Nicht lügen!

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Autor: Hans Arnold
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Titel: Nicht lügen!
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aus: Die Gartenlaube, Heft 13, S. 208–212
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Nicht lügen!

Humoreske von Hans Arnold.

„Ja, es ist so eine eigene Sache mit der geselligen Lüge,“ sagte die Geheimräthin Zellner, um deren Theetisch sich heute, wie jeden Donnerstag, derselbe kleine Freundeskreis versammelt hatte. „Ich für meine Person behaupte, man kann ganz gut durchs Leben kommen, ohne sich ihrem Scepter zu unterwerfen – ich habe ihr den entschiedensten Krieg erklärt! Ich lüge nie!“

Doktor Naumann, welcher der frenndlichen Wirthin gegenübersaß, kniff das eine Auge zu. „Hand aufs Herz, Frau Geheimräthin!“ sagte er gut gelaunt, „haben Sie noch nie einen zum mindesten gleichgültigen, wo nicht gar unwillkommenen Besuch mit den Worten empfangen: ‚Ich freue mich sehr‘ – noch nie einem Langweiligen, der sich endlich erhob, gefragt: ‚Ach, Sie wollen schon aufbrechen?‘“

Die Geheimräthin schien eben eine Masche an ihrem Strickzeug verloren zu haben, sie sah wenigstens so unverwandt und ernsthaft darauf nieder, als habe sie für nichts anderes Auge und Ohr.

„Und sollten Sie nie,“ fuhr der erbarmungslose Doktor fort, „wenn Sie ein entsetzliches ‚Thee- und Abendbrot‘-Fest mit [209] Heldenmuth und mühsam unterdrücktem Gähnen bis zum letzten Tropfen ausgekostet hatten, der Wirthin für den ‚hübschen‘, in schweren Fällen für den ‚genußreichen‘ Abend gedankt haben?“

Die Hausfrau hatte sich inzwischen gefaßt.

„Ja das sind Ausnahmen,“ fagte sie würdig, „diese hergebrachten Formeln der Gesellschaft nimmt jeder auf ihren Marktwerth an – das sind keine Lügen!“

„Und man könnte auch schlechterdings nicht ohne sie fertig werden,“ bemerkte Fräulein Schulz. „Denken Sie sich einmal den Zustand, der unfehlbar daraus hervorginge, wenn jedem unerwünschten Besuch entgegengerufen würde: ‚Ach, wie fatal, daß Sie schon wieder zu mir kommen!‘ Auch kann man sich doch unmöglich an Rehbraten und Eis bei einem lieben Nächsten satt essen und ihm dann mit einem Händedruck sagen: ‚Hören Sie ’mal, so habe ich mich aber seit Jahren nicht gelangweilt!‘“

„Das beste Mittel gegen die gesellige Lüge habe ich erlebt,“ sagte die Professorin Schwartz, eine noch immer auffallend hübsche muntere Frau. „Ich bin einmal so gründlich damit hereingefallen, daß ich hinterher ganze acht Tage den Besuchern nur dann den Bescheid vor die Thür schickte: ‚Es wird der gnädigen Frau sehr leid thun – sie ist ausgegangen‘, wenn es sich unbedingt nicht anders machen ließ.“

„Das scheint ja allerdings eine moralische Radikalkur gewesen zu sein,“ meinte der Doktor. „Wollen Sie nicht zu Nutz und Frommen der lügenden Menschheit dieses Erlebniß veröffentlichen, gewissermaßen als Warnungstafel auf dem dünnen Eise der gesellschaftlichen Ehrlichkeit?“

„Warum nicht?“ sagte die Professorin. „Ich will sogar annehmen, daß alle mir nachher gespendeten Beifallsbezeigungen: ‚Wie nett!‘, ‚Wie interessant!‘ und so weiter, ganz aufrichtig gemeint sind – nur um des moralischen Eindrucks meiner Geschichte sicher zu sein. Also:

Wir waren etwa ein halbes Jahr verheirathet, mein Mann hatte den Ruf als außerordentlicher Professor nach B .... angenommen und arbeitete mit unausgesetztem Eifer an einem größeren wissenschaftlichen Werk, das ihm, wie wir wünschten und hofften, den ‚Ordentlichen‘ einbringen sollte. Das nahm ihn ganz in Anspruch. Ich war auf dem Land aufgewachsen, hatte von dem, was man ‚Plaisir‘ nennst, nie viel kennengelernt und fand es ganz selbstverständlich, daß auch in der Stadt mein Leben still und abwechslungslos weiter verlief. Auch war ich, wie gesagt, jung verheirathet – Wirthschaften und Haushalten hatte noch ganz den Reiz der Neuheit, nebenbei kam mir wohl so ein bißchen der Stolz auf meinen gelehrten Gatten zu Hilfe, dem bei seiner Arbeit für Eitelkeit und Tand keine Gedanken übrig blieben.

Kurz, ich hätte fast vergessen, daß ich neunzehn Jahre alt war. Wenn es mir noch in den Füßen unruhig wurde bei einem hübschen Walzer oder flotten Galopp, den die nahe Wachtparade aufspielte, so hielt ich das für einen letzten Rest von Jugendleichtsinn, den ich, meiner Stellung als Professorenfrau gemäß, nicht schnell genug loswerden könne.

In dieser löblichen und vortrefflichen Verfassung war uns das erste Jahr unserer Ehe hingegangen, und es wäre auch wohl weiter so geblieben, wenn nicht durch einen äußeren Umschwung in unserem Leben sich auch eine Veränderung in mir vollzogen hätte.

Ein Bruder meines Gatten, auch seit kurzem verheirathet, ebenso lebenslustig und weltgewandt wie mein guter Mann ernst, zerstreut und zurückgezogen, wurde als Assessor an die Regierung nach B .... versetzt, und wie sich das von selbst versteht, entwickelte sich bald der lebhafteste und angenehmste Verkehr zwischen beiden Häusern. Meine Schwägerin Anna, eine bildhübsche elegante Offizierstochter von sehr lustigem Temperament, hatte die Verhältnisse bei uns bald überschaut. Sie nöthigte mir in den ersten acht Tagen unseres verwandtschaftlichen Zusammenlebens eine Ponyfrisur auf und einen anderen Hut – freilich, ohne daß es mein guter Mann auch nur sah und merkte, was mich recht verdroß – und versicherte uns beiden bei jeder Gelegenheit, es sei ein Jammer und ein Skandal, daß wir uns hinter Folianten und Tabaksqualm verschanzten, daß ich wie eine Nonne leben müßte – mit neunzehn Jahren wolle man Menschen sehen und sich auch sehen lassen.

Mein Mann wies aber jedes Ansinnen, sich in die Geselligkeit zu stürzen, erst scherzend, dann so ernsthaft zurück, daß ich [210] besorgt wurde und meiner Schwägerin ein Zeichen gab, sie möge die Sache auf sich beruhen lassen. „Es geht ja auch so,“ fügte ich mit einem leisen Seufzer hinzu.

Der Zündstoff mußte wohl aber in meiner Seele gewesen sein, das erste Fünkchen war hineingefallen, und wenn die Flamme der Rebellion auch noch nicht offen aufschlug, so glimmte sie doch schon.

Eines Morgens – es war ein abscheulich schmutziger Tag, Ende November – war ich früh auf dem Markte gewesen und hatte allerlei besorgt. Wie man das für den Markt und schlechtes Wetter zu thun pflegt, hatte ich meine ältesten Sachen angezogen, trug große Gummistiefel, gefütterte Wollhandschuhe und einen Wintermantel, den ich schon zur Konfirmation bekommen hatte und aus dem ich mittlerweile arg herausgewachsen war.

An einer Straßenecke begegnete ich meiner Schwägerin, die, den Diener mit mehreren Paketen hinter sich, auch Einkäufe gemacht zu haben schien. Sie kam eilig auf mich zu.

„Lisa – thu’ mir einen Gefallen, gehe mit mir in den Blumenladen! Eben ist die Einladung vom Oberpräsidenten zu seinem großen Balle gekommen – ich habe noch eine Bestellung zu machen, und Du doch jedenfalls auch? Ihr habt doch die Einladung gleichzeitig mit uns erhalten?“

Ich zuckte die Achseln. „Wir?“ sagte ich etwas bitter, „was denkst Du, Alma? Robert will ja diesen Winter gar keine Besuche machen – kaum bei den Kollegen – er sitzt bis über beide Ohren in seiner Arbeit über das Pfandrecht.“

„Was, Pfandrecht?“ rief meine Schwägerin empört, „da laß Du ihn Pfandrecht treiben und treibe Du Hausrecht! Du wirst es erleben – nimm’s nicht übel, Lisa! – daß Du Dir an Deinem Manne einen Egoisten erziehst, der bei der nächsten Ausstellung für dergleichen den ersten Preis bekommt. Dann hast Du auch ’was Rechtes!“

Ich wurde nachdenklich – es war etwas daran!

„Willst Du mir etwa einreden, daß Du nicht gern hingingest?“ fuhr Anna ärgerlich fort, „dann sag’s – und ich gebe Dich auf!“

„Nein!“ sagte ich ehrlich, „sehr gern thäte ich’s – schrecklich gern. Aber ich kann es doch nicht erzwingen! Wie soll ich Robert zu einer Staatsvisite beim Oberpräsidenten bewegen – Du kennst ihn nicht, Anna!“

Meine Schwägerin sah einen Augenblick überlegend vor sich nieder, dann hob sie den Kopf. „Lisa, hast Du Muth?“ frug sie.

Ich zögerte. „Gewiß weiß ich’s nicht,“ sagte ich.

„Nun, ich habe ihn – schlimmstenfalls für uns beide,“ rief sie entschlossen, „ich habe mir etwas ausgedacht, und Du wirst es thun! Hast Du Visitenkarten bei Dir?“

Ich zog ein Täschchen heraus. „Jawohl,“ sagte ich verwundert, „von mir und von Robert.“

„Vorzüglich,“ erwiderte meine Schwägerin befriedigt und winkte einer langsam daherfahrenden Droschke. „Jetzt vorwärts mit frischem Muth!“

Und ehe ich wußte, wie mir geschah, saßen wir beide im Wagen, der Diener auf dem Bocke. „Zum Oberpräsidenten!“ rief Anna, und da fuhren wir hin.

„Aber Anna, aber Anna!“ rief ich. „So höre doch! Was willst Du denn machen? Ich kann doch in diesem Aufzug nicht zu Oberpräsidents gehen, und noch dazu ohne Robert!“

„Sollst Du auch gar nicht!“ erwiderte meine Schwägerin mit großer Ruhe. „Wir halten – schicken Deine und Deines Mannes Karten hinauf – die Oberpräsidentin nimmt keine Visiten an, und heute in acht Tagen tanzen wir beide in blaßrosa Seide und Heckenrosen bei Excellenzens um die Wette und Robert schreibt ’mal drei Seiten Pfandrecht weniger, das wird ihm sehr gesund sein – und die Nachwelt wird’s auch überstehen, wie ich sie kenne.“

Ich war so verblüfft über diesen kecken Gedanken und seine noch keckere Ausführung, daß ich nur schweigend dasaß und die Hände rang, nicht zum Vortheil meiner Handschuhe, deren einer diese Behandlung sehr übel nahm und platzte, was mich nicht eleganter erscheinen ließ. Jeder Einwand, den ich hätte machen können – vielleicht machen sollen – verstummte vor der Gewalt der Thatsachen, denn die Droschke hielt vor dem palastartigen Hause, in das der neuernannte Oberpräsident eben eingezogen war und in dem er sich mit jenem großartigen Fest einführen wollte.

Der Diener nahm die Karten in Empfang, gebührendermaßen ohne eine Miene darüber zu verziehen, daß der von ihm anzumeldende Herr Professor gar nicht im Wagen saß, und verschwand im Hausflur. Meine Schwägerin fiel mir jubelnd um den Hals. „Famos!“ rief sie und lachte ausgelassen, „Robert macht eben ahnungslos seinen Knix vor Excellenz, und wir überfallen ihn mit der vollendeten Thatsache und der Schneiderrechnung.“

Ich war nun, wo es sich nicht mehr ändern ließ, auch ganz lustig geworden. Der Diener kam zurück, und wir wollten dem Kutscher schon das Zeichen zum Weiterfahren geben, als Johann, den Hut in der Hand, näher trat und den Schlag öffnete.

„Excellenz lassen bitten!“ sagte er mit feierlichem Ernste.

Anna und ich starrten uns einen Augenblick sprachlos vor Entsetzen an – ich faßte krampfhaft ihre Hand. „Anna!“ flüsterte ich erbleichend. Meine Schwägerin warf hilfesuchende Blicke um sich her, ihr war augenscheinlich auch nicht wohl zu Muth.

„Gieb mir wenigstens Deine Handschuhe!“ rief ich in Todesangst und riß meine geplatzten Markthandschuhe von den Händen.

Der Diener stand währenddessen immer noch unbeweglich wie ein ausgestopfter Diplomat am Wagenschlag und wartete der Dinge, die da kommen sollten.

Plötzlich schien Anna zu einem Entschluß zu gelangen. „Gehen Sie sofort noch einmal hinauf,“ befahl sie mit großer Würde, „und sagen Sie, die Herrschaften ließen tausendmal um Entschuldigung bitten – die Frau Professor hätte einen plötzlichen Ohnmachtsanfall und wäre augenblicklich außer stande, den Wagen zu verlassen.“ Der Diener, über dessen tadellose Maske nun doch ein leises Grinsen flog, verbeugte sich und verschwand zum zweiten Male im Hausflur. In derselben Sekunde rief Anna dem Kutscher hinauf: „Zufahren!“

Der unselige Mann hatte aber irgend eine Unordnung am Zaumzeug seines Gaules bemerkt, und mit einem lakonischen „Gleich!“ kroch er vom Bocke herunter und schnallte mit entsetzlicher Ruhe und Gewissenhaftigkeit an dem Pferde herum.

Wir saßen, vor Ungeduld und Angst zitternd, dabei – zu Fuß wegzugehen, war ja ausgeschlossen. Jetzt – jetzt war er fertig und machte Miene, wieder auf seinen Bock zu klettern.

Da – o Entsetzen! – öffnet sich die Hausthür und, einen großen Pelzmantel übergeworfen, erscheint, von unserem Diener begleitet, eine kleine, sehr gutmüthig aussehende Dame und kommt eilenden Schrittes auf unsere Droschke zu – Ihre Excellenz in eigenster theilnehmender Person!

Anna, die mit Blitzesschnelle die Lage erfaßte und beherrschte, flüsterte mir nur zu: „Ich bin Du und Du bist meine Kammerjungfer!“ und sank, das Tuch vor den Augen, in die Wagenecke, während ich, im Hinblick auf meinen uneleganten Anzug beglückt, daß mir eine so untergeordnete Rolle zufiel, mich mit einem imaginären Riechfläschchen um sie bemühte.

Die freundliche Excellenz, der schon der Ruf großer Gutmüthigkeit und Neugier vorangegangen war, hatte inzwischen unserem Diener gewinkt, der sich, wie ich zu meinem größten Unwillen sah, hinter ihr her vor Lachen ganz respektwidrig krümmte. Die Excellenz nöthigte meine Schwägerin, die sie für mich hielt, in freundlichster Weise, auszusteigen.

„Nein, meine liebe Frau Professor,“ sagte sie mit wirklich gewinnender Herzensgüte, die wir in jeder andern Lage gewiß unendlich mehr geschätzt hätten, „ich lasse Sie in dem Zustand unter keiner Bedingung fahren – Sie kommen einen Augenblick zu mir herauf und erholen sich – wo ist denn Ihr Herr Gemahl?“

Mir zitterten die Knie – es wurde immer hübscher!

„Mein Mann holt mir die Tropfen, die ich bei solchen Anfällen nehme, aus der Apotheke,“ hauchte Anna mit erlöschender Stimme, „meine Jungfer ist deshalb bei mir geblieben.“

„Nun, dann muß er ja bald zurück sein,“ sagte die Oberpräsidentin, „die Jungfer“ das nahm die würdige Dame zu meiner stillen Entrüstung sofort für bare Münze – „bleibt im Wagen und benachrichtigt den Herrn Gemahl – nein, keine Umstände, meine liebe Frau Professor, ich gebe Ihnen ein Glas Wein – ich lasse Sie nicht fort!“

Und alles Komplimentieren und Protestieren half nichts – Anna mußte aus dem Wagen und wankte, in tödlichster Verlegenheit und völligem Wohlbefinden, auf die Arme des grinsenden Dieners und der guten Exeellenz gestützt, die Treppe hinauf. Zum Glück sah sie nicht mehr zurück – denn ich hätte, trotz aller Noth, lachen müssen, und wenn Todesstrafe darauf gestanden hätte.

Aber als der seltsame Zug im Hause verschwunden war, fiel mir meine Lage schwer aufs Herz. Ich wartete auf den „Herrn [211] Gemahl“, und wenn der nicht auf spiritistischem Wege herbeigezaubert wurde, so lag kein ersichtlicher Grund vor, warum ich nicht heute übers Jahr auch noch hier in der Droschke sitzen sollte, falls Pferd und Kutscher die Sache nicht inzwischen satt bekamen.

Also thun mußte ich etwas, das war klar. Und die zwingende Nothwendigkeit war in diesem Falle die Mutter des Gedankens – der Gemahl mußte zur Stelle!

Ich rief dem Kutscher unsere Straße und Hausnummer zu, flehte ihn unter Zusicherung eines fürstlichen Trinkgeldes an, zu jagen, was sein Pferd vermochte – und fort ging es zum zweiten Mal an diesem denkwürdigen Tage.

Wie ich zu Hause die Treppe hinauf und in unsere Wohnung gekommen bin, das weiß ich heute noch nicht. Ich riß an der Klingel, daß es durchs ganze Haus gellte, stürzte in den Flur, in die Studierstube, die sonst um diese Zeit wie Blaubarts Kammer gemieden werden mußte, ließ die Thür des Heiligthums gegen jede Hausordnung weit offen stehen und rief: „Robert – Deinen Frack, Deinen Cylinderhut, Deine Handschuhe – rasch, es handelt sich um unsere ganze Existenz!“ Robert starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an. Er war, aus der friedlichen Luft seines Pfandrechts in den Wirbelsturm der Ereignisse gerissen, zum Glück so betäubt, daß er sich von mir wie eine Puppe in den Frack stopfen ließ. Er versicherte mir nachher, er habe das Gefühl gehabt, als wäre ein Cyklon über ihn gekommen, der ihn gepackt und geschüttelt hätte – aber da ich ihn gar nicht zu Worte kommen ließ, sondern nur immer rief: „Rasch, rasch!“ so folgte er mir stumm wie ein Lamm zur Schlachtbank – allerdings wie ein Lamm mit Cylinderhut und hellen Handschuhen.

An der Thür angelangt, schlug ich mich vor die Stirn. „Die Tropfen!“ rief ich, flog noch einmal nach meines Mannes Schreibtisch, ergriff das erste beste Fläschchen – ein Verbrechen, dessen ich mich unter normalen Verhältnissen nie schuldig gemacht hätte, und sauste meinem Gatten nach, der auf der Treppe stehen geblieben war und mich hilflos ansah.

„Lisa, wenn ich mir eine bescheidene Frage erlauben darf – wo soll ich denn hin?“

„In die Droschke!“ erwiderte ich mit dem letzten Rest meines Athems – und erst als wir schon ein paar Straßen weit gejagt waren, kam ich soweit zu mir, daß ich ihm in kurzen fliegenden Worten die Sache schildern und ihm klar machen konnte, daß er nolens volens zehn Minuten lang Annas besorgter Gatte sein und sie in einem nervösen Anfall beklagen und stützen müsse.

Robert war viel zu verblüfft und verwirrt, um mir wegen unseres tollen Streiches Vorwürfe zu machen – er that überhaupt während der ganzen Fahrt den Mund nur dreimal auf, und auch das nur, um kopfschüttelnd vor sich hinzusagen: „Merkwürdig!“, was mir in diesem Falle nur erwünscht sein konnte.

Ohne uns anzusehen, erstiegen wir die oberpräsidentliche Treppe; auf jeder dritten Stufe wiederholte ich meinem zerstreuten Gatten: „Ich bin die Kammerjungfer Deiner Frau!“ was er mit freundlichem „So?“ aufnahm. Ob er die nöthigen Konsequenzen daraus ziehen werde, mußte ich abwarten. Plötzlich fiel mir etwas ein. Ich blieb stehen.

„Robert!“ stieß ich ängstlich hervor, „ist rothe Tinte Gist?“

Robert sah mich mißtrauisch an – der Gedanke, ob es wohl bei mir ganz richtig im Oberstübchen wäre, der ihm, wie er später gestand, an diesem Morgen schon ein paarmal gekommen war, schien bei dieser Frage noch an Greifbarkeit zu gewinnen.

„Nein!“ sagte er sanft, „hast Du vielleicht solche getrunken?“

Ich schüttelte den Kopf und strebte vorwärts – das Fläschchen, welches ich in aller Eile mitgenommen hatte, enthielt die obenerwähnte Flüssigkeit und diese mußte nervenberuhigende Tropfen vorstellen.

Als wir in die Salons Ihrer Excellenz eingeführt wurden, ich als Kammerjungfer bescheiden hinter meinem Brotherrn eintretend, lag die arme Anna immer noch schmachtend in der Sofaecke. Um sie herum wie ein Stillleben waren Riechfläschchen, ein Glas Kapwein, ein Fächer und eine Schachtel Brausepulver gruppiert – die Excellenz stand tröstend daneben.

Bei unserem Eintreten flog ein mit aller Anstrengung nicht zu unterdrückender Heiterkeitsausdruck über das Gesicht der Leidenden, der mit gutem Willen für eine krampfhafte Zuckung gehalten werden konnte. „Nun, mein lieber Herr Professor,“ rief uns die Excellenz entgegen, wieder ganz Herablassung und Güte. „Da kommen Sie ja mit Ihren langersehnten Tropfen!“

Robert warf einen wilden Blick um sich. „Tropfen?“ wiederholte er tonlos. „Hier, Herr Profeffor!“ fiel ich räsch ein. „Ich habe das Fläschchen!“

Die Excellenz, einen silbernen wappengeschmückten Theelöffel in der Hand, schien entschlossen, das Samariterwerk zu vollenden, und nach dem Grundsatz „Viel hilft viel!“ goß sie eine recht kräftige Portion ein, die sie Anna mit einem herzlichen „So – das wird gut thun!“ eben an den Mund bringen wollte. Aber diese wehrte schwach mit der Hand ab. „Nur zehn Tropfen!“ flüsterte sie. Ich übernahm denn nun mit einem verbindlichen „Excellenz gestatten!“ das Eintropfen, damit die würdige Dame nicht die Aufschrift „Rothe Tinte“ entdecken sollte, die ihr auf den ersten Blick zum Glück entgangen war.

Diese zehn Tropfen, die ich barmherzig und knapp bemaß, mußten nun freilich geschluckt werden. Sie thaten eine förmlich zauberhaft schnelle Wirkung, denn Anna stand rasch auf den Füßen, dankte tausendmal und ließ sich von Excellenz versichern, wie sehr diese sich freuen würde, die Patientin frisch und hergestellt auf ihrem Feste zu begrüßen. „Denn wir dürfen doch hoffen, Sie hier zu sehen?“ fügte sie hinzu, sich an Robert wendend, der mir einen Dolchblick zuwarf und ein unverständliches Gemurmel hören ließ. Er hat mir später gesagt, es hätte „Den Teufel auch!“ geheißen, aber es wurde der größeren Wahrscheinlichkeit halber für „Mit tausend Freuden!“ aufgenommeu. Unter dem Schnellfeuer immer erneuter Danksagungen und Höflichkeitsbezeigungen traten wir dann den Rückweg an, und als wir glücklich wieder in unserer Droschke saßen, die entschieden das beste Geschäft bei diesem Abenteuer machte, da begannen Anna und ich zu lachen wie nie vorher und nie nachher – so unaufhaltsam, wie man eben nur lacht, wenn auch ein gut Theil Nervosität dabei ist – und das war es hier.

Mein armer Mann saß indessen in seinem Fracke und Cylinder auf dem Rücksitz und sah immer abwechselnd Frau und Schwägerin an – ich glaube, er hätte jetzt gern etwas gepredigt, aber wir ließen ihn nicht zu Worte und uns nicht zu Athem kommen. Wenn eine von uns beiden sich eben die letzten Lachthränen getrocknet hatte, dann brauchte die andere sie nur anzusehen oder zu sagen: „Die Tropfen!“ und es ging wieder los. Der Droschkenkutscher, der sich ohnehin schon gewundert haben mochte, was es eigentlich mit uns für eine Bewandtniß habe, sah sich alle Augenblicke vom Bocke herunter mit einem ganz vergnügten Gesicht nach uns um – solche Passagiere hatte er gewiß nicht oft zu fahren.

„Und jetzt zu uns!“ rief Anna endlich, „Ihr eßt heute bei uns – den Tag wollen wir erstens nicht so nüchtern beschließen und dann habe ich auch zu große Angst für Dich, Lisa – Dein Blaubart verschlingt Dich ja mit Haut und Haar, wenn Du jetzt mit ihm allein bleibst!“

Wir lachten von neuem. Mein Mann, der noch schwach das Wort „Pfandrecht“ hören ließ, wurde überstimmt; in der fröhlichsten Laune fuhren wir zu den Geschwistern.

Mein Schwager, der ganz so fidel war wie seine Frau, holte Champagner herauf, um Roberts Staatsvisite wider Willen zu „begießen“, wie er sagte, und Robert selbst wurde ganz aufgeräumt und gab Generalpardon, da ich meine oder besser Annas Greuelthat schon mit einer genügenden Angstportion hätte abbüßen müssen.

Dieses Mittagessen hätte ja nun unsere Lügengeschichte schließen können und sollen – aber so leicht kamen wir nicht weg. Als wir einigermaßen zur Ruhe gekommen waren und die Sache beim Kaffee durchsprachen, sagte mein Schwager Rudolf, der rauchend im Schaukelstuhl lag, plötzlich ganz ernsthaft: „Ja, Kinder, wie denkt Ihr Euch aber nun den weiteren Verlauf der Sache?“

„Wie meinst Du das?“ fragte Robert, und wir Damen horchten auf – die Frage kam uns überraschend.

„Das meine ich so!“ erwiderte Rudolf und richtete sich etwas aus seiner bequemen Stellung auf, „daß ich den ganzen Witz sehr harmlos und lustig finde und daß er famos hätte sein können, wenn er eben die Güte gehabt hätte, programmmäßig zu verlaufen –“

„Aber?“ fiel seine Frau athemlos ein.

„Aber – da er das nicht gethan, da vielmehr der Zufall sich wieder einmal als ein ganz heimtückischer Gesell gezeigt hat, so bleibt meines Erachtens gar nichts übrig, als daß wir alle, wie wir hier sitzen, unter irgend einem möglichst einleuchtenden Vorwand auf den Ball verzichten. Denn sonst könnte die Geschichte [212] noch ein ganz thörichtes Nachspiel haben, an dem mir für meine Person gar nichts gelegen ist.“

„Ich verstehe Dich nicht,“ rief Anna ungeduldig, „bringe doch Thatsachen – sonst schweige!“

„Schön,“ sagte Rudolf. „Also – Thatsachen! Excellenzens machen umgehend, wie sich das bei Excellenzen von selbst versteht, ihren Gegenbesuch, wobei sie etwas geschickter verfahren als Ihr, tags darauf kommt die Einladung für Professors – bis dahin alles ganz hübsch. Nun aber weiter!“

„Schnell, schnell!“ rief ich, vor Ungeduld vergehend.

„Kommt alles!“ fuhr Rudolf unerschüttert fort. „Wir gehen also auf den Ball –“

„Sehr richtig!“ bekräftigte Anna.

„Kommen herein – Excellenz, ganz in taubengraue Seide und Huld gekleidet, tritt uns entgegen. Wir lächeln und neigen uns – sie, mit dem anerzogenen Gedächtniß hochgestellter Persönlichkeiten für Gesichter, sieht die heute morgen noch ohnmächtige Professorin strahlend und blühend mit einem Assessor anturnen – sieht bald darauf den Professor mit seiner Kammerjungfer am Arme in den Saal schweben – eine Erklärung ist unausbleiblich!“

„Nun, was schadet das!“ unterbrach ihn seine Frau, aber schon etwas weniger sicher. „Die Excellenz scheint eine so gutmüthige Frau zu sein, daß sie unfehlbar, wenn es zur Erklärung kommt, die Sache sehr lustig finden wird.“

„Ich bedaure, Deine Ansicht ausnahmsweise nicht theilen zu können,“ sagte Rudolf. „Erstens wollen Leute, die in der Stellung des Oberpräsidenten fünfhundert Menschen zu begrüßen haben, nicht länger als unvermeidlich mit jedem ihrer lieben Gäste sprechen. Sodann aber – Ihre Excellenz ist vielleicht ein Engel, eine Seele – was Ihr wollt, aber das steckt nicht an, und Seine Excellenz soll es nicht immer sein. Nun nehmt hinzu, daß er mein höchster Vorgesetzter ist, addiert die ganze Geschichte und zieht das Facit! Ich habe gesprochen!“ Er legte sich in seinen Schaukelstuhl zurück und rauchte weiter.

Wir beiden Missethäterinnen sahen uns wie begossen an. „Du hast nicht unrecht!“ sagte Anna dann halblaut.

„Das kommt von das!“ bemerkte Robert. „Und nun, Frauchen, komm’ nach Hause! Ich habe viel Arbeit nachzuholen, und Du bist seit zehn Uhr heute früh fort.“ Diese mit erhobener Stimme gesprochenen Worte mahnten mich an meine schmählich versäumten Pflichten – Anna und ich trennten uns sehr niedergeschlagen, und nur Robert triumphierte, daß das Sprichwort „Wer andern eine Grube gräbt, fällt selbst hinein!“ sich an uns und ihm so glänzend bewahrheitet hatte.

Am nächsten Tage fuhren, wie Rudolf prophezeit hatte, Herr und Frau Oberpräsibent oder besser gesagt: ihr Wagen bei uns vor, der Diener gab die Karten ab und entfloh so eilfertig, als fürchtete er, wir würden uns rächen und ihm sagen: „Professors lassen bitten!“

Abermals am nächsten Tage wurde uns, als wir beim zweiten Frühstück saßen, die Einladungskarte zum Balle überreicht, gleichzeiag aber ein Briefchen mit Wappenstempel. Ahnungsvoll öffnete ich den Umschlag, um wirklich tief beschämt zu werden – die liebenswürdige Excellenz fragte in theilnehmenden Worten nach dem Befinden der „Frau Professor“ und bat, ihr durch den Diener Nachricht über das Ergehen der Patientin zu schicken. Ich saß stumm und mit reuigem Herzklopfen da, den Brief in der Hand. Auf diese Freundlichkeit wieder mit einem Schwindel zu antworten, schien mir zu ruchlos. Ich ließ dem Boten sagen, ich würde die Antwort später schicken, und begab mich, da Robert mir auch nicht zu rathen wußte, zu Anna, um dieser die Sachlage mitzutheilen und meinen Beschluß zu fassen. Ich traf Anna samt ihrem Manne zu Hause und gab ihnen mit dem lakonischen Worte „Lest!“ die Zeilen der Oberpräsidentin. Sie durchflogen sie gleichzeitig mit fieberhafter Spannung.

„Nun,“ sagte Anna dann und ließ das Briefchen sinken, „wenn die Frau keine Flügel hat, ist es wirklich ein Versehen der Natur – die hat ihren Beruf als Engel verfehlt!“

„Ja, das sage ich auch!“ pflichtete ich aus vollem Herzen bei. „Aber was machen wir nun? Soll man als Dank noch einmal lügen? Das kann ich nicht! Wir kommen aus der Geschichte nie mehr heraus – es ist zum Verzweifeln!“

Wir sahen uns alle drei stumm und nachdenklich an, endlich brach Anna das Schweigen. „Ach was!“ rief sie entschlossen, „‚sprich in Bedrängniß nicht von Verhängniß – ein Alexander haut’s auseinander‘. Wir machen der Sache ein Ende, sonst haben wir nie Ruhe! Lisa – Du und ich fahren zum zweiten Male zur Oberpräsidentin, aber diesmal mit der ganz bestimmten Absicht, daß ‚Excellenz bitten lassen‘ – und beichten ihr de-, weh- und reumüthig unseren Pagenstreich von Anfang bis zu Ende – das ist der einzige Ausweg!“ Rudolf sah etwas besorgt aus, ihm steckte doch der „Vorgesetzte“ noch in den Gliedern.

„Nun, Rudolf,“ fragte ich zaghaft, „sollen wir?“

Da blickte er auf, sah uns beide an und lachte. „Meinetwegen,“ sagte er, „aber macht’s ganz einfach und natürlich – sie wird ja nicht so sein! Excellenzen sind auch einmal jung gewesen!“

Und so geschah es. Nachdem wir auf der Hinfahrt ungefähr in zehnfacher Steigerung die Empfindungen durchgemacht hatten, die man im Vorzimmer des Zahnarztes im Besitz eines rettungslos verlorenen Backenzahns verlebt, ging die Sache schließlich sehr gut – viel besser, als wir es verdient hatten.

Die Oberpräsidentin war zu gutherzig, um mit unserer tödlichen Verlegenheit nicht Mitleid zu haben – sie nahm uns das Bekenntniß auf halbem Wege ab. Wir plauderten schließlich eine ganze Weile mit ihr von allen Wohlthätigkeitsbestrebungen der Stadt, deren eifrige und thätige Vorsteherin sie war, und trennten uns von ihr mit dem Gefühl aufrichtiger Dankbarkeit für eine Schonung und Nachsicht, die um so hübscher war, je weniger wir sie erwarten durften.

Auf der Rückkehr rechneten wir uns freilich aus, daß jede von uns Mitglied von ungefähr sechs Vereinen geworden war, aber dieses Lehrgeld zahlten wir gern.

Moralischerweise hätten unsere Männer uns nun wirklich nicht auf den Ball gehen lassen dürfen, aber vernünftigerweise thaten sie’s, wir amüsierten uns prächtig dort und tanzten bis in die tiefe Nacht. Und als eine unserer guten Bekannten, welche das etwas bedeutungsvoll lächelnde Gesicht der Excellenz bei unserer Begrüßung bemerkt hatte, ganz ehrfurchtsvoll fragte: „Die Oberpräsidentin war ja sehr huldvoll gegen Sie!“ da erwiderte meine Schwägerin mit großer Würde: „Wir haben Beziehungen von früher her!“

„Aha!“ sagte die Dame.