Die Gefangenen von Cholmogory

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Autor: Eduard Schulte
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Titel: Die Gefangenen von Cholmogory
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aus: Die Gartenlaube, Heft 13, S. 204–208
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Die Gefangenen von Cholmogory.
Von Eduard Schulte.

Zu den deutschen Fürstenfamilien, welche in die an jähen Glückswechseln so reiche Geschichte der russischen Herrscher im 18. Jahrhundert verflochten sind, gehört ein Zweig des Hauses Braunschweig. Die unglücklichen Schicksale dieser Familie waren lange Zeit in tiefes Geheimniß gehüllt; sie sind infolge der Eröffnung der russischen Archive erst in den beiden letzten Jahrzehnten soweit bekannt geworden, daß sie im Zusammenhang und mit hinreichender Zuverlässigkeit erzählt werden können,

In Rußland galt im 18. Jahrhundert keine Thronfolgeordnung, an welche die Herrscher sich gebunden hätten. Der jeweilige Herrscher bestimmte unter seinen Verwandten seinen Nachfolger, und dieser regierte dann so lange, bis etwa ein anderer Verwandter ihn stürzte. Auf Befehl der Nichte Peters des Großen, der Kaiserin Anna, welche von 1730 bis 1740 regierte, wurde nach ihrem Tode ihr Großneffe, Prinz Johann von Braunschweig, als Iwan III. zum Kaiser ausgerufen, obwohl er erst einige Wochen alt war. Die Regentschaft in seinem Namen führte erst Biron, Herzog von Kurland, und dann die Mutter des jungen Kaisers, die Prinzessin Anna, welche aus der Ehe eines mecklenburgischen Herzogs mit einer Nichte Peters des Großen stammte, seit ihrem fünften Jahre in Rußland lebte, wie eine russische Prinzessin im griechischen Glaubensbekenntniß erzogen war und sich mit dem Herzog oder Prinzen Anton Ulrich von Braunschweig verheirathet hatte. Diese im Namen Iwans geführte Regierung, während deren der junge Kaiser bei feierlichen Anlässen, auf einem Purpurkissen liegend, dem Volke gezeigt wurde, dauerte wenige Wochen über ein Jahr. Im Winter des Jahres 1741 bemächtigte sich Elisabeth, die Tochter Peters des Großen, durch eine Palastrevolution des kaiserlichen Thrones. Auf ihre Anordnung wurde im Dezember desselben Jahres ein Schlittenzug ausgerüstet, welcher den entthronten Kaiser, seine Eltern und deren im Sommer 1741 geborene Tochter, Katharina mit Namen, über Riga und Königsberg nach Braunschweig, also nach der Heimath des Vaters, führen sollte, Von einer Abtheilung Soldaten umgeben, brach dieser Schlittenzug alsbald von Petersburg auf

Es war ein hartes Verhängniß für die entthronte Herrscherfamilie, daß es ihr nicht vergönnt wurde, das ursprünglich [206] bestimmte Reiseziel zu erreichen, aber es ist begreiflich genug, daß die Kaiserin Elisabeth und ihre Rathgeber nach näherer Erwägung der Sachlage zu ihrer eigeuen Sicherung einen Gegenbefehl erließen. Es bestand die Möglichkeit, daß die Familie Braunschweig, die inzwischen in Riga angekommen war, selbst wider ihren Willen von fremden Mächten oder von den in Rußland lebenden Gegnern der neuen Regierung dazu benutzt werden könnte, um gegenüber der Kaiserin Elisabeth und dem von ihr berufenen Thronfolger, ihrem Neffen Peter von Holstein, die Rolle einer Prätendentenfamilie zu spielen. Einige in die erste Regierungszeit Elisabeths fallende rechtzeitig vereitelte Verschwörungen, bei denen der Name des entthronten Iwan genannt wurde, zeigten deutlich, daß solche Befürchtungen nicht grundlos waren. Der österreichische Gesandte in Petersburg, Marquis Botta, begünstigte die Braunschweiger und wurde deshalb auf die Beschwerde der russischen Regierung abberufen.

Im Gegensatz zu ihm soll Friedrich der Große dem russischen Gesandten in Berlin die Ueberwachung der entthronten Familie angerathen haben. Es erschien als ein Gebot der Selbsterhaltung, daß Elisabeth ihre fürstlichen Verwandten, die ihr so gefährlich werden konnten, in ihrem Machtbereich behielt. So erging an den General Ssaltykow, der den Reisezug der Braunschweiger begleitete, der Befehl, die Reisenden nach der bei Riga gelegenen Festung Dünamünde zu bringen und dort in Gewahrsam zu halten. Hier wurde dem braunschweigischen Elternpaare im Jahre 1743 ein drittes Kind geboren, die Prinzessin Elisabeth. Von Dünamünde meinten die russischen Machthaber schließlich, daß diese Festung der Westgrenze zu nahe und etwaigen von auswärtigen Mächten unternommenen Befreiungsversuchen zu bequem liege, und so brachte man die Gefangenen im Jahre 1744 nach der von den Russen Ranenburg genannten Stadt Oranienburg, welche 40 Meilen südöstlich von Moskau liegt. Aber hier schienen sie wiederum vor einer Aufhebung durch inländische Feinde der Kaiserin nicht sicher, und so wurde angeordnet, sie noch in demselben Jahre nach dem im Weißen Meere gelegenen Ssolowetzkischen Kloster zu schaffen.

Die Haft der entthronten Familie war nicht die einzige Maßregel, die man gegen die gestürzte Regierung anwandte; man unternahm den verwegenen und wegen seiner Seltenheit merkwürdigen Versuch, die ganze Regierungszeit Iwans aus der geschichtlichen Erinnerung auszumerzen. Kaiserin und Senat verordneten, daß Name und Titel Iwans in keinem Aktenstück mehr erwähnt werden durften; konnte der Hinweis auf das Jahr seiner Herrschaft nicht vermieden werden, so sollte man, wenn die Jahreszahl nicht genügte, nur die Regentschaft des Herzogs Biron von Kurland oder die der Prinzessin von Braunschweig erwähnen. Alle im Namen Iwans erlassenen Verfügungen sollten unausgeführt bleiben. Alle Gerichtsurtheile und Regierungsbescheide, alle Bestallungsurkundeu und Pässe, kurz alle Schriftstücke, welche im Namen Iwans angefertigt waren, sollten an den Senat eingesandt werden. Fremdsprachliche Bücher, welche Angaben über Iwans Regierung enthielten, sollten an die Akademie der Wissenschaften abgeliefert, neue Schriften dieser Art an der Landesgrenze mit Beschlag belegt werden. Alle Münzen und Medaillen mit dem Bildniß des kleinen Kaisers sollten zur Einziehung gelangen. Der Erfolg dieser Maßregeln entsprach nicht ganz den Erwartungen. Münzen mit dem Bilde Iwans sind in den Münzsammlungen nicht allzu selten, und man hat neuerdings ein Rubelstück dieser Art nur mit sieben Rubeln bezahlt; wären fast alle Münzen Iwans eingeschmolzen, so müßte der Preis weit höher sein. Beim Senat sammelten sich über 3600 Aktenstücke an; da man sie nicht vernichtete, sondern nach einigen Menschenaltern der Forschung zugänglich machte, so ist das Gegentheil von dem eingetroffen, was Elisabeth beabsichtigt hatte. Anstatt daß die einjährige Regierung Iwans aus dem Gedächtniß der Menschen entschwand, ist dank jenen Urkunden kaum ein Jahr in der russischen Geschichte des 18. Jahrhunderts so genau bekannt wie das Jahr der Regierung Iwans.

Als die Familie Braunschweig im Jahre 1744 die Reise nach dem hohen Norden antreten mußte, wurde die Ueberwachung gegen früher noch erheblich verschärft. Die zur Begleitung befohlenen Offiziere wurden angewiesen, jeden mündlichen und schriftlichen Verkehr der Gefangenen mit Unberufenen zu hindern, keinerlei Sendungen für sie anzunehmen oder aufzugeben und alle ihre Fragen unbeantwortet zu lassen. Man trennte den unglücklichen Iwan von seinen Eltern und ließ ihn unter besonderen Vorsichtsmaßregeln in einem von starker Bedeckung umgebenen Wagen mit seinem Begleiter, dem Major Müller, allein vorausfahren. Es ist wahrscheinlich, daß die Eltern seit dem Aufbruch aus Ranenburg von ihrem Sohne nichts mehr erfahren und auch nicht gewußt haben, daß er auf der Reise und in der Gefangenschaft in ihrer Nähe war. Er wurde von seiner Umgebung mit dem Namen Gregor angeredet, während er in den amtlichen Berichten als „der namenlose Gefangene“ bezeichnet wurde. Erwähnten die Berichte „die bewußten Personen“ oder „eine gewisse Kommission“, so war damit die ganze braunschweigische Familie gemeint. Alle von den Aufsehern und Offizieren in dieser Angelegenheit erstatteten Berichte wurden an das Kabinett der Kaiserin gerichtet und nur von ihr oder ihren nächsten Vertrauten beantwortet.

Im Oktober des Jahres 1744 langten die Reisenden unter Führung des Kammerherrn von Korff in Cholmogory an, einer kleinen Stadt etwa 10 Meilen oberhalb der Stelle, wo die Dwina bei Archangel in das Weiße Meer fließt. Auf die Bitte des Kammerherrn, der ein humaner Mann war, erklärte sich die Kaiserin Elisabeth damit einverstanden, daß die Gefangenen in Cholmogory blieben, wo der Aufenthalt erträglicher und wohlfeiler war als in dem zuerst in Aussicht genommenen Inselkloster. Ein Platz vor der Stadt, auf dem eine Kirche und drei zweistöckige, ursprünglich zu geistlichen Amtswohnungen bestimmte Häuser standen, wurde mit einem starken, im Grundriß quadratförmigen Pallisadenzaun umgeben; jede Seite des Quadrates war etwa 400 Schritt lang; innerhalb der Pallisaden befanden sich einige bescheidene Gartenanlagen und ein Gewässer. In diesen Häusern wurden die Gefangenen mit ihren Begleitern und Aufsehern, mit ihren Dienern und Dienerinnen und mit den Bewachungsmannschaften untergebracht. Der frühere Kaiser Iwan lebte mit dem Major und mehreren Dienern in einem noch besonders umzäunten Hause, von Eltern und Geschwistern völlig abgesondert. Die zur Bewachung befehligten Soldaten wurden zwölf Jahre lang nicht abgelöst, damit sie über die Vorgänge in Cholmogory keine Kunde im Lande verbreiten könnten. Allen bei der Bewachung und Bedienung der Gefangenen verwendeten Personen war bei Todesstrafe verboten, in ihrem privaten Verkehr über Verhalten und Befinden dieser Gefangenen irgend welche Mittheilung zu machen.

Im Jahre 1745 wurde dem braunschweigischen Prinzenpaare ein Sohn geboren, der Peter getauft wurde, und im Jahre 1748 ein Sohn Alexei. Zehn Tage nach der Geburt Alexeis starb die Prinzessin Anna. Die Kaiserin Elisabeth verhehlte ihren Räthen den Unmuth über die Geburt der beiden Prinzen nicht, da sie in ihnen neue Thronprätendenten erblickte, doch waren ihre Bemühungen vergeblich, die Thatsache der Geburt vor den fremden Gesandten geheim zu halten. Den Tod der Prinzessin dagegen zu verheimlichen, hatte sie keinen Grund, ja sie scheint, als sie deren Leiche nach Petersburg bringen, öffentlich ausstelleu und mit großem Prunk bestatten ließ, die Absicht gehabt zu haben, allgemein bekannt zu geben, daß diese Prinzessin, die ihr Thronrecht bedrohen konnte, nun nicht mehr unter den Lebenden weile.

Für die Verpflegung und Bekleidung der Gefangenen war in der Regel ausreichend gesorgt, doch kam es zuweilen vor, daß die zu ihrem Unterhalt angewiesenen Geldsummen, die sich auf 10- bis 15000 Rubel jährlich beliefen, längere Zeit ausblieben, und daß dann die Gefängnißwärter in Verlegenheit geriethen, weil die Kaufleute in Archangel nicht immer Kredit geben wollten. Ein Arzt hatte zu den Gefangenen Zutritt, auch ein Geistlicher der griechischen Kirche, zu der sie sich alle bekannten. Den prinzlichen Kindern Unterricht zu ertheilen, war lange Jahre hindurch, wie es scheint bis zum Tode der Kaiserin Elisabeth, also bis zum Jahre 1762, streng verboten. Dem Verbot entgegen unterrichtete der Major Müller den früheren Kaiser im Lesen, und später unterwies der Herzog Anton Ulrich seine übrigen Kinder in den Anfangsgründen des Wissens. Man sprach und las nur noch russisch. Die Prinzen und Prinzessinnen verbrachten ihre Tage damit, daß sie ihren kirchlichen Pflichten genügten, in Andachtsbüchern lasen, Karten und Dame spielten, ihr Federvieh fütterten, in ihrem Garten spazieren gingen, im Sommer darin arbeiteten und im Winter sich darin auf dem Eise tummelten. Iwan durfte sich an gemeinschaftlichen Vergnügungen nie betheiligen. Mancherlei Eindrücke mußten auf die heranwachsenden Kinder ungünstig [207] einwirken. Unter den Offizieren und Aufsehern, unter den Soldaten, Dienern und Dienerinnen war viel Zank und Aergerniß anderer Art.

Die Kaiserin Elisabeth fühlte sich trotz aller Vorsichtsmaßregeln doch noch nicht sicher. Ihr wußten zu viele Leute darum, daß ein Prätendent, der ein Jahr lang die Krone des Reiches getragen hatte, in Cholmogory lebte, und sie beschloß, dieses Wissen in aller Stille in einen Irrthum zu verwandeln. Ein Sergeant ihrer Leibkompagnie erhielt den Auftrag, den Kaiser Iwan nach der nicht weit von Petersburg gelegenen Festung Schlüsselburg zu bringen, und dieser Befehl wurde im Laufe des Jahres 1756 im tiefsten Geheimniß ausgeführt. Ein nicht unwahrscheinliches Gerücht meldet, sie habe den damals 18 Jahre alten Gefangenen während der Ueberführung erst nach Petersburg in das Haus eines Günstlings bringen lassen und dort mit ihm gesprochen, ohne daß der Gefangene wußte, wer die Dame war, die er vor sich hatte. In der Behandlung seiner in Cholmogory verbliebenen Angehörigen wurde nichts geändert, ja selbst in den Berichten, die man von dort her einzusenden hatte, mußte des entthronten Fürsten nach wie vor Erwähnung geschehen, als wenn er noch anwesend wäre. Der Zweck der Maßregel wurde insofern erreicht, als nur wenige Vertraute der Kaiserin um den Aufenthalt Iwans in Schlüsselburg erfuhren. Im Publikum glaubte man ihn entweder noch in Cholmogory, oder man bezeichnete, da doch dunkle Nachrichten über seine Entfernung von dort sich allmählich verbreiteten, bald diese, bald jene Ortschaft als seinen Aufenthalt. Sicheres wußte man nicht mehr. Uebrigens scheute sich jeder, der Schicksale Iwans irgendwie Erwähnung zu thun, weil man sich dadurch sehr leicht eine Untersuchung wegen hochverrätherischer Umtriebe zuziehen konnte.

In Schlüsselburg durfte Iwan nach einer uns erhaltenen Weisung für die wachthabenden Offiziere die Kasematten nie verlassen, in denen er untergebracht war. Der Genuß der freien Luft, der ihm in Cholmogory wenigstens innerhalb einer engen Umzäunung vergönnt worden war, wurde ihm also jetzt entzogen. Sein Gefängniß war gegen das Tageslicht abgesperrt und wurde Tag und Nacht künstlich erleuchtet. Außer den ihm beigegebenen Personen durfte niemand ihn sehen; selbst Generale und Feldmarschälle sollten nicht zu ihm eintreten dürfen.

Aus den Berichten, welche die wachthabenden Offiziere von Schlüsselburg aus über „den namenlosen Gefangenen“ erstatteten, ergiebt sich, daß die langjährige wiederholt verschärfte Haft, die harte, in Schlüssckburg geradezu rohe Behandlung, das Fernhalten wohlthätiger Einflüsse und die Absperrung von Altersgenossen die Folgen gehabt haben, die unter den gegebenen Umständen mit Nothwendigkeit eintreten mußten: das Geistes- und Gemüthsleben des Unglücklichen war bis zu einem gewissen Grade verkümmert. Wenn er auch nicht, wie man von zweien seiner Wächter später bezeugen ließ, wahnsinnig war, so glich er doch noch mit vierundzwanzig Jahren einem reizbaren Kinde. Von seiner fürstlichen Abkunft hatte er trotz aller Mühe, die aufgewendet worden war, sie ihm zu verheimlichen, doch Kenntniß erhalten; er sagte, er sei ein Prinz, und nichtswürdige Menschen hätten ihn um seine Rechte gebracht. Körperlich war er gesünder und kräftiger, als man vielleicht erwarten sollte.

Als Peter III. im Jahre 1762 mit dem Tode der Kaiserin Elisabeth zur Herrschaft kam, besuchte er, ohne sich zu erkennen zu geben, den Gefangenen in Schüsselburg und brachte ihm Geschenke an Uhren, Dosen und Kleidungsstücken mit. Der neue Herrscher, dessen eigene Zurechnungsfähigkeit nicht außer Zweifel stand, fühlte doch ein menschliches Rühren mit dem Unglücklichen und ordnete an, ihn zuweilen an die Luft zu führen und ihm einigen Unterricht zu ertheilen; doch sollte auch jetzt niemand mit ihm über seine persönlichen Verhältnisse sprechen. Zu denen, welche der Kaiser vor Iwan auch jetzt noch warnten, gehörte wieder Friedrich der Große, der in der Befürchtung, im Falle einer Thronumwälzung den ihm ergebenen Peter III, durch einen preußenfeindlichen Herrscher ersetzt zu sehen, jenen in einem unter dem 4. Mai 1762 erlassenen Briefe daran erinnerte, daß ein Entkommen Iwans aus der Gefangenschaft den Sturz des Kaisers herbeiführen könne, namentlich wenn sich dieser in persönlicher Betheiligung an einem auswärtigen Kriege aus Rußland entferne.

Die Kaiserin Katharina II., die im Sommer 1762 ihrem Gemahl Peter III. das Scepter entwand und deren Anhänger diesen ermordeten, hat ebenfalls von dem geistigen und körperlichen Zustand des Gefangenen persönlich Kenntniß genommen. Trotz der schlimmen Einwirkungen der Einzelhaft erschien Iwan ihr doch nicht unbedingt harmlos und üngefährlich, und daß er im Volke nicht vergessen war, konnte sie daraus entnehmen, daß hier und dort das Gerücht auftauchte, sie wolle oder müsse sich zu ihrer eigenen Sicherung mit ihm verheirathen. Schon plante sie, ihn als Mönch in ein entlegenes Kloster eintreten zu lassen; da setzte das Schicksal seinem kummervollen Dasein ein Ziel.

Bei dem in der Vorstadt von Schlüsselburg stehenden Infanterieregiment diente ein Lieutenant Mirowitsch, desse Vater und Großvater wegen Betheiligung an Verschwörungen ihre Güter verloren hatten. Seine Bemühungen, wenigstes eine Theil der Familiengüter durch Prozesse oder Gnadengesuche wieder zu erlangen, blieben vergeblich; Schulden drückten ihn. Nachdem er einigemal die Wache in der Festung bezogen und bei Gelegenheit ermittelt hatte, daß der „namenlose Gefangene“, den man in besonders geschützten Kasematten bewachte, der entthronte Kaiser Iwan sei, faßte er den Plan, diesen Fürsten zu befreien, ihn nach Petersburg zu führen, Heer und Volk für ihn zu gewinnen, ihn an Katharinas Stelle auf den Thron zu erheben und sich dann in ähnlicher Weise mit Ehren und Reichthümern von ihm belohnen zu lasse, wie Katharina die Günstlinge belohnt hatte, die ihr den Thron verschafft hatten.

Das Beispiel der Gebrüder Orlow, welche durch die Entthronung und Ermordung Peters III. emporgekommen waren, mochte dem jungen Abenteurer vorschweben. Aber er verkannte, daß die Umstände für ihn weniger günstig lagen. Peter III. war als Freund der Ausländer verhaßt gewesen, Katharina erfreute sich, wenn auch einzelne Unzufriedene ihr grollten, beim Heere und in der Hauptstadt großer Beliebtheit. Die Entthronung Peters war durch die Sachlage und durch die einflußreiche Anhängerschaft Katharinas gut vorbereitet gewesen; der überschuldete Mirowitsch hatte unter seinen wenigen Freunden und Bekannten auch nicht einen angesehenen Mann. Seine Versuche, Anhänger für seine Pläne zu gewinnen, scheiterten; ein einziger ihm befreundeter Offizier, der ihm beistehen wollte, ertrank auf einer Dienstreise, ehe man zur Verwirklichung der Pläne schreiten konnte. Mirowitsch beschloß nun, mit Hilfe der von ihm befehligten Wachtmannschaft allein zu handeln, und zwar während der Sommermonate des Jahres 1764, als Katharina eine Reise nach den deutschen Ostseeprovinzen antrat; die Abwesenheit der Kaiserin erschien für sein Unternehmen förderlich.

Vom 15. bis zum 18. Juli (neuen Stils) hatte Mirowitsch mit etwa 40 Mann seines Regiments die Wache in Schlüsselburg. Er suchte die ihm unterstehenden Korporale und Soldateu einzeln zur Befreiung Iwans zu bereden; zögernd und ohne rechtes Verständniß äußerten sie ihre Zustimmung. In der Nacht gegen 2 Uhr ließ er die Mannschaft unter das Gewehr treten und die Flinten scharf laden. Der Kommandant der Festung, Oberst Berednikow, der in seiner Wohnung im Obergeschoß über der Wache den so entstandenen Lärm hörte, eilte die Treppe hinab und fragte, weshalb die Wache zu ungewohnter Stunde zusammentrete. „Warum hältst Du den unschnldigen Kaiser hier gefangen?“ rief Mirowitsch ihm zu, verwundete ihn durch einen Kolbenschlag und ließ ihn gefangen setzen. Hierauf marschierte er mit seinen Leuten auf das von Iwan bewohnte Kasemattengebäude zu, Dieses war durch eine Sonderwache von 2 Offizieren und 14 Mann geschützt, welche nicht zu dem Regiment Mirowitschs gehörten, sondern eine zur Bewachung Iwans besonders gebildete, seit Jahren nicht abgelöste Abtheilung darstellten. Auf ihr „Wer da?“ antwortete Mirowitsch: „Ich gehe zum Kaiser.“ Die Sonderwache gab darauf auf Mirowitsch und die Seinen Feuer, und er ließ das Feuer erwidern, doch wurde bei der spärlichen Erhellung des Festungshofes niemand verwundet. Es entstand eine Stockung; die von Mirowitsch befehligten Soldaten, die den Ernst der Lage begriffen, verlangten von ihm, daß er ihnen den Befehl vorlege, der ihn zu seinem Vorgehen berechtige. Er hatte einige von seiner Hand geschriebene Aufrufe an die Soldaten und an das Volk zur Hand und las ihnen daraus vor. Noch wankten sie nicht, und er konnte ein leichtes Geschütz herbeischaffen lassen, mit dem er die Sonderwache und das von ihr geschützte Gefängnißthor bedrohte. Zugleich verhandelte er mit der Sonderwache, und diese, der Uebermacht weichend, kündigte ihm an, daß sie ihren Widerstand aufgebe. Die ihr vorgesetzten, seit zwei Jahren mit der Bewachung Iwans betrauten Offiziere, ein Kapitän Wlaßjew und ein Lieutenant Tschekin, [208] hatten den Befehl, den Gefangenen, falls seine Befreiung mit Uebermacht versucht würde, eher zu töten als auszuliefern. Schon wiederholt hatten sie sich über die Mühen und Beschwerden, die der Dienst bei dem Gefangenen ihnen auferlege, höheren Ortes beklagt, und sie ergriffen wohl nicht ungern die Gelegenheit, sich ihrer Pflichten zu entledigen. – Als Mirowitsch in Iwans Zelle trat, lag der zum Unglück geborene Fürst, von Degenstichen durchbohrt und in seinem Blute schwimmend, tot auf dem Boden; die beiden Offiziere, die ihn getötet hatten, standen theilnahmlos hinter der Leiche. „Ihr Gewissenlosen, warum habt Ihr das Blut dieses unschuldigen Menschen vergossen?“ rief Mirowitsch. Jene antworteten: „Was das für ein Mensch ist, wissen wir nicht; wir wissen nur, daß er ein Arrestant ist; was wir gethan haben, war unsere Pflicht.“

Mirowitsch ließ die Leiche vor die Hauptwache tragen und ihr dort militärische Ehren erweisen. Dann erklärte er den Soldaten, er werde, da nun ihr Unternehmen mißglückt sei, alle schlimmen Folgen allein auf sich nehmen. Darauf kündigten ihm nach dem Vorgaug eines Korporals die Soldaten den Gehorsam, nahmen ihm den Degen ab und verhafteten ihn; einige befreiten den Festungskommandanten, und dieser ließ den Aufrührer gefangen setzen. Als der inzwischen von den Vorfällen benachrichtigte Kommandeur des Regiments, welchem Mirowitsch angehörte, und die durch die gewechselten Schüsse alarmierte Regimentswache in der Festung erschienen, um die Ordnung wiederherzustellen, war ihr Eingreifen schon unnöthig geworden.

Kaiser Iwans in Lumpen gehüllter Leichnam, über den man einen Mantel geworfen hatte, lag während des 18. Juli und noch am Morgen des folgenden Tages auf zwei Brettern neben der Hauptwache; dann ordnete der Graf Panin in Vertretung Katharinas an, ihn in der nächsten Nacht im Bereiche der Festung still zu beerdigen.

Der Lieutenant Mirowitsch wurde nach einem längeren Untersuchungsverfahren zum Tode verurtheilt und enthauptet. Die von ihm verleiteten Soldaten kamen wenigstens mit dem Leben davon. Da das Unternehmen, Iwan zu befreien und auf den Thron zu erheben, damals wenig Aussicht auf Erfolg bot, die Tötung Iwans aber, welche die Kaiserin von einem Prätendenten befreite, die fast nothwendige Folge jedes ernsten Befreiungsversuches sein mußte, so ist vermuthet worden, daß Katharina oder deren Günstlinge den Lieutenant Mirowitsch zu seiner That heimlich angestiftet hätten, unter der Zusicherung, daß man ihn noch auf dem Schafott begnadigen und später reich belohnen würde. Aber die neuesten Forschungen über diese Frage, welche von so hervorragenden Kennern der russischen Geschichte wie Brückner und Bilbassow angestellt worden sind, haben keinen Anhalt für diese Vermuthung ergeben. Wollte Katharina den natürlichen Tod des Gefangenen nicht abwarten, so hätte sie wahrscheinlich die Mittel gefunden, ihn in aller Stille zu beseitigen und so das große Aergerniß zu vermeiden, welches durch dieses Ende Iwans und die begleitenden Umstände jetzt thatsächlich hervorgerufen wurde.

Der Vater Iwans, der Herzog Anton Ulrich von Braunschweig, lebte inzwischen mit den vier Kindern, die ihn umgaben, sein einförmiges Gefängnißleben in Cholmogory weiter. Die Kaiserin Katharina ließ nach ihrer Thronbesteigung ihm allein, da er als nur angeheiratheter Verwandter der Zarenfamilie ihrer Krone am wenigsten gefährlich war, die Erlaubniß zur Reise in seine Heimath anbieten. Hochherzig lehnte er es ab, ohne seine Kinder die Freiheit wiederzuerlangen. Während seiner letzten Lebensjahre erblindet, starb er im Jahre 1774 und wurde in Cholmogory begraben.

Vom Jahre 1780 liegen aus der Feder eines von der Kaiserin nach Cholmogory gesandten Beamten Berichte vor, welche von den überlebenden Kindern Anton Ulrichs Kunde geben. Die älteste Prinzessin, Katharina, nun fast 39 Jahr alt, war taub und stotterte; sie zeigte sich ängstlich und verlegen, doch keineswegs verbittert. Die jüngere Schwester, Elisabeth, war kränklich; an Verstand überragte sie ihre Geschwister, und diese ordneten sich ihr willig unter. Die Prinzen Peter und Alexei schienen in ihrer leiblichen und seelischen Entwicklung hinter den Prinzessinen zurückgeblieben; Peter war stark verwachsen.

Untereinander lebten die Geschwister in bestem Einvernehmen. Rührend klingt die Bitte, welche die Prinzessin Elisabeth in ihrem und ihrer Geschwister Namen an den Abgesandten der Kaiserin richtete: früher hätten sie gehofft, einmal frei zu werden und sich weltliche Bildung anzueignen, jetzt aber wünschten sie nur noch, da zu bleiben, wo sie seien, denn sie hätten nicht gelernt, mit Menschen zu verkehren, und es noch zu lernen, sei es zu spät. Man möge ihnen erlauben, die Umzäunung ihres Gefängnisses zuweilen verlassen zu dürfen, denn wie sie gehört hätten, gebe es draußen andere Blumen als in ihrem Garten. Auch möchten sie die Frauen der wachthabenden Offiziere besuchen dürfen.

Die Kaiserin Katharina ließ durch den erwähnten Beamten die Freilassung der Gefangenen vorbereiten. Sie fühlte sich jetzt durch ihre Erfolge in der inneren und äußeren Politik so sicher auf dem Throne, daß sie nicht länger die Besorgniß hegte, durch die Familie Braunschweig, deren am meisten zu fürchtendes Mitglied seit 16 Jahren tot war, verdrängt zu werden. In Verhandlungen mit der Tante der Prinzen und Prinzessinnen, der Königinmutter Juliane Maria von Dänemark, war inzwischen festgesetzt worden, daß deren Sohn, der König Christian VII., die Braunschweiger gegen ein von Katharina zu bezahlendes Jahrgeld in sein Land aufnehme und unterhalte; eine gewisse Ueberwachung, die jedoch nicht zu streng zu handhaben wäre, sollte auch in Dänemark noch stattfinden. Die Fregatte „Polarstern“ wurde im Hafen der an der Mündung der Dwina gelegenen Festung Nowodwinskaja zur Ueberfahrt hergerichtet; von den für diesen Zweck überwiesenen 200000 Rubeln wurde die Hälfte sofort für Kleidungsstücke, Wäsche und Mundvorrath für die Prinzen und Prinzessinnen ausgegeben. Die Hofkanzlei sandte für sie aus Petersburg kostbares Pelzwerk und Schmucksachen. Noch im Jahre 1780 ging die Fregatte unter Segel. In Bergen fand die Uebergabe der Reisenden an die dänischen Beamten statt, und im Oktober 1780 kamen sie in Horsens in Jütland an, wo sie fortan wohnten. Sie sprachen nur russisch und lernten keine andere Sprache mehr. Eingeschlossen wurden sie in den beiden Häusern, die man für sie angekauft hatte, nicht, doch bildeten dänische Offiziere und Beamte ihre Hausgenossenschaft. Die Prinzessin Elisabeth, die schwindsüchtig war, starb im Jahre 1782 im Alter von 39 Jahren. Prinz Alexei folgte ihr, 41 Jahr alt, im Jahre 1787, und elf Jahre später starb Prinz Peter, 53 Jahr alt. Völlig vereinsamt lebte die Prinzessin Katharina, die ein Alter von fast 66 Jahren erreichte, bis zum Jahre 1807. Ueber die Rohheit und Habsucht ihrer dänischen Umgebung hatte sie soviel zu klagen, daß sie sich zuweilen nach Cholmogory zurücksehnte. Ihr liebstes Besitzthum war ein Rubel mit dem Bildniß Kaiser Iwans. In der lutherischen Kirche zu Horsens bezeichnet eine lateinische Inschrift die Grabstätte der vier unglücklichen Geschwister.