der sich nur irgendwie betheiligt hatte, bekam den Laufpaß. Daß jetzt die andern das Bleiben ihrer Kameraden fordern und mit einem Massenausstand drohen – das kann zu bösen Geschichten führen!“
„Auch ich fürchte es. Es hat ganz und gar den Anschein –“ Viktor verstummte plötzlich und blieb wie angewurzelt stehen. Sie waren im Begriff, die Fahrstraße zu kreuzen, die hier mitten durch den Wald führte, als in rascher Fahrt ein offener Wagen vorüberrollte, in dem zwei Damen in Trauerkleidung saßen. Die Jüngere wandte sich mit dem Ausdruck freudiger Ueberraschung um, als sie den jungen Grafen gewahrte, sie rief dem Kutscher einige Worte zu und der Wagen hielt.
„O, Graf Viktor, ich freue mich sehr, Sie wiederzusehen – wenn die Veranlassung nur nicht eine so traurige wäre!“
Viktor trat mit einer tiefen Verbeugung an den Schlag, aber es sah aus, als hätte er einen Gruß aus der Ferne vorgezogen. Er berührte auch nur flüchtig die kleine Hand, die sich ihm vertraulich entgegenstreckte, und es lag eine merkliche Zurückhaltung in seinen Worten, als er antwortete: „Jawohl, eine sehr traurige Veranlassung ... Aber Sie gestatten wohl, mein gnädiges Fräulein, daß ich Ihnen meinen Onkel Herrn von Stetten vorstelle – Fräulein Maja Dernburg – Fräulein Friedberg.“
„Ich habe eigentlich nur eine frühere Bekanntschaft zu erneuern,“ sagte Stetten lächelnd zu Maja, indem er gleichfalls herantrat. „Als ich vor Jahren in Eckardstein zum Besuch war, habe ich Sie hie und da gesehen. Aus dem Kinde von damals ist freilich eine Dame geworden, die sich meiner nicht mehr erinnern wird.“
„Wenigstens nur dunkel, Herr von Stetten, aber um so deutlicher erinnere ich mich all der frohen Stunden, die ich in Eckardstein verlebt habe, mit Graf Viktor und Erich –“ die Augen des jungen Mädchens füllten sich plötzlich mit Thränen, als sie den Namen des Bruders aussprach. „Ach, in unserem Hause hat der Tod ja auch Einkehr gehalten! Sie wissen, Viktor, wann und wie unsere armer Erich starb?“
„Ich habe es erfahren,“ sagte der junge Graf leise, „und habe bitter empfunden, wieviel ich an meinem Jugendfreund verlor. – Seine Witwe bleibt vorläufig in Odensberg, wie ich höre?“
„O gewiß, wir lassen sie nicht wieder fort! Erich hat Cäcilie so sehr geliebt … sie bleibt bei uns.“
„Und – Freiherr von Wildenrod?“ Viktor that die Frage ganz unvermittelt; seine Augen hefteten sich dabei mit einem fast angstvollen Forschen auf das Gesicht des jungen Mädchens, das sich mit dunkler Gluth bedeckte.
„Herr von Wildenrod?“ wiederholte sie befangen. „Er ist ebenfalls noch in Odensberg.“
„Und bleibt vermuthlich dort?“
„Ich glaube wohl,“ sagte Maja mit einer seltsamen Beklemmung, deren sie nicht Herr zu werden vermochte und die im Grunde doch recht thöricht war. Was lag denn daran, wenn der Jugendgespiele heute schon errieth, was doch nicht mehr lange Geheimniß bleiben sollte! Aber weshalb sah er sie so düster und vorwurfsvoll an, als habe sie ein Unrecht begangen, weshalb war er überhaupt so fremd und zurückhaltend?
Herr von Stetten, der inzwischen mit Leonie gesprochen hatte, wandte sich jetzt wieder zu den beiden; es wurden noch einige Fragen und Erkundigungen ausgetauscht, dann beendete Viktor, dem der Boden unter den Füßen zu brennen schien, das Gespräch mit der Bemerkung: „Ich fürchte, Onkel, wir halten die Damen zu lange auf. Darf ich bitten, unsere beiderseitigen Empfehlungen an Herrn Dernburg auszurichten?“
„Ich werde es Papa bestellen – aber Sie kommen doch selbst nach Odensberg?“
„Wenn es mir möglich ist, gewiß,“ erklärte der Graf in einem Tone, der verrieth, daß es ihm jedenfalls nicht möglich sein werde. Er verneigte sich und trat zurück, die Damen grüßten, und in der nächsten Minute rollte der Wagen davon.
[292]
Blätter und Blüthen.
Die Entschädigung unschuldig Verurtheilter, für welche die „Gartenlaube“
seit einer Reihe von Jahren aufs nachdrücklichste eingetreten ist,
scheint nun doch endlich einer gesetzlichen Regelung entgegenzugehen. Nach
Mittheilungen, welche der württembergische Justizminister in der schwäbischen
Abgeordnetenkammer gemacht hat, wird in Preußen derzeit ein Gesetzesentwurf
vorbereitet, welcher neben der Wiedereinführung der Berufung
in Strafsachen die gesetzliche Entschädigung der unschuldig Verurtheilten
zum Gegenstand hat und welcher als Antrag Preußens dem Bundesrath
vorgelegt werden soll. Wann dieser Entwurf kommt und was er bringt,
das wissen wir vorläufig noch nicht, immerhin ist es schon etwas, wenn
die Sache wenigstens im Fluß bleibt und nicht wieder einschläft. In der
That ist die Chronik der deutschen Gerichte gar nicht dazu geeignet, diese
gerechte Forderung des deutschen Volkes in Vergessenheit gerathen zu lassen;
sie verzeichnet aus den letzten Jahren wieder eine ganze Reihe
von Irrthümern der Justiz. Gerade in Württemberg hat der Fall
des Bäckergesellen Pius Entreß viel Aufsehen erregt, der wegen eines
Diebstahls bei dem türkischen Oberstlieutenant Mustapha Bey zu vier
Jahren Zuchthaus verurtheilt worden war, aber, nachdem er neun
Monate davon abgesessen, wieder freigesprochen werden mußte.
Solchen Erfahrungen gegenüber bleibt die freiwillige Entschädigung, welche
in den meisten Bundesstaaten die gesetzliche vertritt, entschieden
unzulänglich, und es gereicht dem Deutschen Reiche nicht zur Ehre, daß es
sich auf diesem Felde von Oesterreich hat den Rang ablaufen lassen.
Denn dort ist seit etwas mehr als einem Jahre die Entschädigungspflicht
des Staates gegenüber den Opfern der irrenden Justiz, wenigstens soweit
es sich um Vermögensschädigungen handelt, gesetzlich anerkannt.
Hoffen wir, daß Deutschland nicht allzu spät dem hochherzigen Beispiel nachfolge!
Der Pflanzensammler. Die Tage des Sprossens und Wachsens sind wieder da, Flur und Wald haben sich neu bekleidet mit erfrischendem Grün, mit allerlei Blumen und Blüthen. Jetzt ist auch die eigentliche Zeit des Botanikers wieder gekommen, da er auszieht, Schätze zu sammeln für sein Herbarium. Und in manchem jungen Gemüth regt sich der Wunsch, auch anzufangen mit solch einer Sammlung, auch einzudringen in die Geheimnisse der „scientia amabilis“, in die „holde Wissenschaft“ der Botanik. Glücklich der, dem in solchem Falle ein erfahrener sachverständiger Vater, Onkel oder Freund zur Seite steht. Ihm werden die ersten schwierigen Schritte leicht gemacht, und, was andere mühsam, unter häufigen Irrthümern aus Büchern sich zusammensuchen müssen, das erklären ihm mitten auf dem Spaziergang durch die schöne Natur sicher ein paar Worte des Führers. Aber nicht jeder ist in dieser beneidenswerthen Lage – denn nicht mit Unrecht ist oft darüber geklagt worden, daß das Geschlecht, dem die Eltern unserer jetzt eben flügge werdenden Jugend angehören, die Botanik vernachlässigt habe. So muß eben doch in vielen Fällen das stumme Buch den beredten Lehrer vertreten.
Vor uns liegt ein solches Buch, das den Liebhaber wie den angehenden zünftigen Botaniker einführt in die Kunst des Pflanzensammelns. Wie und wann er auszieht auf die Suche, wie seine Botanisierbüchse, seine Pflanzenmappe am besten eingerichtet ist, wie er die Pflanzen preßt, untersucht, präpariert, wie er sie einreiht, ordnet und etikettiert, kurz, wie er sie zur wissenschaftlichen Berarbeitung vorbereitet, das alles erfährt der Anfänger aus diesem nützlichen, klar und gemeinverständlich geschriebenen Buche. Es ist das „Handbuch für Pflannzensammler“ von Dr. Udo Dammer (Stuttgart, Enke), welches wir meinen. Wir können das Werk jedem strebsamen Jüngling, jeder wißbegierigen Jungfrau empfehlen; aber selbst der erfahrene Fachmann wird es nicht ohne Vortheil studieren, denn auch er dürfte manchen nützlichen praktischen Wink daraus entnehmen.
Ueberflüssige Bücher. Die „Gesellschaft für Verbreitung von Volksbildung“ in Berlin (W, Maaßenstraße 20) theilt uns mit, daß sie für Ueberlassung von Büchern, welche ihrem Besitzer entbehrlich geworden sind, dankbar ist. Besonders erwünscht sind Volksbücher, gute Erzählungen, Jugendschriften, Klassiker und vollständige Jahrgänge illustrierter Zeitschriften, die mit Beihilfe der Abegg-Stiftung zu kleinen Bibliotheken zusammengestellt, ergänzt und an bedürftige Vereine und Schulgemeinden in kleinen Ortschaften unentgeltlich abgegeben werden. Wer also bei einem Umzug oder bei sonst einer Gelegenheit unter seinen Bücherschätzen Musterung hält und dabei solche Stücke ausscheiden will, die für ihn nur Ballast bilden würden, der erinnere sich an die volksthümlichen Bestrebungen jener Gesellschaft und sende ihr ein, was er für ihre Zwecke geeignet erachtet.
Kleiner Briefkasten.
O. Fr. in Danzig. Sie thun unserem Mitarbeiter „Hans Arnold“, dem Verfasser von „Nicht lügen“ und vielen anderen lustigen Familiengeschichten, entschieden unrecht. Er hat mit dem über Spiritismus schreibenden Autor desselben Namens nichts gemein als – eben den Namen.
P. S. in Quedlinburg, K. R. in Paderborn u. a. Ob der im Jahrgang 1875 in der „Gartenlaube“ beschriebene Zimmerspringbrunnen mit Paternosterwerk jemals fabrikmäßig angefertigt wurde, vermögen wir Ihnen leider nicht zu sagen, da alle unsere Umfragen nach dieser Richtung ohne Erfolg geblieben sind. Inzwischen sind neuere, ebenfalls in der „Gartenlaube“, sowie im „Gartenlaube-Kalender“ beschriebene Konstruktionen von Zimmerspringbrunnen erfunden worden, wie u. a. der auf dem Prinzip des Heronsbrunnens beruhende von Ernst Fischer, sowie der mittels Heißluftmotors in Gang zu setzende Brunnen mit Aquarium von Louis Heinrici in Zwickau. Der letztere Brunnen hat in neuerer Zeit einen elektrischen Motor erhalten, der sich durch pünktlichen Betrieb auszeichnet und mit wenig Mühe in stand gehalten wird. Fische, Schnecken, Molche und andere Wasserthiere halten sich bei sachgemäßer Pflege gut in dem Aquarium; auf die Verbesserung der Zimmerluft durch derartige Springbrunnen hat die „Gartenlaube“ mehrfach aufmerksam gemacht.
Thüringerin. Es ist unter allen Umständen zweckmäßig, das Kleid in einem Dampfapparat desinfizieren zu lassen. Was Ihre weiteren Fragen anbelangt, so sprechen Sie darüber am besten mit einem Zahnarzt. Kleine Kinder bekommen auch Stockzähne zweimal.
Inhalt: Schwertlilie. Roman von Sophie Junghans (3. Fortsetzung). S. 277. – Seifenblasen. Bild. S. 277. – Aus den Dolomiten. S. 285. Mit Abbildungen S. 280, 281, 284, 285, 286 und 292. – Die Geschichte des Panzers und – Panzergeschichten. S. 287. – Freie Bahn! Roman von E. Werner (16. Fortsetzung). S. 288. – Zum Gruße. Bild. S. 289. – Blätter und Blüthen: Die Entschädigung unschuldig Verurtheilter. S. 292. – Der Pflanzensammler. S. 292. – Ueberflüssige Bücher. S. 292. – Kleiner Briefkasten. S. 292.